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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes
21: Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes
Zur Integration reeller Funktionen wurden folgende Regeln behandelt(f , g : [a, b] → R seien stetig differenzierbar):
Einsetzen der Intervall-Grenzen in die Stammfunktion:�
b
a
f �(x) dx = f (x)
����b
a
= f (b)− f (a).
Partielle Integration:�
b
a
f (x)g �(x) dx = f (x)g(x)
����b
a
−�
b
a
f �(x)g(x) dx .
Substitutionsregel (mit h : [α,β] → [a, b] stetig differenzierbar):� β
αf (h(t))h�(t) dt =
�h(β)
h(α)f (x) dx .
Unser Ziel ist die Verallgemeinerung der ersten beiden Regeln auf Volumen- undOberflachenintegrale.Hohere Mathematik 498
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis
21.1 Differentialoperatoren der Vektoranalysis
Die Menge M ⊆ Rn sei offen.
(i) Fur ein differenzierbares Skalarfeld f : M → R ist
∇f = (grad f )T =
�∂f
∂x1,∂f
∂x2, . . . ,
∂f
∂xn
�T
.
Der Differentialoperator ∇ = ( ∂∂x1
, . . . , ∂∂xn
)T (hebraisch “Nabla”) bildet dasSkalarfeld f in das Vektorfeld ∇f : M → R
n ab.
(ii) Fur ein zweimal differenzierbares Skalarfeld f : M → R ist
∆f =∂2f
∂x21+
∂2f
∂x22+ · · ·+ ∂2f
∂x2n
.
Der Differentialoperator ∆ = ∂2
∂x21+ ∂2
∂x22+ · · ·+ ∂2
∂x2n
heißt Laplace-Operator.
Man schreibt∆ = ∇ ·∇
formal als Skalarprodukt des Differentialoperators ∇ mit sich selbst(Multiplikation ist hier die Hintereinanderausfuhrung).
Hohere Mathematik 499
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis
(iii) Fur ein differenzierbares Vektorfeld �v = (v1, v2, . . . , vn)T : M → R
n ist
div �v =∂v1∂x1
+∂v2∂x2
+ · · ·+ ∂vn∂xn
die Divergenz von �v . Man schreibt
div �v = ∇ · �v
formal als das Skalarprodukt des Differentialoperators ∇ mit �v .Der Differentialoperator div bildet das Vektorfeld �v in ein Skalarfelddiv �v : M → R ab.
Hohere Mathematik 500
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis
(iv) (Nur fur n = 3) Fur ein differenzierbares Vektorfeld�v = (v1, v2, v3)
T : M → R3 ist
rot �v =
∂v3∂x2
− ∂v2∂x3
∂v1∂x3
− ∂v3∂x1
∂v2∂x1
− ∂v1∂x2
die Rotation von �v . Man schreibt
rot �v = ∇× �v
formal als das Kreuzprodukt des Differentialoperators ∇ mit �v .Der Differentialoperator rot bildet das Vektorfeld �v in ein Vektorfeldrot �v : M → R
3 ab.
Hohere Mathematik 501
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Rechenregeln
21.2 Rechenregeln
Die Menge M ⊆ R3 sei offen.
(i) Fur ein zweimal stetig differenzierbares Skalarfeld f : M → R gilt
rot (∇f ) = ∇× (∇f ) = �0.
(ii) Fur ein zweimal stetig differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 gilt
div (rot �v) = ∇ · (∇× �v) = 0.
(iii) Fur differenzierbares f : M → R und �v : M → R3 gilt
div (f �v) = ∇f · �v + f div �v .
(iv) Fur differenzierbares f : M → R und �v : M → R3 gilt
rot (f �v) = (∇f )× �v + f rot �v .
Beweis: Nachrechnen, (i) und (ii) folgen mit dem Satz von Schwarz (17.25).
Hohere Mathematik 502
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes harmonisch, quellenfrei, wirbelfrei
21.3 harmonisch, quellenfrei, wirbelfrei
Die Menge M ⊆ Rn sei offen.
(i) Ein zweimal differenzierbares Skalarfeld f : M → R heißt harmonisch, wenn∆f = 0 in M gilt.
(ii) Ein differenzierbares Vektorfeld �v : M → Rn heißt quellenfrei, wenn div �v = 0
in M gilt. (engl. “divergence free”)
(iii) Ein differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 (mit M ⊆ R
3) heißt wirbelfrei,wenn rot �v = �0 in M gilt. (engl. “rotation free”)
Bemerkung: Aus den Rechenregeln folgt sofort
Jedes differenzierbare Rotationsfeld �w = rot �v ist quellenfrei.
Jedes differenzierbare Gradientenfeld �v = ∇f ist wirbelfrei.
Hohere Mathematik 503
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Potentialfunktion und Vektorpotential
21.4 Potentialfunktion und VektorpotentialDie Menge M ⊆ R
3 sei ein Gebiet.
In 20.9 wurde definiert: Eine skalare Funktion f : M → R heißt Potential desVektorfeldes �v : M → R
3, wenn ∇f = �v gilt.
Fur stetig differenzierbare Vektorfelder �v liefert Satz 20.12 die notwendigeBedingung
rot �v = �0.
Also konnen nur wirbelfreie Vektorfelder ein Potential besitzen (siehe auchWegunabhangigkeit des vektoriellen Kurvenintegrals in Satz 20.12).
Das Vektorfeld �w : M → R3 heißt Vektorpotential von �v , wenn rot �w = �v
gilt.
Die Rechenregel 21.2(ii) ergibt fur stetig differenzierbares �v die notwendigeBedingung
div �v = 0.
Also konnen nur quellenfreie Vektorfelder ein Vektorpotential besitzen.
Hohere Mathematik 504
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Potentialfunktion und Vektorpotential
Die Bedingung div �v = 0 ist unter den gleichen Bedingungen an das GebietM wie in 20.12 auch hinreichend fur die Existenz eines Vektorpotentials.Falls M ein Wurfel oder eine Kugel ist, konnen wir z.B. das folgendeVektorpotential �w : M → R
3 wahlen:
w1(x , y , z) =
�z
z0
v2(x , y , t) dt −�
y
y0
v3(x , t, z0)) dt,
w2(x , y , z) = −�
z
z0
v1(x , y , t) dt, w3(x , y , z) = 0.
Das Vektorpotential ist nach Regel 21.2(i) nur bis auf die Addition einesbeliebigen Gradientenfeldes eindeutig:
rot (�w +∇f ) = rot �w .
Man kann f so wahlen, dass �w +∇f quellenfrei ist (sog. Coulomb-Eichung):
div (�w +∇f ) = 0 ⇐⇒ ∆f = −div �w .
Zu einem speziellen Vektorpotential �w berechnet man f also als Losung derPoisson-Gleichung.
Hohere Mathematik 505
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Divergenz als lokale Quellstarke
21.5 Divergenz als lokale QuellstarkeIm Gebiet M ⊆ R
3 sei ein stetig differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 gegeben.
