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Was ist Religion?

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Was ist Religion?Texte von

Cicero bis Luhmann

Herausgegeben vonJens Schlieter

Reclam

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2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage 2018

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 187852010, 2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2018

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-018785-2

www.reclam.de

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Der Begriff »Religion« in Antike und Mittelalter

Marcus Tullius Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Über das Wesen der Götter . . . . . . . . . . . . . 32

Lucius Caelius Firmianus Lactantius . . . . . . . . . 34Göttliche Unterweisungen . . . . . . . . . . . . . 36

Aurelius Augustinus von Hippo . . . . . . . . . . . . 38Über die wahre Religion . . . . . . . . . . . . . . 40

Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Summe der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Neuzeit – Religionsbegriffe der philosophischenAufklärung und Religionskritik

Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzedes Staatsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

David Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Dialoge über natürliche Religion . . . . . . . . . . 61

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher . . . . . . . . 65Reden über die Religion . . . . . . . . . . . . . . 67

Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Über Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßenVernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . 86Vorlesungen über Geschichte der Philosophie I . . 89

Ludwig Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Das Wesen des Christentums . . . . . . . . . . . . 93

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Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie . 99Thesen über Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . 101

Religionsbegriffe der Theologie und derWissenschaften: Ethnologie – Psychologie –

Soziologie – Religionswissenschaft

Friedrich Max Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . 105Essays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Edward Burnett Tylor . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Die Anfänge der Cultur . . . . . . . . . . . . . . 114

William James . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Die Vielfalt der religiösen Erfahrung . . . . . . . 121

Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Zwangshandlungen und Religionsübungen . . . . 127

Émile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130Die elementaren Formen des religiösen Lebens . 132

Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Wirtschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 139

Rudolf Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Carl Gustav Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Psychologie und Religion . . . . . . . . . . . . . 152

Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Kirchliche Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Bronislaw K. Malinowski . . . . . . . . . . . . . . . 166Magie, Wissenschaft und Religion . . . . . . . . 168

Paul Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173Aspekte einer religiösen Analyse der Kultur . . . 174Über die Grenzen von Religion und Kultur . . . 176

Mircea Eliade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Das Heilige und das Profane . . . . . . . . . . . 182

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Wilfred Cantwell Smith . . . . . . . . . . . . . . . . 186Bedeutung und Ende der Religion . . . . . . . . 188

Clifford Geertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192Religion als kulturelles System . . . . . . . . . . 194

Thomas Luckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199Die unsichtbare Religion . . . . . . . . . . . . . 202

Roderick Ninian Smart . . . . . . . . . . . . . . . . 210Die religiöse Erfahrung der Menschheit . . . . . 213

Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223Genese und Struktur des religiösen Feldes . . . . 226

Hermann Lübbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232Religion nach der Aufklärung . . . . . . . . . . . 235

Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241Zur Ausdifferenzierung der Religion . . . . . . . 244

NachwortAußereuropäische Begriffe für »Religion« und dieFrage nach der Einzigartigkeit des europäischenReligionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

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Einleitung

Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,Die du mir nennst! »Und warum keine?« Aus Religion.1

Friedrich Schiller, Xenien und Votivtafeln (Nachlass)

Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen,ist eine Form der Dankbarkeit.2

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist (1888)

Was ist »Religion«? Die Frage ist schwer zu beantworten.Tatsächlich kommt es oft vor, dass jemand meint, etwassei eine »Religion« oder jemand sei »religiös«, währenddie so Bezeichneten dies weit von sich weisen. Sie, die In-sider, bezeichnen das, was sie tun oder zu erlangen su-chen, viel lieber bewusst nicht als »Religion«, sondern bei-spielsweise als »spirituellen Weg«. Andere wiederum hal-ten ihre Anschauungen für wissenschaftlich beweisbarund lehnen aus diesem Grunde die Bezeichnung »Religi-on« ab. Oder es gelten die eigenen Lehren ihren Befür-wortern nicht als »Religion«, da diese Lehren als absolutwahr aufgefasst werden – im Gegensatz zu den Lehren allder anderen bloßen »Religionen«, die diese absoluteWahrheit nicht haben.

Derartig unterschiedliche Haltungen zu dem, was Religiontatsächlich sei, spiegeln sich entsprechend in den Versu-chen wieder, Religion zu definieren. Bei kaum einem ande-ren Begriff wird bis heute so leidenschaftlich darum ge-

1 Friedrich Schiller, »Xenien und Votivtafeln«, in: F. Sch.: Sämt-liche Werke in fünf Bänden, hrsg. von Gerhard Fricke und Her-bert G. Göpfert, Bd. 1, München/Wien 1972, S. 307.

2 Friedrich Nietzsche, »Der Antichrist« (1888), in: F. N.: Sämtli-che Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colliund Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1980, S. 182.

