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Texte – Kontexte – Netzwerke
Sabina Becker
Sonia Goldblum (Hg.)
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Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den WeltkriegenTexte – Kontexte – Netzwerke
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Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen
Texte – Kontexte – Netzwerke
Herausgegeben von Sabina Becker und Sonia Goldblum
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüber www.dnb.de abrufbar.
ISBN978-3-86916-741-1
DasWerkeinschließlichallerseinerTeileisturheberrechtlichgeschützt.JedeVer-wertung,dienichtausdrücklichvomUrheberrechtsgesetzzugelassenist,bedarfdervorherigenZustimmungdesVerlages.DiesgiltinsbesonderefürVervielfältigungen,Bearbeitungen,Übersetzungen,MikroverfilmungenunddieEinspeicherungundVer-arbeitung in elektronischen Systemen.
©editiontext+kritikimRichardBoorbergVerlagGmbH& CoKG,München2018Levelingstraße6a,81673Münchenwww.etk-muenchen.de
Umschlaggestaltung:ThomasScheerUmschlagabbildung:M.C.Escher’s»DrawingHands«©2018TheM.C.EscherCompany-TheNetherlands.Allrightsreserved.www.mcescher.comSatzundBildbearbeitung:ClaudiaWild,Otto-Adam-Str.2,78467KonstanzDruckundBuchbinder:Laupp&GöbelGmbH,Robert-Bosch-Straße42, 72810Gomaringen
Inhalt
Sabina Becker, Sonia Goldblum
BriefdiskursezwischendenWeltkriegen.EineBestandsaufnahme 7
Jochen Strobel
Nach-Erleben,Spiegeln,Deuten.ThomasMannsKorrespondenzen mit KritikundLiteraturwissenschaftvor1933 17
Friedhelm Marx
BetrachtungeneinesPolitischen.ThomasMannsOffeneBriefe zurZeitderWeimarerRepublik 38
Daniel Meyer
VonderGeschichtsphilosophiezurAnekdote.OswaldSpenglers WeimarerBriefwechselimSpannungsverhältnisseinerZeit 49
Elsbeth Dangel-Pelloquin
»sehrhastig,ganzderSpontaneitätfolgend«.VerworfeneAutorschaftin HofmannsthalsBriefen 61
Robert Krause
»[…]dieDingeauszusprechenwiesiesind«. ArgumentationsstrategienundphilosophischeReferenzen inHermannBrochsBriefanRobertMusil 80
Gérard Raulet
ZumBriefwechselzwischenErnstBlochundWalterBenjamin 93
Isolde Schiffermüller
FranzKafkainderKorrespondenzWalterBenjamins. Zum Brief als Laboratorium des Denkens 125
Olivier Agard
AffinitätenundAntagonismen.DerBriefwechselzwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer 140
Renate Stauf
»Dusiehst,wiesichPrivataffärenmitWeltgeschichtedurchdringen«.FriedrichGundolfsBriefwechselmitElisabethSalomon 162
E-ISBN 978-3-96707-162-7
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Inhalt
Sabina Becker, Sonia Goldblum
BriefdiskursezwischendenWeltkriegen.EineBestandsaufnahme 7
Jochen Strobel
Nach-Erleben,Spiegeln,Deuten.ThomasMannsKorrespondenzen mit KritikundLiteraturwissenschaftvor1933 17
Friedhelm Marx
BetrachtungeneinesPolitischen.ThomasMannsOffeneBriefe zurZeitderWeimarerRepublik 38
Daniel Meyer
VonderGeschichtsphilosophiezurAnekdote.OswaldSpenglers WeimarerBriefwechselimSpannungsverhältnisseinerZeit 49
Elsbeth Dangel-Pelloquin
»sehrhastig,ganzderSpontaneitätfolgend«.VerworfeneAutorschaftin HofmannsthalsBriefen 61
Robert Krause
»[…]dieDingeauszusprechenwiesiesind«. ArgumentationsstrategienundphilosophischeReferenzen inHermannBrochsBriefanRobertMusil 80
Gérard Raulet
ZumBriefwechselzwischenErnstBlochundWalterBenjamin 93
Isolde Schiffermüller
FranzKafkainderKorrespondenzWalterBenjamins. Zum Brief als Laboratorium des Denkens 125
Olivier Agard
AffinitätenundAntagonismen.DerBriefwechselzwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer 140
Renate Stauf
»Dusiehst,wiesichPrivataffärenmitWeltgeschichtedurchdringen«.FriedrichGundolfsBriefwechselmitElisabethSalomon 162
Inhalt
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Sabina Becker, Sonia Goldblum
Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen
Eine Bestandsaufnahme
MitBlickaufdasdiesjährigeJubiläumanlässlichdesEndesdesErstenWelt-kriegsunddesGründungsdatumsdererstenRepublikinDeutschlandvor100Jahrenmageszunächsterstaunen,sichden1920er JahrenundderZwischenkriegszeitüberdieBriefkulturdieserEpocheanzunähern;istdasParadigmaderKulturvonWeimardochdasderforciertenIntermedialität,derÖffnungderLiteraturfürandere,fürneueMedienalso,etwagegenüberZeitung,Film,RundfunkundMusik,jasogargegenüberRevueundSport.DieseÖffnunggehtmitderAusbildungneuerGenreseinher,desHörspiels,desRundfunkgesprächs,etwazwischenGottfriedBennundJohannesR.BecherimBerlinerSenderimJahr1929,odereinerErweiterungvonMusikundFilm,etwaindenberühmtenSprechopernoderjenemMusiktheater,wie es in beeindruckender Weise Bertolt Brecht und Kurt Weill in ihrer Dreigroschenoper oder der Mahagonny-Operpraktizierten;aberauchErnstKřenek mit Jonny spielt auf,uraufgeführtimJahr1927 –miteinerErfolgs-oper,obgleichwegenderKonfrontationvonklassischerMusikundJazz-musik,derIntegrationstädtischerRequisiten(Bahnhof)indieOpernbühneundnichtzuletztderPräsenzeinesSchwarzenaufderBühneeinSkandal.
EshandeltsichumeineÖffnunghinzudenMassenmedien,umeineAusrichtung also, die sicherlich nicht nur freiwillig geschah, sondern auch derErkenntnisgeschuldetseindürfte,dassdasBuchwiedieLiteraturins-gesamtinden1920erJahrenkeineswegsmehrdiedominantenMediensind,wovonnichtzuletztDebattenwiedieumdie»KrisedesBuchs«zeugen.EineMassenrezeptionvonKulturfandjedenfallsnichtmehrvornehmlichimBereich Literatur statt, sondern eher im Kino, in der Revue, im Kabarett, ganzabgesehendavon,dassauchdiegroßenSportveranstaltungenumdieMassen buhlten.1
MitBlickaufdiesesspezifischeMediengefügevonWeimar,dasentschei-denddurchdenBedeutungszugewinnderZeitungenbzw.derTagespresse
1 Vgl.hierzuGeschichtedesdeutschenBuchhandelsim19.und20. Jahrhundert.Hrsg.v.derHistorischenKommission.Bd.2:DieWeimarerRepublik1918–1933.München2007. –Sehrausdifferenziert präsentiert wird diese Umbruchphase derMedienlandschaft zwischen denWeltkriegen in: Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Paderborn2011.DieZeitbiszumZweitenWeltkriegwirdbesondersindenKapiteln2bis6behandelt.
