(1917) die juden im kriege: denkschrift des judischen soziallistischen arbeitverbandes poale-zion
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Le ZionJie Juden im Kriege
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JUDENIM KRIEGEDenkschrift
des Jdischen Sozialistischen
Arbeiterverbandes Poale-Zion
an das
Internationale Sozialistische Bureau
~ INHALT.1. Vorwort.
2. Denkschrift an die Arbeiterinternationale.
3. Sammlung von Dokumenten:
I. Russland und die Juden.II. Polen und Juden.
III. Die Trkei und die Juden.
IV. Im Kampfe um die nationale Emanzipation.V. Anhang.
ZWEITE ERWEITERTE AUFLAGEDEN HAAG1917
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ANHANG.Die Stellung der Juden im sterreichischen Verwaltungsgebiet
Polens
Aeusserungen des Generalgouverneurs des sterreichischenVerwaltungsgebietes
Baron v Diller zu einem Kriegsberichterstatter. Publiziert in der Wiener Sonn-und Montagszeitung v. 27 September 1915. Nachgedruckt in Polen No. 41vom 8 Oktober 1915.
Einen grossen Raum in meinem Programm nehmen die Notstandsaktionen ein.Ich gebe ungefhr 20.000 Kronen monatlich per Kreis aus, wobei ich darauf
achte,
dass sowohl die christlichen wie auch die jdischen Hilfsgesellschaften beteilt werden.
Bezglich der Juden will ich da einschalten, dass ihre Lage infolge der Stockung
des gesamten Zwischenhandels sich ziemlich verschlimmert hat. Auch bin ichnicht berechtigt, ihnen die freie Ansiedlung auf dem Lande,welches whrend der Russenzeit verboten war, zu gewahren.
*
Aus dem Interview des Generalgouvemeurs Baron v. Dil ler mit einem Be-
richterstatter des Budapester Blattes A Vi lag" zitiert nach Polen No. 58, vom4 Februar 1916. - .
Ich kann sagen, dass das Vertrauen uns gegenber von Tag zu lag wachst,
in qleichem Mass als der Glauben an die Wiederkehr der Russen zerstrtwird.
Die Bevlkerung beginnt die Vorteile unserer Verwaltung zu gemessen,unsere
Wirtschaftspolitik, der Gebrauch der polnischen Sprache, entsprechende Benutzung
der autonomen Krfte, das sind die wichtigsten Bestandteile. Die ruthenischeMinder-
heit bietet keinerlei Schwierigkeiten, da ihr Religionsunterricht in ruthenischerbprache
erteilt wird. , , _ _, , , . . T , Viel mehr Uebelstnde gibt es mit den Juden. Das Niveau der hiesigen Juden-
schaft ist ein viel niedrigeres als das der Galizianer. Sie beunruhigen mitallerlei Schreckensnachrichten die Bevlkerung, damit sie von denBauern um einen geringen Preis das Getreide erhalten knnen.
Sie betreiben auch Schmuggelhandel aus den unter deutscher Ver-waltung stehenden Teilen Polens. Der jdische Nationalismus ist verschlossener
Natur und vindiziert nationale Rechte fr den Jargon, der keinerlei Rechtsbasishat
und vom Zweckmssigkeitsgesichtspunkt nicht zu verteidigen ist Mit der Erteilungder vollstndigen brgerlichen Rechte wird aber auch eine wohlttige
Wirkung aut
diesem Gebiet ausgebt werden."
Aus einem Gesprch mit Oberstleutnant Haus ner. Generalstabschef dessterreichischen Gouvernements. Abgedruckt im Dziennnik Narodowy,zitiert nach Polen", No. 46, v. 12 November 1915.
Im Verhltnisse zu den Juden beobachten wir dieselben Grundsatze, wie
in Oesterreich. Wie bekannt, kennt man in Oesterreich eine jdischeNationalitt nicht, es werden auch in dieser Frage keine Besonderneiten aner-
kannt. Wir geben den Juden selbstredend jede Gleichberechtigung, ihreKonfession kann nicht ihren Ausschluss vom Gebrauche der brgerlichen Rechte mderen ganzer Flle begrnden. Eine jdische Sprache kennen wir nicht,der Jargon kann im ffentlichen Leben nicht bercksichtigt werden.In Bercksichtigung der hiesigen Verhltnisse haben wir die besonderen
judischen
Schulen beibehalten, jedoch ist dort die polnische Sprache obligatorisch.Ebenso
werden diejdischen Matrikel in der polnischen Sprache gefhrt.
*
Erklrungen des sterreichischen Oberkommandos.Aus einem Bericht des Kriegspressequartiers ber den Empfang einer Abordnung
des Oesterreichischen Zentralkomitees zur Wahrung der staatsbrgerlichen Interessen
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der jdischen Bevlkerung im nrdlichen Kriegsgebiet" durch den Armeeoberkomman-danten Erzherzog Friedrich
Der Armeeoberkommandant, welcher die Abordnung in huldvoller Weiseempfing und im Verlauf der Audienz lebhaftes Interesse auch fr alle Einzelheitender einschlgigen Fragen bekundete, anerkannte in warmen Worten den Patriotismus,den die jdische Bevlkerung Galiziens und der Bukowina whrend des Feldzuges
bewiesen hat, und unterliess auch nicht, ihrer Leiden whrend der russischen Okku-pation in herzlicher Teilnahme zu gedenken. Der Erzherzog erklrte, dass obgleichim Sinne der Haager Konvention das okkupierte Gebiet auf Grund der russischenGesetze verwaltet werde, der Grundsatz der Gleichberechtigung aller in Oesterreich-
Ungarn anerkannten Religionsbekenntnisse vom Armeeoberkommando kurz nachAktivierung der k. u. k. Militrverwaltung mit der Verordnung von 7. Mrz 1915proklamiert worden sei und seither in voller Geltung stehe. Hiermit sei entgegenallen anderweitigen Behauptungen der neutralen Presse von der in der Haager Land-kriegsordnung (Art. 43) gebotenen Ermchtigung Gebrauch gemacht worden, im Falleunbedingter Unmglichkeit von der Anwendung der Gesetze des Landes im okkupiertenGebiet Abstand zu nehmen. Eine solche unbedingte Unmglichkeit habe eben diesterreichisch-ungarische Militrverwaltung in der Anwendung von Ausnahmegesetzengegen eine bestimmte Religionsgesellschaft erblickt."
*
Jdische Zeitung, Wien, vom 7. Juli 1916. Nr. 2 7.Der Mysl Zydowska" zufolge, Hess das k. und k. Kreiskommando in Cholm
folgende Kundmachung ffentlich affichieren:Da die jdische Bevlkerung zu Spekulationszwecken beunruhigende Nach-
richten ber militrische Bewegungen verbreitet, bringt das Kreiskommando zur all-gemeinen Kenntnis, dass jeder, der sich dessen schuldig machen wird, streng bestraft,berdies der israelitischen Kultusgemeinde eine Kontribution von Kr. 25.000.
auferlegt werden wird."
C z a z", Krakau, Nr. 345 vom 11. Juli 1916.In Cholm wurde folgende Kundmachung publiziertDurch Reskript vom 26. Juni bringt das k. und k. Kreiskommando zur ffent-
lichen Kenntnis, dass trotz des durch die k. und k. Gendarmerie publizierten Ver-
botes, ohne Erlaubnis zu reisen, das sich auf die israelitische Bevlkerung bezieht,
die Flle der Uebertretung der erwhnten Anordnung sich hufen. Deshalb wird demHerrn Gemeindeleiter der Inhalt des diesbezglich erlassenen Verbots mit der Auf-
forderung in Erinnerung gebracht, noch einmal, sowohl in der Gemeinde, als auch
in zugehrigen Drfern und Siedlungen das Folgende zuverlautbaren:
Bis auf Widerruf ist es Einwohnern mosaischer Konfession nicht erlaubt, die
Grenzen ihres Wohnortes zu verlassen. Ausnahmsweise darf eine Reise von einemOrt in einen anderen, sei es mit Wagen, sei es zu Fuss, nur mit ausdrcklicherErlaubnis des k. und k. Kreiskommandos, event. des k. und k. Gendarmerie-Postens, unternommen werden, die man im Falle pltzlicher und dringender Not-wendigkeit erhalten kann, z.B. bei einer Krankheit, die rasche und umgehenderztliche Hilfe verlangt, fr die Lieferung bestellter Produkte fr die Armee u.s.w.Jeder, der sich dieser Anordnung nicht fgt und ausserhalb seines Wohnortes ohnedie Erlaubnis zum Verlassen seines Aufenthaltsortes angehalten wird, wird nicht nurstreng bestraft, sondern ausserdem wird seine zwangweise Versetzung in eine der
Arbeiterabteilungen fr eine lngere Zeit angeordnet werden. Gleichzeitig wird zur
allgemeinen Kenntnis gebracht, dass durch hiesiges amtliches Urteil vom 26. Juni 1916Leiser Schr und Samuel Scherz aus Woislawie fr das Reisen ohne Bewilligung
mit je 20 Kr., eventl. 4 Tagen Arrest, bestraft wurden. Im Falle der Wiederholungderartiger Uebertretungen werden die Strafen in der Zukunft in entsprechendem
Masse erhht werden."
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Resolution der National-Exekutive der Sozialistischen Partei
Amerikas*
Angenommen im September 1915.
In Erwgung, dass trotz der verschiedenen Verlautbarungen und Behauptungen
die Juden noch immer in verschiedenen Lndern ihrer nationalen und menschlichen
Rechte beraubt sind; ,in Erwgung, dass der gegenwrtige Krieg, insbesondere das blutige Ringen,
das sich auf dem russischen Territorium abspielt, die aussergewhnlichen Leiden undunerhrten Verfolgungen des jdischen Volkes vervielfacht hat, wobei dies ungeachtet
dessen geschieht, dass sich die Juden zu Hunderttausenden als Soldaten in den
kmpfenden Armeen schlagen;in weiterer Erwgung, dass die unmenschlichen Verfolgungen der Juden in der
schrecklichen Tyrannei wurzeln, die das jdische Volk noch vor dem Beginn des
Krieges auszustehen hatte, dass die unwissenden Massen der Bevlkerungin den
verschiedenen Lndern nicht zu sprechen von dem anmassenden und nicht ver-antwortlichen Militr von den Machthabern und Regierenden in dem Glaubenerzogen wurden, dass der Jude eine niedrige menschliche Kreatur ist, die Zielscheibe
fr vorstzliche Beleidigungen und mutwillige Angriffe, den jeder verfolgen und
angreifen kann, ohne Gefahr, dass der Angreifende von irgend wem bestraft wird;in Erwgung, dass die internationale sozialistische Bewegung und die sozialis-
tischen Parteien der Lnder, wo nur die Frage entstanden war, niemals die Gelegenheitverfehlten, sich rckhaltlos und klar fr die volle Befreiung jeder unterdrckten
Nationalitt, ebenso fr die Befreiung des jdischen Volkes auszusprechen;
in Anbetracht der Tatsache, dass die jdischen Arbeiter der Vereinigten Staaten
eine Organisation bildeten, genannt das Nationale Arbeiter-Comite fr jdische
Rechte, dem sich alle radikalen und Arbeiterorganisationen anschlssen;in Erwgung, dass das Nationale Arbeiter-Comite dank der Ttigkeit unserer
Parteigenossen von der Jdischen Federation der Sozialistischen Partei in seiner Arbeit
von proletarisch-sozialistischem Geiste geleitet wird;in Anbetracht, dass das Nationale Arbeiter-Comite vor kurzem in der btadt
New York eine nationale Arbeiter-Convention abhielt, bei der mehr als 350.000organisierte jdische Arbeiter vertreten waren;
in Anbetracht, dass die Convention eine Delegation entsandte, die vor unserem
Comite erschienen ist und die Anerkennung und Untersttzung der Sozialistischen
Partei der Vereinigten Staaten von uns verlangt;sei darum beschlossen, dass wir, die National-Exekutive der Sozialistischen Partei
der Vereinigten Staaten, die Ziele der oben genannten Organisation, wie sie in dieserResolution angedeutet sind, herzlich begrssen und indossieren (anerkennen) sowie
uns verpflichten, den jdischen Arbeitern in ihrer gerechten Sache unsere volle
Untersttzung zu leihenes sei auch beschlossen, Genossen Meyer London, unseren erwhlten Congress-
man der Stadt New York, aufzufordern, eine Reihe von Resolutionen vorzubereiten,die die Ziele und Aufgaben des Nationalen Arbeiter-Comites ausdrcken, und diese
Resolutionen im Kongress vorzubringen, sobald die Sitzungen desselben im MonatDezember erffnet werden
es sei auch beschlossen, dass die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten
ihre Delegierten zum Internationalen Sozialistischen Kongress und ihre Vertreter im
InternationalenSozialistischen Bureau beauftragt, diese Resolutionen dem Bureau
und Kongress, sobald sie sich versammeln, zu unterbreiten, damit die sozialistischen
Parteien aller Lnder eine gemeinschaftliche internationale Aktion unternehmen, umdem jdischen Volke in seinem Kampfe in jeder mglichen Weise zu helfen fr dieErwerbung voller und gleicher Rechte, wie sie alle anderen Vlker in den Lndern
besitzen, wo die Juden wohnen und wo sie dieser Rechte jetzt beraubt sind.