Um den Punkt �x0 = (x0, y0, z0) ∈ M bilden wir kleine Wurfel
Wh = [x0 − h, x0 + h]× [y0 − h, y0 + h]× [z0 − h, y0 + h], h > 0,
die ganz in M liegen. Der Normalenvektor der Oberflache ∂Wh zeige nach außen.Die lokale Quellstarke von �v im Punkt �x0 ist der Grenzwert
x , y
z (0, 0, 1)
(0, 0,−1)
Wh
Qhz0
z0 + h
z0 − h
(x0, y0, z0)
(x0, y0)
limh→0
1
vol3(Wh)
�
∂Wh
�v · d�o,
also der Fluss des Vektorfeldes�v durch die Oberflache bezo-gen auf das Volumen.
Hohere Mathematik 506
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Divergenz als lokale Quellstarke
Wir berechnen zuerst den Fluss durch die Flachen parallel zur (x , y)-Ebene. MitQh = [x0 − h, x0 + h]× [y0 − h, y0 + h] ist dieser
�
Qh
�
v1(x , y , z0 + h)v2(x , y , z0 + h)v3(x , y , z0 + h)
·
001
+
v1(x , y , z0 − h)v2(x , y , z0 − h)v3(x , y , z0 − h)
·
00−1
�d(x , y)
=
�
Qh
(v3(x , y , z0 + h)− v3(x , y , z0 − h)) d(x , y)
=
�
Qh
��z0+h
z0−h
∂v3∂z
(x , y , z) dz
�d(x , y) =
�
Wh
∂v3∂z
(x , y , z)d(x , y , z).
Addieren wir den Fluss durch die anderen Flachen des Wurfels, erhalten wir�
∂Wh
�v · d�o =
�
Wh
div �v(x , y , z) d(x , y , z). (∗)
Der Mittelwertsatz der Integralrechnung 19.6 ergibt die lokale Quellstarke
limh→0
1
vol3(Wh)
�
∂Wh
�v · d�o = limh→0
1
vol3(Wh)
�
Wh
div �v(�x) d�x = div �v(�x0).
Hohere Mathematik 507
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Definition: Normalgebiet
21.6 Definition: Normalgebiet
Die Menge M ⊂ Rn (mit n = 2 oder 3) sei ein beschranktes Gebiet (also offen
und zusammenhangend). M heißt Normalgebiet,
(a) wenn es uber jeder Koordinatenachse im R2 (bzw. Koordinaten-Ebene im R
3)in endlich viele schlichte Gebiete M1, . . . ,MN zerlegbar ist (siehe Definition19.14) und
(b) jedes dieser Gebiete Mj einen Rand hat, der aus endlich vielen regularenKurven (fur n = 2, siehe 19.14) bzw. orientierten Flachenstucken (fur n = 3,siehe 20.14) besteht.
Erinnerung: Ein Gebiet M ⊆ R2 heißt schlicht uber der x-Achse, falls es stetige
Funktionen φ1,φ2 : [a, b] → R gibt mitM = {(x , y) ∈ R
2 | a < x < b, φ1(x) < y < φ2(x)}.
Analog heißt M ⊆ R3 schlicht uber der x-
y -Ebene, wenn es ein Gebiet G ⊆ R2 und
stetige Funktionen φ1,φ2 : G → R gibt mitM = {(x , y , z) ∈ R
3 | (x , y) ∈ G ,φ1(x , y) < z < φ2(x , y)}.
Hohere Mathematik 508
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Gauß
Die Identitat (∗) in 21.5 besagt, dass das Volumenintegral uber die lokaleQuellstarke eines Vektorfeldes �v gleich dem Fluss des Vektorfeldes durch den Randdes Gebietes ist. Genau dies ist der Integralsatz von Gauß.
21.7 Integralsatz von Gauß
(i) in der Ebene: M ⊆ R2 sei ein Normalgebiet (21.6), �n sei der außere
Normalenvektor der Lange 1 von ∂M.Dann gilt fur jedes stetig differenzierbare Vektorfeld �v : M → R
2
�
∂M�v · �n ds =
�
M
div�v d(x , y).
(ii) im Raum: M ⊆ R3 sei ein Normalgebiet (21.6), �n sei der außere
Normalenvektor der Lange 1 von ∂M.Dann gilt fur jedes stetig differenzierbare Vektorfeld �v : M → R
3
�
∂M�v · �n dS =
�
M
div�v d(x , y , z).
Das Oberflachenintegral lasst sich auch schreiben als Flussintegral�∂M �v · d�o
Hohere Mathematik 509
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Flacheninhalt und Volumen
Anwendung:
21.8 Flacheninhalt und Volumen
Ein ebenes Normalgebiet M ⊆ R2 hat den Flacheninhalt
vol2(M) =1
2
�
∂M(x , y)�· �n ds,
wobei �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M ist.
Ein raumliches Normalgebiet M ⊆ R3 hat den Flacheninhalt
vol3(M) =1
3
�
∂M(x , y , z)�· �n dS ,
wobei �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M ist.
Hohere Mathematik 510
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green
Fur ebene Normalgebiete lasst sich der Satz von Gaußmit dem vektoriellen Kurvenintegral 20.5 umschreiben.Bei der Parameterdarstellung �c : [a, b] → R
2 von ∂Mmuss man darauf achten, dass das Gebiet M beimDurchlaufen des Randes links liegt.
Dann erhalt man einen außeren Norma-lenvektor von ∂M durch Drehung desTangentenvektorss �n(t) = (n1(t), n2(t))um 90◦ im mathematisch negativen Sinn,also�
∂M
�v ·�t ds =
�
∂M
�v1
v2
�·�
t1
t2
�ds
=
�
∂M
�v1
v2
�·�
−n2
n1
�ds =
�
∂M
�v2
−v1
�·�n ds
�n =
�t2
−t1
�
�t =
�t1
t2
�
Hohere Mathematik 511
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green
Mit dem Satz von Gauß erhalt man hieraus den Satz von Green
21.9 Satz von Green�
∂M(P dx + Q dy) =
� �
M
(Qx − Py ) d(x , y)
Fur
�PQ
�= 1
2
�−yx
�ergibt sich die Gauß’sche Flachenformel oder
Sektorformel
vol2(M) =1
2
�
∂M(x dy − y dx).
Hohere Mathematik 512
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green
Anwendung des Gaußschen Satzes auf �v = g ∇h, also
div �v21.2(iii)= ∇g ·∇h + g div (∇h)
21.2(ii)= ∇g ·∇h + g ∆h
ergibt �
M
(∇g ·∇h + g ∆h) d�x =
�
∂Mg ∇h · �n dS .
Vertauschen von g und h ergibt�
M
(∇g ·∇h + h∆g) d�x =
�
∂Mh∇g · �n dS .