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stritten, was mit ihm eigentlich bezeichnet werden solleoder könne. Manche Philosophen3 und Anthropologenvertreten die Auffassung, dass der Begriff »Religion« nurin der westlichen Welt sinnvoll angewendet werden könne,denn nur in diesem Kontext habe sich »Religion« (bzw.bestimmte Religionen) als ein autonomer Bereich entwi-ckelt, der von anderen kulturell-gesellschaftlichen Ge-gebenheiten erst abgrenzbar sei. Andere gehen noch weiterund plädieren für eine vollständige Abschaffung des Reli-gionsbegriffs. Sie halten den Begriff nicht für geeignet, eineKlasse von so unterschiedlichen und im definitorischenSinne bereits schon jeweils für sich problematischen Gege-benheiten (wie »Christentum«, »Buddhismus«, »Islam«,»Hinduismus«, »Naturreligionen«, »neue religiöse Bewe-gungen« usw.) unter einem Dach zu versammeln. In die-selbe Richtung weist die Frage, welche Begriffe denn inaußereuropäischen Kontexten, z. B. im arabischen, indi-schen oder ostasiatischen Raum, dem europäischen Begriff»Religion« kategorial entsprechen. Gibt es überhaupt ge-naue Entsprechungen zum neuzeitlichen Begriff »Religi-on«? Da die hier ausgewählten Texte nur die Entwicklungdes europäischen Religionsbegriffs bis zur zeitgenössi-schen Diskussion nachzeichnen, wird diese wichtige Fra-ge, auf welche Weise außerhalb Europas Religionen und»Religion« benannt worden sind und benannt werden, imNachwort aufgegriffen.

Kritiker des Religionsbegriffs haben überdies die Ver-mutung geäußert, dass der Begriff »Religion« zumeistweniger als analytische Kategorie gedient habe, um be-stimmte gleichartige Strukturen als Religionen erkennenzu können, sondern überhaupt erst zur Erfindung ver-meintlicher Einheiten namens »Religion« geführt habe.Anstatt mit einer Modellvorstellung von europäischen

3 Hier und im folgenden ist grammatisch nur die männliche Formgenannt, die weibliche ist aber immer mitzudenken.

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Vorbildern andere »Religionen« zu identifizieren, sei es,so Vertreter dieser Position, präziser, neue Kategorien zuverwenden, die klarer definiert werden können, etwa»Ritualgemeinschaft«, »Wertesystem«, »Ideologie«, kirch-liche und andere Institutionen usw. Nicht zuletzt WilfredCantwell Smith (vgl. hier S. 186 ff.) plädierte dafür, denBegriff »Religion« als Kategorie lieber aufzugeben, an-statt weiterhin äußerst unterschiedliche Gegebenheitenmit ihm zu bezeichnen.4 Dennoch, bis heute werden im-mer wieder neue Versuche unternommen, den Begriff»Religion« zu definieren und ihn als sinnvolle Kategoriegegen seine Kritiker zu verteidigen. Zu allen bislang ge-nannten Positionen sind exemplarische Texte aufgenom-men worden, die für die gegenwärtige westliche Debattecharakteristisch sind.

Zur Textauswahl

Die Zusammenstellung verfolgt genauer einen dreifachenZweck: Sie soll erstens einen Überblick darüber geben,was im Abendland seit etwa zwei Jahrtausenden jeweilsals »Religion« verstanden worden ist – sie soll also eineBegriffsgeschichte präsentieren. In der Tat zeigt sich, dassdie Bedeutung des Begriffs »Religion« mehrere entschei-dende Veränderungen durchlaufen hat, so dass die heutigeVerwendung sich deutlich von früheren unterscheidet.Zum zweiten soll sie in die aktuellen wissenschaftlichenDiskussionen um die begriffliche Kategorie »Religion«einführen und so dem Leser ermöglichen, sich für seineZwecke eine Arbeitsdefinition für Religion zu schaffen (essei denn, dass er den Argumenten folgt, es sei unmöglich,

4 Vgl. Wilfred Cantwell Smith, The Meaning and End of Religion.A New Approach to Religious Traditions of Mankind (1962),Minneapolis 1993, S. 34.

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den Begriff »Religion« zu definieren). Zum dritten sollaufgezeigt werden, wie stark die jeweiligen Definitionenvon Religion davon abhängen, wie zu ihr Stellung genom-men wird. Hier ist nicht nur von Bedeutung, ob jemandpersönlich »gläubig« ist oder nicht, sondern auch, welcheReligion bzw. Religionen er kennt. Entscheidend aber ist,welche »Erkenntnisinteressen« mit der Definition verfolgtwerden. So besteht ein großer Unterschied, ob jemand de-finieren will, was das Wesen der eigenen Religion ist, oderob ihn interessiert, welche Funktionen Religionen über-nehmen.