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Resolutionen der American Federation of Labour*Angenommen von der 35. Convention in San Franzisko am 21 November 1915.
In Erwgung, dass die Hauptursache des gegenwrtigen Krieges die Missachtungder Rechte der kleinen Nationalitten durch die grossen und mchtigen Nationen ist
in Erwgung, dass es dem Volk der Vereinigten Staaten zum Glck beschiedenwar, von den Schrecken dieses schrecklichsten aller Konflikte verschont zu bleiben,der sich jetzt in Europa abspielt, sowie von Gefhlen des Hasses und Vorurteilen ;
in Erwgung, dass das Volk und die Regierung der Vereinigten Staaten derWelt behilflich sein knnen, die Grundlage fr einen dauerhaften und dauerndenFrieden zu legen, der auf Gerechtigkeit fr alle begrndet sein soll
in Erwgung, dass in manchen Lndern Europas das jdische Volk, ungeachtetder grossen Opfer, das es fr diese Lnder gebracht hat und noch bringt, unterdrcktund der elementarsten politischen und brgerlichen Rechte beraubt wird;
und in Erwgung, dass jede Form religiser Unterdrckung dem Geist desamerikanischen Volkes widerspricht;
sei beschlossen, dass die American Federation of Labour die Regierung der
Vereinigten Staaten auffordert, ihren Einfluss und ihre guten Beziehungen zu denRegierungen der europischen Nationen zu gebrauchen, um fr das jdische Volkeine volle Befreiung in diesen Lndern zu erlangen, und es wird ferner beschlossen,dass derselbe Appell von der American Federation of Labour an die organisiertenArbeiter aller kriegfhrenden Lnder gerichtet worden soll.
Angenommen von der 36. Convention in Baltimore, 13. 20. November 1916.In Erwgung, dass der europische Krieg mit jedem Tage an Umfang und
Entsetzlichkeit zunimmt und die unglcklichen Nationen, die von ihm heimgesuchtwurden, anscheinend machtlos sind, der schrecklichen gegenseitigen Zerstrung unddem Blutvergiessen Einhalt zu tun;
in Erwgung, dass viele Nationen in Europa von den Grossmchten politischunterdrckt, ihrer Selbstverwaltungsrechte beraubt und in ihrer freien nationalen undkulturellen Entwicklung gehindert werden, dass sie unterjocht, misshandelt und ver-folgt werden, so dass die Existenz derartiger unterdrckter Nationalitten und ihrnatrlicher rechtmssiger Kampf fr Befreiung einen fruchtbaren Boden fr internationaleStreitigkeiten und Kriege bilden;
in Erwgung, dass einige europische Lnder das jdische Volk in seinen poli-tischen, nationalen und brgerlichen Rechten beschrnken, die die brige Bevlkerungdieser Lnder besitzt, ungeachtet dessen, dass zu gleicher Zeit die Juden ungezhlteOpfer an Eigentum und Blut fr die Lnder bringen, in denen sie geboren sind undsich eingebrgert haben;
und in weiterer Erwgung, dass die internationale Bewegung der organisiertenArbeiterschaft die Abschaffung aller Formen der Unterdrckung und Rechtsbe-schrnkung, der nationalen und Rassenbeschrnkungen, ebenso wie der politischenund wirtschaftlichen erstrebt
sei darum beschlossen, dass die Convention der American Federation of Labour,versammelt in Baltimore im November 1916, die Resolution untersttzt, eingebrachtim Reprsentantenhause vom Congressman Meyer London und im Senat vomSenator Line, die den Prsidenten der Vereinigten Staaten auffordert, dem Bruderkampfin Europa ein Ende zu machen und einen dauernden Frieden auf gerechten Grundlagenzu errichten, in dem vorgesehen sind: die Schlichtung internationaler Streitigkeitenin der Zukunft in wirksamer Weise, bestimmte Brgschaften fr die politische Selbst-verwaltung der unterdrckten Nationen und fr die Abschaffung aller politischen,nationalen und brgerlichen Beschrnkungen fr das jdische Volk;
und es sei ferner beschlossen, dass die organisierten Arbeiter der VereinigtenStaaten von der A. F. L. aufgefordert werden, mit allen ihnen zu Gebote stehendenMitteln, moralisch und materiell, ihre leidenden arbeitenden Brder, die Opfer desKrieges oder politischer, religiser oder Rassenverfolgungen zu untersttzen,
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und es sei ferner beschlossen, dass Abschriften dieser Resolution dem Prsidenten
der Vereinigten Staaten, dem Secretary of State, dem Prsidenten des Senats und
dem Speaker des House of Representative mitgeteilt werden sollen.
Resolution der Englischen Arbeiterpartei
Angenommen vom Kongress in Bristol im Dezember 1915.
Der Kongress wnscht seine Genugtuung ber die Anstrengungen auszudrcken,
die die Erreichung der Rechtsgleichheit fr die Juden in allen Lndern zum Zweckehaben. Er beauftragt die Labour Party im Parlament sowie im Lande, den grsst-
mglichen Einfluss auf die ffentliche Meinung zu ben, um die sofortige Einstellungder Verfolgungen gegen die Juden durchzusetzen und bei den Friedensverhandlungen
fr die Juden, ebenso wie fr alle anderen Nationen, die sich in einer hnlichen
Lage befinden, die Garantien ihrer sozialen, politischen, konomischen und nationalen
Entwicklung sicherzustellen.
Resolution des englischen Trades Union Kongresses*Abgehalten in Birmingham, 4.-9. September 1916.
Der Kongress verurteilt aufs nachdrcklichste die fortgesetzte Unterdrckung und
Entrechtung des jdischen Volkes und bedauert, dass in manchen Lndern das
jdische Volk der elementarsten politischen und brgerlichen Rechte noch immer
beraubt ist. Dieser Kongress ersucht darum die britische Regierung, von unseren
Verbndeten und den Regierungen der neutralen Nationen zu verlangen, alle derar-
tigen Rechtsbeschrnkungen, wo immer sie bestehen und gegen das jdische Volkjetzt angewendet werden, aufzuheben. Er ersucht ferner, dass die britischen Vertreter
bemht sein sollen, in den Friedensvertrag, sobald die Friedensbedingungen fr den
Abschluss des gegenwrtigen Krieges zur Diskussion gelangen, Garantienfr die
politischen und brgerlichen Rechte der Juden und anderer Nationalitten einzu-
schliessen, die derartigen Ausnahmsgesetzen unterworfen sind.
Aus der Resolution der Konferenz der Sozialisten derneutralen Lnder (31 Juli 2 Aug* 1916 im Haag)*
Die Konferenz weist hin auf die Forderungen des Internationalen sozialistischen
Kongresses von Kopenhagen (1910) als die Grundlage eines sozialistischen Friedens-
programms, welches im grossen und ganzen whrend des Krieges wiederholt von den
Parteien der kriegfhrenden Lnder besttigt wurde.
Die Hauptforderungen dieses Programms sind: obligatorische Schiedsgerichteim Rahmen einer internationalen Rechtsordnung ; allgemeine Verminderung derRstungen; Abschaffung der geheimen Diplomatie, parlamentarische Kontrolle ber
die auswrtige Politik und Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Vlker.
Die Konferenz fordert die sozialistischen Parteien auf, sich zur Verstndigung
auf dem Boden dieses Programms bereit zu erklren, damit nicht der historischeMoment, um fr seine Verwirklichung zu wirken, vielleicht verpasst und der Friedenvon den imperialistischen Gruppen diktiert wird.
Was die nationalen Fragen betrifft, betrachtet die Konferenz die Wiederherstel-'lung Belgiens als selbstndigen Staats als eine selbstverstndliche Vorbedingung jeder
Unterhandlung ber den Frieden, wie sie auch fr die Wiederherstellung Serbiens
und fr ein autonomes Polen eintritt. Sie sprichtdie Erwartung aus, dass auch die
deutsche sozialdemokratische Partei bereit sein wird, ber die Elsass-Lothringische
Frage mit der franzsischen Partei zu verhandeln, und erklrt weiter, dass die Autonomie
der Nationen am besten zu verwirklichen ist auf dem Boden einer demokratischendezentralisirenden Staatsverfassung, welche den Kulturbedrfnissen der Nationen
vllig Rechnung trgt.
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Der Vorsitzende der Konferenz und Referent der politischen Kommission,
P. }. Troelstra. gab zum letzten Satz folgende Interpretation:Ich denke dabei in erster Linie an die nationalen Minderheiten in verschiedenen
Gebieten, auch in solchen, die jetzt vielleicht ihre politische Selbstndigkeit erreichen
werden. In einem wiederhergestellten autonomen Polen sollen dieKulturrechte der ukrainischen, jdischen, lithauischen Minoritt
geschtzt werden, Die nationale Freiheit keines Volkes soll zur Unterdrckungeines anderen missbraucht und erniedrigt werden."
Aus dem Wahlaufruf der P- P- S* (Linke) und des Bundesanlsslich der Stadtratwahlen in Warschau im Juli 1916*
Die gemeinsame Wahlaktion der jdischen und polnischen Sozialisten wird demgegenwrtigen Wahlkampf den Charakter eines ausschliesslich jdisch-polnischenKampfes nehmen, zu dem ihn die polnische und jdische nationalistische Bourgeoisie,
die sich gegenberstehen, verwandeln wollen.
Die Durchfhrungseiner Kandidaten in den Stadtrat anstrebend, stellt sich der
sozialistische Block zum Ziele
:
1). Fr das Proletariat einen neuen Sttzpunkt seiner Arbeit fr die Entwicklung
des Bewusstseins und zur Zusammenschweissung der mglichst breiten Massen zuer* r r JT^'T'l
2). Die stdtische Wirtschaft gesund zu machen und zu demokratisieren und im
Stadtrat eine den Prinzipien des Sozialismus entsprechende Politik zu fhren.
3). Den Stadtrat selbst zu demokratisieren durch die Ersetzung des gegen-wrtigen Wahlsystems durch das allgemeine, gleiche, direkte, geheime und propor-
tioneile Wahlrecht fr alle ohne Unterschied des Geschlechts.
4). Die Kompetenz der Selbstverwaltung auszudehnen und die Verminderung
ihrer Abhngigkeit von der allmchtigen Administration anzustreben.