Chiara Conterno
DerBriefwechselzwischenKarlWolfskehlundAlbertVerwey in der Zwischenkriegszeit 187
Marion Brandt
DiedeutschsprachigenBriefederpolnischenDramatikerin StanisławaPrzybyszewska 206
Personenregister 223
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Sabina Becker, Sonia Goldblum
Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen
Eine Bestandsaufnahme
MitBlickaufdasdiesjährigeJubiläumanlässlichdesEndesdesErstenWelt-kriegsunddesGründungsdatumsdererstenRepublikinDeutschlandvor100Jahrenmageszunächsterstaunen,sichden1920er JahrenundderZwischenkriegszeitüberdieBriefkulturdieserEpocheanzunähern;istdasParadigmaderKulturvonWeimardochdasderforciertenIntermedialität,derÖffnungderLiteraturfürandere,fürneueMedienalso,etwagegenüberZeitung,Film,RundfunkundMusik,jasogargegenüberRevueundSport.DieseÖffnunggehtmitderAusbildungneuerGenreseinher,desHörspiels,desRundfunkgesprächs,etwazwischenGottfriedBennundJohannesR.BecherimBerlinerSenderimJahr1929,odereinerErweiterungvonMusikundFilm,etwaindenberühmtenSprechopernoderjenemMusiktheater,wie es in beeindruckender Weise Bertolt Brecht und Kurt Weill in ihrer Dreigroschenoper oder der Mahagonny-Operpraktizierten;aberauchErnstKřenek mit Jonny spielt auf,uraufgeführtimJahr1927 –miteinerErfolgs-oper,obgleichwegenderKonfrontationvonklassischerMusikundJazz-musik,derIntegrationstädtischerRequisiten(Bahnhof)indieOpernbühneundnichtzuletztderPräsenzeinesSchwarzenaufderBühneeinSkandal.
EshandeltsichumeineÖffnunghinzudenMassenmedien,umeineAusrichtung also, die sicherlich nicht nur freiwillig geschah, sondern auch derErkenntnisgeschuldetseindürfte,dassdasBuchwiedieLiteraturins-gesamtinden1920erJahrenkeineswegsmehrdiedominantenMediensind,wovonnichtzuletztDebattenwiedieumdie»KrisedesBuchs«zeugen.EineMassenrezeptionvonKulturfandjedenfallsnichtmehrvornehmlichimBereich Literatur statt, sondern eher im Kino, in der Revue, im Kabarett, ganzabgesehendavon,dassauchdiegroßenSportveranstaltungenumdieMassen buhlten.1
MitBlickaufdiesesspezifischeMediengefügevonWeimar,dasentschei-denddurchdenBedeutungszugewinnderZeitungenbzw.derTagespresse
1 Vgl.hierzuGeschichtedesdeutschenBuchhandelsim19.und20. Jahrhundert.Hrsg.v.derHistorischenKommission.Bd.2:DieWeimarerRepublik1918–1933.München2007. –Sehrausdifferenziert präsentiert wird diese Umbruchphase derMedienlandschaft zwischen denWeltkriegen in: Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Paderborn2011.DieZeitbiszumZweitenWeltkriegwirdbesondersindenKapiteln2bis6behandelt.
Sabina Becker, Sonia Goldblum8
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geprägtist,kommteszueinermarkantenDynamisierungvonKommuni-kation und Information. DieseDominanz der Presse prägt das Bild derStädteinden1920erJahren,wofürdie»ZeitungsstadtBerlin«alsParadebei-spielsteht.WeimaristdieersteMedienkulturunddieersteInformations-undKommunikationsgesellschaftinDeutschland,dervonJürgenHaber-massoeindrucksvollnachgezeichnete»StrukturwandelderÖffentlichkeit«erhältimWeimarerJahrzehnteinennachhaltigenModernisierungsschub,ebennichtzuletztdurcheineforcierteMedienöffentlichkeit.2
DieseEntwicklungensindnundiegesellschaftlichen,kulturellenundmedialenRahmenbedingungen,inderdieBriefkulturdieserEpochezuver-orten und auch zu analysieren ist. Die Frage steht im Raum, warum und wie das traditionelle Medium Brief einen so hohen Stellenwert einnehmen konnte,zuwelchemZweckundmitwelchenInhaltenesgenutztwurde.IstdiePopularitätetwavordemHintergrundderPolePrivatheitundÖffent-lichkeit zu verstehen? Sind Briefe das Medium, mit dem Autoren dem ÖffentlichkeitscharakterderaufutilitärerSachlichkeit,FunktionalitätundMassentauglichkeitsetzendenMedienkulturvonWeimareineprivat-sub-jektive, ja subjektivistische Komponente abzuringen suchen? Und zwarohneinderliterarischenÖffentlichkeitdienotwendigePräsenzindenMas-senmedienzunegieren?UnterliegenderBriefunddasBriefgenreindiesenJahreneinemWandel?
FragloseignetdemGenreauchmitBlickaufseineTraditionundHistorieeinambivalenterCharakter,esscheintzunächstadäquatindiefunktionalundheteronomgedachteWeimarerKulturzupassen.DerBriefwarundistzwischen den Weltkriegen noch immer ein Gebrauchsmedium, aber zugleich ebenaucheinesubjektiveFormderReflexionundVerständigung:Überper-sönlicheBelangeundprivateAngelegenheitentauschtmansichgleicher-maßenaus,IndividuellesundVertrauliches,wieetwaindenLiebesbriefen(vgl.RenateStaufsBeitragzudemBriefwechselzwischenElisabethSalomon und Friedrich Gundolf),werdenverhandelt.DochzugleichwirdderBriefalseinMittelzurphilosophischenReflexiongenutzt,wobeieszurAnnäherunganeinanderes,damalssehrgebräuchlichesGenrekommt,undzwarandenEssay.DiebrieflicheReflexiongestaltetsichessayistisch,mandenkenurandieBriefezwischenHeinrich und Thomas Mannoderandiejenigenbedeu-tenderzeitgenössischerEssayisten,wieTheodorW.Adorno,WalterBenja-minundSiegfriedKracauer(vgl.GérardRauletsundOlivierAgardsBeiträge), diezeigen,dassderBriefdiepassendeFormderphilosophischenundästhe-tischenReflexionbereithält.DieFokussierungandererAutorenjenseitsdes