Um diese Zwecke zu erfüllen, sind die hier aufgenom-menen Texte nach ihrer Entstehungszeit angeordnet wor-den. Es finden sich zunächst Auszüge aus grundlegendenWerken von Philosophen wie Cicero, dem die erste weg-bereitende Bestimmung von Religion zugeschrieben wird,und von christlichen Theologen wie Laktanz. Im Zusam-menhang der Entstehung neuzeitlicher Wissenschaftenwie der Ethnologie, Psychologie, Soziologie und nicht zu-letzt der Religionswissenschaft wurden neue Wege be-schritten, den Begriff zu definieren. Entsprechend wurdenhier Autoren ausgewählt, die einem neuen Verständnisvon »Religion« den Weg gebahnt oder den Begriff »Religi-on« auf eine neue Weise verwendet haben. In dieser Grup-pe wurde bekannteren Autoren der Vorzug gegeben, auchdann, wenn sie die Begriffsverwendung anderer, wenigerbekannter Zeitgenossen aufgegriffen haben.

Allerdings gilt für alle, auch für die jüngsten der hieraufgenommenen Versuche, Religion zu bestimmen, dassin diesen weit mehr verhandelt wird als nur Bestimmun-gen dessen, was als Religion gelten darf. Den ausgewähl-ten Passagen, in denen das jeweils charakteristische Reli-gionsverständnis der Autoren aufscheint, sind daher Ein-leitungen vorangestellt, die den Zusammenhang erhellensollen, in dem sich die Autoren über Religion äußern.Außerdem soll die Form der Definition (vgl. dazu S. 21f.)

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im Hinblick darauf betrachtet werden, wie Religion defi-niert wird, welche Religionen im Blick sind und schließ-lich, auf welche Religionen die Definition wohl am bestenpasst.

Die Geschichte des Begriffs »Religion«:ein kurzer Überblick

Ein vorzügliches Beispiel für ein Wort, »welches sich vonJahrhundert zu Jahrhundert ändert, und ein neues Ausse-hen in jedem Lande gewinnt, wo es gebraucht wird, […]ist […] Glaube oder Religion«,5 bemerkte schon derSprach- und Religionsforscher Max Müller. Will man denWandel des europäischen Verständnisses von »Religion«in einem Satz zusammenfassen, könnte dieser ungefähr solauten: Die Bezeichnung »Religion« beginnt mit der Vor-stellung von einer regelgemäßen Kultpraxis der Götterver-ehrung, nimmt weiter die Bestimmung des wahren Got-tesglaubens an und spaltet sich gleichzeitig in Vorstellun-gen von wahrer und falscher Religion, wird dann inKlöstern mit moralischen Vorstellungen der richtigen Le-bensführung des Ordens angereichert, um sich schließlichin der Reformation zur tiefsten Innerlichkeit des gottgläu-bigen Menschen zu wandeln, bis schlussendlich über dieKritik von Religion überhaupt und die Idee einer aufge-klärten Vernunft-Religion der Plural »Religionen« geläu-fig wird.

Der niederländische protestantische Theologe und Phi-losoph Hugo Grotius (1583–1645) spricht in seinem WerkÜber die Wahrheit der christlichen Religion (1627) mögli-cherweise als erster von den »falschen Religionen« (lat.

5 Friedrich Max Müller, Vorlesungen über den Ursprung und dieEntwickelung der Religion. Mit besonderer Rücksicht auf dieReligionen des alten Indiens, Strassburg 1880, S. 9.

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falsa religiones).6 Erst seit der Neuzeit kommt der Begriff»Religion« als »Kollektivsingular« (Reinhart Koselleck)7

in Gebrauch, d. h. als übergeordneter abstrakter Begriff,der als Singular für eine – als essentiell erachtete, univer-selle – Qualität steht, die in allen konkreten Religionen zufinden ist.

Nach Friedrich Tenbruck konnten die Europäer vermit-tels »eines gemeinsamen Allgemeinbegriffs für Religionen[…] unter sich und über Sprachgrenzen hinweg generellüber Religion, deren Wesen und Aufgabe, sprechen, anstattbloß über bestimmte einzelne Religionen«8. Mit einem sol-chen Kollektivsingular ist allerdings die große Gefahr ver-bunden, dass der Begriff »Religion« zu einer überzeitlichenGröße wird, dem dann entsprechend eine substantialisti-sche Definition (vgl. hier S. 21) entspricht. Dieser Trendzur Essentialisierung lässt sich auch sprachgeschichtlichfestmachen: Offenbar war das Adjektiv »religiös« im Latei-nischen, im Deutschen sowie in anderen Sprachen schonfrüher in Gebrauch als das Substantiv »Religion«.9

Der Religionsbegriff hat sich allerdings nicht nur in ei-nem Strang entwickelt, sondern in mehrere Richtungen

6 Vgl. Hugo Grotius, »De Veritate Religionis Christianae«, EditioNovissima, in: H.G., Operum Theologicorum Tomus I–III,Amstelaedami MDCLXXIX, Nachdruck, Stuttgart-Bad Cann-statt 1972, 3, S. 243 af. Vgl. dazu Ernst Feil, Religio. Band III:Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom frühenRationalismus bis zur frühen Aufklärung (ca. 1600–1715), Göt-tingen 2000, S. 218.