5) Gegen den Nationalismus anzukmpfen, sowohl den polnischen wie denjdischen: gegen die antisemitische Politik der polnischen Bourgeoisie, die die Juden
von allen stdtischen Anstalten und Angelegenheiten fernhlt und gegen die Politik
der jdischen Bourgeoisie, die die antisemitische Atmosphre fr ihre Klasseninteressen
ausnutzt und die nationalistischen Losungen der nationalen Einheit von Klal-Isroel
(die Gemeinschaft Israels) verbreitet. 6) Gegenber den nationalen Minderheiten: die Garantierung ihrer
Rechte aut
dem Gebiete der Kultur und die Mglichkeit der Ausbung des Mandats. Das besagt,
dem jdischen Volk zu verbrgen : den Bestand von stdtischen Schulen mit judischer
Unterrichtssprache, das Recht des Gebrauches der jdischen Sprache in stdtischen
Anstalten d.h. sich an sie zu wenden und von ihnen eine Antwort in dieser Sprache
zu bekommen, und endlich die obligatePublikation aller Kundmachungen an die
Bevlkerung auch in dieser Sprache.(Nach der russischen Ausgabe des Auslndischen Komitees des Bundes .)
Aufruf des Executiv-Comites des Amerkanisch-Jdischen
Kongresses/ *)
Kraft der uns als Executiv-Comite des Amerikanisch-Jdischen Kongresses
erteilten Vollmacht ersuchen wir eindringlich die Juden Amerikas Vertreter zu einem
amerikanischen jdischen Kongress zu whlen, der ausschiessHch zum Zwecke der
Feststellung der Methoden zusammentreten wird, durch die in Zusammenwirkung mit
den Juden der ganzen Welt fr die Juden in allen Lndern volle Rechtegesicnert
und alle gegen sie gerichteten Beschrnkungsgesetze abgeschafft werden knnen. Es
wird verstanden, dass der Ausdruck volle Rechte" sinngemss einschhesst
*) Es war technisch nicht mehr mglich, nachstehende Dokumente im IV. Abschnittder
Sammlung abzudrucken.
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1) Brgerliche, religise und politische Rechte, und berdies,2) wo immer die verschiedenen Vlker eines Landes als solche Rechte besitzen
oder diese ihnen zuerkannt werden sollen, die Erteilung der gleichen Rechte fr dasjdische Volk des betreffenden Landes, wenn sie von ihm gefordert werden, wie vomKongress beschlossen und festgestellt werden soll;
3)die Sicherung und Beschtzung der jdischen Rechte in Palstina.
Keine Resolution soll bei dem Kongress eingebracht, betrachtet oder behandeltwerden, die auf irgend eine Weise den Zweck oder die Tendenz hat, den Kongressals Krperschaft oder seine Delegierten oder irgend eine der in ihm vertretenenGemeinden oder Organisationen zu der Annahme, Anerkennung oder Untersttzungirgend einer allgemeinen Theorie oder Philosophie des jdischen Lebens oder irgendeines theoretischen Prinzips nationalen, konomischen, politischen oder religisenCharakters zu verpflichten, oder welche die Wiederholung eines derartigen Kon-gresses enthlt.
Die Einberufung und Abhaltung des Kongresses soll in keiner Weise dieAutonomie irgend einer der bestehenden amerikanischen jdischen Organisationenberhren. Aber insofern das von diesem Kongress gewhlte Executiv-Comite eineAktion zur Sicherung der jdischen Rechte unternimmt, wie in dem Aufrufe frdiesen Kongress bestimmt ist, soll die Ttigkeit dieses Executiv-Comites whrendder Dauer seines Bestehens anerkanntermassen den Vorrang haben gegenber derirgend einer anderen Organisation, die an dem Kongress teilnehmen wird.
Der Kongress hat ein Executiv-Comite zu erwhlen, das in Gemeinschaft mitden Juden anderer Lnder die Verwirklichung der Ziele, fr die der Kongress ein-berufen wird, anstreben soll; dieses Comite soll bis zum Ablauf eines Jahres nachdem Abschluss eines Friedensvertrages, durch den der gegenwrtige europischeKrieg beendet werden soll, im Amt bleiben und am Ende dieser Zeit oder, wennntig, frher den Kongress wieder einberufen und ihm ber seine Ttigkeit einenabschliessenden Bericht erstatten.
(Es folgen Bestimmungen ber die Zusammensetzung des Executiv-Comites und die Wahlender Delegierten zum Kongress.Dem Executiv-Comite wurde die Beschlussfassung darber berlassen, ob die Fragen der
konomischen Rekonstruktion der jdischen Gemeinden in der Kriegszone auf die Tagesordnungdes Kongresses gesetzt werden sollen. Das Executiv-Comite hat in seiner ersten Sitzung am25. Dezember 1916 beschlossen, diesen Punkt in das Arbeitsprogramm des Kongresses einzuschliessen.
Das Executiv-Comite des Kongresses setzt sich aus Vertretern smtlicher jdischer, sowohlbrgerlicher, wie proletarischer Organisationen der Vereinigten Staaten Amerikas zusammen.Als Vertreter der zwei Richtungen des jdischen Sozialismus, der sogenannten Vorwrts"-Richtung und der Poale-Zion, gehren Morris Hillquit und Dr. Isaac Hourwich als Vize-prsidenten dem Bureau des Kongresses an.)
Erklrung des Jdischen Sozialistischen ArbeiterverbandesPoale-Zion*Die durch das Manifest der Regierungen Deutschlands und sterreich-Ungarns
angekndigte Neugestaltung der Verhltnisse im Knigreich Polen und die vonOesterreich proklamierte Sonderstellung Galiziens berhren aufs tiefste die Interessender nahezu drei Millionen Juden dieser Lnder.
Ohne zu dem Akte der Mittelmchte betreffs des Knigreichs Polen an sichStellung zu nehmen, bevor die Bevlkerung Polens durch eine freigewhlte, legitimeVertretung ihren Willen kundgetan hat, halten wir es fr geboten, unseren Standpunktzu den Massnahmen der okkupierenden Mchte darzulegen, sofern sie die Stellungder jdischen Bevlkerung im Lande betreffen. Wir sehen uns hierzu umsomehrveranlasst, als es unseren Parteigenossen und der jdischen Arbeiterschaft in Polenunter den obwaltenden Umstnden nicht mglich ist, ihre Ansichten und Forderungenffentlich zum Ausdruck zu bringen.
Unsere tiefste Sympathie fr die Unabhngigkeitsbestrebungen des polnischenVolkes haben wir wiederholt zum Ausdruck gebracht. Wir verweisen insbesondereauf unsere Denkschrift vom November 1915 an die Sozialistische Internationale und
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auf die Erklrung unserer sterreichischen Landespartei vom August 1915. Diejdische Bevlkerung Polens hat sich vor dem Kriege und whrend desselben mitdem Kampf des polnischen Volkes um seine nationale Freiheit solidarisiert. Diejdische Demokratie erblickt jedoch in der Sicherung der ungehemmten Entwicklungund der Rechte der nationalen Minderheiten eine Voraussetzung des friedlichenZusammenlebens der das Land bewohnenden Vlker. Wir stellen fest, dass bei dervon den Mittelmchten vorgenommenen Umgestaltung der Verhltnisse in Polen dieRechte der nationalen Minderheiten nicht festgelegt sind, dass insbesondere die Rechteder jdischen Nation, der zweitgrssten im Lande, vollstndig ignoriert werden.
Das Manifest vom 5. November erwhnt mit keinem Worte den Schutz dernationalen Minderheiten in Polen.
Die Verordnung des Generalgouverneurs in Warschau ber die Bildung einespolnischen Landtags und Staatsrats gewhrt den Juden keine nennenswerte Ver-tretung im Landtag und gar keine Mglichkeit der Wahl von Vertretern in denStaatsrat. Damit sind die Juden der polnischen Mehrheit wehrlos ausgeliefert. Nichtnur ist ihr nationales Minderheitsrecht verletzt, sondern es ist ihnen auch die Mglich-keit der Wahrung ihrer, nach den Erfahrungen der letzten Jahre und insbesondere
auch der Okkupationszeit, bedrohtenbrgerlichen Rechte
genommen.Die gleichzeitig erlassene Verordnung ber die Organisation der jdischenReligionsgesellschaft im Generalgouvernement Warschau legt von vornherein denrein konfessionellen Rechtscharakter der jdischen Gemeinschaft fest und bekrftigtdie Verweigerung der Rechte einer nationalen Minderheit fr die Judenheit Polens.Im jdischen Gemeindeleben selbst bedeutet die angeordnete religise Zwangs-organisation begrndet auf dem Ausschluss der breiten, keine direkten Steuernzahlenden Massen vom Wahlrecht, auf dem Zweikuriensystem in den Grossgemeindenmit zahlreicher jdischer Arbeiterschaft, auf dem indirekten Wahlsystem fr die hherenVerwaltungskrper, auf der Bevorrechtung und dem berwiegenden Einfluss derRabbiner bedeutet diese Zusammenfassung und Zentralisierung der jdischenGemeinden die Befestigung und Steigerung der Macht der assimilatorischen Bourgeoisieund des Rabbinertums. Die Verordnung ist ein Zerrbild der von den jdischenVolksmassen und der jdischen Arbeiterschaft angestrebten nationalen Selbstverwaltung.
Das jdische Volk in Polen wird sich nicht zur blossen Konfessionsgemeinschaftherabdrcken lassen, die jdischen Volksmassen in allen Lndern fhlen sich einsmit den Juden Polens, sie werden sich mit keiner Regelung der Verhltnisse diesesLandes zufrieden geben, die nicht der grossen jdischen Minoritt Recht und Schutzin brgerlicher, politischer und nationaler Beziehung gewhrleistet. Ebenso wissenwir uns einig mit den breiten Schichten der Judenheit Galiziens, indem wir Verwahrungeinlegen gegen die Ignorierung ihrer nationalen Rechte in einem Lande mit fast900.000 Juden neben 3,75 Millionen Polen und 3,4 Millionen Ukrainern. Im Kampfeum das allgemeine Wahlrecht, im schweren Ringen gegen polnische Bourgeoisie,
Schlachta und administrative Willkr um eine nationale Vertretung in den gesetz-gebenden Krperschaften, in der Verteidigung ihrer Sprachenrechte bei der Volks-zhlung haben die jdischen Massen Galiziens ihren festen Entschluss bekundet,ihren nationalen Bestand zu verteidigen und Garantien fr ihre freie Entwicklung zuerlangen. Das die Autonomie Galiziens ankndigende Handschreiben jedoch bergehtmit Stillschweigen die Rechte der zwei neben den Polen das Land bewohnenden Vlker.
Wir appellieren an die klassenbewusste polnische Arbeiterschaft, gegen dieMissachtung der nationalen Selbstbestimmung der Juden ihre Stimme zu erheben undmit aller Kraft dagegen zu kmpfen, dass die Entwicklung und der Ausbau Polensdurch nationale Zwietracht und Selbstzerfleischung gehemmt werden.
Wir erwarten von den sozialdemokratischen Parteien sterreichs, insbesondereauch von den polnischen und ukrainischen Sozialisten, dass sie ihren Einfluss fr dienationalen Rechte der Juden Galiziens einsetzen werden.
Wir appellieren an die sozialistischen und Arbeiter-Parteien aller Lnder, demGrundsatze der nationalen Gleichberechtigung auch fr die jdischen Minderheitenzum Siege zu verhelfen.
Den Haag, Anfang Dezember 1916.
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DIE JUDEN IM KRIEGEDENKSCHRIFT
des Jdischen Sozialistischen Atbeitervevbandes Poale-Zion
an das Internationale Sozialistische Bureau.
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INHALT.Seite.
Vorwort, S. 3. Vorbemerkung] zur 2 on Auflage, S. 5.
Denkschrift an die Arbeiterinternationale 7
I. Das jdische Proletariat und die Internationale, S.7.
Diejdische
Tragdie. S. 9. II. Russland, S. 11. Rumnien, S. 16. III. NationaleEntrechtung. S. 17. Oesterreich, S. 18. Tendenzen konomischer Entwicklung,S. 20. IV. Polen und Juden. S. 23. Litwaki", S. 29. V. Arbeiterschaftund Assimilation, S. 31. VI. Die Trkei und die Juden, S. 34. Judenfrageund Palstina. S. 35. VII. Judenfrage und Internationale, S. 43.