Subtraktion beider Identitaten fuhrt zu�
M
(g ∆h − h∆g) d�x =
�
∂M(g ∇h − h∇g) · �n dS .
Beachte: Die Skalarprodukte ∇g · �n und ∇h · �n sind die Richtungsableitungen vong (bzw. h) in Richtung des außeren Normalenvektors von ∂M (siehe 17.11)
Hohere Mathematik 513
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Greensche Integralformel
Wir haben damit folgenden Satz hergeleitet:
21.10 Greensche Integralformel
M ⊂ R2 (bzw. R3) sei ein Normalgebiet, g , h : M → R seien zweimal stetig
differenzierbar. Ist �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M, so gilt im R2
�
M
(h ∆g − g ∆h) d(x , y) =
�
∂M
�h∂g
∂�n− g
∂h
∂�n
�ds
bzw. im R3
�
M
(h ∆g − g ∆h) d(x , y , z) =
�
∂M
�h∂g
∂�n− g
∂h
∂�n
�dS .
Wichtiger Spezialfall: h ≡ 1 ergibt in der Greenschen Formel�
M
∆g d(x , y) =
�
∂M
∂g
∂�nds
bzw. �
M
∆g d(x , y , z) =
�
∂M
∂g
∂�ndS .
Hohere Mathematik 514
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Vorbereitung zum Integralsatz von Stokes
G
�f F
Bildet man das Gebiet G in den R3 ab, erhalt man mit der Kettenregel aus dem
Satz von Green des Satz von Stokes.Andererseits ist der Satz von Green bzw. der ebene Satz von Gauß ein Spezialfalldes Satzes von Stokes.
Hohere Mathematik 515
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Vorbereitung zum Integralsatz von Stokes
21.11 Vorbereitung zum Integralsatz von StokesFur einen Normalbereich M ⊂ R
3 und jedes zweimal stetig differenzierbareVektorfeld �v : M → R
3 gilt nach dem Gaußschen Satz�
∂Mrot �v · �n dS =
�
M
div (rot �v) d�x21.2(ii)= 0.
Das Oberflachenintegral der “Zirkulationsstarke” rot �v · �n des Vektorfeldes �v inRichtung des Normalenvektors von ∂M ist also Null. Dies liegt i.w. daran, dass dieOberflache geschlossen ist, also keine Randkurven besitzt.
Fur Flachenstucke mit Randkurven lasst sich das Oberflachenintegral derZirkulationsstarke in ein vektorielles Kurvenintegral uberfuhren;
Hohere Mathematik 516
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Stokes
Spezifikation des Flachenstucks F :G ⊂ R
2 sei ein Normalgebiet (ohne “Locher”), �f : G → R3 sei zweimal stetig
differenzierbar, �f |G sei injektiv und es gelte
�fu × �fv �= �0 in G .
Dann ist F = �f (G) ⊂ R3 ein orientiertes Flachenstuck (siehe 20.14) und
�n =1
|�fu × �fv |�fu × �fv
Spezifikation der Randkurven:∂G werde so durchlaufen, dass die geschlossene Bildkurve �f (∂G) auf F mit dem
Normalenfeld �n die Bewegungsrichtung einer Rechtsschraube hat. (Achtung: �f ist evtl.
nicht injektiv auf ∂G , Zwei Kurven konnen zusammenfallen, eine Kurve kann zu einem
Punkt zusammenschmelzen, siehe nachfolgendes Bsp. )
21.12 Integralsatz von Stokes
Das Gebiet U ⊆ R3 enthalte F . Mit den obigen Spezifikationen gilt fur jedes stetig
differenzierbare Vektorfeld �v : U → R3
�
F
rot �v · �n dS =
�
�f (∂G)�v · d�x .
Hohere Mathematik 517
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Stokes
Der Fluss des Vektorfeldes rot �v durch die Flache F stimmt also mit der“Zirkulation” von �v langs dem “Rand von F” (genauer �f (∂G )) uberein.
Zum Vorzeichen: Beim Oberflachenintegral im Satz von Stokes bestimmt dasNormalenfeld von F das Vorzeichen.Beim vektoriellen Kurvenintegral bestimmt die Durchlauf-Richtung dasVorzeichen.Diese beiden Orientierungen passen zusammen, wenn die Durchlauf-Richtungder Kurve sich zum Normalenfeld wie die Rechtsdrehung einer Schraubeverhalt.
Hohere Mathematik 518
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze
Zusammenfassung der Integralsatze
Exemplarisch wird alles im R3 betrachtet.
Das Nachfolgende lasst sich in jeder Dimension interpretieren, es gibt eineeinheitliche Theorie der Differentialformen und der Integration auf
Mannigfaltigkeiten.
Wir betrachten Funktionen und Vektorfelder und die ”passenden” Definitionbereiche:
fd−→ �v = grad f
d−→ �w = rot �vd−→ g = div �w
(A) (B) (C)
2 Punkte∂←− Kurve
∂←− Flache∂←− Volumen
(A) Hauptsatz
d ist die Gradientenabbildung f −→ f�, und ∂ ordnet jeder Kurve ihren orientierten
Rand Endpunkt-Anfangspunkt zu.
Das Integral von f� uber eine Kurve ist das ”Integral” der Stammfunktion uber den
Rand, was man hier als vorzeichenbehaftete Auswertung interpretiert.
Hohere Mathematik 519
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze
(B) Der Satz von Stokesd ist die Rotation, und ∂ ordnet jeder Flache ihre passend orientierteRandkurve zu. Das Integral der Rotation eines Vektorfelds uber eine Flacheist das Integral des Vektorfelds uber die Randkurve.
(C) Der Satz von Gaußd ist die Divergenz, und ∂ ordnet jedem beschrankten Volumen dieorientierte Randflache zu. Das Integral der Divergenz eines Vektorfelds uberein Volumen ist des Integral des Feldes uber die Oberflache (als Flußintegral).
All diese Falle lassen sich zusammenfassen.
Allgemeiner Satz von Stokes
Ist M eine orientierbare berandete Mannigfaltigkeit (das ist der Oberbegriff fur dievon uns betrachteten Kurven Flachen und Volumina), so gilt
�
∂Mv =
�
M
dv .
Die Bedeutung der Symbole erschließt sich jeweils aus den oben aufgefuhrtenZusammenhangen.
Hohere Mathematik 520
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze
Außerdem gilt stets d ◦ d = 0 und ∂ ◦ ∂ = ∅:rot grad f = �0 und div rot �v = 0
Der Rand einer geschlossenen Kurve hat keine Randpunkte, und dieRandflache eines Volumens hat keine Randkurve.
Auf sternformigen Gebieten gilt umgekehrt: dw = 0 =⇒ es gibt v mit w = dv .Das sind die Integrabilitatsbedingungen: Ist rot �v = �0, so hat �v ein Potential, istdiv �w = 0, so gibt es ein Vektorpotential.