7 Vgl. Reinhart Koselleck, »Historia Magistra Vitae« (1979), in:R.K., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten,Frankfurt a. M. 1979, S. 50 ff. (über den Kollektivsingular »Ge-schichte«). Vgl. auch Hermann Lübbe, Religion nach der Auf-klärung, München 2004, S. 243.

8 Friedrich Tenbruck, »Die Religion im Maelstrom der Refle-xion«, in: Jörg Bergmann / Alois Hahn / Thomas Luckmann(Hrsg.), Religion und Kultur, Opladen 1993, S. 31–67, hier S. 37.

9 Vgl. Smith (s. S. 11, Anm. 4), S. 20.

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entfaltet. Insofern wäre es ein Missverständnis, wenn mandavon ausginge, dass sich die Geschichte des Begriffs »Re-ligion« in einzelne Phasen einteilen ließe, die sich je durchrevolutionäre neue Einsichten auszeichneten. So lässt sichzeigen, dass manche Definitionen, zum Beispiel aus religi-onskritischer Sicht, zu ihrer Zeit kaum größere Beachtungerhielten und erst im Nachhinein als Indikatoren neuerSichtweisen auf »Religion« bzw. »Religionen« gelten kön-nen. Überdies spielte der Begriff in der Spätantike und imMittelalter bei weitem noch nicht jene zentrale Rolle, dieer in der Neuzeit erhalten sollte. Für lange Zeit wesentlichbedeutsamer waren die bedeutungsverwandten lateini-schen Begriffe secta (»Gefolgschaft«, »Anhänger«, »Reli-gion«; Roger Bacon nennt im 13. Jahrhundert bereits achtsectae, darunter auch die secta idolatriae, die Buddhis-ten),10 fides (»Glaube«, »Glaubenssystem«, vgl. engl. faith)oder auch lex (»Gesetz«, »Gesetztes«, »Religionssystem«;etwa lex mosaica für das Judentum).

Schon die Griechen verwendeten ein Wort, mit dem siePraktiken der »Verehrung« und »innere Hingabe« (griech.ε�σ��εια) bezeichneten.

Doch beginnt die Geschichte des Begriffs »Religion« imengeren Sinne erst mit dem lateinischen Wort religio beiden Römern. Nach der geläufigen Vorstellung, an die Ci-cero anknüpft, bezeichnet Religion nicht »fromme Hinga-be«, sondern: »die richtigen Verhaltensweisen im Umgangmit den Göttern«.11 Der Begriff »Religion« drückte alsoaus, dass der Kult der Götter, d. h. bestimmte Rituale, dieihnen gewidmet waren, korrekt ausgeführt wurden.

10 Vgl. Jan G. Platvoet, »Contexts, Concepts & Contests. To-wards a Pragmatics of Defining Religion«, in: J. G. P. / Arie L.Molendijk (Hrsg.), The Pragmatics of Defining Religion, Lei-den 1999, S. 463–516.

11 Vgl. zum folgenden Ernst Feil, Religio. Die Geschichte einesneuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Re-formation, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 41 ff.

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Vorstellungen, dass »Religion« etwas mit Innerlichkeitund bekenntnishaftem Glauben zu tun habe, kamen,ebenso wie der Plural »Religionen«, erst sehr viel späterauf. Obwohl heute in vielen europäischen Sprachen Wortein fast gleicher Schreibweise existieren, die auf den lateini-schen religio-Begriff zurückgehen (z. B. engl. und franz.religion, span. religión), wird der Begriff »Religion« somitdeutlich anders verwendet als religio im Römischen Reich.Da das Wort »Religion« im Deutschen überhaupt erst An-fang des 16. Jahrhunderts gebräuchlich wurde,12 sind vieleder früheren Bedeutungen des lateinischen Wortes nieganz verschwunden. Auch aus diesem Grunde ist es inter-essant, sich in einem historischen Abriss vor Augen zuführen, was mit diesem Begriff bislang bezeichnet wordenist und welche Absichten dabei verfolgt wurden.

Generell muss bei einem Entwurf der Geschichte des Be-griffs »Religion« die Schwierigkeit berücksichtigt werden,dass sich ja nicht nur die Bedeutung des Begriffs verändert,sondern parallel dazu auch die mit diesem Begriff bezeich-neten Gegenstände sich verändern. Der Begriff »Religion«muss also immer wieder auf neu bekannt werdende Reli-gionen reagieren bzw. an sich verändernde Glaubensfor-men, Lehren, Praktiken und gesellschaftliche Organisa-tionsformen angepasst werden. Offenkundig hat sich dieBedeutung des Begriffs auch durch konkurrierende (wie»Glaube«, »Religiosität«, »Kirche«, »Konfession«) oder ge-gensätzliche Begriffe (wie »Magie«, »Wissenschaft«, »Auf-klärung«, »Laizität«, »Säkularität«) in seinem jeweiligenGebrauch geändert. Diese wechselseitig aufeinander ein-wirkenden Prozesse des sich wandelnden Religionsbegriffsund der Religionsgeschichte müssen im weiteren gleichzei-tig im Blick gehalten werden.

