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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 6. Oktober 2012, 11.05 – 12.00 Uhr
300 Jahre gemeinsame Geschichte -
Schwarze in Frankreich
Mit Reportagen von Bettina Kaps Redakteurin am Mikrofon: Katrin Michaelsen
Musikauswahl: Babette Michel
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- unkorrigiertes Exemplar –
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Ich komme aus Guadeloupe, stamme also selbst von Sklaven ab. Bis zu
meinem elften Lebensjahr habe ich auf den Antillen gelebt. Als ich dann
mit meiner Familie nach Paris zog, wurde mir bewusst, dass ich anders
war, schon aufgrund meiner Hautfarbe.
Franzose sein, das ist keine Frage der Hautfarbe und auch keine Frage der
Abstammung. Ihr seid in Frankreich geboren, damit seid ihr Franzosen.
Viele Menschen haben Angst. Sie akzeptieren nicht, dass sich Frankreich
verändert und wollen ihren Status verteidigen, ihre Privilegien. Aber der
Prozess ist unaufhaltsam.
300 Jahre gemeinsame Geschichte – Schwarze in Frankreich. Gesichter Europas
mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon Katrin Michaelsen
In Frankreich leben mehr Schwarze als in anderen europäischen Ländern.
Schätzungen gehen von vier bis sechs Millionen aus. Einwanderer – denken die
meisten Franzosen. Manche überlegen vielleicht noch, dass es Landsleute aus
Übersee sein könnten: Aus den Départements der Antillen. Aus La Réunion
oder Mayotte. Kaum jemand weiß aber, dass Schwarze schon seit über 300
Jahren in Frankreich leben und arbeiten.
Auch die schwarzen Franzosen selbst haben diesen Teil ihrer Geschichte
weitgehend vergessen oder auch verdrängt: Schließlich kamen ihre Vorfahren
nicht freiwillig, sondern als Sklaven. Bereits im 16. Jahrhundert hielten sich
französische Adlige afrikanische Haussklaven, schon im 18. Jahrhundert lebten
5.000 Schwarze in den Städten Frankreichs, bis 1848 die Sklaverei wieder
abgeschafft wurde.
Das ist lange her. Und darüber wurde auch lange Zeit nicht gesprochen.
Aber das ändert sich. Schwarze Franzosen arbeiten ihre Geschichte auf,
hinterfragen Traditionen und melden sich als Meinungsmacher.
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Vorbei sind auch die Zeiten, als ausschließlich das weiße Schönheitsideal galt.
Als sich viele Schwarze die Haare entkrausen und die Haut mit gefährlichen
Pasten bleichen ließen. Seit einigen Jahren gibt es einen regelrechten „Afro
Boom“. Immer mehr schwarze Französinnen tragen stolz ihre Kraushaar-Frisur.
Sie wollen sich so zeigen, wie sie sind, und wie sie in der allgemeinen
französischen Presse nicht vorkommen.
Reportage 1: Krause statt glatte Haare
- Emanzipation im Friseursalon
Zwei Waschbecken, zwei Frisierstühle – mehr passt nicht hinein in den Salon
Tuleka. Eine schwarze und eine weiße Kundin sitzen vor den Spiegeln, beide
lassen sich künstliche Haarteile in ihre Frisuren flechten. Auf einem großen
Bildschirm flimmern Musikclips.
Danielle Ahanda wartet am Empfangspult bis sie an die Reihe kommt. Die 32-
Jährige trägt ein oranges T-Shirt und einen geblümten Minirock. Die schwarzen
Haare hat sie mit unzähligen Drehzöpfen bis in den Rücken verlängert. Danielle
bittet Sandra, die Chefin des Salons, um Rat.
Die Zöpfe trage ich jetzt seit einem Monat, ich will sie entfernen. Was
empfiehlst du mir, damit sich meine Haare gut erholen?
Danielle ist gerade aus Kamerun zurückgekehrt, wo sie auch geboren wurde. Als
Kind ist sie mit ihrer Familie mehrmals zwischen Yaoundé und Paris gependelt,
bevor sie ganz nach Frankreich zog, um dort Jura zu studieren. Für die
Urlaubsreise waren die Zöpfe praktisch, sagt sie. Aber in Paris trägt sie ihre
Haare oft natürlich. Das war nicht immer so.
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Meine Mutter ließ mir die Haare entkrausen. Ein anderes Schönheitsideal
kannte ich nicht. Nach und nach habe ich dann alle Kunstgriffe kennen
gelernt, mit denen man seine Haare verlängern kann. Als ich erwachsen
war, wollte ich eine andere Ästhetik ausprobieren: natürliche Haare. Aber
das war richtig kompliziert. Ich wusste nicht, wie ich mich frisieren sollte.
In Modeheften, im Fernsehen – nirgends fand ich Ratschläge oder
Vorbilder.
So kam es, dass Danielle Ahanda einen Blog einrichtete mit dem Namen „Our
Hair“, darin sammelte und veröffentlichte sie Ratschläge für afrikanisches Haar.
Zum Beispiel, dass häufiges Tragen von künstlichen Frisuren unwiderrufliche
Schäden bewirken kann, wie bei Naomi Campbell. Das Topmodell sei
inzwischen an Stirn und Schläfen völlig kahl, erzählt Danielle.
Unser krauses Haar sieht stark und kräftig aus, aber in Wirklichkeit ist es
sehr empfindlich. Wir müssen aufpassen, wie wir es behandeln und
kämmen.
Der Blog versammelte rasch eine wachsende Gemeinschaft junger Frauen, die
ebenfalls einen natürlichen Stil suchten. Danielle Ahanda fing an, auch über
Schönheit, Mode, Kultur und Gesellschaft zu schreiben. Bald erschien ihr der
Rahmen eines Blogs zu eng. Im April 2011 gründete sie daher das Internet-
Magazin „Afrosomething“. Der Name „Afro-irgendwas“ beschreibt ihr
Lebensgefühl.
Ich habe festgestellt, dass wir schwarze Franzosen oft in Richtung USA
schauen, weil Amerika uns mit seinem Integrationsmodell ins Träumen
versetzt. Unser Lebensstil ist jedoch sehr europäisch und unsere Wurzeln
liegen in Afrika. Die Website „Afrosomething“ soll all das zum Ausdruck
bringen.