2 JürgenHabermas: StrukturwandelderÖffentlichkeit.UntersuchungenzueinerKategoriederbürgerlichenGesellschaft.Berlin1962.
Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen 9
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vorliegenden Bandes, etwa Kurt TucholskysoderAlfredDöblins,zeigtüber-dies,dassauchPolitischesimbrieflichenMediumangesprochenwird,dassauchpolitischeundgesellschaftlicheFrageninBriefendiskutiertwerden.Überden›OffenenBrief‹hinaus,dessenBedeutungfürThomasMannetwaim Beitrag von Friedhelm Marx herausgearbeitet wird, nutzen OswaldSpengleroderHugovonHofmannsthalu.a.denBriefzurPräzisierungundEntwicklungihrerIdeenzur›KonservativenRevolution‹,Spenglerkonkreti-siert brieflich seine kulturkritischen, ja zivilisationsfeindlichenVisionenvom»UntergangdesAbendlandes«.DiesenAspektunddenNetzwerkcharak-tervonSpenglersKorrespondenzbetontDanielMeyer in seinem Beitrag: »SpenglersBriefwechselstellteineArtLängsschnittdesDiskursesderanti-demokratischenRechtendar«.Döblinwiederumvermitteltinseinen»Brie-fenaneinenjungenMenschen«,andenjungenRomanistenGustavRenéHocke,damalsStudentinBonn,seineVorstellungeneineshumanenSozialis-mus.HockehatteimFrühjahr1930einen»[o]ffenenBrief«anDöblin ge -schrieben,mitderBitteumgeistigeOrientierungshilfeinderKrisenzeit,diefüreinenjungenIntellektuellenkeineexistenziellenHandlungsangebotebereithalte.Döblinantwortetihmdaraufhinininsgesamt9längerenBrie-fen, abgedruckt in der Zeitschrift Das Tagebuch, in denen er nicht zuletzt mit BlickaufdieStellungdesIntellektuelleneineZeitdiagnoseleistet.DieBriefeübernimmter1931indiephilosophischeSchriftWissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen –dasBuchgehörtindenKontextvonPublika-tionen,dieAnfangder1930erJahredieKrisensymptomederZeitanalysie-ren,zuerwähnensindu.a.Karl Jaspers’Die geistige Situation der Zeit oder Franz Werfels Realismus und Innerlichkeit.3
EinSammelbandüberBriefdiskurseinderZwischenkriegszeiterscheintalso einerseits naheliegend, andererseits relativ exotisch. Denn auf Briefe des20. JahrhundertsfehltbislangweitgehenddersystematischeZugriff,noch istunklar, obdiesedeutliche sprachlich-diskursiveMerkmaleauf-weisen,inwelcheTraditionderKommunikationundderSoziabilitätsiesich einschreiben oder welche sie von sich weisen. Wenn Briefwechsel der Moderne behandelt werden, dann meistens im Rahmen von Studien zu einembestimmtenAutoroderzumBriefimAllgemeinen.Zum20. Jahr-hundertvermisstmandiegroßenStudien,diezum18.oder19. Jahrhun-dert vorliegen.4MandenkezumBeispielandieStudievonKarl-HeinzBoh-rerzurEntstehungderSubjektivitätimromantischenBriefoderanRobert
3 AlfredDöblin:Wissen undVerändern!Offene Briefe an einen jungenMenschen. Berlin1931;KarlJaspers:DiegeistigeSituationderZeit.Berlin1932;FranzWerfel:RealismusundInnerlichkeit.Berlin,Wien,Leipzig1931.4 AnnetteAnton:AuthentizitätalsFiktion.Briefkultur im18.und19. Jahrhundert.Stutt-gart, Weimar 1995.
Sabina Becker, Sonia Goldblum10
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VellusigsBuchzurRelevanzderKategoriedesGesprächsfürdenBriefim18. Jahrhundert.5
Bedenktman,wievieleBriefeindererstenHälftedes20. JahrhundertsundbiszuderErfindungderE-Mailgeschriebenwurden,scheintesohne-hinnaheliegend,sichmitBriefdiskursenzubefassen.EbensomitBlickaufdieTatsache,wievieleBriefwechseljedesJahrerscheinen,dieneueNetz-werke, Arbeitsgemeinschaften und intellektuelle Freundschaften zutage treten lassen, andere, wohl bekannte neu beleuchten und damit immer deutlicherdieherausragendeBedeutungdesBriefsfürdieKulturgeschichtezeigen.WennmansichaufdieErscheinungenderletztenJahrebeschränkt,wirddeutlich,wiestarkdasInteressefürBriefenachwievorist.6
Ziel des Bandes ist es also, sowohl generell das Auge auf die herausra-gendeBedeutungvonBriefen imfrühen20. Jahrhundertzu lenken,alsauchdieCharakteristikaderBriefkommunikationinderUmbruchphasezwischen den Weltkriegen neu zu beleuchten. Dadurch soll der Leser sowohleineumfassendereBestandsaufnahmederBriefkorpora,dievondenBeiträgerInnenanalysiertwerden,alsaucheinvertieftesVerständnisderepistolarischenPraxisdieserEpocheerhalten.ZudiesemZweckerschienes besonders fruchtbar, den Fokus auf die Zwischenkriegszeit zu legen, da essichumeineEpochehandelt,dieohnehinfürdieZirkulationvonIdeen,fürdieVielseitigkeitihrerDenkansätzebekanntist.AufzubauenistdabeiaufForschungsarbeitenzumThemaBriefkultur,dieindenletztenJahrenerschienensind.ZuerwähnensindhierunteranderemdieSammelbändevonIsoldeSchiffermüller,JochenStrobelundDetlevSchöttker, die dieses Themenfeld mit erschlossen haben.7
DergewählteEpochenzuschnitt lässt sichzweifacherklären.ErhatzumeinenmitderRationalisierungderPostinden1920erJahrenzutun,diedieAnzahlvonausgetauschtenBriefenallgemeinzwischendemfrühenKaiserreichunddemEndeder1920erJahreenormsteigenlässt.FürdasJahr1928zähltman7,7MilliardenSendungen.1871warenesnur412Mil-
5 Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität.Frankfurt/Main1989;RobertVellusig:SchriftlicheGespräche.Briefkulturim18. Jahrhundert.Wien 2000.6 HierseiennureinigewenigeBeispieledereditorischenAktualitätvonBriefwechselnange-führt:SopubliziertetwaderSuhrkamp-Verlagseit2012einevonVolkerMichels herausgege-beneNeueditionvonHermannHessesBriefen;derenfünfterBandzudenJahren1932–1939erscheint 2018. Auch Rainer Maria Rilkes Briefe sind Gegenstand erneuter Aufmerksamkeit. Nachdem2017seinBriefwechselmitStefanZweigpubliziertwurde,erscheintderjenigemitBorisPasternakundMarinaZwetajewaebenfalls2018.7 IsoldeSchiffermüller(Hrsg.):Briefkultur.TransformationenEpistolarenSchreibensinderdeutschenLiteratur.Würzburg2015;DetlevSchöttker:Adressat:Nachwelt.BriefkulturundRuhmbildung.München2008.
Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen 11
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lionen.8 Das etwas altmodisch anmutende Medium Brief, von dem man den-kenkönnte,dassesnachdemErstenWeltkriegvonRadioundTelefonobso-letgemachtwurde,profitiertevielmehrvondenVerbesserungen seinerZustellungsformen.Wie Heike Pauschardt bemerkt, erlangten drei der heutehäufigstenBeförderungsartenzwischendenWeltkriegenEinzugindenPostdienst:»DieWeimarerRepublikwargleichsamGeburtsstundederumfassendenVerwendungvonKraftfahrzeugen,FlugzeugenundFörder-bändernimPostdienst.«9 Die Briefkommunikation ist somit in der Moder-nisierungswelleeinbegriffen,diesowohldieIndustriealsauchdenprivatenBereichbetrifft.DieBeschleunigung,diedadurcherfolgt,beeinflusstdiebrieflicheKommunikationdahingehend,dasssieerlaubt,veritableGesprä-cheperBriefzuführen,alsoden»brieftypischenPhasenverzug«10 zu ver-kürzenunddamitdieNatürlichkeitundUnmittelbarkeitderKommunika-tionzuerhöhen.Soerklärtsichauch,dassbeivielenAutorInnendieAnzahlvonBriefenbeiWeitemdenUmfangdeseigentlichenWerksübersteigt.EswurdenmituntermehrereBriefeproTagverfasst.DasBriefeschreibenistdahereinederwichtigstenSchreibformenderZwischenkriegszeit,esgehörteinerseitsfürvieleAutorInnenzumAlltag,andererseitsauchzudenExpe-rimentierformendieserEpoche.