12 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 241 ff.

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»Religion« und »Religionen« als Gegenstandwissenschaftlicher Disziplinen

»Religion« bzw. die Religionen werden heute von ver-schiedenen akademischen Fachrichtungen erforscht. Dasich unter den hier versammelten Texten Vertreter von sounterschiedlichen Disziplinen wie der Philosophie, Theo-logie, Ethnologie, Soziologie, Psychologie und Religions-wissenschaft finden, ist es vielleicht von Vorteil, das jewei-lige Erkenntnisinteresse der Wissenschaften, die sich mit»Religion« befassen, kurz zu umreißen.

Eine generelle Unterscheidung betrifft die eingenom-mene Perspektive zur Religion. Handelt es sich um eineDiskussion über (oder Annäherung an) religiöse Wahrhei-ten oder um die Vermittlung religiöser Erfahrungen, lässtsich die eingenommene Sicht als »Insiderperspektive«kennzeichnen.13

Handelt es sich hingegen um die Erforschung einerReligion »von außen«, so wird auf eigene Urteile über re-ligiöse Überzeugungen bewusst verzichtet. Ob die An-nahme wahr oder falsch sei, dass Gott existiere oder Le-bewesen nach dem Tod gemäß der begangenen Tatenwiedergeboren werden, bleibt unbeantwortet. Charakte-ristisch für diese zweite Position ist die Überzeugung,dass die Tatsache so weit wie irgend möglich keine Rollespielen sollte, ob der Forscher selbst einer Religion ange-hört, und wenn ja, welche es sei. Eine solche neutraleAußenperspektive streben die Kultur- und Sozialwissen-schaften an, d. h. die Ethnologie, Soziologie und Religi-onswissenschaft, aber auch die Psychologie.

Die Betrachtung einer Religion »von innen« wird übli-

13 Vgl. Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttin-gen 1988, S. 34–44, sowie insgesamt Russell T. McCutcheon(Hrsg.), The Insider / Outsider Problem in the Study of Reli-gion. A Reader, London / New York 1999.

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cherweise in der Theologie favorisiert. Entsprechend demtheologischen Erkenntnisinteresse werden – vereinfachtgesagt – geoffenbarte Lehren erforscht und gedeutet. Dieeigene religiöse Tradition ist Insidern näher als fremdeTraditionen – sie ist das Bekannte, Vertraute. Dies hat na-türlich Auswirkungen auf die Definition von Religion, diezunächst einmal für die eigene Tradition »passen« muss.Das Vorverständnis von Insidern hat auch Auswirkungenauf den öffentlichen Diskurs über Religion. Wie der ame-rikanische Anthropologe Benson Saler (geb. 1935) tref-fend feststellt, vertreten die meisten Menschen im Westen,auch Politiker und Soziologen, einen Religionsbegriff, dervon theistischen (d. h. auf Gott oder Götter bezogenen)Glaubensauffassungen als Kern ausgeht.14 Entsprechendhat etwa Melford Spiro die Definition aufgestellt, Religionsei eine Institution, die aus kulturell geprägten Interaktio-nen mit kulturell geprägten übermenschlichen Wesen (su-perhuman beings) bestehe. Letztere seien übermächtigeWesen, die Menschen Gutes oder Schlechtes zukommenlassen, dabei aber in gewissen Graden beeinflusst werdenkönnten.15 Dieses theistische Vorverständnis ist kaumüberraschend, wenn man bedenkt, dass die westlichenKulturen über fast zwei Jahrtausende maßgeblich von mo-notheistischen Traditionen (Judentum, Christentum undIslam) geprägt worden sind. Sieht man genauer hin, erfül-len Insider-Definitionen von »Religion« zumeist nocheine weitere Funktion, nämlich die, die Identität einer be-stimmten religiösen Gemeinschaft festzulegen. Diese ge-

14 Benson Saler, Conceptualizing Religion: Immanent Anthro-pologists, Transcendent Natives, and Unbounded Categories,New York 2000, S. 22. Theistische Definitionen herrschen nachSalers Beobachtung auch in Lexika vor.

15 Melford Spiro, »Religion: Problems of Definition and Explana-tion« (1966), in: Michael Banton (Hrsg.), Anthropological Ap-proaches to the Study of Religion, Nachdruck, London 1985,S. 85–126, hier S. 98 f.

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meinschaftsbildende Funktion von Religion ist dabei einzentraler Aspekt vieler soziologischer Definitionen vonReligion (vgl. die Texte von Émile Durkheim oder MaxWeber). Positionen religiöser Minderheiten oder abwei-chende Lehrmeinungen und Praktiken werden von In-sidern also – im wahrsten Sinne des Wortes – per Definiti-on ausgeschlossen. Von der Außensicht auf Religion sinddie Positionen von Minderheiten aber ebenso in die Dar-stellung einzubeziehen wie die Erscheinungsformen derAlltagsreligiosität, die sich von den Positionen der Kir-chenoffiziellen oft deutlich unterscheiden.