Umgekehrt lasst sich das benutzen, um Mengen zu klassifizieren: hat das GebietG ⊂ R
3 ein punktformiges ”Loch”, so gibt es ein Vektorfeld mit Divergenz Null,
das kein Vektorpotential besitzt, z.B.1
(x2 + y2 + z2)3/2(x , y , z)�.
In diesem Fall gibt es dann auch eine geschlossene (=ohne Randkurve) Flache, diekein Volumen berandet, namlich Oberflache der Einheitkugel - der Nullpunkt fehltdem Volumen ja.
Hohere Mathematik 521
Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze
Fehlt dem Gebiet G eine Achse (z.B. R3 \ {(x , y , z) | z = 0}), so gibt es einVektorfeld mit Rotation Null, das kein Potential besitzt, z.B.� y
x2 + y2,
−x
x2 + y2, 0��.
Dann gibt es auch eine geschlossene Kurve, die nicht Randkurve einer Flache ist,z.B. {(x , y , z) | x2 + y2 = 1, z = 0}. Die fehlende z-Achse verhindert, dass man inden Kreis eine Flache einspannen kann.
Diese Phanomene werden mit der de Rham-Kohomologie genauer untersucht - einwunderschones Stuck Mathematik, das wir hier nicht behandeln konnen.
Hohere Mathematik 522
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Motivation
Kap. 22: Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung
22.1 Motivation Viele Prozesse der Natur werden durch Differentialgleichungenoder Systeme von Differentialgleichungen beschrieben. Hierbei werdenBeziehungen zwischen der Funktion y : [a, b] → R (z.B. zeitabhangige Große y(t)mit t ∈ [a, b]) und ihrer Ableitungen y �(t), y ��(t), . . . dargestellt, die man nach yauflosen muss.
y � = αy mit α ∈ R,exponentieller Wachstums- bzw. Zerfallprozess, allgemeine Losung isty : R → R mit y(t) = Ceαt mit beliebiger Konstante C ∈ R. Meist wird dieKonstante durch die Angabe eines Anfangswerts y(t0) = y0 bestimmt.
y � = αy(R − y) mit α > 0,logistischer Wachstumsprozess, Losungen sind y : R → R mit
y(t) =R
1 + Ce−αRtmit beliebiger Konstante C > 0. Zu dem Anfangswert
0 < y(0) = y0 < R ermittelt man C = R
y0− 1 > 0.
Beachte: Es gibt andere Losungen mit C ≤ 0.
Hohere Mathematik 523
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Motivation
Ein System von Differentialgleichungen kann die Dynamik und dieWechselwirkung mehrerer Prozesse modellieren, wie z.B. dasRauber-Beute-Modell von Lotka und Volterra: die Population der Beutetierey1 hat die exponentielle Wachstumsrate a, die jedoch durch die Anwesenheitder Raubtierpopulation y2 (gewichtet mit der Beuterate b) vermindert wird.Die Differenz aus Reproduktions- und Sterberate der Raubtierpopulation y2schwankt in Abhangigkeit der Große der Population der Beutetiere:
y �1 = y1(a− by2)y �2 = y2(cy1 − d)
Die interessante Feststellung, dass die Losungen y1 und y2 periodisch sind,bezeichnet man als 1. Volterra-Regel. Man beachte noch, dass die konstantenLosungen y1(t) = d/c und y2(t) = a/b fur alle t ∈ R einenGleichgewichtszustand (sog. Fixpunkt, stationare Losung) beschreiben.
Hohere Mathematik 524
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Richtungsfeld
22.2 RichtungsfeldDie Differentialgleichung
y � = f (x , y) (∗)
lasst sich veranschaulichen im Richtungs-feld: wenn der Punkt (x , y) ∈ R
2 zumGraphen einer Losung y = y(x) gehort,so wird durch (*) die Steigung y �(x) =f (x , y) in diesem Punkt angegeben. Wirzeichnen also ein kurzes Geradenstuckmit dieser Steigung und bekommen einenEindruck uber den weiteren Verlauf desGraphen der Losung:
Zur Differentialgleichung y � = −yerhalten wir z.B. die folgendenLosungen:
Hohere Mathematik 525
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Richtungsfeld
Zur Differentialgleichung y � =�|y | erhalten wir Losungen, die sich
verzweigen konnen:
Losungen sind z.B.
y1 =1
4(x − c)2 (x > c)
y2 = 0 (a < x < b)
y3 = −1
4(x − d)2 (x < d)
und Funktionen, die sichdaraus zusammensetzenlassen.
Hohere Mathematik 526
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition: Losung einer Differentialgleichung
22.3 Definition: Losung einer Differentialgleichung
Gleichungen der Gestalt
y � = f (x , y) oder F (x , y , y �) = 0 (∗)
heißen (explizite bzw. implizite) Differentialgleichungen 1. Ordnung.
Eine Losung der Differentialgleichung ist eine auf einem Intervall I ⊆ R definiertedifferenzierbare Funktion y : I → R, die die Gleichung (*) fur jedes x ∈ I erfullt.
Beispiele:
y� = 2xy − x
2y3 ist eine explizite Dgl. 1. Ordnung.
y(y � + 1)2 − y2
x2= 0 ist eine implizite Dgl. 1. Ordnung.
Hohere Mathematik 527
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition: Anfangswertproblem (AWP)
Eine Dgl. hat im allgemeinen unendlich viele Losungen (siehe Integration).
22.4 Definition: Anfangswertproblem (AWP)
Ein Anfangswertproblem besteht aus einer Differentialgleichung 1. Ordnung(explizit oder implizit) sowie einer Anfangsbedingung y(x0) = y0 an einer festenStelle x0.
Eine Losung y : I → R der Dgl. ist auch Losung des AWP, wenn x0 ∈ I undy(x0) = y0 gilt.
Ziel:
Berechnung der allgemeinen Form der Losungen einer Dgl.
Ergebnisse zu Existenz, maximalem Definitionsbereich und Eindeutigkeit derLosungen eines AWP
Hohere Mathematik 528
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung
Der wichtigste Typ von Differentialgleichungen 1. Ordnung
22.5 Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung
(i) Die explizite Dgl. 1. Ordnung
y � = p(x)y + q(x)
mit stetigen Funktionen p, q : I → R auf dem offenen Intervall I =]a, b[ heißtlineare Differentialgleichung 1. Ordnung.
(ii) Die Abbildung y �→ y � − p(x)y ist eine lineare Abbildung von C 1(I ) nachC (I ). Der Kern besteht aus den Losungen der homogenen Gleichungy � = p(x)y .
(iii) Der Kern hat die Dimension 1 und besteht aus den Vielfachen von
yh := e�p(t) dt .