JeneDiskursezufokussieren,diesichinBriefformherausbildeten,er-laubteineVerschiebungderPerspektive;kommendamitdochdieepistolari-schenSchreibweisen,dieOrganisationdesDiskursessowiediesprachlich-sti-listischenUnterschiedezwischendenBriefeneinerseitsunddemRestdesWerks andererseits in den Blick. Erkenntnisleitend sind dabei folgendeFragen: WaskanneinSchriftsteller,einEssayistodereinPhilosophwie im Briefsagen,dasinseinemWerkaufandereWeiseEingangfindet?Wasfindetman im Briefwechsel vor, nicht aber in den Werken? Die Relevanz dieser generischen Fragen besteht darin, dass somit die Laboratoriumsfunktion des BriefsbeizahlreichenAutorenbelegtundrekonstruiertwerdenkann.Einparadigmatisches Beispiel unter vielen anderen sind Walter Benjamins Briefe.IneinemWeihnachtsbriefausdemJahr1923anFlorensChristianRangverlangtBenjaminseinenvorherigenBrief(vom9.12.1923)zurück,11 indemseineAuffassungderKritikundderInterpretationvonKunstwerken
8 HeikePauschardt:Rationalisierung –Optimierung.NeueWegederBriefbeförderunginderWeimarerRepublik.In:KlausBeyrer,Hans-ChristianTäubrich(Hrsg.):DerBrief.EineKul-turgeschichtederschriftlichenKommunikation.Heidelberg 1997,S.120–127. 9 Ebd.,S.120.10 PeterBürgel:DerPrivatbrief.EntwurfeinesheuristischenModells.In:DeutscheViertel-jahrschrift50,1976,S.281–297,hierS.288.11 WalterBenjamin:GesammelteBriefe.Bd.II.Hrsg.vonChristophGöddeundHenriLonitz.Frankfurt/Main1996,S.402–404undS.390–394.
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entwickeltwurde,weilerglaubte,siefürseineArbeitzumUrsprung des deut-schen Trauerspiels nutzbarmachenzukönnen.DieseIdeenhatteBenjamin, so schreibter,dortzumerstenMalentwickelt.DiesesBeispielzeigt,wiederBriefkonkretalsWerkstattdesDenkensfungierenkann.EsentwickeltsichinderMitteilung,alsReaktionaufeineAnregung,undwirdwoandersfürandere Zwecke wiederverwertet. Dass solche Phänomene bei Benjamin üblichsind,zeigtseingroßerBriefüberBriefeanErnstSchoen, der sich auch alsAbschriftinderGesamtausgabefindet.12Zunennenwärefernereinlan-ger Brief an Martin Bubervom17.Juli1916,indemesinersterLinieumBubersStellungnahmezumKrieggeht,indemaberauchdiePrämissendesAufsatzes Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschenzufindensind.13EinanderesBeispiel,Benjamins Auseinandersetzung mit Franz Kafka betreffend,wirdvonIsoldeSchiffermüllerimvorliegendenBandausführlichanalysiert.Benjaminfungiert jedochhiernuralsbesondersprominentesBeispiel;ähnlicheFormenderZirkulationzwischenWerkundBriefsindbeidenmeistenBriefautorInnennachzuweisen,wiediehiervorliegendenBei-trägebestätigen.
DerBriefistnichtzuletztderKristallisationsortzahlreicherReflexio-nenundDiskussionenüber eigeneTexteundüber dieWerke anderer.Diesezueruierenundzuanalysieren,kannhelfen,denjeweiligenAutorim›literarischenFeld‹bzw.inseinemeigenenintellektuellenUmfeldzuverorten und die von ihm bezogenen Positionen besser zu verstehen. Dabei sindmitunterneue,unerwarteteErkenntnissezugewinnen,wiedieBelegeeinerfrühenRezeptionMartinHeideggersvonHermannBroch, die Robert Krause in dessen Briefwechsel mit Robert Musil herausarbeitet. Aus diesem GrundstehtbeivielenBeiträgerInnendieIdeedesNetzwerksimMittel-punkt, wobei besonders prominente Kommunitäten mehrfach in denFokusgeraten.HierseiennurderGeorge-Kreis(wiebeiRenateStauf oder ChiaraConterno),dieLeservonOswaldSpenglers Untergang des Abendlandes (DanielMeyer)oderdiezahlreichenKontakteWalterBenjamins(GérardRauletundIsoldeSchiffermüller)alsBeispielegenannt.Siezeigen,wiedieuntersuchtenBriefwechseluntereinandervernetztundwieengdieVer-bindungenunterdenliterarischenundphilosophischenAkteurendieserZeit sind. Als instruktiv hat sich dabei der Begriff der Briefdiskurse erwie-sen,lädterdochdazuein,überdeneinzelnenuntersuchtenBriefwechsel
12 WalterBenjaminanErnstSchoen,Briefvom19.September1919.In:Ebd.,S.47–48.Wal-terBenjamin:ManunterschätztheuteBriefwechsel.In:Ders.:GesammelteSchriften.Bd.VI.Hrsg.v.RolfTiedemannundHermannSchweppenhäuser.Frankfurt/Main1991,S.95.13 WalterBenjamin:GesammelteBriefe.Bd.IV.Hrsg.vonChristophGöddeundHenriLonitz.Frankfurt/Main1995,S.325–328.
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hinausnachautorübergreifendenLinienzusuchen.SolcheLinienlassensichdurchdieverschiedenenAufsätzeverfolgen,diemosaikartigdastheo-retischeFundamentfüreinesystematischeBetrachtungzumBriefzwi-schen den Weltkriegen bilden.
DesÖfteren(etwavonRobertKrause)wirddaraufhingewiesen,dassdieuntersuchtenBriefwechsel,beispielsweisederjenigeMusils und Brochs, von derForschungbishereherstiefmütterlichbehandeltwurden.Krause zitiert das Broch-unddasMusil-Handbuch.14ÄhnlicheAussagenfindensichimBenjamin-Handbuch,indemGertMattenklottklagt,dassBenjaminsBriefe derForschungoftlediglichals»ArsenalfürBelegmaterial«dienen.15GérardRauletsBeitragzurKorrespondenzBenjaminsundErnstBlochseröffnetinsofernneueEinsichteninderendenkerischeÜbereinstimmungen,aberauchDifferenzen.SelbstimHandbuchzuKafka, dessen Briefe sowohl in seinemWerkalsauchindessenRezeptioneinebedeutendeundanerkannteRollespielen,bereutEkkehardW.Haring,dass50JahrenachMaxBrods Auseinandersetzung mit KafkasBriefwechseln»nochimmerkeineumfas-sendeUntersuchungdesBriefwerkesvorliegt«.16 Damit soll keineswegs der Eindruckerwecktwerden,dassdieLiteraturwissenschaftinkonsequentseiundihreVertreterInneneinerseitsinHandbücherndiemangelndeBeach-tung der Briefewichtiger AutorInnen bedauern und andererseits nichtbehebenwürden.EinesystematischeUntersuchunggrößererBriefkorporaistmitgrundsätzlichenSchwierigkeitenverbunden,diediesewiederholteBeobachtungeinertendenziellenVernachlässigungderBriefezumindestpartiellerklären.DerersteGrunddafüristsicherlich,dassderBriefkeineneindeutigen Status besitzt. Bei manchen Autoren wie Kafka haben die Briefe EingangindenKanondesWerksgefunden,beianderenAutorInnenistdiesallesanderealsevident.SomitdürftenmancheWissenschaftlerInnendenEindruckhaben,sichimFallevonBriefenmiteinemzweitrangigenKorpuszu befassen. Damit geht einher, dass keineswegs selten ›Biografismus‹gewittertwird,wennForscherInnensichmitprivatemMaterialbefassen,vondemnichtimmersicherist,inwiefernesfürdieÖffentlichkeitgedachtwar. Jochen Strobel thematisiert diesenAspekt, indem er fragt,welcheBriefe Thomas MannsseinemWerkzugerechnetwerdenkönnen.