Zwischen den Beschreibungen von Insidern und Out-sidern zeigt sich insofern eine Asymmetrie, da aus Sichtder Outsider die Insider und ihre Überzeugungen zu demgehören, was erstere als Religion und deshalb als For-schungsgegenstand verstehen. Die einen erforschen dieanderen, aber nicht umgekehrt. Insider sind aus diesemGrunde kaum mit der Beschreibung und Definition ihrerReligion zufrieden, die Outsider erstellen. Viele religiöseMenschen halten etwa das Bemühen um eine wissen-schaftliche Erforschung von Religion schlicht für irrele-vant.16

Wie soll aber nun aus der Außenperspektive mit dieserAsymmetrie umgegangen werden? Muss in einer wissen-schaftlichen Definition von Religion berücksichtigt wer-den, wie sich Religion aus der Binnensicht, d. h. der »emi-schen Sicht«17 der Beteiligten, darstellt? Wie soll verfahren

16 Vgl. Eileen Barker, »The Scientific Study of Religion? YouMust Be Joking!«, in: Journal for the Scientific Study of Reli-gion 34 (1995), S. 287–310.

17 Die Begriffe »emisch« (Wissensordnungen aus Sicht der Infor-manten) und »etisch« (wissenschaftliche Rekonstruktion vonaußen) gehen auf Kenneth L. Pike zurück. Vgl. Kenneth L.Pike, »Etic and Emic Standpoints for the Description of Be-haviour« (1967), Wiederabdruck in: McCutcheon (Hrsg.)(s. S. 17, Anm. 13), S. 28–36.

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werden, wenn sowohl religiöse Menschen als auch Theo-logen – und dies geschieht oft – bestimmte religiöse Er-fahrungen, die sie in ihrer eigenen Tradition machen, zumwichtigsten Kriterium für »Religion« überhaupt erklärenund gleichzeitig bezweifeln, andere Erfahrungen undGlaubensformen seien ebenso wahr? Nicht selten dientendeshalb Begriffe wie »Aberglaube«, »Magie« und »Zaube-rei« dazu, unvertraute Anschauungen und Praktiken an-derer religiöser Traditionen als unheilvoll und irrig abzu-werten. Aus Sicht der Religionswissenschaft und der ge-nannten Disziplinen hat man sich aus diesem Grundedarauf geeinigt, nicht zu beurteilen, an was Angehörige je-weiliger Traditionen glauben. Vielmehr wird von dem un-bezweifelbaren Faktum ausgegangen, dass es Menschengibt, die bestimmte religiöse Überzeugungen teilen.

Dies führt nun zu einer dritten Perspektive, unter derman Religion betrachten kann, die weder eindeutig als In-sider- noch als Outsider-Perspektive gekennzeichnet wer-den kann, nämlich die der Philosophie. Auf der einen Sei-te teilen viele Philosophen die Auffassung der Theologen,dass es nötig sei, in Bezug auf die Wahrheit religiöser An-schauungen genau Position zu beziehen. Dies kann daraufhinauslaufen, dass Philosophen bestimmte religiöse Posi-tionen vertreten, etwa, dass Gott existiere. Hingegen be-haupten atheistische Philosophen, dass Gott nicht existie-re, eine Wahrheit, die von der eingenommenen Aussage-position her gesehen auf der gleichen Ebene anzusiedelnist wie die religiöse Positionierung.

Auf der anderen Seite haben Philosophen seit jeherTheorien entworfen, wie Definitionen von Gegenständenund Begriffen (wie etwa von »Religion«) vorgenommenwerden können, und haben damit nicht nur inhaltliche,sondern auch formale Einsichten zur Frage der Definitionvon Religion beigetragen. Im folgenden Abschnitt seiendaher die wichtigsten Definitionstypen, die Verwendunggefunden haben, kurz vorgestellt.

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Typen der Definition von Religion