Hohere Mathematik 529
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung
(iv) Eine partikulare Losung yp der inhomogenen Gleichung y � = p(x)y + q(x)erhalt man durch Variation der Konstanten:
yp(x) = yh(x)
�q(x)
yh(x)dx
(v) Die allgemeine Losung der inhomogenen Gleichung ist dann
y(x) = Cyh(x) + yp(x), C ∈ R
(vi) Fur x0 ∈ I ist die eindeutige Losung zum Anfangswert y(x0) = y0 gegebendurch
y : I → R, y(x) = eP(x)
�y0 +
�x
x0
q(t)e−P(t) dt
�,
wobei P(x) =
�x
x0
p(t) dt die Stammfunktion von p mit P(x0) = 0 ist.
Hohere Mathematik 530
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen
22.6 Bemerkungen:
(a) Naturlich kann man das Anfangswertproblem statt wie in (vi) auch so losen,dass man in (v) die passende Konstante bestimmt.
(b) Bemerkenswert ist, dass die Losung der linearen Dgl. 1. Ordnung imgesamten Intervall I , auf dem die Funktionen p, q stetig sind, existiert. Diesist fur nicht-lineare Dgl. nicht der Fall!
Die beiden wichtigsten linearen Differentialgleichungen
(a) y � = αy (mit α ∈ R) hat die allgemeine Losung y(x) = Ceαx auf I = R.Zum Anfangswert y(x0) = y0 lautet die eindeutige Losung y(x) = y0eα(x−x0).
(b) y � =αy
x(mit α ∈ R \ {0}) hat die allgemeine Losung y(x) = Cxα auf
I = (0,∞) bzw. y(x) = C |x |α auf I = (−∞, 0).Zum Anfangswert y(x0) = y0 mit x0 �= 0 lautet die eindeutige Losung
y(x) = y0�
x
x0
�αauf demjenigen der beiden Intervalle (0,∞) oder (−∞, 0),
das x0 enthalt.
Hohere Mathematik 531
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bernoulli-Dgl.
Durch Substitution lassen sich manche Differentialgleichungen in bekannte Typenuberfuhren.
22.7 Bernoulli-Dgl.
Die explizite Differentialgleichung 1. Ordnung
y � = p(x)y + q(x)yα mit α �= 0, 1
heißt Bernoulli’sche-Differentialgleichung. Durch Substitution u = y1−α (unter derBedingung y �= 0, u �= 0) erhalt man die lineare Dgl.
u� = (1− α)p(x)u + (1− α)q(x).
Weiterhin ist fur α > 0 immer y ≡ 0 eine Losung.
Hohere Mathematik 532
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Existenzsatz von Peano
Allgemeine explizite Differentialgleichungen 1. Ordnung haben die Form
y � = f (x , y)
22.8 Existenzsatz von Peano
Die Funktion f : M → R sei stetig im Gebiet M ⊆ R2.
Dann existiert zu jedem Punkt (x0, y0) ∈ M ein Intervall I = (x0 − δ, x0 + δ) sowieeine differenzierbare Funktion y : I → R, die das AWP
y � = f (x , y), y(x0) = y0
auf I lost.
Hohere Mathematik 533
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof
22.9 Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof
Die Funktion f : M → R sei stetig im Gebiet M ⊆ R2 und ihre partielle Ableitung
∂f∂y existiere und sei ebenfalls stetig.
Dann existiert zu jedem Punkt (x0, y0) ∈ M ein Intervall I = (x0 − δ, x0 + δ) sowieeine differenzierbare Funktion y : I → R, die das AWP
y � = f (x , y), y(x0) = y0
auf I lost. Weiterhin gilt: Jede weitere Losung z = z(x) desselben AWP stimmtauf I mit y uberein.
Bemerkung: Die lokale Eindeutigkeit besagt, dass sich Losungen zu verschiedenenAnfangswerten in M nicht schneiden oder verzweigen konnen!
Hohere Mathematik 534
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkung
22.10 Bemerkung Die rechte Seite f : M → R mit M ⊆ R2 sei stetig und stetig
partiell nach y differenzierbar. Aus dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz 22.9ergibt sich eine eindeutig bestimmte Losung des AWP
y � = f (x , y), y(x0) = y0,
mit einem “maximalen Definitionsbereich” I = (a, b) um den Punkt x0: DasIntervall I ist so gross, dass der Graph der Losung y : I → R an den Rand desDefinitionsbereichs M stoßt. (Dies kann auch ein uneigentlicher Grenzwert ±∞sein.)Man sagt daher:Die Losungen des AWP gehen “von Rand zu Rand”.
Hohere Mathematik 535
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkung
Diskussion weiterer “Typen” von gewohnlichen Differentialgleichungen:
Dgl. mit getrennten Variablen (oder separierte Dgl.)
Dgl. vom homogenen Typ
exakte Dgl.
Hohere Mathematik 536
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. mit getrennten Variablen
22.11 Dgl. mit getrennten Variablen
Seien f : I → R und g : J → R stetig. Die gewohliche Dgl. 1. Ordnung
y � = f (x)g(y)
heißt Dgl. mit getrennten Variablen.
Sind f und g stetig differenzierbar und sind x0 ∈ I , y0 ∈ J gegeben, so erhalt mandie eindeutige Losung des AWP
als konstante Funktion y(x) = y0 fur alle x ∈ I , falls g(y0) = 0 ist;
durch Auflosen der Gleichung
�y
y0
dη
g(η)=
�x
x0
f (ξ) dξ
nach y , falls g(y0) �= 0 ist. Hierbei ist ein maximaler DefinitionsbereichI1 = (x0 − δ1, x0 + δ2) von y zu bestimmen.
In der Praxis lost oft man
�dy
g(y)=
�f (x) dx + C nach y auf.
Hohere Mathematik 537
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. vom homogenen Typ
22.12 Dgl. vom homogenen Typ
Die gewohnliche Dgl. 1. Ordnung
y � = f�yx
�
mit stetigem f : J → R heißt Dgl. vom homogenen Typ.
Die Substitution u =y
xfuhrt auf die Dgl. mit getrennten Variablen
u� =f (u)− u
x
und wird z.B. wie in 22.11 gelost.
Beweis:du
dx=
xy� − y
x2=
y� − y
x
x=
f (u)− u
x.
Hohere Mathematik 538
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. vom Typ y� = f (ax + by + c)
22.13 Dgl. vom Typ y � = f (ax + by + c)Zu stetigem f : J → R und Zahlen a, b, c ∈ R, b �= 0 betrachten wir diegewohnliche Dgl.
y � = f (ax + by + c).
Substitution u = ax + by + c ergibt
u� = a+ by � = a+ bf (u),
weiter mit getrennten Variablen.
Hohere Mathematik 539
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Exakte Dgl.
22.14 Exakte Dgl.
Die gewohnliche Dgl. 1. Ordnung
f1(x , y) + f2(x , y)y� = 0
mit einem stetigen Vektorfeld �f =
�f1f2
�: M → R
2 heißt exakte Dgl., wenn �f
lokal ein Gradientenfeld ist (siehe 20.9).Ist F ein Potential von �f und ist (x0, y0) mit f2(x0, y0) �= 0 gegeben, so ist ineinem Intervall (x0 − δ, x0 + δ) die Losung des AWP
f1(x , y) + f2(x , y)y� = 0, y(x0) = y0,
eindeutig durch Auflosen von F (x , y(x)) = F (x0, y0) bestimmt (siehe Satz 18.17).