14 Vgl. Graham Bartram: Brochs epistolarischesWerk. In: Adrian Stevens, FredWagner,SigurdPaulScheichl(Hrsg.):HermannBroch.Modernismus,KulturkriseundHitlerzeit.Inns-bruck1994,S.461–505;FabrizioCambi:Briefe.In:BirgitNübel,NorbertChristianWolf(Hrsg.):Robert-Musil-Handbuch.Berlin,Boston2016,S.441–450.15 Gert Mattenklott:BriefeundBriefwechsel.In:BurkhardtLindner(Hrsg.):Benjamin-Hand-buch.Leben –Werk –Wirkung.Stuttgart,Weimar2006,S.680–687,hierS.682.16 EkkehardW. Haring: Das Briefwerk. In: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hrsg.): Kaf-ka-Handbuch.Leben –Werk –Wirkung.Stuttgart,Weimar2010,S.390–402,hierS.400.
Sabina Becker, Sonia Goldblum14
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AusdiesenGründenistunsdersystematischeFokusaufFormenderBriefdiskurseüberauswichtig,istsodochzuzeigen,dassBriefemehrbie-tenalsBelegstellenimDienstderAnalysedesübrigenWerks.Zudenbereitsgenannten Schwierigkeiten kommt hinzu, dass die Briefe eines Autors bzw. einer Autorin meistens eine große Menge an sehr heterogenem Material darstellen,dieschwerbegrifflichzuerfassenist,weiljenachInteressens-schwerpunkt der jeweiligen ForscherInnen unterschiedliche Teile oderAspekteeinesBriefwechselszurDiskussionkommen.DasMaterialmussalsovorderAnalyseerstsortiertwerden,wasineinerEinzelstudie,einemAufsatz zu einem bestimmten Thema oder einer Überblickdarstellung in einemHandbuchleichterzumachenistalsfüreineMonografie.DieLageder Editionen kann erschwerend hinzukommen, mitunter sind dieseunvollständigodernichtmehrzeitgemäß – thematisiertwirddiesesPro-blem u.a. von Jochen Strobel bezüglich der Regestausgabe zu ThomasMannsBriefen –,wasdieFragenachderHalbwertszeitvonBriefausgabenund nach der Notwendigkeit ihrer Digitalisierung aufwirft.17GérardRaulet betontdarüberhinausdenlückenhaftenCharakterdesBriefwechselszwi-schenBlochundBenjamin.DassBlochdieBriefeseinesBriefpartnerszer-störthat,machtesnotwendig,weitereDokumenteheranzuziehen,wodurchdieNetzwerkdimensionvonRauletsStudieverstärktwird.
AutorzentrierteEditionenkönnensichindiesemZusammenhangauchalsproblematischerweisen,weilsieNetzwerkeffekteindenHintergrunddrängen,obwohldiesefürdieBriefforschungunerlässlichsind.VonsechserhaltenenBriefenbeinhaltenzumBeispieldieMusil- und Broch-Ausgaben nur die Autorenbriefe und nicht die An-Briefe. Bei Kafka sind Letztere sys-tematischabwesend,siewurdengrößtenteilsvonKafkaselbstvernichtet,wieEkkehardW.HaringimbereitszitiertenHandbuch-Artikelbetont.18 UndselbstwennbeieinemBriefwechseldieverschiedenenStimmenerhal-tensind,erfordertdessenErforschungoftmalseineRekonstruktionsarbeitübermehrereAusgaben,diezumindestmühsamist.EinBeispieldafüristdie Ausgabe der Schriften des Politikwissenschaftlers Leo Strauss, einige Briefwechsel wurden im zweiten Teil des Bandes zu Hobbes politische Wissen-schaftpubliziert.SiesindnurmiteinerkurzeneditorischenNotizversehen,ohnenähereErklärungen,diedemLeserhelfenwürden,dieAndeutungen
17 Vgl.u.adiePlattformcorrespsearch.net[letzterZugriff:8.5.2018],beider»dieVerzeich-nisse verschiedener digitaler und gedruckter Briefeditionen nach Absender, Empfänger,SchreibortundDatumdurchsucht«werdenkönnen,vorerstabereherBriefeditionenum1800erfasst.ZudiesemThemavgl.auchAnneBohnenkamp-Renken,ElkeRichter(Hrsg.):Briefedi-tion im digitalen Zeitalter. Berlin 2013.18 Haring:DasBriefwerk,S.398.
Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen 15
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zuverstehen.DieserVerzichtauf jeglicheFormdesKommentarsmachtStrauss’Briefwechselschwerzugänglich.19
DieSchnittstellezwischenÖffentlichemundPrivatemgehörtauchzuden Kernfragen der Briefforschung. Auf der einen Seite steht Thomas Mann, der, so Friedhelm Marx, bei keinem Privatbrief die Dimension des Öffentlichengänzlichvergesse,daihmbewusstsei,dasserimmermitfürdieNachweltschreibe.AufderanderenSeitefindetmanStanisławaPrzy-byszewska, von der Marion Brandtberichtet,indemsieaufdenfürBrief-wechselallgemeinwichtigenKomplexvonNäheundDistanzeingeht.FürPrzybyszewskagingdasBriefeschreibenzueinerArtderTagebuchführungüber,Briefewurdennichtmehrgänzlichabgeschickt.Nähewirdsimuliert,wasdenBriefwechselzueinerKompensationderEinsamkeitwerdenlässt.BrandtstelltdieFrage,inwiefernStanisławaPrzybyszewska sich nicht in Thomas ManneinenfiktivenKorrespondentenausgesuchthabe.DamitistdieDimensionderKonstruktionangesprochen,dieinderBriefforschungeminentwichtigistunddieverschiedeneAspektedesBriefdiskursesbe-treffenkann.DerBriefkannzunächstderOrteinerSelbstkonstruktionoderSelbstinszenierungsein,wiebeiOswaldSpengler. Daniel Meyer zeigt, wie sichSpengler imBriefwechselmit seinenZeitgenossenundLeserneinerSelbstüberschätzunghingibt,wasbesondersdeutlichwird,wennermanchenvonihnendurchseineKontakteHilfeverspricht.Meyer bemerkt allerdingsauch,dass»derzeitgebundene,kalendarischfestlegbareCharak-terdesBriefdiskursesgenaudieserTendenzentgegen[spielt],teleologischeNarrative zu formen«, und es somit erlaubt, solcheKonstruktionen zuentlarven.AlsKontrapunktzudieserSelbstinszenierungerscheinendievon Elsbeth Dangel-Pelloquin analysierten sogenannten »Verwerfungs-briefe«Hofmannsthals,beidenenetwasvonseinertiefstenInnerlichkeit,javonseinemUnbewusstenfreigelegtwerde.AufdieRaumkonstruktion,diederBriefleistet,weisenebensovieleBeiträgerInnenhin,beispielsweiseRenate Stauf,wennsiedieErschaffungeinesSchreibraumsalseinederFunktionen des Briefwechsels zwischen Friedrich GundolfundElisabethSalomonansieht.ChiaraConternosprichtihrerseitsbezüglichdesBrief-wechselszwischenAlbertVerwey und Karl Wolfskehlvoneinem»Lebens-raum imMedium der Schrift«. Das erinnert an die Bemerkung GillesDeleuzes undFélixGuattaris, die mit Blick auf Kafkaschrieben,dass»derBriefdieLiebeent-territorialisiert«.DieBeiträgerInnendesvorliegendenBandesbeweisenoftmalsGegenteiliges –indemsieFälleherausarbeiten,
19 LeoStrauss:Hobbes’politischeWissenschaftundzugehörigeSchriften –Briefe.Hrsg.vonHeinrichundWiebkeMeier.Stuttgart,Weimar2001,S.377–785.