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Etwa zehn Autorinnen schreiben für das Magazin, alle arbeiten ehrenamtlich.
Noch. Denn bei 40.000 Besuchern pro Monat steigen allmählich die
Werbeeinnahmen. Hauptberuflich arbeitet Danielle in einer Firma, als Juristin
für Urheberrecht und Markenschutz.
Eine elegante Frau in leuchtend rotem Trägerkleid und hohen Stöckelsandalen
kommt in den Salon. Sie zupft an ihren offenen langen Haaren, schließlich
nimmt sie die Perücke ab, darunter kommen ihre natürlichen Haare zum
Vorschein. Sie sehen kümmerlich und zerdrückt aus.
Artikel über Perücken kann man in ihrem Magazin nicht lesen, sagt Danielle
Ahanda so leise, dass die Kundin sie nicht hören kann. Sie mag es nicht, wenn
Afrikanerinnen ihre natürlichen Haare verstecken, um die europäische Mode
nachzuahmen. Danielle zeigt bewundernd auf Sandras Frisur: Die Besitzerin des
Friseursalons trägt kunstvoll geflochtene Zöpfe in mehreren Brauntönen, die sie
zu einem eleganten Dutt geschlungen hat. Solch raffinierte Flechtfrisuren
akzeptiert sie auch, weil sie zum traditionellen afrikanischen Kunsthandwerk
gehören.
Mit den Texten und Fotos in „Afrosomething“ will Danielle ihren Leserinnen
zeigen, wie viele Möglichkeiten es gibt, als Afrikanerin authentisch, und
zugleich modern und attraktiv zu sein.
In Sachen Schönheit herrschte bislang eine klare Abschottung: Diese
Produkte und diese Moden sind für schwarze Frauen, jene für weiße
Frauen. Wir wollen diese Grenzen sprengen und den afrikanischen Frauen
ihre Komplexe nehmen. Aber natürlich haben Haut und Haare von
Schwarzen Besonderheiten. Deshalb schauen wir uns jedes Produkt genau
an. Wir prüfen, ob die Inhaltsstoffe geeignet sind und überlegen, was zu uns
passt. Zum Beispiel: Wenn in der Mode Pastell im Trend liegt, dann
schauen wir: Welche Art von Pastell steht uns am besten.
Kürzlich hat sich „Afrosomething“ mit der renommierten Frauenzeitschrift
„Elle“ angelegt. Die Illustrierte hatte einen Artikel mit dem Titel „Black Fashion
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Power“ veröffentlicht. Er war als Hommage gedacht, aber Danielle empfand die
Argumente als bevormundend, ja sogar rassistisch.
Dank der US-amerikanischen Präsidentengattin Michele Obama, hieß es in der
Elle, hätten die schwarzen Amerikanerinnen jetzt den echten Schick entdeckt.
Die so genannte „Black-geoise“ habe nun von den Weißen alle Luxus-Standards
der Mode übernommen. Danielle Ahanda wird heute noch wütend, wenn sie
daran denkt.
In Anlehnung an das Wort Bourgeoise haben sie den Ausdruck
„Blackgeoisie“ erfunden. In Frankreich sprechen manche Medien auch von
„Beurgeoisie, um französische Araber zu bezeichnen, die der Mittelschicht
angehören. Warum muss man neue Wörter erfinden, wenn es um Araber
und Schwarze geht? Warum können Schwarze nicht genauso bourgeois
sein wie Weiße, also einfach bürgerlich?
Sogar die Tageszeitung „Le Monde“ griff die Auseinandersetzung auf und
wertete sie als Zeichen, dass sich die Schwarzen zunehmend zu Wort melden.
Die Illustrierte „Elle“ hat sich für den Artikel entschuldigt.
Ein Frisierstuhl wird frei, Danielle setzt sich. Sie hat sich für ein Pflegemittel
entschieden, das ihre Haare glättet, aber nicht entkraust. Der Friseur nimmt
einen Stielkamm. Behutsam löst er die Knoten ihrer künstlichen Zöpfe. Drei
Stunden hat sie jetzt Zeit, sich neue Themen für Afrosomething zu überlegen.
Wer im Pariser Zentrum in die Metro steigt, mit der Linie 4 Richtung Norden
fährt, vorbei am Gare du Nord, und in Chateau Rouge aussteigt, der wird eine
andere Welt vorfinden: Das Paris der Schwarzen Einwanderer! Hier hat der
Schriftsteller Alain Mabanckou gelebt, und hier spielt auch sein Roman „Black
Bazar“. Es ist eine Geschichte über die Traumwelten und Sehnsüchte der
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schwarzen Franzosen und über ihre Versuche, sich in der Welt der weißen
Franzosen zurechtzufinden.
LITERATUR
Für uns ist Chateau d´Eau die Durchgangsstation auf dem Weg nach Chateau
Rouge. Hier findet man die Boutique Luxure, wo alle Arten von Frauenperücken
verkauft werden, die nach Mottenkugeln und Babykotze riechen. Die Boutique
ist von morgens bis abends gerammelt voll, weil unsere Mädchen genau wie die
Blondinen mit den blauen Augen sein wollen, während diese in denselben Laden
kommen, um sich afrikanische Zöpfe machen zu lassen.
Es kommt vor, dass einflussreiche Persönlichkeiten aus der afrikanischen
Gemeinde in der Gegend sind, um ihren Bekanntheitsgrad an der Basis zu
testen. Die Delegationszusammensetzung dieser Persönlichkeiten variiert:
Geschäftsleute, die in billigen Hotels der Pariser Vorstadt logieren, große
Reiseerzähler, die nicht in der Lage sind, die angeblich besuchten Länder auf
einer Karte zu zeigen, eheliche und nicht eheliche Kinder von Staatschefs,
Ministern, politischen Flüchtlingen oder Oppositionspolitikern, die nur ihre
eigene Ethnie repräsentieren, angeblich internationale Fußballer, die aber noch
nie jemand in einem im Fernsehen übertragenen Spiel gesehen hat.