Sammlung von Dokumenten 46I. Russland und die Juden 47
Verfgungen der Oberbefehlshaber und Militrgouverneure , ... 47Erlass des Grossfrsten Nikolay Nikolajewitsch. Erlass des Kommandanten von
Nowo-Gcorgiewsk. Erlass des Generalgouverneurs in Lemberg, Grafen Bobrinsky.
Erlass der Militrbehrde von Kolomea. Unterdrckung der jdischen Zeitungen.Die Vertreibung aus den Gouvernements Kurland und Kovno. Befehl der OberstenLeitung der Verpflegung der Armee der sdwestlichen Front. * Telegramm des Stabsdes 30. Armeekorps.* Zirkular des Ministeriums des Innern v. 9 Jan. 1916.*
Rede des Abgeordneten Friedmann am 2 Aug. 1915 51Die Judendebatte in der Duma am' 16 August 1915 57Rede des Abg. Tschcheidse, S. 57. Rede des Abg. Dsiubinski, S. 58.Interpellation in der Reichsduma v. 10 Mrz 1916* 59Aus der Rede des Abg. Tschchenkeli v. 16 Juni 1916* , ... 61Aus einer Kundgebung von 300.000 jdischen Arbeitern Amerikas, S. 62.Erklrung des Zentralkomitees des Bundes", S. 63. Aus der Proklamationder J. S. D. A. P. Poale-Zion Russlands, S. 64.
II. Polen und Juden 66Aus der Schrift Die Judenfrage in Kongress-Polen", von Leon Wasilewski,S. 66. Aus der Schrift La Question Juive en Pologne", S. 68. DasOberste Polnische National-Komitee und die Judenfrage in Polen, S. 70.Aus der polnischen Presse, S. 71. (Dwa Grosze, Gazeta Poranna,*Glos Polski, Mysl Niepodlegla, Czas, Polen, Dzien, Gazeta Warszawska, Glos Polski.)Aus dem Artikel von Alexander S wientocho wski Der 34. Krieg"* 76Aus dem Aufsatz von Georg Brandes ber Juden und Polen 78Erklrung der Jd. Soz. Arbeiterpartei Poale-Zion Oesterrichs .... 81Erklrung der bundistischen Organisationen in Polen 84
Resolution der Versammlung vom 6 Mai 1915 in New York .... 86III. Die Trkei und die Juden 87
Erlass gegen den Zionismus von Beha Addin, S. 87. * Offener Brief desChacham Baschi von Jerusalem, S. 88. Proklamation Djemal Paschas, S. 89. *
Beschlsse der J. S. D. A. P. Palstinas Poale-Zion. S. 90.IV. Das jdische Proletariat im Kampfe um die nationale Emanzipation 92
Resolutionen der J. S. A. P. Poale-Zion Amerikas 92
Resolutionen des Jdischen Arbeiter-Kongresses in Amerika 94Resolution der Konferenz der jdischen Arbeiterorganisationen Englands . 95Resolution der jdischen Arbeitervereine in Warschau 96
V. Anhang. Stellung der Juden im sterreichischen VerwaltungsgebietPolens* 97
Kundgebungen von Soz'alistischen und Arbeiterparteien 99
* Erst in die 2. Auflage aufgenommen.
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VORWORT.
Die Schrift, die wir der Internationalen Arbeitervereinigung unterbreiten, hat
einen eng umschriebenen Zweck. Sie will die proletarische Oeffentlichkeit ber die
Wirkungen der Kriegskatastrophe im Leben des jdischen Volkes unterrichten.
Dazu haben wir eine Reihe von Dokumenten gesammelt, die zum grssten Teile
keines Kommentars bedrfen. Die Sammlung ist keineswegs vollstndig. Manche
Schriftstcke, wie Geheimerlsse der militrischen und zivilen Behrden, sind whrend
des Krieges berhaupt nicht erreichbar, andere Lcken sind auf die Schwierigkeiten
des Verkehrs mit den kriegfhrenden Lndern zurckzufhren. Leider ist das Sammeln
von jdischen Kriegsdokumenten, die fr die sptere Geschichtsschreibung von Bedeu-
tung sind, noch nicht systematisiert, und wir sind erst in den letzten Monaten an die
vorliegende Arbeit herangetreten. Wir haben nur Schriftstcke aufgenommen, die
authentische Aeusserungen oder Tatsachenenthalten und deren Richtigkeit durch ihren
amtlichen Charakter oder durch die Stellung der Verfasser oder Sprecher verbrgt
ist. Um den Standpunkt der Gegner des jdischen Volkes oder jdischer Forderungenzu kennzeichnen, haben wir den Gegnern selbst das Wort gegeben.
Es war notwendig, die durch den Krieg mit elementarer Gewalt zutagegetretenen
Widersprche des jdischen Lebens in einen urschlichen Zusammenhang mit der Lage
der Juden in den kriegfhrenden Lndern vor dem Kriege zu bringen. Die Denkschrift
gibt diesen Ueberblick und, wie wir glauben, die notwendigen Aufklrungen ber die
Stellung des jdischen Volkes zu seinen Nachbarvlkern. Dabei erhebt die Schrift
keineswegs den Anspruch, eine Darstellung der Judenfrage in ihrer Gesamtheit zu
geben. Dies war im Rahmen eines Memorandums ber die aktuelle Situation nicht
mglich, doch enthlt es in einigen Teilen Erluterungen, die unsere Auffassung der
Judenfrage vorbergehend darlegen. Obwohl wir von der Lage der Juden in den
einzelnen Lndern ausgegangen sind, so ergibt sich wohl aus der Denkschrift mit
hinreichender Klarheit eine wichtige Tatsache die Einheitlichkeit derJudenfrage in allen diesen Lndern. Es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen
den Daseinsbedingungen der Juden von Osteuropa bis Palstina (wir mchten hin-
zufgen auch von Wilna bis Chicago) und ihren Bedrfnissen konomischer undkultureller Entwicklung. Der Krieg hat diesen tiefwurzelnden Gegensatz grell be-
leuchtet, er hat mit grausamer Deutlichkeit gezeigt, das bei der Regelung der
nationalen Fragen Europas und Vorderasiens nach dem Kriege die Judenfrage nicht
umgangen oder verschwiegen werden darf. Die proletarische Internationale hat die
historische Aufgabe, bei den Friedensverhandlungen auch in der Judenfrage das
erlsende Wort des Rechtes und der Wahrheit auszusprechen.
Wir wissen, dass man in der Arbeiterbewegung Westeuropas den Versuchen,
die tatige Sympathie des Proletariats fr die Sache der Juden zu gewinnen, mitunter
mit dem beklemmenden Gefhl gegenbersteht, man wolle die Sozialdemokratiein
eine Judenschutztruppe" verwandeln. Dass es aber nicht gerade ein Ehrentitel
ist, sich fr das verfolgte Volk der Juden einzusetzen man erinnere sich auch
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an die Resolution des Internationalen Sozialisten-Kongresses in Brssel, die den
Philosemitismus genau so ablehnt, wie den Antisemitismus, erklrt sich damit,dass man in der europischen Arbeiterschaft die Judenheit nach ihrem geringenBruchteil in Westeuropa zu beurteilen gewohnt ist. Daher die Vorstellung, die
Juden seien eine Kaste von Finanzmnnern, Kaufleuten und Industriellen, die manin konsequenter Bekmpfung aller Rassenvorurteile gegen Verfolgungen in Schutz
nimmt, die aber mit dem Proletariat als Klasse in der Tat nichts gemein haben.Nichts wre irriger, als das ganze Volk nach dieser plutokratischen Oberschicht zubeurteilen. Die Massen des jdischen Volkes gehren dem um seineExistenz schwer kmpfenden arbeitenden Mittelstand und demProletariat an. Das ist zumeist unbekannt, soll daher mit einigen Zahlenerrtert werden.
Von 5.063.000 Juden, die in Russland (1897) gezhlt wurden, ernhrten sich 1.957.000
vom Handel. Ihnen standen 2.774.000 Juden gegenber, die in Handwerk undIndustrie (1.794.000), im Lohndienst aller Art (335.000), in freien Berufen(265.000), im Verkehr (201.000) und in der Landwirtschaft (179.000) beruflichttig waren. Aber ebenso wie die industriettigen" Juden fast ausschliesslich schwer
bedrngte selbstarbeitende Handwerker sind, sollte man sich die im Handel Be-schftigten nicht als wohlhabende Kaufleute vorstellen. Es sind zumeist armselige
Hndler und Krmer, die in steter Gefahr schweben, zu deklassierten Berufslosen
herabzustrzen. Gehren also zumindest zwei Drittel der Juden Russlands zuden Schichten, die sich von der Arbeit ihrer Hnde erhalten, so bildet dasProletariat mehr als ein Drittel der jdischen Bevlkerung. Nach deroffiziellen Statistik und privaten verlsslichen Zhlungen waren im Jahre 1897 unter
den Juden Russlands : mehr als 275.000 Gewerbe- und Industrie- Arbeiter, 175.000
im Lohndienst verschiedener Art, etwa 150.000 Handelsproletarier, also insgesamt
600.000 berufsttige Arbeiter; die Angehrigen hinzugerechnet, ergibt sicheine Arbeiterbevlkerung von l 1 ,^ Millionen bis 1.800.000 Seelen.Seit dem Jahre 1897 haben sich die Verhltnisse nach allen Anzeichen eher im Sinneeiner strkeren Produktivierung und Vergrsserung des Lohnproletariats verschoben.
Also ein Drittel der Juden Russlands gehrt der Arbeiterschaft an.Aehnlich liegen die Verhltnisse in Oesterreich, wo sich die im J. 1900 ge-
zhlten 1.225.000 Juden nach folgenden Berufen verteilen. Den 430.000 Handeltreibenden Juden standen 676.000 gegenber, die sich von Handwerk undIndustrie (351.000), Lohndienst wechselnder Art (67.000), Verkehr (38.000),freien Berufen (80.000) und Landwirtschaft (140000) ernhrten.*) Was berden harten Lebenskampf des jdischen Mittelstandes in Russland gesagt wurde,
gilt vielleicht in noch hherem Grade von dem jdischen Massensiedlungsgebiet inOesterreich Galizien rnd der Bukowina. Auch in Oesterreich haben wir ein zahl-
*) In Russland gehren der Forst- und Landwirtschaft zum grssten Teil Bauern (inSdrussland) an, in Oesterreich hingegen ist die Zahl der Gutspchter sehr bedeutend.
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reiches jdisches Proletariat: 81.500 Handwerks- und Industrie-Arbeiter, 42.600Handelsangestellte, 48.000 Lohnarbeiter verschiedener Art. Diese 172.000 Proletarier
ergeben mit ihren Angehrigen eine Arbeiterbevlkerung von 350.000 bis 450.000
Kpfen, oder ein Drittel der Juden Oesterreichs.Blicken wir ber den Ozean, nach den Vereinigten Staaten, wo in drei
Jahrzehnten das zweitgrsste j dische Zentrum entstand, so finden wir noch grsserejdische Arbeitermassen konzentriert. Wenigstens 60 % der Einwanderer sind ver-drngte Handwerksproletarier, die in den gewaltigen "jdischen Nadelindustrien"
aufgehen. So sind von dzn 2 1; 2 Millionen seit 1881 neueingewanderten Juden
zumindest anderthalb Millionen Arbeiter in verschiedenen Industrien. In derTat zhlt man in Nordamerika gegen 350.000 organisierte jdische Arbeiter (etwaeine Viertelmillion in New- York allein), rechnet man die zumindest 150.000 nochnicht Organisierten und die Familienangehrigen hinzu, gelangt man zu demselbenResultat. Also die Hlfte der Juden Nordamerikas gehrt zur Arbeiter-klasse.