Sabina Becker, Sonia Goldblum16
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beidenenderBriefwechselersteinTerritoriumfürdieBeziehungschafft,sei sie erotischer oder freundschaftlicher Natur, und sie somit gleichsam re-territorialisiert.20
DervorliegendeBandistdasErgebnisderReflexionen,diebeiderTagung»BriefdiskurseinderZwischenkriegszeit«präsentiertunddurchgeführtwurden.SiefandbeimFreiburgerInstitutforAdvancedStudies(FRIAS)vom2.–4.März2017statt.DemFRIASdankenwirfürseinegroßzügigefinanzielleundlogistischeUnterstützungbeiderOrganisationdieserVer-anstaltung.DerForschungsgruppeILLE(UniversitédeHaute-Alsace –Mul-house)dankenwirfürdiefinanzielleHilfebeiderPublikationdesvorlie-genden Bandes.
20 GillesDeleuze,FélixGuattari:Kafka.Pourunelittératuremineure.Paris1975,S.53.
Jochen Strobel
Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten
Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933
I.
DerBriefisteinKommunikationsmedium,dasderSpeicherungundÜber-tragung schriftlicher oder ikonischer Zeichen an abwesende Adressaten dient, in der Regel mit Zeitverzug.1DieBehauptung,erseieinGesprächzwischenAbwesenden,istparadox;vielmehrkönnteeineSerievonzwi-schenmindestens zwei Beteiligten zirkulierenden Briefen ein Gesprächsimulieren oder nachahmen. Das Schrei ben und Lesen von Briefen ist seit LängeremschoneinemeisteinsameunddochvonperformativenMomen-tennichtfreieAngelegenheit.DasSchreiben,VersendenundLesenelektro-nischerschriftlicherKurznachrichten –einerSpätformdesBriefs –besitzt,wie wir wissen, des Öfteren auch theatrale, demonstrative Momente. Bis zur ErfindungderTelegrafiewarderBriefdaseinzigzuverlässige,wenngleichlange Zeit mit Kosten und Aufwand verbundene Medium der individuellen Distanzkommunikation.Seitessichim18. JahrhundertvonallerleiNor-menbefreithatte,wareseinMedium,dessenquantitativ,formal,thema-tischundstilistischzunehmendoffenerTextanteilimGrundevonjedemgenutzt werden konnte, der des Schreibens und Lesens kundig war.
DabeiversprichtderBriefmehralserhaltenkann.Papieristgeduldig –undderinderZukunftzudenkendeentfernteEmpfängermagseineFan-tasiebemühen,wenneraufNeuigkeitenvergebenswartet,odererstrecht,wenneinBriefeingeht.MitderÜbertragungbrieflicherBotschaftenoderauchderenAusbleibenetwaimLiebesdiskurskönnenweitreichendekog-nitiveundemotionaleFolgelastenverbundensein.SeineVorteileliegenbisheute in der usability,derVielfaltetwasprachlicherundgrafischerGestal-tungsmöglichkeiten,seinerweitausdifferenziertenPragmatik.Erhatsich –verwandelt,technischaufgerüstetunddochleichthandhabbar –haltenkönnen,daersichbewährthat.
1 DieseeinleitendenBemerkungenorientierensichteilsan:JochenStrobel:Art.»Brief«.In:MichaelWetzel(Hrsg.):HandbuchAutorschaft.Berlin,Boston2019.
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Jochen Strobel
Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten
Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933
I.
DerBriefisteinKommunikationsmedium,dasderSpeicherungundÜber-tragung schriftlicher oder ikonischer Zeichen an abwesende Adressaten dient, in der Regel mit Zeitverzug.1DieBehauptung,erseieinGesprächzwischenAbwesenden,istparadox;vielmehrkönnteeineSerievonzwi-schenmindestens zwei Beteiligten zirkulierenden Briefen ein Gesprächsimulieren oder nachahmen. Das Schrei ben und Lesen von Briefen ist seit LängeremschoneinemeisteinsameunddochvonperformativenMomen-tennichtfreieAngelegenheit.DasSchreiben,VersendenundLesenelektro-nischerschriftlicherKurznachrichten –einerSpätformdesBriefs –besitzt,wie wir wissen, des Öfteren auch theatrale, demonstrative Momente. Bis zur ErfindungderTelegrafiewarderBriefdaseinzigzuverlässige,wenngleichlange Zeit mit Kosten und Aufwand verbundene Medium der individuellen Distanzkommunikation.Seitessichim18. JahrhundertvonallerleiNor-menbefreithatte,wareseinMedium,dessenquantitativ,formal,thema-tischundstilistischzunehmendoffenerTextanteilimGrundevonjedemgenutzt werden konnte, der des Schreibens und Lesens kundig war.
DabeiversprichtderBriefmehralserhaltenkann.Papieristgeduldig –undderinderZukunftzudenkendeentfernteEmpfängermagseineFan-tasiebemühen,wenneraufNeuigkeitenvergebenswartet,odererstrecht,wenneinBriefeingeht.MitderÜbertragungbrieflicherBotschaftenoderauchderenAusbleibenetwaimLiebesdiskurskönnenweitreichendekog-nitiveundemotionaleFolgelastenverbundensein.SeineVorteileliegenbisheute in der usability,derVielfaltetwasprachlicherundgrafischerGestal-tungsmöglichkeiten,seinerweitausdifferenziertenPragmatik.Erhatsich –verwandelt,technischaufgerüstetunddochleichthandhabbar –haltenkönnen,daersichbewährthat.
1 DieseeinleitendenBemerkungenorientierensichteilsan:JochenStrobel:Art.»Brief«.In:MichaelWetzel(Hrsg.):HandbuchAutorschaft.Berlin,Boston2019.
Jochen Strobel18
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DistanzkommunikationbedingteinegewisseUnunterscheidbarkeitzwi-schenWahrheitundLüge;derDialogodergardieGeselligkeit,diesievor-schützt,istohnehinnichtganzecht.VoralleminZeitengeringerMobilitätmussteerechteGeselligkeitersetzen,soferndiedurchdenBriefzurück-gelegteStreckenichtauchdurchdiebeidenKommunikationspartnerüber-wunden werden konnte. Der Schreiber richtet sich nicht an den realen Adressaten,sondernandessenProjektion,dieihmbeimSchreibensozusa-gengegenübersitzt.DerAdressathatimmerhindenTextdesSchreibersalsAnhaltspunkt,somitwiederumnichtdenSchreiberselbst,sondernledig-lichdessenSurrogat.DiesmachtdenBriefinstrumentalisierbarfürvielerleiZweckeundnamentlichfürRollenspielederBeteiligten.
II.