Beweis: Satz uber implizite Funktionen 18.17 anwenden.
Hohere Mathematik 540
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen
22.15 Bemerkungen
(a) In den meisten Fallen ist �f =
�f1f2
�stetig differenzierbar. �f ist lokal ein
Gradientenfeld genau dann, wenn die Integrabilitatsbedingung∂f1∂y
=∂f2∂x
gilt.
(b) Haufig wird ein Gradientenfeld �f = (f1, f2) erst durch Multiplikation dergegebenen Dgl. erzeugt: Wir nennen die Funktion m(x , y) einenintegrierenden Faktor oder Eulerschen Multiplikator der Dgl., wenn
m(x , y)f1(x , y) +m(x , y)f2(x , y)y� = 0
eine exakte Dgl. ist. Dann muss also
my f1 +mf1,y = mx f2 +mf2,x
gelten.
Hohere Mathematik 541
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen
Spezialfall: m = m(x), d.h. m hangt nur von x und nicht von y ab. So einFaktor existiert genau dann, wenn
f1,y − f2,xf2
:= g(x)
nicht von y abhangt Dann erfullt m die lineare homogene Dgl. mx = g(x)m,also kann man
m = eG(x) mit G (x) =
�g(x) dx wahlen.
Analog erhalt man einen nur von y abhangenden integrierenden Faktor eH(y),wenn
f2,x − f1,yf1
=: h(y)
nur von y abhangt und H Stammfunktion von h ist.Beachte: Durch Multiplikation mit m konnen zusatzliche Losungen entstehen
(m(x , y) = 0) oder Losungen verlorengehen (1
m(x , y)= 0).
Eine Probe der Ergebnisse in der ursprunglichen Dgl. ist notwendig!
Hohere Mathematik 542
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Alternative Formulierung
22.16 Alternative Formulierung
Eine in x und y symmetrische Schreibweise ist
f1(x , y) dx + f2(x , y) dy = 0.
Sie ist zu f1(x , y) + f2(x , y)y � = 0 oder f1(x , y)dx
dy+ f2(x , y) = 0 aquivalent.
Dies wird gelegentlich als Differentialgleichung fur Kurvenscharen bezeichnet.
Ist y eine Losung von f1 + f2y � = 0, dann wird durch x �→ (x , y(x)) eine Kurvedefiniert. Umgekehrt bezeichnet man jede Kurve t �→ (x(t), y(t)) als Losung, wenn
f1(x(t), y(t))dx(t)
dt+ f2(x(t), y(t))
dy(t)
dt= 0
identisch erfullt ist. Damit erhalt man (unter Einschrankungen) die Kurve(x , y(x)), aber nicht die Durchlaufgeschwindigkeit.
Hohere Mathematik 543
Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Orthogonale Trajektorien
22.17 Orthogonale Trajektorien
Eine Kurvenschaar in einem Gebiet G ist eine Menge von Kurven, so dass jederPunkt von G auf genau einer Kurve liegt.Ist U eine Kurvenschaar in G , so nennt man die Kurvenschaar V orthogonaleTrajektorien zu U, wenn jede Kurve in U jede Kurve in V senkrecht schenidet(falls es einen Schnittpunkt gibt).Besteht U aus den Losungen der Dgl. y � = f (x , y), so erfullen die Kurven in V die
Dgl. y � =−1
f (x , y).
Beispiel Die Hyperbelschaaren x2 − y2 = C und xy = D.
Hohere Mathematik 544
Systeme von Differentialgeichungen
23: Systeme von Differentialgleichungen
Im letzten Abschnitt wurde als Beispiel ein System von Differentialgleichungenvorgestellt:
y �1 = y1(a− by2)y �2 = y2(cy1 − d).
Es beschreibt das Lotka-Volterra-Modell der Wechselwirkung zweierWachstumsprozesse von Populationen y1 (Beutetiere) und y2 (Raubtiere). DiesesSystem ist nichtlinear, weil Produkte der gesuchten Funktionen y1y2 auftreten.
Wir behandeln in diesem Kapitel:
Allgemeine Aussagen zur Existenz und Eindeutigkeit der Losung
Losung von linearen Dgl.-SystemenFundamentalsystem des homogenen SystemsVariation der Konstanten zur Losung des inhomogenen SystemsKonstante Koeffizienten
Hohere Mathematik 545
Systeme von Differentialgeichungen Differentialgleichungssystem
23.1 Differentialgleichungssystem
Ein System gewohnlicher Differentialgleichungen 1. Ordnung ist gegeben durch
y �1 = f1(x , y1, y2, . . . , yn)
y �2 = f2(x , y1, y2, . . . , yn)
...
y �n
= fn(x , y1, y2, . . . , yn)
In Vektorschreibweise lautet dies
Y � = F (x ,Y ).
Hierbei ist F = (f1, . . . , fn)T : I ×M → Rn (mit I ⊆ R und M ⊆ R
n) dasgegebene Vektorfeld der rechten Seite und Y = (y1, . . . , yn)T das gesuchtedifferenzierbare Vektorfeld.Eine Losung des Dgl.-Systems ist ein differenzierbares VektorfeldY = (y1, . . . , yn)T : J → R
n auf einem Intervall J ⊆ I , das
Y �(x) = F (x ,Y (x)) fur alle x ∈ J erfullt.
Hohere Mathematik 546
Systeme von Differentialgeichungen Differentialgleichungssystem
Anfangswertproblem (AWP): Zum Dgl.-System Y � = F (x ,Y ) mitF : I ×M → R
n wird als Anfangsbedingung
Y �(x0) = Y0
mit einem x0 ∈ I und einem Vektor Y0 ∈ M vorgegeben.
Beachte: Wir haben nur eine “Variable” x ∈ I ; der VektorY �(x) = (y �
1(x), y�2(x), . . . , y
�n(x))T besteht aus den ublichen Ableitungen der
Komponenten-Funktionen y1, . . . , yn nach x .
Fur Dgl.-Systeme 1. Ordnung bleiben die Satze zur Existenz ( 22.8) und Eindeutigkeit (22.9)
erhalten:
Hohere Mathematik 547
Systeme von Differentialgeichungen Existenzsatz von Peano
23.2 Existenzsatz von Peano
Die Funktion F : I ×M → Rn sei stetig im Gebiet I ×M ⊆ R
n+1.
Dann existiert zu jedem Punkt (x0,Y0) ∈ I ×M ein Intervall J = (x0 − δ, x0 + δ)sowie ein differenzierbares Vektorfeld Y : J → R
n, das das AWP
Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0
auf J lost.