Wir wollen unsere Vorbemerkung mit trockenen Zahlen nicht beschweren. Dieangefhrten beweisen mit gengender Deutlichkeit, dass die Juden ein Volk vonwirtschaftlich Schwachen, Bedrngten und von Proletariern sind. Darum war diejdische Arbeiterbewegung stets eine hingebende Trgerin der sozialistischen Ideale
und wurde, trotz ihrer Jugend, zu einem so bedeutenden Faktor in der jdischen
Volkspolitik ; darum sehen grosse Massen des jdischen Volkes in der Arbeiter-internationale ihren nchsten Freund und Anwalt. Man muss in der jdischen
Geschichte weit zurckgreifen, bis zu den Kreuzzgen oder dem letzten Todeskampfmit den Rmern auf eigenem Boden, um Verwstungen anzutreffen, wie sie dieserWeltkrieg im jdischen Leben zurcklsst. Das jdische Volk braucht die Freund-schaft der Besten und Edelsten aller Vlker, aber es hat sie auch verdient.
VORBEMERKUNGZUR ZWEITEN AUFLAGE.Die erste Auflage dieser Denkschrift war in wenigen Monaten vergriffen. So
sehen wir uns nach einem Jahre veranlasst, eine zweite Ausgabe folgen zu lassen.Die Dokumentensammlung wurde durch mehrere wertvolle Schriftstcke ergnzt.Ueberdies ist ein Anhang von belangreichen Verfgungen und Kundgebungen ausden letzten anderthalb Jahren hinzugekommen.
Die Denkschrift selbst ist natrlich unverndert abgedruckt. Das Jahr 1916 hatkeinerlei Wendung im Leben des jdischen Volkes gebracht. Nur das Hinein-schleudern des Restes der Juden Osteuropas, der Viertelmillion Juden Rumniensin den Kriegsschlund muss verzeichnet werden. Durch ihre Blutopfer fr einen Staat,in dem sie entrechtete Fremde" sind, mssen sie die Einmtigkeit des ganzen Landes"manifestieren helfen.
Die Lage der Juden in R u s s 1 a n d ist nach wie vor eine verzweifelte. DieDebatten ber die Judenfrage in der Reichsduma im Jahre 1916 ergeben stets das-selbe Bild: der ununterbrochene Feldzug des Generalstabs und des allmchtigen
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Polizei-Departements gegen die jdische Bevlkerung, die fr die militrischen
Niederlagen, die Desorganisation des Landes, die unertrglicheTeuerung, kurz fr
alle Snden der Regierenden, bis zu den Geschlechtserkrankungen derHerren Orhziere,
verantwortlich gemacht wird; ewige Pogromgefahr und an mehreren Ortenpolizeilich
oder militrisch organisierte Judenmetzeleien ; willkrlicheAuslegung des Stscher-
batow'schen Erlasses ber die Erweiterung des Ansiedlungsgebietesalso nicht nur
Fortsetzung der Demtigungen und Evakuierungen jdischer Flchtlinge, sondern
sogar die Verschrfung der Aufenthaltsbeschrnkungen infolge rtlicher Bedingungen,
so durch den Statthalter des Kaukasus und die Gouverneure vonWladiwostok und
Kiew; dabei die wachsende Gleichgiltigkeit der brgerlichen Opposition, des ^fort-
schrittlichen Blocks" gegenber der Verschwrung aller finsteren Mchte des Landes
gegen die jdische Bevlkerung. .Die Vorgnge in Polen sind eine drastische Illustration zu der in dieser Schritt
gekennzeichneten Stellung der polnischen Gesellschaft zu der jdischenMinderheit
im Lande Im Warschauer Stadtrat, dem ersten Selbstverwaltungskrper des Landes,
ist der unabnderliche Entschluss fast smtlicher polnischer Parteienzutagegetreten,
den luden jedes nationale Recht zu verweigern, sie gewaltsam zupolonisieren,
wirtschaftlich zu verdrngen und auch vor brgerlichen Rechtsbeschrnkungen nicht
zurckzuweichen. Alle Anzeichen sprechen dafr, dassdie
imEntstehen begriffenen
Verwaltungen der Provinzstdte denselben Weg beschreiten werden. Dass auch dieMehrheit des polnischen sozialistischen Proletariats an der nationalen
Entrechtung
der luden Polens mitschuldig ist, erhrtet das Verschweigen der jdischenFrage
durch den Delegierten der P. P. S. D. in Oesterreich, der P. P. S.Preussisch-Polens
und der PPS. des Knigreichs Polen (Revolutionre Fraktion) im InternationalenBureau in seiner Denkschrift an die im August 1916 abgehaltene Haager Konferenz
der Sozialisten der neutralen Lnder. Nur die Linke" der P P S. hat sich anlasshchder Warschauer Stadtratwahlen fr national-kulturelle Rechte der Juden ausgesprochen.
Angesichts dieser Tatsachen mssen wir mit umso grsserem Nachdruck die
Wahrung der Rechte der nationalen Minderheiten, insbesondere der Juden Polens,
durch internationale Vereinbarungen fordern. Durch das Manifest der Mittelmachte
ber die Bildung eines Knigreichs Polen ist die verfassungsrechtliche Stellung derjdischen Minderheit zu einer politischen Tagesfrage von hchster Bedeutung geworden.
Dankbar wollen wir die Kundgebungen der sozialistischen und Arbeiterorganisationen
in den Vereinigten Staaten und England zugunsten der brgerlichen und nationalen
Emanzipation der Juden vermerken und auf die bedeutsame Erklrung des Genossen
P J Troelstra bei der Konferenz der neutralen Sozialisten hinweisen. Wirdrfen wohl die Hoffnung aussprechen, dass bei der Regelung der Vlkerbeziehungen
nach diesem entsetzlichen Weltbrand das jdische Volk im Kampf um sein nationalesRecht wenigstens in der sozialistischen Internationale einen Bundesgenossen haben
wird.
Der Zusammenschluss der gesamten Judenheit Amerikas zur Verteidigung der
brgerlichen und nationalen Rechte der Juden in den kriegfhrenden Landern und
das Einigungsprogramm des im Frhjahr zusammentretendenamerikanisch- judischen
Kongresses sind ein Beweis, wie tief im Bewusstsein der jdischen Volksmassender
Gedanke schon verankert ist, dass die Judenfrage ein n a t i on a 1 e s Problem ist.das internationaler Regelung bedarf, wie ernsthaft die Mglichkeiten der
judischen
Entwicklung in Palstina und ihre Sicherstellung die Judenheit beschftigen undwie
entscheidend das Eingreifen der demokratischen Schichten in der jdischenVolks-
1
Uns6nd ^iese Lichtpunkte eine Ermutigung zur Fortsetzung des Werkes der
Aufrttelung der jdischen Massen und der Aufklrung der Arbeiter-Internationale
ber die Not und den Lebenskampf des jdischen Volkes und Proletariats.
Den Haag, im Janua 1917.
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Die Juden im Kriege.
DENKSCHRIFTdes Jdischen Sozialistischen Avbeitetverbandes Poale-Zion
an das Internationale Sozialistische Bureau.
I.
Die vorliegende Dokumentensammlung unter-Das jdische Proletariat
scheidet ^ wcscntlich von den vie if arb igenund die Internationale. Bchern .. f die diplomatische Schriftstcke aller
Art enthalten. Sie hat nicht den Zweck, das Recht irgend eines Volkes
nachzuweisen, zum Schwerte zu greifen, um seine Daseinsfragen durch Strme
von Blut seiner eigenen Shne undseiner Widersacher und durch das Eisen
von Mordwerkzeugen zu lsen. Nicht der Zwang zum Kriege, nicht dasRecht der nationalen Notwehr sollen hier errtert werden.
Denn das jdische Volk in seiner Gesamtheit sieht in keinem der
kmpfenden Vlker einen Gegner, der niedergerungen werden muss ; es dachte
nie daran, die Grenzen irgend eines Staates mit bewaffneter Macht zu ber-
schreiten, um sie zu verschieben. Es hat auch keine territorialen Grenzen,die zu verteidigen wren. Die jdische Nation als Gemeinschaft fhrt keinen
Eroberungs- und keinen Notwehrkrieg. Unsere Volksinteressen hatten nie
etwas mit den imperialistischen Gelsten irg.nd eines Staates zu tun. Wirsind ein Unbeteiligter in diesem ungeheuren Vlkerringen.
Trotzdem hat kein Volk an seinen furchtbaren Wirkungen so schwer
zu tragen, keines so zahllose Opfer dem Kriege darzubringen.Diese Schrift und die angefgten Dokumente sind nur ein schwacher
Versuch, das menschliche und nationale Mrtyrertum des berwiegenden Teiles
des jdischen Volkes, von neun Millionen Juden in Europa undVorderasien, der gesitteten Menschheit zum Bewusstsein zu bringen.
Doch ist diese Sammlung kein Appell an das Gewissen der Kultur-
vlker", wie sich die brgerliche ffentliche Meinung mitunter bescheiden
bezeichnet. Der Krieg hat uns um die Erfahrung bereichert, dass in dem
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politischen Rechtskodex unserer Zeit Menschheit und Menschlichkeit keine
juristischen Personen sind. Die an dem Fortbestand der heutigen Gesellschaft
interessierten Klassen und. herrschenden Gruppen, die das Leben und Handeln
auch der hochstehenden Kulturnationen bestimmend beeinflussen, sind fr die
Hilferufe eines blutberstrmten Volkes nicht zugnglich, das auf der Land-
karte nichts bedeutet, das seinen Kulturwert weder mit Kruppgeschtzen nochmit Maschinengewehren berzeugend nachzuweisen vermag, das in dem
kapitalistischen Getriebe weder als Absatzmarkt noch als Bezugsquelle in
Betracht kommt. Welchen kapitalistischen oder politischen Gefechtswert
haben die Juden als Nation? Wir stellen Hunderttausende von Kriegern,
unsere Plutokratie ist an der Finanzierung des Krieges in beiden Mchte-
gruppen beteiligt. Aber die Juden als Volk sind politisch ohnmchtig und
blutarm.
Das einzige landlose, enterbte und besitzlose Volk der Erde sieht in
den Enterbten und Besitzlosen aller Vlker, in der um die unverlierbaren
Rechte, die Ehre und Freiheit der Menschheit kmpfenden Arbeiterklasse
seinen natrlichen Bundesgenossen. Die jdische Arbeiterbewegung war stets
von den besten Ueberlieferungen des Sozialismus durchdrungen. Wir erblickten
in dem organisierten Sozialismus nicht nur unseren Wegweiser im Kampf
gegen soziale Knechtung. Wir haben immer gehofft, dass die sozialistischeInternationale auch die Leiden und Hoffnungen des jdischen Volkes
begreifen und uns, ebenso wie allen unterdrckten kleinen" Nationen, in
unserer letzten Anstrengung, die Freiheit und Zukunft des Judenvolkes zusichern, beistehen wird. Darum war wohl nirgends die Trauer allgemeiner
und aufrichtiger, als in den Reihen des jdischen Proletariats aller Parteien,
als die sozialistische Internationale ein Opfer des entbrannten Vlkerhasses
geworden ist. Gewiss, wir wussten, dass die Einrichtungen des internationalen
Sozialismus nur einen sittlichen Wert haben und noch keine reale Macht
besitzen, dass die harten Notwendigkeiten des Vlkerlebens sich strker
erweisen knnen, als die leitenden Gedanken der internationalen Arbeiter-
vereinigung. Die sozialistische Internationale war mehr ein Symbol des
kommenden Reiches der freien Arbeit und Gleichheit. Aber fr dieses Symbolkmpften eine Generation hindurch auch Hunderttausende jdischer Arbeiter,
und Tausende setzten ihr Leben, ihre Freiheit ein.
Tiefgehend war daher die Enttuschung und Bestrzung im jdischen
Proletariat, als sich die sozialistische Internationale ausserstande erwies, eine inter-
nationale Aktion der Arbeiterschaft herbeizufhren, um die heraufbeschworeneKatastrophe zu vereiteln. Noch schmerzlicher haben wir es empfunden, als
Unvershnlichkeit und Kriegsideologie, ja sogar chauvinistisch anmutende
Uebertreibungen den Beweis erbrachten, dass sich die sozialistische Bewegung
in den kriegfhrenden Lndern brgerlichen Verhetzungseinflssen nicht ganz
entziehen kann.