WennandenVorurteilenvorallemüberdenjüngerenThomasMannetwasdranist,dannmüsstederBrieffürihndasidealeMediumderDistanzkom-munikationsein.Ergiltnichtalsgesellig,sondernalseinemotionsarmerRationalist.SeinersterBiografArthurEloesser, der gleich noch begegnen wird,sagtdasinseinempünktlichzum50.Geburtstag1925erschienenen,von Thomas Mann autorisierten Buch ganz deutlich:
DerjungeThomasMannhatkeinenKranzaufseinemHauptegetragen,undmankann sich auch sonst nicht vorstellen, daß er mit Gleichgestimmten, Gleichge-sinnten,GleichbegeistertenaneinerTafelrundegeschwelgthat.Esgibtkaumeinen Schriftsteller, der mit weniger Geselligkeit, mit weniger Kameradschaft aufgetreten ist, der, obgleich literarisch durch und durch, weniger aus einer lite-rarischenKampfgemeinschaftzustammenscheint.2
ÄhnlichwieseinBiografEloesserbezichtigtsichder50-jährigeThomasManninseinerimMünchnerRathausgehaltenenTischredeimAngesichtderver-sammeltenFestgemeindeselbstderUngeselligkeit,derDistanziertheit:
Habe ichesverdient,vorallemmenschlich-persönlichverdient? Ich fürchte:nein.IchwarkeinrechtgeselligerMensch,keinguterKollegesogar,fürchteich.Ichhieltmichzurück,ichwarvielallein,ichwarschwerfürAustauschundOrganisationundGesellschaftzuhaben.3
2 ArthurEloesser:ThomasMann.SeinLebenundseinWerk.Berlin1925,S.11.3 ThomasMann:TischredebeiderFeierdes50.Geburtstags.In:Ders.:EssaysII.1914–1926.Hrsg.undtextkritischdurchgesehenvonHermannKurzke(= GroßekommentierteFrankfur-terAusgabe.Band15.1.)Frankfurt/Main2002,S.985–988,hierS.985f.
Thomas Manns Korrespondenzen 19
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Erkönnteergänzen:aberichschreibevieleBriefe!SozialerRückzugunddiedarausresultierendeSelbstverrätselungeinesAutors –nachManndurchSalinger, Pynchon, MoersaufdieSpitzegetriebenundvondenLesernzumKulterhoben –eröffnendemfiktionalenunddemessayistischenSchreibenerstSpiel-RaumfürSelbstbilderdesAutors,diezuNacherlebenundNach-empfinden Anlass geben. In der Briefkommunikation bekommt diesenSpielraumzunächstnureinerangeboten:derAdressat.
Manns Briefe aber, von denen sich der neugierige Leser Nabelschau erhof-fenkönnte,verrätselndasBilddesSchreiberserneut,siebilden,wieBern-hard Blumeschon1970festhielt,eine»kühleVerweisungvonderPersonaufdasWerk«.4DieKünstlichkeit,mitdereinIchnamensThomasManndortvon sich schreibt, bewirktmehr Abwehr als Annäherung. Das Gros derBriefe, so noch einmal Blume,sei»einüberlegtesundhöchstdiszipliniertesVerteidigungswerk[…]:denimmerwiederholtenVersuch,sichaufdieFor-derungenderWelteinzulassenundsichihnengleichzeitigzuentziehen«.5
BriefeschreibenalseinederHauptaufgabendesinsozialerBeziehungs-armutlebendenrepräsentativenAutorsistein –literarisches, ein von Tho-masMannerfundenesMotiv,dasinForschungsbeiträgenzuseinenBriefengern zitiert wird. Das Zitat ist auch hier unvermeidlich, man kann es Satz fürSatzaufseinenAutorummünzen:
BeinahenocheinGymnasiast,besaßereinenNamen.ZehnJahrespäterhatteergelernt,vonseinemSchreibtischeauszurepräsentieren,seinenRuhmzuver-walten,ineinemBriefsatz,derkurzseinmußte(dennvieleAnsprüchedringenaufdenErfolgreichen,denVertrauenswürdigenein),gütigundbedeutendzusein.DerVierzigerhatte,ermattetvondenStrapazenundWechselfällendereigentlichenArbeit,alltäglicheinePostzubewältigen,dieWertzeichenausallerHerrenLändertrug.6
Dasallestrifftaufden40-jährigenThomasMannvon1915inetwazu,erwird sich mit den Briefen leicht getan haben, doch seine literarische Pro-duktionstockte.GustavvonAschenbach,umdenesindemZitatgeht,hörtmit50Jahrendannauchauf,Briefezuschreiben,undwillstattdessenzulebenbeginnen.BekanntlichbleibterauchinVenedigbeiseinenSelbstge-
4 BernhardBlume:DerBriefschreiberThomasMann.In:JeffreyL.Sammons,ErnstSchürer(Hrsg.): Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur. Festschrift für HeinrichE.K.Henel.München1970,S.277–289,hierS.277.5 Ebd.,S.278.6 ThomasMann:DerTod inVenedig. In:Ders.: FrüheErzählungen1893–1912.Hrsg.undtextkritischdurchgesehenvonTerenceJ.Reed(= GroßekommentierteFrankfurterAusgabe.Band2.1.)Frankfurt/Main2005,S.501–592,hierS.508.
Jochen Strobel20
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sprächen,beiderbloßenProjektionaufeinidealisiertesSelbstobjekt –einen14-jährigenpolnischenKnaben,mitdemerineineneue,rechtinstabileDistanzkommunikation aus Blickwechseln und anderen Gesten eintritt. Seine erkalteteHerzensschrift hatte sich aber offenbar zuletzt imBriefnochmanifestierenkönnen.
Das literaturwissenschaftlichUnstatthafte der gerade geübtenArgu-mentationspraxis,dieAnalogiebildungzwischenHeldundAutor,hatunsThomasMannvorgemachtundnahegelegt;nichtnurinRedenundEssays,sondern auch in Briefen, dort vielleicht noch weitergehend als in anderen Medien.MannermutigtseineInterpreten,AnalogienzwischenihmselbstundGustavvonAschenbachoderHansCastorp,zwischenAutorundWerk,gernauchzwischenAutorundKritikerzubilden.ErstelltAnalogienherzwischenseinenTextenunddenen,dieihmseineKorrespondentenzusen-den,solchenvielleicht,dieauchinengerKooperationentstandensind.AlsResultateinerAushandlungzwischendemAutorEloesser und dem Gegen-standderBiografieManndarfbeispielsweiseaucheineAnalogiebildungzum Zauberberg-HeldenHansCastorpgelten,mitderEloesser seinen Band beschließt:»ThomasMannhatsichinjederHinsichthochhinaufgewagt,ohnebergkrankzuwerden,underhatunsaufseineHöhemitgenommen,vonderwirnunÜbersichtgewinnen.«7
DieDeutungs-undBewertungsprozesse indenBriefenderZwischen-kriegszeit, gehe es um Manns eigene Texte oder die der Adressaten, sind nichtzudenkenohneAnalogienundSpiegelungen.DerbrieflicheDialogkreist mitunter darum, ausgehend von Gemeinsamkeiten zwischen beiden Schreibernund/oderihrenTexten,zwei›Diskurswelten‹,nämlichdiedesjeweiligenSchreibersunddiedesjeweiligenEmpfängers,zuverknüpfen,indemimplizitbehauptetwird,dieeinedieserWeltenseieinGegenstück,mankönnteauchsagen:Spiegel-oderProjektionsfläche,derjeweilsande-ren.EsistvoneinigemReiz,dieaufKonsensundSpiegelungbedachteBrief-kommunikation zwischen Schriftsteller und Publizist oder zwischen Schrift-steller und Literaturwissenschaftler unter diesem Aspekt zu sehen. DieKognitionswissenschaft sprichtvonähnlichenDiskurswelten,diemittelscross-space mappingdurchdenRezipientenmiteinander inVerbindungzubringenseien:»Apartialcross-spacemappingconnectscounterpartsintheinputmentalspaces.«8Diebeiden›Versionen‹etwavonCharakterenindenbeiden zu betrachtenden mental spaces werden counterparts genannt, Gegen-stücke.AufdieseWeisewirddasvordergründigUnverbundenemiteinander
7 Eloesser:ThomasMann,S.205.8 GillesFauconnier,MarkTurner:Thewaywethink.ConceptualBlendingandtheMind’sHiddenComplexities.NewYork2002,S.41.