Ein Rückblick: Im Jahr 1998, am 23. Mai versammeln sich in Paris 40.000
Schwarze. Sie erinnern daran, dass sich Frankreich auch 150 Jahre nach Ende
des Sklavenhandels seiner kolonialen Vergangenheit nicht stellt. Die
französischen Medien und die Öffentlichkeit nehmen diesen Protestmarsch
kaum zu Kenntnis. Wohl aber die Politikerin Christine Taubira, heute
Justizministerin in der Regierung von Präsident Hollande, damals
Parlamentsabgeordnete des Übersee-Départements Guyana.
Christine Taubira gelingt es im Mai 2001 gegen alle Widerstände ein Gesetz
durchzuboxen, das die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit
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erklärt. Außerdem setzt das Parlament ein Komitee ein. Seine Aufgabe: Die
Geschichte der Sklaverei in die allgemeine Geschichtsschreibung einzufügen.
Auf Vorschlag des Komitees wird in Frankreich seit dem Jahr 2006 der 10. Mai
als „Nationaler Tag zur Erinnerung an den Sklavenhandel, die Sklaverei und
ihre Abschaffung“ begangen.
Und das besonders in der Hafenstadt Nantes an der Atlantik-Küste, dem ehemals
wichtigsten Menschenhändler-Hafen Frankreichs. Jedes Jahr am 10. Mai stellt
sich die Stadt dieser Vergangenheit. Mit Konzerten, Ausstellungen und
Vorträgen.
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Reportage 2: Erinnerung an die Sklaverei
– Nantes und der 10. Mai
Vor dem Justizpalast von Nantes ist ein offenes Zelt aufgebaut. 27 Mädchen und
Jungen stehen dort auf einer Konzertbühne. Sie trommeln energisch auf
Djembes und Bongos, schütteln Shekeres, wenden lange Rohre aus
Kakteenholz, so genannte Regenmacher. Dazu singen sie ein afrikanisches Lied.
Die Jugendlichen - alles Schüler einer achten Klasse, fast alle sind weiß - führen
ein Stück zum Thema „Geschichte und Musik der Schwarzen“ auf.
Am Bühnen-Rand steht eine zierliche schwarze Frau mit kurz geschorenem
Kraushaar und klatscht im Rhythmus. Elise Dan NDobo ist die Englischlehrerin
der Klasse. Sie trägt ein geschmeidig fallendes silbergraues T-Shirt, schwarze
Leggings, gelackte Ballerinas. Die 46-Jährige sieht stolz auf ihre Schüler. Wie
sie es schaffen, ihr anspruchsvolles Studienprojekt über Sklaverei und die
Folgen auf die Bühne zu bringen.
Dieses Vorhaben interessiert mich persönlich sehr. Ich engagiere mich seit
langem in dem Geschichtsverein „Les Anneaux de la Mémoire“. Er setzt
sich für die Vermittlung der Geschichte der Sklaverei ein. Daher wollte ich
das Thema auch in meinem Fach zum Schulstoff machen. Anschließend
habe ich es meinen Kollegen vorgeschlagen. Die Lehrer der Fächer
Französisch, Geschichte-Geografie, Kunst und Musik haben sofort
mitgemacht. Der Schulleiter hat mich auch unterstützt und die Schüler
waren hoch motiviert.
Ein Mädchen geht zum Mikrofon, trägt einen Text vor: Ausschnitte aus der
Autobiografie von Olaudah Equiano. Der Afrikaner wurde Mitte des 18.
Jahrhunderts als elfjähriger Junge von Sklavenjägern in Nigeria verschleppt und
als Sklave verkauft. Dieser Text habe sie sehr berührt, sagt die Lehrerin.
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Ich komme aus Guadeloupe, stamme also selbst von Sklaven ab. Bis zu
meinem elften Lebensjahr habe ich auf den Antillen gelebt. Als ich dann
mit meiner Familie nach Paris zog, wurde mir bewusst, dass ich anders
war, schon aufgrund meiner Hautfarbe. Manchmal spürte ich, dass mir
bestimmte Leute – wie soll ich sagen – na ja, nicht sehr freundschaftlich
begegneten. Ich fühlte auf einmal ganz deutlich, dass Andersartigkeit
Ablehnung hervorrufen kann. Später dann, als Lehrerin, dachte ich, es sei
meine Aufgabe dies zu vermitteln und das Wissen über den Sklavenhandel
und die Sklaverei zu verbreiten.
Sie selbst wüsste gerne, aus welchem afrikanischen Land ihre Familie stammt.
Aber wie die meisten Sklaven haben auch ihre Vorfahren keine Zeugnisse
hinterlassen.
Einzelne Schüler lassen jetzt Ketten rasselnd durch die Hände gleiten, andere
schlagen auf einen Holzblock. Alle zusammen singen sie ein englisches Lied,
das an die harte Arbeit auf den Zuckerrohr und Kaffee-Plantagen erinnert. Sie
und ihre Kollegen, sagt Elise Dan Ndobo, haben mit der Klasse nicht nur Lieder
und Texte studiert. Sie haben sich auch die Spuren des Sklavenhandels in
Nantes zeigen lassen und sind sogar nach Liverpool gereist, um zu erfahren wie
die Briten den Sklavenhandel betrieben und später bekämpft haben. Mit den
Lehrplänen des Bildungsministeriums sei das heute voll und ganz vereinbar.
Im Jahr 2001 wurde ein Gesetz erlassen, das den Sklavenhandel und die
Sklaverei zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt. Außerdem
verpflichtet es die Schulen, diese Themen zu unterrichten. Seit drei Jahren
gibt es dazu Material in den Schulbüchern der 8. und der 10. Klassenstufe.
Die Lehrpläne empfehlen, dass wir das Thema interdisziplinär behandeln.
Unser Projekt erfüllt diese Vorgaben.
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Elise Dan Ndobo dreht sich um, schaut auf die Loire, die breit und gemächlich
in Richtung Atlantik fließt. Am anderen Ufer sind alte Kaianlagen zu sehen.
Dort hat der Bürgermeister im Frühjahr eine große Gedenkstätte zur Erinnerung
an die Sklaverei und ihre Abschaffung eingeweiht. Elise hat sie mit ihrer Klasse
besichtigt. Das Mahnmal liege unter der ehemaligen Landungsbrücke und
erinnere an einen Schiffsbauch, erzählt sie. An einer Wand seien Texte von
Sklaven und von Gegnern der Sklaverei zu lesen.