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Trotzdem lebt in unserem Bewusstsein die geeinigte sozialistische Inter-
nationale fort. Wir zweifeln keinen Augenblick, dass sie verjngt und inner-
lich gestrkt aus diesem kulturzerstrenden Vlkermord zu neuem Leben
auferstehen wird. Nicht imperialistische Machtgelste haben sie zerklftet,
wir sind berzeugt, dass die Sozialisten keines Landes mit dem Militarismus
Frieden schlssen. Sie griffen zum Schwert in der ehrlichen Ueberzeugung,dass ihre nationale Unabhngigkeit bedroht ist, in dem aufrichtigen Willen,
die Vlkerfreiheit und Vlkergleichheit zu verbrgen, als Voraussetzung
eines freien Vlkerbundes. Der Krieg wird die Ueberzeugung vertiefen, dass
nicht der Kapitalismus und seine Werkzeuge der Militarismus und Imperia-lismus dieses Ziel der Arbeiterklasse verwirklichen knnen. Die Notwen-digkeit einer direkten Verstndigung der arbeitenden Massen aller Vlker
zur Regelung ihrer Konflikte im Geiste der Menschlichkeit und der Freiheit,
wird der sozialistischen Internationale ihre Aktionsfhigkeit wiedergeben.
An dieses Tribunal der arbeitenden Menschheit appellieren wir. DieInternationale, die fr die Beseitigung der Knechtung und Herrschaft im
Volks- und Vlkerleben streitet, wird auch uns verstehen.
Inmitten der Welttragdie, die aller Vlker gleich schwer trifft,
,U f. C C spielt sich eine Judentragdie von noch nie dagewesenemgo
Umfange, von unerhrter Schmerzlichkeit und Grsse ab.
Nicht von der ergreifenden Tragik der Tatsache wollen wir sprechen, dass
Shne desselben Volkes, Juden der zwei kriegfhrenden Lndergruppen, sich
gegenseitig hinmorden. Die ganze Barberei und Unwrdigkeit des Krieges
kommen uns zum Bewusstsein, wenn wir uns schaudernd vergegenwrtiger:,dass Juden aus Russland und Oesterreich, die nicht nur durch nationale
Bande vereinigt sind, sondern oft durch zahlreiche verwandtschaftliche
Beziehungen, sich in Waffen gegenberstehen. Dieses Schicksal teilen wir
mit anderen Vlkern mit den Polen und Serben, den Armeniern undUkrainern kurz, mit allen Nationen, die staatlich getrennt sind.
Auch ber die wirtschaftliche Katastrophe wollen wir nicht klagen, die
Millionen unseres Volkes, die Aermsten der Armen, brotlos, arbeitslos,
obdachlos, hoffnungslos machte. Obwohl unser wirtschaftlicher Zusammen-bruch keine Parallele hat und wir in diesem Falle nicht einmal den
seltsamen Trost" haben, nicht die allein Betroffenen zu sein. Der Krieg
spielt sich auf den konomischen Ruinen der Juden Osteuropas ab. Der
Landmann kann Ernte und Vieh einbssen, er kann Haus und Hof verlieren,
aber die wichtigste Grundlage seiner Existenz der Boden kann ihmnicht entrissen werden. Die Juden sind fast ausschliesslich ein Stdtervolk,
dabei zumeist in rckstndigen Produktionszweigen des Handels und der
Industrie zusammengepfercht, die Grundlagen ihrer wirtschaftlichen Existenz
sind seit Jahren schwer erschttert. Der Krieg, dessen Schauplatz Galizien,Russisch-Polen und Lithauen, also Lnder jdischer Massensiedlung sind,
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bedeutete fr die Massen des jdischen Volkes, bis auf eine kleine Schicht,
der, wie in allen Lndern, die Kriegsindustrien zugute kommen, den vlligen
wirtschaftlichen Zusammenbruch. Seine Folgen sind noch nicht zu bersehen.
In vielen Orten brachte der gnzliche Stillstand des Wirtschaftslebens
beispiellose Not, Massenhunger und sein Gefolge Verkommenheit undsittlichen Verfall. Hunderttausende von Entwurzelten stehen zur Auswanderungbereit, falls ihnen die berseeischen Lnder ihre gastlichen Tore nicht
schliessen.
Doch all diese Leiden erschpfen nicht das Mass der Prfungen, die
fast neun Millionen des jdischen Dreizehnmillionen-Volkes auferlegt wurden.
Mitten im Kriege hat die Judenheit einen Ausrottungskampf in Staaten zu
bestehen, fr die Hunderttausende jdischer Soldaten ihr Blut vergiessen,
fr deren Machtpolitik Millionen Juden mit ihrer Existenz bezahlen. Demjdischen Volke wurde von mchtigen Regierungen und grossen, einfluss-
reichen Teilen seiner nichtjdischen Mitbrger Krieg erklrt.
Die Tragdie des jdischen Volkes steigert sich ins Unermessliche, wenn
man ferner wahrnimmt, dass seine ungezhlten Opfer ohne Sinn und Zweck,
ohne jede geschichtliche und nationale Rechtfertigung dargebracht werden.
Wir sind keine Anhnger der Befreiungslegende", des Glaubens, dass dasblutige Ringen um Machtzuwachs und Vorherrschaft eine befreiende Sendungzu vollbringen hat. Wir glauben nicht, dass die Lebensfragen der unter-drckten Nationen durch Waffengnge zu lsen sind. Wir weigern uns, den
organisierten Vlkermord als ein historisch notwendiges Mittel menschlichenFortschritts zu akzeptieren. Dies hindert uns nicht, zuzugeben, dass die durch
einen Krieg bedingten gewaltigen Erschtterungen im Leben eines Staates
oder eines Volkes wohlttig sein knnen. So erweckte auch dieser titanische
Kampf der Vlker viele schlummernde Hoffnungen. Unterjochte, durch
Lnderraub zerstckelte Nationen, durch jahrhundertelange Bedrckung
zu geschichtslosen Stmmen herabgedrckte Vlker, erwarten von dem
Entscheidungskampf Wiedervereinigung zu neuem nationalem Leben, Erreichung
der ersehnten Selbstbestimmung der eigenen Geschicke, Beseitigung der
Abhngigkeit von mchtigen Nachbarn. So denken und glauben, hoffen
und finden Trost in dieser Erwartung Polen und Ukrainer, Serben und
Belgier, Trken und Armenier, Lithauer und Letten. Allein uns Juden
fehlt auch dieser trstende Wahn. Wir wissen, durch Jahrtausende langeLeiden gelutert, dass unser nationales Schicksal nicht auf Schlachtfeldern
entschieden wird. Das jdische Volk hat das Blutvergiessen, das Abschlachten
von Gegnern aus seinem politischen Wrterbuch gestrichen. Wir blicken indumpfer Verzweiflung auf unsere Leichenhaufen, auf die hingeopferte Blte
unseres Volkes. Der Krieg wird die Grundlagen unseresnationa-
len Daseins nicht umwlzen, die furchtbar verwickelten Problemeunseres Lebens in ihrem Wesen kaum berhren, er wird uns die Freiheit der
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Entfaltung unserer Eigenart, die Sicherung unserer Volksexistenz nichtzurckgeben. So sinken wir zu einer Fremdenlegion herab, die in allen Heerenfr fremde Interessen oder Hoffnungen kmpft. So wurde ein altes Kulturvolkvon 13 Millionen, das auf allen Gebieten des Denkens und Wissens, derKunst und des gesellschaftlichen Schaffens Vorbildliches geleistet, zu einer
geschichtslosen Nation erniedrigt.Denn so werden wir auch von den Besten unserer Zeit gewertet. Dieallgemeinen Grundstze des Schutzes von nationalen Minderheiten, des Rechtesnationaler Selbstbehauptung und Selbstverwaltung gelten nicht mehr, wennwir ihre Anwendung auf die jdischen Volksmassen verlangen. Nicht nurdie Regierungen missachten die Rechte und Forderungen des Judenvolkes,auch bei den um ihre eigene Freiheit ringenden unterjochten Nationen,sogar bei den Entrechteten und Enterbten anderer Vlker findet dasVolk der Juden kein
,gengendes Verstndnis fr seine nationalen Daseins-
forderungen.
IL
P . - Der krieg hat die menschliche und nationale Entrechtung derJuden gleich grell beleuchtet. Das Kriegsgetmmel vermochte
nicht die Hilferufe zu bertnen, die die Hlfte des jdischen Volkes, dieJuden Russlands, in ihrer grenzenlosen Verzweiflung ausstossen. Denn dieSchrecken des Mittelalters sind bertreffen. Ja, Verbrechen in diesem Unfange,an wehrlosen Menschen verbt, sind der Geschichte des Mittelalters unbe-kannt. Die Lage der Juden in Russland war eine Schmach fr die Kultur-menschheit schon seit Jahrzehnten. Sie wurde aus Angst .vor der gewaltigen,weltbeherrschenden Zaren-Despotie beschnigt oder totgeschwiegen. Einbedeutender Jude unserer Zeit kennzeichnete das Verhltnis der russischenMachthaber zu der jdischen Bevlkerung des Landes in folgenden durchauszutreffenden Worten
Dort arbeitet man mit der wilden Energie der Mordlust auf unsere
vollstndige Vernichtung hin. Diese Brut muss ausgerottet werden" ist derLeitgedanke, der dort alle Regierungsmassregeln gegen unsere unglcklichenBrder bestimmt. Man kennzeichnet die Behandlung, der sie unterworfenwerden, gemeinhin mit den Worten, dass man die Juden entrechten undproletarisieren" will. Diese Ausdrcke sind viel zu schwach. Der Entrechtungwird ein gebildeter Sohn des 20. Jahrhunderts niemals die furchtbare Bedeu-tung beimessen, die sie in den betreffenden Lndern tatschlich hat. DieJuden sollen nicht nur keine Staatsbrgerrechte haben, man versagt ihnenauch die Menschenrechte, ja sogar die Rechte, die man selbst dem Tiereinrumt. Der Jude ist vogelfrei. Man darf ihn beschimpfen, misshandeln,bestehlen, berauben, sogar ermorden, ohne dass es fr ihn bei dem Gesetz und
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bei den Behrden einen Schutz gibt. Wollen sie sich wehren, so wird diese
Regung des ursprnglichsten Selbsterhaltungstriebes wie die verwegenste
Rebellion bestraft. Der Jude muss sich ergeben plndern lassen, er muss
seinen Hals widerstandslos dem Messer der Mrder darbieten. Sind die
Verbrecher Beamte, so gibt es gegen sie weder Klage noch Richter. Sind sie
Private, so werden sie infolge eines gewissen Automatismus der staatlichenEinrichtungen, die in ihrer bestimmten Weise arbeiten, mitunter verurteilt,
doch nur. um alsbald begnadigt zu werden. Wenn man an den Juden keineGewalt verbt, so erpresst man ihnen wenigstens ein willkrlich bemessenes
und nach Belieben erhobenes Lsegeld und unterhlt in ihnen mit allen
Mitteln der raffiniertesten Verngstigung einen dauernden Zustand des Bangens
und Zagens vor den Mglichkeiten der nchsten Stunden, der ihr Hirn und
Nervensystem zur grossen Genugtuung ihrer Peiniger vollstndig zerrttet.