23.3 Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof
Zusatzlich seien die partiellen Ableitungen ∂F∂yk
, 1 ≤ k ≤ n, in I ×M definiert undstetig.
Dann existiert zu jedem Punkt (x0,Y0) ∈ I ×M ein Intervall J = (x0 − δ, x0 + δ)sowie ein differenzierbares Vektorfeld Y : J → R
n, das das AWP
Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0
auf J lost. Weiterhin gilt: Jede weitere Losung Z = Z (x) desselben AWP stimmtauf J mit Y uberein.
Hohere Mathematik 548
Systeme von Differentialgeichungen Losungen gehen von Rand zu Rand
Wie in Bemerkung 22.10 gilt auch hier:
23.4 Losungen gehen von Rand zu Rand
Die Losungen des AWP
Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0,
gehen von Rand zu Rand des Definitionsbereichs von F .
23.5 Autonome Systeme
Ein Dgl-Systen heißt autonom, wenn es die Form
Y � = F (Y )
hat, d.h. wenn die rechte Seite nicht von x abhangt.
Fur autonome Systeme gilt: Ist Y (x) eine Losung mit dem Definitionsbereich(a, b), dann ist fur c ∈ R die Funktion Y (x − c) eine Losung auf (a+ c , b + c).
Hohere Mathematik 549
Systeme von Differentialgeichungen Orbit
23.6 Orbit
Ist Y � = F (Y ) ein autonomes System und U eine Losung mit DefinitionsintervallI , so heißt die Menge {U(x) | x ∈ I} Orbit oder Bahnkurve oder Trajektorie derLosung.Der Definitionsbereich von F heißt Phasenraum.
Beispiel: Das System
�y1y2
��=
�y12y2
�hat die allgemeine Losung
y1(x) = C1ex , y2(x) = C2e2x .Die Orbits sind
der Ursprung
{(y1, 0) | y1 > 0}{(y1, 0) | y1 < 0}{(0, y2) | y2 > 0}{(0, y2) | y2 < 0}{(y1,Cy2
1 ) | y1 > 0} (“halbeParabeln”) mit C ∈ R
{(y1,Cy21 ) | y1 < 0} (“halbe
Parabeln”) mit C ∈ R
Hohere Mathematik 550
Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral
23.7 Erstes Integral
Sei Y � = F (Y ) eine (autonomes) Dgl.-System mit Definitonsbereich M := R× I ,I Gebiet in R
n. Eine Funktion G : M −→ R heißt Erstes Integral des Systems,wenn gilt: Ist U(x) eine Losung von Y � = F (Y ), so ist G (U(x)) konstant.
Das bedeutet, dass die Orbits in den Hohenlinien von G verlaufen.
Berechnung eines ersten Integrals eines zweidimensionalen Systems
Ist G (y1, y2) eine Losung der exakten Dgl.
f2(y1, y2)dy1dx
− f1(y1, y2)dy2dx
= 0,
so ist G ein erstes Integral des Systems
�y1y2
��=
�f1(y1, y2)f2(y1, y2)
�
Hohere Mathematik 551
Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral
Beispiel: Das Dgl.-System 23.1 von Lotka und Volterra lautet inVektorschreibweise
Y � = F (x ,Y )
mit Y = (y1, y2)T und der rechten Seite
F (x ,Y ) =
�y1(a− by2)y2(cy1 − d)
�.
F ist in R× R2 definiert (also I = R und M = R
2 in 23.2 und 23.3) und stetig.Die partiellen Ableitungen nach y1, y2 existieren offensichtlich und sind stetig.
Also existiert die Losung Y =
�y1y2
�zu jedem Anfangswert (x0,Y0) ∈ R× R
2,
und sie ist eindeutig.
Falls die Losungs-Komponenten y1, y2 : J → R beide beschrankt sind, so folgtsogar J = R, d.h. die Losungen gehen “von Rand zu Rand” desDefinitionsbereichs von F .
Hohere Mathematik 552
Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral
Die Orbits der Volterra-Lotka-Dgl. fur a = b = c = d = 1.
0
0.5
1
1.5
2
2.5
y_2
0.5 1 1.5 2 2.5y_1
Hohere Mathematik 553
Systeme von Differentialgeichungen Lineares System 1. Ordnung
Der restliche Abschnitt behandelt lineare Systeme von Dgl’n.
23.8 Lineares System 1. Ordnung
Das Dgl.-System 1. Ordnung
y �1 = a11(x)y1 + a12(x)y2 + · · ·+ a1n(x)yn + g1(x)
y �2 = a21(x)y1 + a22(x)y2 + · · ·+ a2n(x)yn + g2(x)
...
y �n
= an1(x)y1 + an2(x)y2 + · · ·+ ann(x)yn + gn(x)
mit stetigen Funktionen aj,k : I → R und gj : I → R heißt linear.
In Vektorschreibweise lautet dies
Y � = A(x) Y + G ,
wobei A die n × n-Matrix der Funktionen aj,k ist und G = (g1, . . . , gn)T gesetztwird.
Im Fall g1 = g2 = · · · ≡ 0 heißt das System homogen, ansonsten inhomogen.
Hohere Mathematik 554
Systeme von Differentialgeichungen Satz: Losungsstruktur
Die Losungsmenge hat wieder eine lineare Struktur.
23.9 Satz: Losungsstruktur
Die Funktionen aj,k und die rechten Seiten gj seien auf I = (a, b) definiert undstetig. Dann gilt:
(i) Die Losungen Y = (y1, . . . , yn)T des homogenen Dgl.-Systems Y � = A(x) Ysind auf I definiert. Sie bilden einen n-dimensionalen Teilraum desVektorraums der differenzierbaren Vektorfelder auf I .
Eine Basis Φ1 = (φ1,1, . . . ,φn,1)T , . . ., Φn = (φ1,n, . . . ,φn,n)T diesesTeilraums heißt Fundamentalsystem oder Hauptsystem von Losungen.
(ii) Ist Ψ = (ψ1, . . . ,ψn)T eine spezielle (=partikulare) Losung des inhomogenenDgl.-Systems Y � = A(x) Y + G (x), so sind alle Losungen dieses Systemsdurch
Y (x) = Ψ(x) + c1Φ1(x) + · · ·+ cnΦn(x)
mit beliebigen Koeffizienten c1, . . . , cn ∈ R gegeben.
Hohere Mathematik 555
Systeme von Differentialgeichungen Satz: Losungsstruktur
(iii) Zu x0 ∈ I seien die Anfangswerte Y (x0) = Y0 gegeben. Dann hat das AWP
Y � = A(x) Y + G (x), Y (x0) = Y0
eine eindeutig bestimmte Losung Y : I → Rn.