Der Geschichtsverein „Les Anneaux de la mémoire“ hat wesentlich dazu
beigetragen, dass Nantes dieses Kapitel seiner Vergangenheit aufgearbeitet hat.
Heute fördert das Rathaus Initiativen wie ihr Unterrichtsprojekt und das
Musiktheater der Klasse ganz bereitwillig, sagt die Lehrerin.
Die Schüler auf der Bühne singen jetzt ein jazziges Lied zu Ehren von Ella
Fitzgerald, den Text haben sie selbst gedichtet. Danach tanzt ein Junge zu Hip
Hop-Musik. Vergangenheit und Gegenwart - Elise Dan NDobo ist es wichtig,
dass ihre Schüler historische Zusammenhänge erkennen, nicht nur in der Musik.
Frankreich hatte Kolonien in der Karibik, die zu Departements geworden
sind. Aber vor Ort herrschen heute große Spannungen. Die Bewohner
fragen sich, welchen Platz sie eigentlich in der französischen Republik
einnehmen. Deshalb kam es auch vor ein paar Jahren zu Unruhen.
Guadeloupe, Martinique und Guyana wollen darauf aufmerksam machen,
dass es sie gibt. Sie wollen anerkannt sein – das ist nicht immer der Fall.
Aber die Dinge entwickeln sich, wir sind auf dem Weg dorthin.
Seit 2006 ist der 10. Mai offiziell der „Nationale Tag zur Erinnerung an den
Sklavenhandel, die Sklaverei und ihre Abschaffung“. Für Elise Dan NDobo ist
das keine Nebensache.
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Dieser Gedenktag ist wichtig. Für mich und alle anderen Nachkommen von
Sklaven beweist er, dass sich die Republik darüber bewusst ist, welche
Verbrechen sie über 400 Jahre lang begangen hat. Dieser Tag gibt mir das
Gefühl, dass meine Geschichte zur französischen Geschichte dazugehört.
LITERATUR
Da sie eine tiefschwarze Haut hatte, nannte ich sie Ursprungs-Farbe. In der
Heimat glaubt man noch, die Neger, die in Frankreich geboren werden, seien
grundsätzlich weniger schwarz als wir. Nun, ist nicht so, Pech gehabt, ich bin
noch nie einer Person über den Weg gelaufen, die so schwarz ist wie meine Ex.
Es gibt Leute, die sind, wenn Du sie siehst, so schwarz wie Mangan oder Teer,
du sagst dir, klar, die haben unter der Tropensonne geschmort, und sie
antworten dir ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie in Frankreich geboren
sind.
Wenn das so ist, verlange ich auf der Stelle, dass mir ihren Personalausweis
zeigen. Und wenn ich zu meiner großen Verwunderung feststellen muss, dass sie
recht haben, dass sie tatsächlich in Frankreich geboren sind, sogar mitten im
härtesten Winter, wie dem von Abbé Piere 1954, drehen bei mir gleich die
Räder durch. Ich sage mir: In welcher Welt leben wir eigentlich, wenn die Leute
ständig die kleinen Gewissheiten zerstören, die unsere Vorurteile festigen? Bin
ich denn ein Idiot, dass ich solche Geschichten schlucke? Wie kann man derart
schwarz und gleichzeitig in Frankreich geboren sein?
Nantes, Bordeaux, La Rochelle, Le Havre. Den französischen Hafenstädten am
Atlantik bescherte der Sklavenhandel märchenhafte Gewinne. In Nantes sind die
Spuren dieses Reichtums noch heute sichtbar: Das sind die prächtigen
Stadtpaläste der Reeder aus dem 18. Jahrhundert, umgeben von Gärten und
Parkanlagen mit exotischen Bäumen und Pflanzen. Die Stadt Nantes war die
erste in Frankreich, die sich ihrer problematischen Vergangenheit stellte. Und
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die nun versucht, die Lücken in den Geschichtsbüchern zu schließen. Der
Historiker Eric Saugéra kann dabei auf die Mithilfe einiger alteingesessener
Reederfamilien bauen, die ihm bereitwillig ihre Archive öffnen.
Reportage 3: Der Reichtum der Reeder in Nantes
und die Lücken in der Stadtgeschichte
Nantes, Place du Commerce: Ganz gleich ob morgens, mittags, abends…, hier
sind immer Menschen unterwegs. Kneipen, Boutiquen und ein großes Kino -
Auf dem „Platz des Handels“ kehrt nie Ruhe ein. Schon vor 200 Jahren war der
Platz ein wirtschaftliches Zentrum, sagt der Historiker Eric Saugéra und zeigt
auf ein schmales Haus neben dem Kino. Dort wohnte der Reeder und
Sklavenhändler Mathurin Trottier.
Früher floss hier die Loire vorbei, erst vor dem Zweiten Weltkrieg wurde
der Flussarm zugeschüttet. Wo wir jetzt stehen war ein Anlegekai für
Handelsschiffe. Mathurin Trottier wohnte von 1793 bis 1807 Nummer 10,
Place du Commerce, die Adresse heißt bis heute so. In dieser Zeit rüstete
Trottier sein Schiff „La Bonne Mère“ für den Sklavenhandel aus.
Der Dreimaster „La Bonne Mère“ segelte mit Kapitän und 37 Mann Besatzung
an die westafrikanische Küste, tauschte dort edle Stoffe, Waffen und Alkohol
gegen 303 schwarze Männer, Frauen und Kinder ein, verschiffte die Gefangenen
in die Karibik, wo sie als Sklaven verkauft wurden. Trottier kannte sich aus im
so genannten Dreieckshandel. Bis zur haitianischen Revolution lebte er selbst
als Siedler in der französischen Kolonie Saint Domingue und hielt Sklaven, die
für ihn Kaffee anbauten, sagt Saugéra.
Fremde können die Spuren des Sklavenhandels in Nantes kaum erkennen. Eric
Saugéra schon. Er hat erforscht, wie und wo das mörderische Geschäft geplant
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und abgewickelt wurde. Der große, sportlich aussehende Mann mit dem weißen
Stoppelhaar geht federnden Schritts über die Straße, hält vor einem imposanten
Bürgerhaus: Hohe Fenster, schmiedeeiserne Balkone, ein graues Schieferdach.