Thomas Manns Korrespondenzen 21
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verknüpft,eswirdwechselseitigkontextualisiert.9DieErzeugungsolcher›Gegenstücke‹zwischenErfahrungsweltundfiktionalerWeltoderzwischenzwei›Teilwelten‹einesfiktionalenTexts(etwa:VergangenheitundGegen-warteinerFigur,diesomiteineinzwei›Welten‹agierende,vonWeltzuWeltsichwandelndeFigur ist) istSachederLiteratur – im›wirklichen‹LebenkommtsiefreilichauchvorundThomasMannsBriefpraxisbezeugtdies.
ImmerwiederdasAnalogezusehen,immerwiedereinanderzubespie-geln und auf diese Weise weitgehenden Konsens zu artikulieren, der viel-leichtdurchSynthesenformelnnochaufdenPunktgebrachtwird –dasfunktioniert sehr gut in Briefen an einen geduldigen Adressaten, der sich geehrtfühlt,voneinembereitsberühmtenAutordergestaltAnerkennungzuerfahren.AnerkennungdürfteaucheinHauptmotivdesBriefeschrei-benssein;erwartetwerdenkannsie,wennÄhnlichkeitenundnichtDiffe-renzenzurSprachekommen.Analogienzudemundvorallemzwischenseiner Welt und den von ihm geschaffenen Textwelten zu bilden, ohne jedochSchlüsselromanezuschreiben –AktederKommentierungundDeu-tungeigenerTextevorzunehmen,SelbstzitateausdenfiktionalenTextenin Briefe zu integrieren,10dasistMannsvielleichtgrößterpoetologischerTrick.Briefeeignensichhervorragenddafür,Adressatensozusagenunge-straftmitAnalogisierungenzubeglücken.Siewerdensichumsoseltenerwehren,wennsiedenBriefalsGabe,alsGeschenkwerten.Einaufstreben-der,aber(noch)nichtallzusehrsozialaufgeschlossenerAutor,derseineDeutungs-undWertungsvorschlägeuntersVolkbringenmöchte,wirdsichanseinenSchreibtischzurückziehenundBriefeschreiben,ohnesichgleicheinemGegenüberaussetzenzumüssen.Vorabnochdies:NureinsamerRepräsentantwarderBriefschreiberThomasMannzukeinerZeit!
KritikerundLiteraturwissenschaftler –zumindestvonihrerAusbildunghersinddiesebeidenPersonengruppenimhierinfragestehendenZeitraumnicht leicht zu unterscheiden: Sie waren in der Regel studierte Philologen, andersalsThomasMannderdamaligenAuffassungnach:Gebildete.Spie-gelungundKonsensbildungmitdengelerntenPhilologenwarenfürden›halbgebildeten‹Dichter-LiteratenThomasMann –dieseWortefallenvordemHorizontderBetrachtungen eines Unpolitischen, Manns großem Selbstbe-spiegelungsessayderKriegsjahre –einStückSelbstlegitimationundAnnä-herungansehrbürgerlichesPersonal.DabeihatteesdenTypusdesgebil-detenDichterphilologen seit dem19. Jahrhundert gegeben, hatten sich
9 Vgl.PeterStockwell:CognitivePoetics.Anintroduction.London,NewYork2002,S.94f.10 Vgl.dasKapitel»SelbstzitateinThomasMannsBriefen«in:GertBruhn:DasSelbstzitatbeiThomasMann.UntersuchungenzumVerhältnisvonFiktionundAutobiographie inseinemWerk.NewYorku.a.1992,S.151–159.
Jochen Strobel22
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Konkurrenz und KomplizenschaftzwischenliterarischerAutorschaftundPhilologieausgeprägt.11Neuwarnun,imfrühen20. Jahrhundert,dassdiePhilologieselbstsichlangsamvonihrerpoesieabstinentenNüchternheitverabschiedete und sich unter dem Rubrum ›Geisteswissenschaft‹ derdamalssogenannten›Dichtung‹annäherte.12
III.
ThomasManngiltalseifrigerBriefschreiber;dieslässtsich,nachJahrengeordnet,leichtnachweisenundvisualisieren.DieZahlenderGrafikberu-henaufdernunallerdingsgutdreiJahrzehntealten(undleidernichtaktu-alisierten)13 Regestausgabe14,die14.000Briefeerfassthat –dasaktuelleThomas-Mann-Handbuchsprichtvoninzwischen25.000bekanntenVon-Brie-fen,wovon21.000(meistinKopie)imZürcherThomas-Mann-Archivlägen15. EineabweichendeZahlnannteaufAnfragedasArchiv,nämlichderzeit15.806Von-Briefeund8.087An-Briefe.16
Die Regestausgabe indes, an deren Zahlen sich dieser Beitrag also etwas anachronistischerweiseorientiert,wussteschonvor40Jahrenzuberichten,dassvondenindenTagebüchernderJahre1918–1921genanntenBriefennureinDrittelbekanntsei –unddaMannumgekehrtvieleerhalteneBriefedortnichtgenannthat,dürfteeszahlreicheSchreibengegebenhaben,diewederindenTagebücherngenanntnocherhaltensind17 –dieZahl113für
11 Vgl.Mark-GeorgDehrmann:StudierteDichter.ZumSpannungsverhältnisvonDichtungundphilologisch-historischenWissenschaftenim19. Jahrhundert.Berlin,Boston2015.12 Vgl.nachwievor:ChristophKönig,EberhardLämmert(Hrsg.):LiteraturwissenschaftundGeistesgeschichte1910–1925.Frankfurt/Main1993.13 AngesichtsdesZuwachsesanbekanntenBriefenunddesnichtnachlassendenInteressesanWerk und Person Thomas Manns ist eine Open-Access-Datenbank zumindest mit allenbekanntenMetadatenplusBilddigitalisateneindringendesDesideratderThomas-Mann-For-schung.VermutlichwurdebislangauchnichtsystematischnachnichtimNachlassbefindli-chen An-Briefen recherchiert.14 DieBriefeThomasManns.RegestenundRegister.Bearb.undhrsg.vonHansBürginundHans-OttoMayer.5Bände.Frankfurt/Main1977–1987.15 Vgl. Thomas Sprecher: Briefe. In: Andreas Blödorn, Friedhelm Marx (Hrsg.): Tho-mas-Mann-Handbuch.Leben –Werk –Wirkung.Stuttgart2015,S.230–236,hierS.231.16 FürdieseAuskunftperE-Mail(am4.12.2017)dankeichFrauGabiHollender, wiss. Biblio-thekarinanderETHZürich.17 Vgl.GertHeine,YvonneSchmidlin:Nachwort.In:DieBriefeThomasManns.RegestenundRegister.Band IV.Bearb.undhrsg.vonHansBürginundHans-OttoMayer.Frankfurt/Main1987,S.623–638,hierS.627f.
Thomas Manns Korrespondenzen 23
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18 FürdieAnfertigungderGrafikdankeichFrauBiancaMüller,Marburg.
FN-Aufruf versteckt
Abb. 1: Überlieferung der Briefe Thomas Manns laut Regestausgabe (s. Anm. 13; eigene Grafik). Hellgrau die Gesamtzahl der Briefe, darüber dunkelgrau für einige ausgewählte Jahre der Anteil der Briefe an Literaturkritiker und -wissenschaftler in absoluten Zahlen.18