Das ist der wirkliche Sinn des Wortes Entrechtung, das dem Ohr eines
ungewarnten Gesittungsmenschen nicht mehr zu furchtbar klingt. Und ganz
hnlich verhlt es sich mit der angeblichen Proletarisierung der jdischen
Massen. Unter Proletarisierung versteht man gemeinhin die Herabdrckung
von Einzelnen und Bevlkerungsgruppen in die untere Gesellschaftsklasse,
ihre Umwandlung in abhngige Lohnempfnger ohne die wirtschaftliche
Sicherheit des folgenden Tages, ihre Ausschliessung aus den hheren Berufen
und der reicheren Geistesbildung mit ihren inneren moralischen Genugtuungen
und ihren usseren Ehren und materiellen Erfolgen. Von einer Proletari-
sierung in diesem Sinne kann bei der Behandlung der jdischen Massen nichtdie Rede sein. Man schliesst sie aus allen hheren Berufen aus, man sperrtsie von jeder Bildung ab, das ist richtig; aber man verwandelt sie nicht in
Lohnarbeiter; im Gegenteil, man verhindert sie, Lohnarbeiter zu werden,
indem man ihnen den Aufenthalt in fast allen Industriebezirken verbietet,
wo sie Lhne verdienen knnten, und indem man ihnen auch da, wo man
sie duldet, fast alle gewerblichen Betriebe unzugnglich macht. Es ist soweit
gekommen, dass heute bereits Millionen Juden nichts sehnlicher wnschen,
als Proletarier werden zu knnen. Aber man lsst selbst das nicht zu. Parias
an Bildung und Geistesentwicklung, Parias an Wrdelosigkeit und allgemeiner
Verkommenheit sollen sie werden, gewiss; aber Proletarier im modernen
wirtschaftlichen Sinne des Wortes nicht. Nicht auf die einfache Entrechtung,
nicht auf die blosse Proletarisierung, auf die Entehrung, auf die Vertierung,
auf die langsame Abwrgung ist es abgesehen. An Millionen schuldloserMenschen wird da ein Verbrechen begangen, fr das es in der an Massen-
morden so reichen Geschichte kein Beispiel gibt." ! )
i) Dr. Max Nordau. Rede, gehalten im August 1911 auf dem X. Zionisten-Kongress in Basel.
, ,
Dass die Schilderung Nordaus '[nicht auf ^ungewhnlichen Gewaltakten oder
besonders krassen Fllen basiert, sondern den wirklichen Zustand schonungslos
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Gilt diese Darstellung fr die sogenannte Friedenszeit, so gehrt aller Zornund alle Wortgewalt eines Propheten dazu, um die gegenwrtige Katastrophezu schildern. Waren auch vorher militrisch organisierte Pogrome (Juden-massaker) ein Bestandteil der inneren Reichspolitik Russlands geworden, so
wurden sie doch nur von Zeit zu Zeit ins Werk gesetzt, und nur im Jahre
1905 in zahlreichen Stdtengleichzeitig.
Wassich aber im Machtbereich,
bezw. Operationsgebiet der russischen Armee im letzten Jahre abspielte, istein organisierter, methodischer, wenn auch geradezu wahnsinniger Feldzuggegen Millionen von jdischen Brgern, sowohl in Russland, wie im
okkupierten Galizien. Sechshunderttausend russische Juden wurden von derRegierung von ihren Wohnorten verbannt, whrend zumindest ebensovielihre Wohnsitze infolge der Kriegslage flchtend verlassen mussten.
Zuerst wurden alle Juden aus den Ortschaften in Polen, Lithauen undGalizien innerhalb einer 50-Kilometer-Zone hinter der Front evakuiert".
Diese Zone verschob sich mit dem Rckzug der russischen Armee nach denMai-Schlachten in Galizien immer mehr nach dem Innern des Ansiedlungs-gebiets. Dann folgte die Massenvertreibung von 280.000 Juden in 48 Stundenaus den Gouvernements Kovno und Kurland. Erst als die halbe Millionvertriebener Juden berschritten war, wurde ihre Unterbringungin einigen Gouvernements ausserhalb des jdischen Wohngebiets gestattet.
Die russische Armeeleitung erklrte in offiziellen Kundgebungen und inihrer Presse die Gesamtheit der Juden als Spione und Spher imDienste der Zentralmchte und stellte damit Hunderttausende ausserhalb des
Gesetzes. Der Aufmarsch der russischen Armee verwandelte sich in eineununterbrochene Kette von Demtigungen, Plnderungen, Misshandlungen,Frauenschndungen, Folterungen, Hinrichtungen, Massenmorden, verbt in
allen Ortschaften mit merklicher jdischer Bevlkerung an hunderttausenden
unschuldigen, wehrlosen jdischen Mnnern und Frauen, Greisen und Kindern.Die Einzelheiten sind zu entsetzlich, zu qulend, um hier dargestellt zu werden.
Russland hat seiner jdischen Bevlkerung den Kriegerklrt und fhrt einen grausamen, erbarmungslosen Vernichtungskampf
gegen ein Sechsmillionen- Volk. Die Ruchlosigkeiten und unmenschlichenSchandtaten der Armee und der Behrden konnten sogar von der russischenZensur in der Presse nicht ganz unterdrckt werden: das Elend wlzte
sich auf allen Strassen, schrie aus den versiegelten Vieh- und Lastwagen,
kennzeichnet, beweisen folgende Zahlen: Bei den Judenpogromen, die in den Jahren1905 und 1906 von den russischen Behrden geduldet oder fast ohne einen Versuchder Verheimlichung direkt veranstaltet wurden, sind folgende Opfer registriert.Sie bilden natrlich nur einen Teil der wirklich Betroffenen.
Gettet wurden mehr als 1000, verwundet etwa 2000, an Vermgengeschdigt (ausgeplndert, zerstrt etc.) ca. 214.000 Juden. Der Schaden wirdauf 66 Millionen Rubel geschtzt. (Die Judenpogrome in Russland, 1910.Jd. Verlag).
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in die man die jdischen Vertriebenen sperrte, brachte wachsende Not undKrankhcitsseuchen in die vorgeschriebenen Wohnorte, das Blut der unschuldigHingerichteten und von Knutenhelden zu Tode Gepeitschten schrie nachVergeltung. So kam die Wahrheit ber die russische Grenze schon vorMonaten. Die Reden der Abgeordneten in der letzten Duma-
Session brachten Enthllungen und Feststellungen, die zu entkrften vonder Regierungsbank gar nicht versucht wurde. Man weiss nicht, worberman mehr staunen soll ber die Ungeheuerlichkeit der begangenen zahl-losen Verbrechen, oder ber die bodenlose Heuchelei und Unverfrorenheitder russischen Regierung, die von der Tribne der Duma oder durch ihreGesandten und Pressagenten im verbndeten und neutralen Ausland alleJudenverfolgungen bis nun skrupellos dementieren liess. Ja, sie Hess amtlichverknden, die Lage der russischen Juden htte sich seit dem Kriegsbeginngebessert ! Es muss wahrheitsgetreu festgestellt werden, dass die reaktionreMehrheit der russischen Reichsduma die nach aussen hin zweideutige, nachinnen unwandelbar brutale Politik der Regierung verstndnisvoll untersttzt;sie hat in ihrem Vertrauensvotum vom 5. August die jesuitische Einteilungder Brger Russlands in treue und verdchtige akzeptiert, den Zusatzantragder Opposition, der die Beseitigung aller Ausnahmegesetze gegen die nicht-russischen Vlker forderte, abgelehnt und der Interpellation der sozialdemo-kratischen Fraktion und der Arbeitspartei ber die Judenpolitik der Regierungdie Dringlichkeit versagt. So sind die russischen Duma-Parteien von den,
.wahrhaft-russischen" Nationalisten bis zu den Oktobristen mitschuldig andem Vernichtungsfeldzug ihrer Regierung gegen das jdische Volk.Die Geschichte kennt kein hnliches Beispiel, dass ein Heer auf eigenem
Boden, gegen die eigenen Brger" rger als im Feindeslande wtet. Manschtzt die Zahl der Juden, die, von Haus und Hof vertrieben, sich auf dieWanderung begaben, auf anderthalb Millionen Seelen, die Gesamt-zahl der durch die grossfrstliche Rckzugsstrategie heimatlos gemachtenMenschen schwankt nach verschiedenen Angaben zwischen 6 und 12 MillionenDie gewaltige Flut der Flchtenden und Vertriebenen hat schliesslich den
eisernen Ring gesprengt, in dem man die Juden Russlands niederhielt. Alsalle Landstrassen von unbersehbaren Scharen obdachloser jdischer Flcht-linge" berfllt waren, als Tausende unter freiem Himmel kampierten, himmel-schreiende Not und Seuchen in die Stdte trugen, als zahllose Lastzge mitverbannten Juden, abgesperrt und versiegelt, von einem Ort nach demanderen herumgeschickt, von den Gouverneuren zur Abladung ihrer Gter"nicht zugelassen und auf Nebengeleisen durch Wochen verschoben wurden,als all diese Vorgnge unmittelbar hinter der Front auch zu einer militri-schen Kalamitt wurden da entschloss sich erst die russische Regierung,den Kerker der Ansiedlungszone, wohl nicht aufzuheben, aber zu erweitern.Das menschliche Naturrecht der Bewegungsfreiheit wurde den Juden keines-
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wegs zugestanden, die Tscherta" wurde lediglich erweitert. Die Luft Petro-
grads und Moskaus, des kosakischen Don-Gebietes oder der Residenzen des
Zaren darf der Jude nach wie vor nicht atmen. Auch die Drfer, das
eigentliche Land, bleiben den Juden verbotenes Gebiet. Nur in den Mauern
der Stdte knnen sie sich nunmehr aufhalten.
So lautet der ministerielle Erlass. Es steht aber vorderhand fest, dass
dieser Gunst" der zarischen Regierung kaum beschieden sein wird, unein-
geschrnkt in die Praxis umgesetzt zu werden. Die Gouverneure revoltieren
demonstrativ und machen den Regierungserlass durch Ausfhrungszustze
faktisch unwirksam. Und die niederen Vertreter des Tschins", des Beamtentums,erklren ffentlich, dass sie den Kampf" mit der Obrigkeit, die ihnen in
einem pltzlichen Anfall von Liberalismus" die unerschpfliche Einnahmequelle
der jdischen Rechtlosigkeit entzog, nicht so bald aufgeben werden. In
diesem Augenblick stehen die herumirrenden Juden, die im Vertrauen auf
die Reform" ihren Wohnsitz in russischen Stdten aufschlagen wollten, vordenselben Mhseligkeiten und Demtigungen wie zuvor. Die Ausweisungen
nehmen kein Ende und verschonen nach wie vor auch verwundetejdische Soldaten nicht. Und all das mehrere Wochen nach derangeblichen Aufhebung der Tscherta".
Kaum war die grosse Reform", die eigenartige Judenemanzipation ver-kndet, als russische Regierungssendboten schon an den Tren der jdischen
Hochfinanz in London und New York klopften, um die Belohnung frdie so weitgehende Judenfreundlichkeit in klingender Anleihemnze zynisch
zu verlangen. Da wurden erst die geheimnisvollen Konferenzen des Russisch-Amerikanischen Comites mit den russischen Ministern ber die Judenrechte,
sowie die Telegramme des Herrn Wischnegradsky an mchtigeFinanzjuden in London verstndlich. Massenhunger, Seuchen, sittlicher Verfall
in seinen krassesten Auswchsen, anderthalb Millionen jdischer Frauen,
Mdchen, Kinder, Greise in tiefster Verzweiflung, ganz am Rande desLebensweges, der privaten Wohlttigkeit jdischer Hilfskomitees berlassen die Regierung gewhrte eine Subvention von sage und schreibe 500.000
Rubeln!])
Hunderte zerstrter jdischer Stdtchen, Tausende jdischer
Opfer der Bestialitt einer zgellosen Soldateska all das hat nochimmer nicht vermocht, die russischen Machthaber in ihren Grundstzen"
wankend zu machen. Aber die Geldnot, die Mglichkeit, ein paar Milliarden
mit Hilfe der jdischen Hochfinanz zu ergattern sie verscheuchten alleBedenken : Russland wurde der jdischen Invasion" erffnet. Noch nie hat eineeuropisch sein wollende Regierung offenkundiger mit Menschenrechten gefeilscht.
Es war stets ein Zeichen der politischen Reife der russischen Juden, dass
sie zwischen den zarischen Schergen und dem russischen Volke zu unter-
*) Der von der Duma eingesetzte Besondere Rat fr Flchtlingsfrsorge" erhhtesie bis August 1916 auf elf Millionen Rubel.