Sechs Maskenköpfe zieren die Fassade, einer hat negroide Züge. Ein
Straßenschild weist das Viertel als „Ile Feydeau“ aus. Die ehemalige Insel war
ein beliebtes Wohnviertel der reichen Händler von Nantes, sagt Saugéra.
Mit dem Geld, das Mathurin Trottier beim Sklavenhandel verdiente, kaufte
er den ganzen Häuserblock. Er hatte 19 Mieter, das zeigt, wie reich er war.
Später ist er hier selbst mit seiner Familie eingezogen. Seine Nachkommen
wohnen heute noch in diesem Haus, zwei Jahrhunderte später.
Das ehemals prächtige Gebäude sieht vernachlässigt aus. Im Putz sind
Einschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, von den Fensterrahmen
blättert die Farbe ab. Aber Saugéra ist dieses Haus wichtig, denn hier konnte er
erste Kontakte zu den Nachfahren des Sklavenhändlers Trottier knüpfen. Der
Wissenschaftler zeigt auf das Klingelschild.
Hier steht der Name: Pichelin. Als ich die Familie vor fast 30 Jahren
aufgesucht habe, hat sie mir alle Unterlagen anvertraut, die sie besaß, vor
allem die Briefe des Reeders. Es gibt nicht viele Nachkommen von
Sklavenhändlern, die ihre Archive so bereitwillig offen legen. Die
Geschichte ist noch zu frisch, die letzten Sklavenschiffe waren vor gut 150
Jahren unterwegs, das ist nicht so lange her.
Es beginnt zu nieseln. Saugéra setzt eine grüne Basketballkappe auf, stellt sich
unter den Balkon mit den Maskenköpfen. Kürzlich bekam er ein einzigartiges
Dokument in die Hände.
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„La Bonne Mère“ ist zweimal zum Sklavenhandel ausgelaufen, im Jahr
1802 und im Jahr 1815. Ein anonymer Stifter hat das Tagebuch der zweiten
Expedition letztes Jahr bei einem städtischen Geschichtsverein abgegeben.
Darin sind alle Waren verzeichnet, mit dem das Schiff an der afrikanischen
Küste gehandelt hat. Es wird auch exakt aufgelistet, wie viele Schwarze
dem afrikanischen König abgekauft wurden: 355 Neger, Negerinnen,
Negerjungen und Negermädchen.
In den engen Gassen der Ile Feydeau fasst Saugéra die wichtigsten Daten
zusammen: 1670 haben die Reeder von Nantes mit dem Sklavenhandel
begonnen. Im 18. Jahrhundert kam der atlantische Dreieckshandel hier richtig in
Schwung. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Nantes sogar zum größten Hafen
für Sklavenhandel in ganz Europa, weil Großbritannien aus dem Geschäft
ausstieg, die Regierung in London verbot es im Jahr 1807. Frankreich untersagte
den Sklavenhandel acht Jahre später. Die meisten Häfen respektierten das
Verbot, aber Nantes setzte sich darüber hinweg. Die Sklaverei selbst wurde in
Frankreich erst 1848 verboten.
Offiziell fand die letzte Expedition 1830 statt, aber wahrscheinlich hat
Nantes den Sklavenhandel noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts
fortgesetzt. Hier sind 1.800 Expeditionen ausgerüstet worden. Jedes Schiff
hat ungefähr 300 Gefangene transportiert. Somit wurden etwa 450.000
Schwarze aus Afrika deportiert. Wenn man bedenkt, dass für jeden
einzelnen Afrikaner, der versklavt wurde, drei oder vier Schwarze an der
afrikanischen Küste gestorben sind, dann wird einem klar, wie ungeheuer
groß der Preis war, den Afrika bezahlen mussten.
Eric Saugéra hat kürzlich ein Buch über die Expeditionen des Sklavenschiffes
„La Bonne Mère“ veröffentlicht. Jetzt arbeitet er an einem neuen Projekt: Der
Historiker sucht die Spuren des Sklavenhandels in Nantes, er will sie
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fotografieren und erklären. An diesem lukrativen Geschäft waren längst nicht
nur die Reeder beteiligt, sagt er.
Am Sklavenhandel haben sich alle bereichert. Um sein Schiff bauen und
ausrüsten zu lassen, brauchte der Reeder ein Dutzend Geldgeber. Die
Mannschaft bestand aus 30 bis 40 Leuten. In der Rue Racine gab es einen
Schmied, der Fußeisen und Ketten für die Sklaven herstellte. Eine Frau
strickte Wolljacken, die an der afrikanischen Küste eingetauscht wurden.
Eine Manufaktur im Süden von Nantes webte Baumwollstoffe für den
Handel. Am Quai de la Fosse lebte ein Glashersteller, dessen Karaffen in
Afrika verkauft wurden. Die Schiffe waren auch immer voll geladen mit
Nahrungsmitteln, Wein und Schnaps aus dem Hinterland.
Eric Saugéra hat sogar Volkslieder gefunden, die den Sklavenhandel besingen.
Vor 20 Jahren hat Nantes endlich begonnen, dieses Kapitel seiner Geschichte
aufzuarbeiten, sagt der Historiker. Jetzt sei es höchste Zeit für ein solches Buch.
LITERATUR
Bereits in der Zeit, als meine Freundin und unsere Tochter noch hier wohnten,
spähte Monsieur Hippocrate durch seinen Spion, sobald es auf dem
Treppenabsatz laut wurde. Ich wusste es, denn ich hörte, wie er auf Samtpfoten
heranschlich und hinter der Tür seinen Lurchatem zu unterdrücken versuchte.
Und als unsere Tochter geboren war, wollte er wissen, ob ich Drillinge statt
eines einzelnen Babys hätte, weil, ein einziges Kind könne doch nicht
herumplärren wie ein ganzer Kindergarten. Und er heulte sich bei unserem
Vermieter aus, dass es afrikanische Gruppierungen gebe, die im Wohnblock
einen Heidenzirkus veranstalteten, die das Gebäude in eine Tropenhauptstadt
verwandelten, die um fünf Uhr in der Frühe Hähne schlachteten und ihr Blut
sammelten, die die ganze Nacht herumtrommelten und ihren Buschgeistern
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verschlüsselte Botschaften zukommen ließen und ganz Frankreich verhexten.