Auf die wissenschaftliche Frage, was Religion sei, werdenüblicherweise Antworten gegeben, die explizit bzw. offenoder unausgesprochen den Charakter einer Definition ha-ben. Jede Definition von Religion stellt, wenn auch nurin kürzester Form, letztlich eine Theorie über Religiondar, die dann erlaubt, bestimmte Anschlussfragen über Re-ligion zu formulieren, während andere Anschlussfragenper Definition ausgeschlossen werden. Definitionen sehensich der Herausforderung gegenüber, weit genug zu sein,um Phänomene zu umgreifen, die offenkundig in denKreis religiöser Anschauungen und Praktiken hineingehö-ren, ohne aber dabei unscharf zu werden. Besondere Pro-bleme macht dabei die Grenzziehung zwischen Religionund Kultur. Wird beispielsweise für Religion lediglich dasKriterium eingesetzt, es handle sich immer um etwas, dasfür die Betreffenden von letzter, heiliger Bedeutung sei, sohängen, wie Melford Spiro zu Recht bemerkte, manchedem Baseball und andere dem Aktienmarkt als ihrer Reli-gion an.18 Tatsächlich macht es wenig Sinn, Religion zudefinieren, ohne zugleich präzise zu bestimmen, was nichtReligion ist. Religionsdefinitionen entstehen, mit anderenWorten, nicht allein aus den Religionen heraus, sondernwerden im Diskurs all jener Größen ausgehandelt, dieebenfalls ein entsprechendes Terrain für sich beanspru-chen – seien dies die Philosophie, die Naturwissenschaftenoder auch Kunst, Wirtschaft, Staat, Recht usw. Aus derOutsiderperspektive gesehen spricht dies Faktum klar da-für, den jeweils verwendeten Religionsbegriff auf eine be-stimmte historische Situation einzugrenzen, ihn also zukontextualisieren, damit er seine Zwecke erfüllen kann.

Wird durch die Definition der Anspruch erhoben, fest-zulegen, was die definierte Sache tatsächlich ist, handelt es

18 Vgl. Spiro (s. S. 18, Anm. 15), S. 96.

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sich um eine sogenannte »Realdefinition« (oder »substan-tielle« bzw. »substantialistische Definition«). Hier wirdgesagt, was das Wesen, die eigentliche Essenz der Religionist, die sich in allen Religionen mehr oder weniger deut-lich zeigt.

Im Gegensatz dazu versucht eine sogenannte »Nomi-naldefinition« lediglich festzulegen, was unter einem be-stimmten Begriff verstanden werden soll. Zum Beispiel istdie oft angewandte Definition von Clifford Geertz, Reli-gion sei »(1.) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2.) star-ke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motiva-tionen in den Menschen zu schaffen, (3.) indem es Vorstel-lungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4.)diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizitätumgibt, dass (5.) die Stimmungen und Motivationen völligder Wirklichkeit zu entsprechen scheinen«,19 eine Realde-finition, die angibt, was Religion ist. Realdefinitionen ha-ben den Vorteil, dass sie meistens klare Unterscheidungenzwischen Religion und Nicht-Religion treffen. Anderer-seits stellen sie eine grundsätzliche Entscheidung dar: Siebeschreiben, was Religion im Kern sei, und können dahernur schwer (wenn überhaupt) durch Ergebnisse der histo-rischen oder empirischen Religionsforschung korrigiertwerden. Darin liegt hingegen die Stärke von Nominaldefi-nitionen, die sich nämlich nicht auf ein Wesen festlegen,sondern nur ein Set von Merkmalen benennen. Generelltendieren Theologen und Religionsphilosophen eher zuRealdefinitionen, während Kulturwissenschaftler modifi-zierbare Nominaldefinitionen bevorzugen. Eine Variationdieser Unterscheidung findet sich z. B. bei Michael Pye(geb. 1939), der von »operationalen« und »normativenDefinitionen« sprechen möchte. Mit operationalen Ar-beitsdefinitionen sind neutrale Beschreibungen von Reli-

19 Clifford Geertz, »Religion als kulturelles System«, in: C.G.,Dichte Beschreibung, Frankfurt a. M. 1987, S. 48.

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gion gemeint, während normative Definitionen eine eva-luierende, bewertende Norm für die Anerkennung vonReligion anlegen, d. h. eine Kriteriologie für Religionüberhaupt zu geben beabsichtigen.20 Ein Beispiel für einenominelle und zugleich operationale Definition liefertWilliam James (1842–1910) (vgl. hier S. 119 ff.).

Eine Definition hingegen, die angibt, welche gesellschaft-lichen oder individuellen Leistungen von Religion über-nommen werden, nennt man eine »funktionalistische Reli-gionsdefinition«. Wird beispielsweise Religion bestimmtals »Kontingenzbewältigungspraxis« (Hermann Lübbe,vgl. hier S. 232 ff.) – als Bewältigung von all dem, über dasMenschen nicht verfügen (die Endlichkeit ihres Lebens,Zufälle etc.) bzw. dessen, was sie nicht als unmittelbar sinn-haft interpretieren können, liegt eine solche funktionale Be-stimmung vor: In diesem Fall stellt sie zugleich eine Real-definition dar, weil sie davon ausgeht, dass jede Religiondiese Funktion aufweist.