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Denselben zweifelhaften Vorzug geniessen die Juden des benachbartenRumniens. Ihre Entrechtung ist der offenkundige Bruch eines von allenMchten gezeichneten Abkommens des Berliner Vertrages. Dieser Miss-achtung eines Schiedsspruches Europas verdanken die rumnischen Juden,dass ihr Schicksal mitunter in Parlamenten zur Sprache kommt, ohne dass
sich auch nur eine Regierung zur Wahrnehmung des verletzten Rechtesaufrafft. Die rumnische Regierung verschmht es, gleich Russland Ausnahme-gesetze gegen ihre eigenen Brger zu erlassen. Sie hat deshalb die Juden garnicht in den rumnischen Staatsverband aufgenommen, sie hat sie fr Fremde"erklrt, die Ausnahmebestimmungen unterliegen, die jedem Gesetz als Klauselbeigefgt werden und den Zweck haben, den Fremden" die Existenz imLande wirtschaftlich unmglich zu machen. Die jdischen Fremden" geniessenjedoch das Privilegium, in der rumnischen Armee ihrer Militrpflicht gengenzu mssen. Die Juden wurden whrend des gegenwrtigen Krieges, als dierumnische Armee in Bereitschaft gebracht wurde, selbstverstndlich zusam-men mit allen Rumnen mobilisiert. Aber bevor Rumnien auch nur beschlossenhat, sich am Kriege zu beteiligen, wurden die Juden aus allen Ortschaftenan der ungarischen Grenze, die man offenbar als mgliche Front betrachtet,nach russischem Muster ausgewiesen und nach dem Landesinnern abgeschoben.
III.
^ - Die Beraubung der Juden Russlands und Rumniens der . brgerlichen, ja der primitivsten Menschenrechte ist auchdeshalb ein Verhngnis fr die Judenheit der ganzen Welt,weil man sich daran gewhnt hat, die Existenz einer Judenfrage nur dortzuzugeben, wo die Juden als Einzelbrger entrechtet und brutal misshandeltwerden. Die Rechtsungleichheit des Judenvolkes ist noch ein kaumbekannter Begriff. Indes besteht eine Judenfrage auch in den Lndernverfassungsmssig garantierter brgerlicher Gleichheit. Wir denken dabeinicht an die gesellschaftliche Zurcksetzung, die auch nach der brgerlichen
Emanzipation in Westeuropa berall bestehen blieb, an die Unzugnglichkeitgewisser Ehrenmter und Beamtenstellungen fr die Juden, an den Fortbestandund das Aufflackern der mittelalterlichen Vorurteile, die eine Affre Dreyfusin Frankreich, einen Justizmord Hilsner in Oesterreich, den tragischen Todeines Leo Frank in Amerika mglich machten. Wenn wir auch diese Episodenin ihrer symptomatischen Bedeutung zu wrdigen wissen, so berhren dieerwhnten gesellschaftlichen Schmerzen des jdischen Brgertums West-europas die jdischen Volksinteressen zu wenig, um uns hier weiter zubeschftigen. Wir haben vornehmlich die Lage der Juden in Lndern wieOesterreich und Ungarn vor Augen, wo inmitten brgerlicher Gleichberech-tigung die Existenz der Juden als nationaler Gemeinschaft untergraben wird.
Nun ist in einem Nationalittenstaate, wie die Geschichte der national nicht
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einheitlichen Reiche eindringlich lehrt, das Brgerrecht ohne Garantien fr
nationale Minderheiten illusorisch. Die Verweigerung der nationalen Gleich-
berechtigung des jdischen Volkes fhrt daher in letzter Linie zur Ein-
schrnkung oder Aufhebung der brgerlich-politischen Rechtsgleichheit. Wirknnen diese Erscheinungen sehr anschaulich in dem Teile Oesterreichs
verfolgen, wo die Masse der Juden dicht siedelt in Galizien undin der Bukowina.
Der Eintritt der Juden Oesterreichs in den nationalen KampfUesterreic . ^ Volksstmme dieses Staates vollzog sich zuerst in diesenLandesteilen. Denn dort wohnt fast eine Million Juden, die ihre nationale
Eigenart und Einheitlichkeit bewahrt haben. Fr die eigentmliche Stellung der
Juden im Staate ist schon der Umstand bezeichnend, dass man in der sterreichi-schen Statistik vergeblich auch nur die Feststellung der Tatsache suchen wird,
dass die Juden eine eigene Sprache sprechen. Die Juden w:rden nicht als
Volksstamm, im Sinne der sterreichischen Verfassung, betrachtet ; die jiddische
Sprache, trotzdem sie von einer Million Menschen gesprochen wird, darf
nicht als Umgangssprache" bei der Volkszhlung statistisch festgehalten werden.
Die amerikanische Regierung zhlt die yiddish" Sprechenden in den Ver-
einigten Staaten, sogar die russische Statistik verschweigt diese Tatsache
nicht. In sterreich aber mssen die Juden erst um die Anerkennungder einfachen Tatsache kmpfen, dass sie existieren.
Man hat die Juden zu einer blossen Glaubensgemeinschaft" proklamiert
und rechnet sie fremden Nationen zu. Diese Missachtungdes ersten Grund-
satzes nationaler Duldung des Rechtes zum freien nationalen Bekenntnis hat der Stellung der Juden den Stempel der Unwahrhaftigkeit aufgedrckt.
Sie dienen dazu, die zahlenmssige Grsse der herrschenden Nationen zu strken.
Vor dem Jahre 1867 sprachen die ungarischen Juden in ihrer berwiegendenMehrheit angeblich deutsch. Denn die Zentralregierung war deutsch. Sofort
nach dem dualistischen Ausgleich und der Bildung des ungarischen Staatesbeginnen die 800.000 ungarischen Juden unvermittelt magyarisch zu reden.
In der Bukowina strken die Juden das Deutschtum und in Galizien dienen
sie dazu, den polnischen Machthabern die polnische Mehrheit in einemLande zu sichern, wo sich Polen und Ukrainer faktisch fast die Wagehalten. Dazu wird also die Lge von der Nichtexistenz eines jdischen Volkes
in Oesterreich mit den Machtmitteln des Staates verewigt. Die Juden wurden
zu einem politischen Tross herrschender Gruppen, zu einem Werkzeugnationaler Majorisierung und Unterdrckung gegen ihren Willen herabge-
drckt. Sie drfen nicht durch Bekenntnis zum eigenen Volkstum und durch
Wahrnehmung seiner Daseinsinteressen nationale Neutralitt verknden, sieknnen nicht den Kmpfen zwischen Deutschen und Tschechen, Magyaren
und Rumnen, Polen und Ruthenen fernstehen. Sie werden mit Gewalt der
strkeren Nation zugeteilt.
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Diese Politik der Tuschung wurde in der Wahlpraxis zu einer Ent-rechtung der jdischen Whler ausgebaut. Damit die Juden ihr Wahlrechtnicht dazu ntzen, nach eigenen Interessen zu handeln, hat insbesondere die
polnische Schlachta (der Grundadel) in Galizien stets dafr gesorgt, Wahlkreise
mit jdischer Mehrheit tunlichst zu vermeiden. Die sogenannte Wahlgeo-metrie" wurde in Oesterreich speziell vom schlachzizisch-brgerlichen Polen-klub als politische Kampfwaffe virtuos gehandhabt. Gegen die Juden konntees mit umso grsserem Erfolg geschehen, als die Zersplitterung der Judentrotz ihrer Konzentration in den Stdten sie fast berall dazu verurteilt, in
die Minderheit gedrngt zu werden. Die Vergiftung des politischen Wahl-kampfes durch die nationalen Konflikte fhrte nun in Oesterreich zu demBestreben, national einheitliche Wahlgruppen zu bilden. So wurden bei dergalizischen Landtags- Wahlreform im Jahre 1914 nationale Wahlkrpergebildet, aber nur fr Polen und Ruthenen. Den Juden wurde es nicht einmalfreigestellt, sich in den einen oder anderen Wahlkataster einzutragen. Die
870.000 Juden Galiziens wurden einfach in die polnische Kurie hineinge-drngt, wo sie eine bedeutungslose Minderheit bilden. So wurde faktisch dasverfassungsmssige Wahlrecht der jdischen Brger wirkungslos gemacht.Als der Bukowinaer Landtag im Jahre 1910 bei der nationalen Wahlab-grenzung die Schaffung auch eines jdischen Wahlkrpers beschloss, scheiterteder Versuch der Anerkennung der jdischen Nation an dem Einspruch derWiener Regierung, die von der assimilatorischen jdischen Plutokratie Wiens
dazu aufgefordert wurde. Die Juden wurden in die deutsche Kurie versetzt.Am schwerwiegendsten sind die Folgen dieser systematischen Entnatio-
nalisierungspolitik naturgemss auf kulturellem Gebiete. Die Juden besitzen
keine nationale Schule. Eine direkte Folge der Nichtanerkennung der jdischen
Volkssprache war der Verlust des Rechtes der Erziehung in der Muttersprache.Die jdische Jugend wird in deutschen, polnischen, magyarischen Schulen
zwangweise assimiliert, ihrem Volkstum entfremdet, sie verliert jeden Zusammen-hang mit der nationalen Ueberlieferung, mit den Schtzen der durch Jahrtausende
geschaffenen jdischen Kultur und kennt das geistige Leben und die neueren
Kulturschpfungen ihres Volkes auch in jiddischer Sprache nicht. Staatliche
jdische Schulen bestehen nicht, die Juden mssen ihre nationalen Kulturanstalten
selbst finanziell erhalten, whrend mit ihren Steuergeldern fremdnationale
Schulen gegrndet und budgetiert werden. So werden die Juden daran ge-
hindert, den Anschluss an die moderne Gesittung mit der Pflege der eigenen
nationalen Kultur zu verbinden. Die stillschweigende Duldung der traditio-
nellen, meist rckstndigen religisen Erziehungsanstalten der strengglubigen
Juden fhrt lediglich zu einer Aufhebung des Schulzwanges fr die Juden
Galiziens und der Bukowina. Mit der Auflsung dergeistigen Zusammen-
hnge im jdischen Volke geht Hand in Hand die Zchtung der Unwissen-heit und des religisen Fanatismus.
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Welches Gebiet staatlichen und nationalen Lebens wir auch betreten,berall stossen wir auf Tatsachen brgerlicher Degradierung infolge nationaler
Entrechtung. Jiddisch oder hebrisch geschriebene Schriftstcke oder Urkundenhaben keine Rechtskraft, der Jude kann sein Recht in seiner Muttersprache
nicht suchen. Unter dem Vorwand, jdische Forderungen seien konfessionelle,werden die Juden aus der Beamtenschaft verdrngt, da die Beamtenstellennicht nach konfessionellen, sondern nach national-politischen Gesichtspunkten
besetzt werden, die fr die Juden nicht gelten.
Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, dass die politischeAbhngigkeit und kulturelle Verwahrlosung der Juden
p Galiziens Begleiterscheinungen ihrer wirtschaftlichenZerrttung sind. Die konomische Verfassung der Juden
Oesterreichs weist eine fast vollstndige Parallele zu den wirtschaftlichen
Verhltnissen der Juden Russlandsauf, ein
Beweisfr die bedeutsame
Feststellung, dass die wirtschaftliche Lage und Entwicklung der Juden vonden politischen Verhltnissen ihrer Wohnlnder nahezu unabhngig sind.Der Kapitalismus fand die Juden in beiden Staaten in einer konomischenSonderstellung. Die fast vllige Loslsung von der Urproduktion, das Fehleneines jdischen Bauernstandes und das Ueberwuchern des Kleinhandwerksund Kleinhandels geben der konomischen Struktur der osteuropischen
Juden ihr eigenartiges Geprge. Diese konomische Abgeschlossenheit eines
Gewerbe und Handel treibenden Volkes in einem Agrarstaate verwandeltsich im Zeitalter des Kapitalismus in ein langsames oder schnelles Versinkender jdischen Mittelschichten