Diese Kakaoköpfe müssten endlich nach Hause zurückgeschickt werden.
Lilian Thuram spielte bei den sogenannten „black, blanc, beur“. Der
französischen Fußball-Nationalmannschaft, die 1998 den Weltmeister-Titel
holte. Gefeiert wurde die Équipe damals nicht nur wegen ihres sportlichen
Erfolgs. Sondern auch als ein Modell der Integration von Spielern mit familiären
Wurzeln in Afrika und in den arabischen Ländern. Als ein Musterbeispiel für ein
multi-ethnischen Frankreich. Doch ganz soweit reichte die Macht des Fußballs
dann doch nicht. Nichtsdestotrotz steht Lilian Thuram noch heute für die
Akzeptanz schwarzer Fußballspieler in Frankreich. Auch wenn seine Profi-
Karriere längst vorbei ist. Der Franzose aus Guadeloupe ergreift regelmäßig das
Wort, wenn es um Rassismus geht. Er scheut sich nicht, gegen
fremdenfeindliche Äußerungen vorzugehen, selbst wenn sie von Ministern oder
sogar vom früheren Staatspräsidenten Sarkozy stammen.
Wachsam sein und Aufklären: Das ist Thurams Motto und das Ziel seiner
Stiftung, der „Fondation Lilian Thuram“. Regelmäßig geht er selbst in Schulen,
um mit Jugendlichen über die Ursprünge von Fremdenhass zu diskutieren. Wie
in Mitry Mory, in der Nähe von Paris.
Reportage 4: Überholte Rassentheorien und Tabus
– Lilan Thuram im Unterricht
Ein kahler Raum, Neonlicht. Zwei achte Klassen sitzen an den Tischen, fast 60
Mädchen und Jungen. Sie warten auf einen Vortrag zum Thema Rassismus. Es
klopft. Die Tür geht auf. Lilian Thuram - schwarzer Lederhut, schwarzer
Trenchcoat - betritt den Saal. Die Schüler tuscheln aufgeregt, flüstern seinen
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Namen. Der Fußballweltmeister geht die Tischreihen ab, schüttelt Hände, klopft
auf Schultern. Einem Jungen fährt er kumpelhaft durchs Haar.
Dann legt er Hut und Mantel ab, setzt sich vor die Klasse, winkt drei
Schülerinnen neben sich. Der 40-Jährige sieht elegant aus im beigen Pullover,
schwarzer Stoffhose, Wildlederschuhen. Thuram beugt sich zu den Mädchen
hin, flüstert einer nach der anderen vertraulich ins Ohr. Die Drei überlegen kurz,
flüstern zurück. Die Klasse kichert. Später, verspricht der Fußballstar, verrate
ich, was wir uns gesagt haben.
Aber zuerst erkläre ich euch, warum ich die Stiftung `Bildung gegen
Rassismus´ gegründet habe. Ich wurde auf Guadeloupe geboren. Wisst ihr,
wo das liegt? Stammt hier vielleicht noch jemand von Guadeloupe?
Einige Schüler heben die Hand, auch das Mädchen zu seiner Rechten. Thuram
lacht erfreut und umarmt es herzlich.
Im Alter von neun Jahren bin ich in der Pariser Gegend eingetroffen.
Damals lief ein Zeichentrickfilm im Fernsehen, mit einer sehr intelligenten
weißen Kuh und einer schwarzen Kuh, die Schwärzchen hieß und
strohdumm war. Mich haben sie in der Schule auch Schwärzchen genannt,
das hat mich getroffen. Meine Mutter sagte nur: Die Menschen sind
rassistisch, das wird sich nie ändern. Das war keine besonders kluge
Antwort. Später habe ich begriffen, dass in unserer Gesellschaft Bilder und
Vorurteile zirkulieren, die – oft unbewusst - von Generation zu Generation
weiter gegeben werden, weil uns gewisse Erkenntnisse fehlen. Meine
Stiftung will dieses Wissen verbreiten, damit wir lernen, anders zu denken.
Die Jugendlichen hören gespannt zu. Ihre Schule liegt in Mitry Mory. Ein
ehemaliges Dorf, nahe des Pariser Flughafens Charles de Gaulle. In den
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vergangenen 50 Jahren haben sich hier zahlreiche Fabriken angesiedelt, in denen
Einwanderer aus aller Welt arbeiten. So kommt es, dass die beiden Schul-
Klassen ethnisch sehr gemischt sind.
Ich habe eure drei Kameradinnen vorhin gefragt, wie viele Rassen sie
kennen. Was hast du mir ins Ohr gesagt?
Vier, antwortet die dunkelhäutige Loraine und zählt auf: die schwarze, weiße,
gelbe und die rote Rasse. Ihre Mitschülerinnen glauben, dass es drei
Menschenrassen gibt. Vermutlich, sagt Lilian Thuram, denken das noch mehr
von euch.
Das ist komplett falsch, hört ihr? Aber Irren ist menschlich. Die Gelben,
sind das vielleicht die Simpsons?
Thuram spielt auf die bekannte amerikanische Fernsehserie an. Mit seinem
Scherz nimmt er den 14-Jährigen das Gefühl, etwas Schlimmes gesagt zu haben.
Die Rassentheorien, erklärt er dann, seien im 18. und 19. Jahrhundert entstanden
und auch in den Schulen unterrichtet worden. Über Generationen hinweg sei
gelehrt worden, der Andere sei minderwertig. Zum Beweis zieht er ein altes
Lehrbuch aus der Tasche. Ein Junge liest vor.
Habt ihr gehört: „Die weiße Rasse ist die perfekteste Rasse, die es gibt“,
steht da. Es ist noch nicht sehr lange her, dass wir begonnen haben, die
Rassentheorie in Frage zu stellen und zu widerlegen. Heute wissen wir, dass
es nur eine Rasse gibt: Homo sapiens. Aber warum gibt es denn
unterschiedliche Hautfarben?