Eine besondere Problematik zahlreicher Definitionenvon Religion besteht allerdings darin, dass sie bei genaue-rer Betrachtung »rekursive Definitionen« darstellen, indenen das, was definiert werden soll, in der Definitionselbst bereits vorkommt. In gewisser Weise ist dies beiDefinitionen der Fall, die mit dem Schema der Immanenz/Transzendenz arbeiten und dabei unter »Immanenz« diediesseitige Welt und als »Transzendenz« das eigentlich be-deutungsvolle Jenseitige – sei es das Heilige, Gott, dasLetztgültige, Unbedingte, Übermenschliche, Mächtige,Erlösende usw. – verstehen. Definiert etwa Joachim Wach(1898–1955): »Religion ist das Erlebnis des Heiligen«21, soschließt sich direkt die Frage an, wie das »Heilige« de-finiert werden kann, ohne auf ein der europäischen Re-

20 Vgl. Michael Pye, »Aum Shinrikyo. Can Religious StudiesCope?«, in: Religion 26 (1995), S. 261–270, hier S. 262.

21 Joachim Wach, Religionssoziologie, Tübingen 1951, S. 22.

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ligionsgeschichte entstammendes Vorverständnis der Be-griffe »Religion«, »Religiosität« oder »religiös« zurück-greifen zu müssen.

Zu welcher Art von Religionsdefinition jemand ten-diert, liegt, abschließend gesagt, wiederum an dem jeweiligverfolgten Erkenntnisinteresse. Nicht selten vermag esdeshalb eine Definition, den Blick auf eine bestimmte Artzusammengehöriger Gegebenheiten zu lenken und dieseunter einem bestimmten Aspekt zu deuten, also das heu-ristische Potential anzugeben, das den Ausschlag gibt, zuwelcher Definition jemand greifen wird.

Zur Aktualität der Diskussion um »Religion«

Warum aber erregen Diskussionen über das, was als Reli-gion gelten soll, immer noch die Gemüter? Zu nennen isthier zunächst die allgemeine Debatte um die Frage, welcheBedeutung der Religion bzw. bestimmten Religionen heu-te noch zukommt oder zukommen soll. Anhänger derThese der Säkularisierung (»Verweltlichung«) gehen da-von aus, dass die allgemeine Bedeutung der Religion inder Moderne zurückgegangen sei. Jedoch ist die These ei-ner solchen Säkularisierung nicht nur in Bezug auf dieUSA oder technologisch weiterentwickelte asiatische Län-der umstritten, sondern auch bezüglich ihrer Anwendungauf Europa, für das die Theorie ursprünglich vor allemgelten sollte. Dies zeigt sich auch an den Konflikten, dieimmer wieder zwischen religiösen Aussagen und wissen-schaftlichen Weltdeutungen wie etwa der Evolutionstheo-rie oder auch der Biomedizin aufbrechen. Sicherlich lässtsich eine zunehmende Entflechtung staatlicher und reli-giöser Institutionen beobachten. Dennoch haben sich inprivaten Lebensbereichen religiöse Praktiken und Sinn-deutungen eher verändert, als dass sie tatsächlich an Be-deutung eingebüßt hätten.

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Für manche mag gelten, dass sie die im Begriff »Re-ligion« gewöhnlich sich einstellenden Assoziationen – Kir-che, Gebet, Glaube an Gott, Rituale – in Bezug auf eigeneAnschauungen und Praktiken vermeiden wollen. Dies zeigtsich auch an der erfolgreichen Karriere des Begriffs der»Spiritualität«, der sich zunehmend als Oberbegriff für diepersönlichen, nicht institutionell gebundenen Aspekte derReligion bzw. Religiosität etabliert. Derjenige, der liebervon Spiritualität an Stelle von Religiosität spricht, betont,dass diese Erfahrungen von jedem einzelnen, auch und ge-rade außerhalb von Kirchen oder anderen »Heilsanstalten«(so Max Weber), gemacht werden können. Dogmen oderLehrsätze treten für jene, die spirituelle Erfahrungen ma-chen wollen, in den Hintergrund. Professionelle, haupt-amtliche Spezialisten für spirituelle Erfahrungen – bei-spielsweise Pfarrer, Pastoren und Theologen, aber auch La-mas, Gurus, Gruppenleiter usw. – werden zumeist nurdann als Autorität akzeptiert, wenn ihre Deutungen einenspirituellen Weg aufzeigen und nicht mehr eine Glaubens-praxis vorschreiben, die für alle gleichermaßen gültig seinsoll. Derjenige, der sich als spiritueller Mensch beschreibt,möchte damit ausdrücken, dass er selbst es ist, der zuletztdarüber entscheidet, welchen Sinn diese – praktisch immerpositiven – Erfahrungen eröffnen. Die Deutungshoheitüber das, was erfahren wird, bleibt bei den Einzelnen.22 Spi-rituell interessierte Menschen beschreiben sich daher oftnicht mehr als »religiös« und lehnen es manchmal sogar ab,dass Spiritualität überhaupt mit Religion in Verbindung ge-bracht wird.23

22 Vgl. Christoph Bochinger / Martin Engelbrecht / WinfriedGebhardt, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion.Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwarts-kultur, Stuttgart 2009.

23 Vgl. Penny Long Marler / C. Kirk Hadaway, »Being ›Religious‹or Being ›Spiritual‹ in America. A Zero-sum Proposition?«, in:Journal for the Scientific Study of Religion 4 (2002), S. 289–300.