Ein Junge weiß, dass dafür die Sonneneinstrahlung auf den jeweiligen
Kontinenten verantwortlich ist. Thuram warnt vor gängigen Klischees.
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Früher hieß es, die einzelnen Rassen hätten besondere Eigenschaften. Auch
heute hört ihr oft: Die Schwarzen rennen schneller. Sie singen und tanzen
besser. Glaubt ihr wirklich, dass es an der Hautfarbe liegt, wenn man
schnell rennt?
Die Schüler sollen jetzt Fragen stellen. Christopher hebt die Hand. Der Junge
will wissen, warum man Menschen anderer Hautfarbe so oft misstraut. Das liegt
an der Gesellschaft, in der man aufwächst, sagt Lilian Thuram, und verkündet
das Motto seiner Stiftung: „Niemand wird als Rassist geboren, dazu wird man
erst gemacht.“ Ein Mädchen fragt, warum es so schwer sei, rassistische
Vorurteile zu beseitigen. Weil die meisten Menschen an ihren überkommenen
Überzeugungen festhalten wollen, sagt Thuram. Jede Veränderung löse ein
Gefühl der Unsicherheit aus.
Thuram will jetzt wissen, wer hier Franzose ist. Die meisten Schüler, aber nicht
alle, strecken die Hände hoch. Eine Junge ruft: „die schämen sich“.
Schämen? Was soll denn dieser Quatsch! Wer schämt sich hier, Franzose
zu sein? Nehmt euch in Acht! Franzose sein, das ist keine Frage der
Hautfarbe und auch keine Frage der Abstammung. Ihr seid in Frankreich
geboren, damit seid ihr Franzosen. Wenn ihr die Dinge hier ändern wollt,
müsst ihr euch unbedingt als Franzosen verstehen und später, wenn ihr
volljährig seid, zur Wahl gehen. Sonst wird es immer Rassismus und
Ungerechtigkeit geben.
In den vergangenen Jahren, sagt Thuram später, hätten viele Politiker und sogar
Minister den Einwanderern und ihren französischen Kindern eingehämmert,
dass sie keine echten Franzosen seien. Solche Reden zeigten ihre Wirkung.
Der Fußballer investiert viel Zeit, um Fremdenhass zu bekämpfen und
staatsbürgerliches Engagement zu fördern. Im Namen seiner Stiftung reist er
durchs ganze Land, besucht auch Schulen auf dem Land, wo es kaum farbige
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Schüler gibt. Dort, sagt er, seien die rassistischen Vorurteile oft besonders
ausgeprägt.
Ich diskutiere gerne mit den Kindern, und versuche, meine Botschaften zu
vermitteln. Viele meinen ja, diese Themen seien tabu. Ich bin anderer
Ansicht. Es ist unglaublich! Im Jahr 2012 glauben noch so viele Kinder,
dass es verschiedene Rassen gibt. Sie sind immer noch in diesen alten
Ideologien verhaftet, die auf den Hautfarben basieren. Aber um das
überhaupt zu erfahren, und um es zu ändern, müssen wir erst einmal mit
ihnen darüber reden. Ich glaube, dass sehr wenige Familien zuhause über
Rassismus sprechen.
Die Schulstunde ist um. Zum Abschluss, sagt Thuram, beantworte ich noch
genau zwei Fragen zum Thema Fußball. Ein Dutzend Hände schießen in die
Höhe. Die Kinder wollen wissen, wen er für den derzeit besten Spieler hält, den
besten Torwart, welches sein bestes Spiel war, seine schönste Erinnerung, ob er
Kontakt hält zu seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Zinédine Zidane.
Gutmütig geht der Sportler doch auf alle Wünsche ein, dann stellt er sich zum
Klassenfoto auf. Die Jugendlichen drängeln, alle wollen neben ihm stehen.
Lilian Thuram breitet die Arme aus.
Das französische Integrationsmodell stößt an seine Grenzen. Es setzt auf
Anpassung und verspricht, dass aus allen Fremden gleichberechtigte Bürger der
Republik werden, ungeachtet ihrer Herkunft. Aufgrund dieses Gleichheitsideals
erkennt der Staat Minderheiten nicht an. Das heißt, Schwarze sind offiziell
unsichtbar, da ethnische Statistiken in Frankreich verboten sind. Doch die
Erfahrungen der Schwarzen Franzosen sind andere. Sie werden eben nicht als
gleichberechtigte Bürger wahrgenommen, sondern ihre Hautfarbe spielt sehr
wohl eine Rolle, wenn es darum geht in Politik, Industrie und Medien Karriere
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zu machen. Umso mehr fallen diejenigen auf, die es doch geschafft haben. Eine
davon ist Rokaya Diallo.
Reportage 5: Meinungsmacher in den Medien
– Die Einzelkämpferin Rokaya Diallo
7 Uhr morgens in der Garderobe des französischen Fernsehsenders Canal Plus.
Rokhaya Diallo probiert ein Kleid an. Wie jeden Dienstag wird sie wieder life in
der Morgensendung über ein gesellschaftliches Thema diskutieren, das
Frankreich beschäftigt. Diesmal geht es um den Vorschlag des
Bildungsministers, die Noten in der Grundschule abzuschaffen.
Ich mache das seit fast drei Jahren. Der Privatsender „Canal Plus“ will
trendig sein und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. So kommt
es, dass hier mehr Menschen ausländischer Herkunft im Programm
auftauchen als anderswo. Canal Plus hat mich mit meiner Meinung geholt.
Die Fernsehanstalt weiß genau, wofür ich stehe.
Das Kleid ist zu eng. Die Garderobenfrau hängt es zurück auf den Ständer,
schlägt eine rosa Bluse vor. Rokhaya Diallo zieht sie über, schaut in den
Spiegel, nickt. Die schwarze Frau trägt das Haar Millimeter kurz. Frisur und
große baumelnde Gold-Ohrringe bringen ihr gleichmäßiges Gesicht zur Geltung.
Die Kolumnistin ist jung, strahlend, unkompliziert, selbstbewusst. Obwohl erst
34 Jahre alt, wird ihre Meinung in Frankreich gehört, seit sie mit Freunden -
jungen Schwarzen, Arabern, Asiaten und Weißen – den Verein „Les
Indivisibles“ gegründet hat. Der Name „die Unteilbaren“ spielt auf den ersten
Artikel der französischen Verfassung an: „Frankreich ist eine unteilbare
Republik“. Mit ihrem Verein wolle sie Politikern und Journalisten Kontra
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bieten, die das Klima im Land vergifteten und die Menschen gegeneinander
aufbrächten, sagt Rokhaya. Und zwar mit Spott und Humor.
Wir haben einen Anti-Preis ins Leben gerufen, eine Trophäe für
rassistische Äußerungen. Die Gewinner finden das meist gar nicht lustig.
Uns geht es darum, laut und deutlich gegen fremdenfeindliche Parolen
anzukämpfen, die nicht so schlimm sind, dass sie vor Gericht als Anstiftung
zum Rassenhass angefochten werden, die aber symptomatisch sind für
einen weit verbreiteten Rassismus in den Medien.
Mit dem Anti-Preis hat sie sich einige Prominente zu Gegnern gemacht, zum
Beispiel den Chefredakteur der Wochenzeitung "L'Express“, Christophe
Barbier, die feministische Autorin Caroline Fourest oder die linke Senatorin
Françoise Laborde.
Rokhaya Diallo geht in die Maske, setzt sich an den Schminktisch. Ihre Eltern
sind aus Senegal eingewandert, sie selbst ist in Paris geboren und in der Vorstadt
La Courneuve aufgewachsen. Dort habe sie sich immer als Französin gefühlt,
erzählt sie, dabei spricht sie so schnell, als müsse sie innerem Druck Luft
machen. In ihrer Siedlung stammten fast alle Familien aus dem Ausland. Daher
waren immer auch viele Hautfarben vertreten, sie spielten dort schlicht keine
Rolle. Das änderte sich, als Rokhaya Jura studierte und anschließend auf eine
Hochschule für Management ging.
In der Hochschule waren wir nur zwei Schwarze. Dennoch wurden wir
ohne Unterschied mit dem Vornamen der einen oder der anderen
angesprochen. Man verwechselte uns als seien wir austauschbar. Später im
Job wurde ich zu Hip Hop und andere Themen befragt, die Leute stereotyp
mit uns Schwarzen verbinden. Oft hieß es auch: ´Sie sprechen aber gut
Französisch´. - Es war der Blick der Anderen, der mich zur Schwarzen
gemacht hat.
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Die junge Frau schaut sich im Spiegel an. Die Maskenbildnerin nimmt einen
Pinsel, tuscht blauen Puder über die Augenlider, bürstet Farbe auf die Wimpern,
zieht die Brauen nach. Rokhaya wurde bewusst: Für ihre Umwelt war es nicht
selbstverständlich, dass eine Schwarze wie sie gebildet und Französin war.
Richtig hellhörig wurde sie aber erst, als in der Politik immer häufiger zwischen
„Urfranzosen“ und „Franzosen aus der Immigration“ unterschieden wurde. Der
frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte sogar ein Ministerium für
Einwanderung und Nationale Identität eingerichtet, das es heute nicht mehr gibt.
Für Rokhaya war das ein besonders krasser Versuch, Menschen auszugrenzen.
Sie hat eine andere Vorstellung von der nationalen Identität ihres Landes.
Kürzlich hat sie ein Buch veröffentlicht mit dem programmatischen Titel:
„Frankreich gehört uns“. Darin betont sie, dass Frankreich nicht mehr so weiß
und katholisch sei wie früher. Genau diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse
beflügle den Rassismus im Land.
Viele Menschen haben Angst. Sie akzeptieren nicht, dass sich Frankreich
verändert und wollen ihren Status verteidigen, ihre Privilegien. Aber der
Prozess ist unaufhaltsam. Man muss nur die Metro nehmen oder vor einer
Grundschule warten oder auf einen Picknickplatz gehen, dann sieht man:
Frankreich ist ethnisch vielfältig, multikulturell. Das ist eine Tatsache,
Proteste nützen nichts. Frankreich sollte die Vorteile dieser Entwicklung
ausschöpfen.
Aber die Lage der Minderheiten bessere sich, sagt sie, trotz vieler
Abwehrreaktionen. Ein Beweis dafür sei ihre Karriere: Rokhaya tritt nicht nur
regelmäßig in der Morgensendung von Canal Plus auf. Zweimal pro Woche ist
sie auf RTL zu hören, dem beliebtesten Radiosender des Landes. Mehr noch:
Seit diesem Herbst engagiert sie erstmals auch der öffentlich-rechtliche
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Fernsehsender France 2 für eine Talkshow. Obwohl sie so gefragt ist, macht sich
Rokhaya keine Illusionen.
Als wir den Verein „Les Indivisibles“ vor fünf Jahr en gegründet haben,
wollten wir einen anderen Diskurs verbreiten. Damals hätte ich mir nicht
träumen lassen, dass ich heute in so vielen Medien Rede und Antwort
stehen darf. Ich weiß allerdings genau, dass ich in dieser Rolle immer vom
guten Willen des jeweiligen Redaktionschefs abhängig bin. Wenn er
beschließt, dass er mich nicht mehr beschäftigen will, wird auch meine
Ansicht nicht mehr zu hören sein. Ich bin nämlich ziemlich allein auf weiter
Flur. Für mich ist ganz wichtig, dass noch viel mehr Farbige aus den
Vorstadtsiedlungen diese Rolle wahrnehmen können. Menschen wie ich
also, aber mit anderen Lebenswegen und anderen Meinungen. Ich hoffe,
dass diese Tür, die man mir geöffnet hat, auch für andere geöffnet wird.
Der Mund ist rot, das Make-up fertig. Rokhaya geht ins Fernsehstudio. Die Star-
Moderatorin stellt ihr die erste Frage.
300 Jahre gemeinsame Geschichte – Schwarze in Frankreich. Das waren
Gesichter Europas mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge
entnahmen wir dem Roman „Black Bazar“ von Alain Mabanckou. Gelesen hat
sie Jean Paul Baeck. Musik und Regie: Babette Michel, am Mikrofon war Katrin
Michaelsen.