Hohere Mathematik 556
Systeme von Differentialgeichungen Definition: Fundamentalmatrix, Wronski-Determinante
Ein Fundamentalsystem dient
zur Losung des AWP analog zu 22.5
Losung des inhomogenen Dgl.-systems durch Variation der Konstanten,analog zu 22.5
23.10 Definition: Fundamentalmatrix, Wronski-Determinante
Gegeben sei das homogene lineare Dgl.-system Y � = A(x)Y mit stetigenFunktionen aj,k : I → R in der Koeffizientenmatrix A.Zum Fundamentalsystem Φ1, . . . ,Φn : I → R
n bilden wir die Fundamentalmatrix
Φ(x) = (Φ1(x),Φ2(x), . . . ,Φn(x)).
Ihre Determinante W(x) = detΦ(x) heißt Wronski-Determinante.
Y ist Losung von Y � = AY ⇐⇒ Y (x) = Φ(x)C fur einen Vektor C ∈ Rn.
Φ erfullt die Matrix-Dgl. Φ� = A(x)Φ.
Sei C eine invertierbare (konstante) n × n-Matrix. Dann ist mit Φ auch ΦCeine Fundamentalmatrix.
Auf diese Weise erhalt man alle Fundamentalsysteme
Hohere Mathematik 557
Systeme von Differentialgeichungen Satz von Liouville
23.11 Satz von Liouville
Die Wronski-Determinante erfullt die lineare homogene Dgl. 1. Ordnung
W �(x) = trA(x)W(x),
wobeitrA(x) = Spur(A(x)) = a11(x) + a22(x) + · · ·+ ann(x)
die Spur (engl. “trace”) von A(x) bezeichnet.
Insbesondere gilt:
Ist Φ(x) Fundamentalmatrix des homogenen linearen Dgl.-systems aufI = (a, b) (also Φ1, . . . ,Φn linear unabhangige Losungen), so gilt W(x) �= 0fur alle x ∈ I . Deshalb ist Φ(x) fur alle x ∈ I invertierbar.
Sind Φ1, . . . ,Φn Losungen, so dass Φ(x0) regular ist, so ist Φ regular furjedes ∈ I .
Hohere Mathematik 558
Systeme von Differentialgeichungen Variation der Konstanten
Derselbe Bezug zur Dgl. n-ter Ordnung findet sich in der allgemeinen Form der “Variation der
Konstanten”, siehe 22.5
Ziel: Berechnen einer Losung des inhomogenen Dgl.-systems
Y � = A(x) Y + G (x).
23.12 Variation der Konstanten
Das Fundamentalsystem Φ1, . . . ,Φn : I → Rn des zugehorigen homogenen
linearen Dgl.-systems sei gegeben. Das Vektorfeld
Ys(x) = c1(x)Φ1(x) + · · ·+ cn(x)Φn(x) = Φ(x)C (x)
mit differenzierbaren Funktionen c1, . . . , cn : I → R ist eine spezielle Losung desinhomogenen linearen Dgl.-systems, wenn die Ableitungen c �1, . . . , c
�nfur jedes
x ∈ I das lineare Gleichungssystem
Φ(x)C �(x) = G (x) ⇐⇒ C �(x) = Φ−1(x)G (x)
erfullen.
Hohere Mathematik 559
Systeme von Differentialgeichungen Die Matrixexponentialfunktion
Dgl.-Systeme mit konstante Koeffizienten
23.13 Die Matrixexponentialfunktion
Sei A eine (konstante) n × n-Matrix. Mit A0 := E definieren wir
exp(xA) :=∞�
k=0
xk
k!Ak .
Dann gilt:
(i) Die Reihe konvergiert auf R gegen eine differenzierbare matrixwertigeFunktion (→ HM 3).
(ii) Es istd
dxexp(xA) = A exp(xA).
(iii) Fur x = 0 ist exp(0A) = E , also invertierbar.
(iv) exp(xA) ist Fundamentalmatrix zu Y � = AY .
Hohere Mathematik 560
Systeme von Differentialgeichungen Berechnung von exp(xA), A diagonalisierbar
Erinnerung: Ist A diagonalisierbar, so ist A = SJS−1. Dabei ist J eineDiagonalmatrix, die die Eigenwerte von A enthalt, und in den Spalten von Sstehen die entsprechenden Eigenvektoren.
23.14 Berechnung von exp(xA), A diagonalisierbar
(i) A0 = E = SJ0S−1, A2 = SJS−1SJS−1 = SJ2S−1, Ak = SJkS−1.
exp(xA) =∞�
k=0
xk
k!Ak = S
� ∞�
k=0
xk
k!Jk
�S−1 = S exp(xJ)S−1.
(ii) Ist J = diag (λ1, . . . ,λn), so ist Jk = diag (λk
1 , . . . ,λk
n)
(iii) Daher ist exp(xJ) = diag (exp(λ1x), . . . , exp(λnx))
(iv) Mit S exp(xJ)S−1 ist auch S exp(xJ) Fundamentalmatrix.
Dies bedeutet in der Praxis:
Hohere Mathematik 561
Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung
23.15 Losungen homogener Systeme 1. Ordnung
Gegeben sei das homogene Dgl.-System 1. Ordnung Y � = A Y .Wir erhalten zunachst ein (komplexes) Fundamentalsystem von VektorfeldernΦ1, . . . ,Φn : R → C
n wie folgt:
(i) Ist λ0 ∈ R (oder C) ein einfacher Eigenwert von A und �v �= �0 ein zugehorigerEigenvektor (also Losung von (A− λ0En)�v = �0), so ist
Φ1(x) = eλ0x�v
eine Losung des homogenen Dgl.-systems.
(ii) Ist λ0 ∈ R (oder C) ein mehrfacher Eigenwert von A, so gibt es zwei Falle
Fall 1: Die algebraische Vielfachheit m von λ ist gleich der geometrischen Vielfachheit�m.Dann bestimmen wir eine Basis �v1, . . . ,�vm von Eigenvektoren zum Eigenwert λund erhalten durch
Φ1(x) = eλx�v1, . . . , Φm(x) = e
λx�vm
m linear unabhangige Losungen des Dgl.-systems.
Hohere Mathematik 562
Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung
Fall 2. Die algebraische Vielfachheit m von λ ist großer als die geometrischeVielfachheit �m.Im ersten Schritt bestimmen wir eine Basis �v1, . . . ,�v�m von Eigenvektoren zumEigenwert λ, also �m linear unabhangige Losungen von (A− λEn)�v = �0.Im zweiten Schritt bestimmen wir weitere Vektoren �v�m+1, . . . ,�v�m+r mit(A− λ0En)2�v = �0, so dass alle Vektoren �v1, . . . ,�v�m+r linear unabhangig sind.Dann fahren wir mit (A− λ0En)3�v = �0 etc. fort, bis wir insgesamt m linearunabhangige Vektoren �v1, . . . ,�vm gefunden haben.Die allgemeine Form
Φ�(x) = eλx
��v� + x(A− λEn)�v� + · · ·+ x
m−1
(m − 1)!(A− λEn)
m−1�v�
�(∗)
mit 1 ≤ � ≤ m ergibt m linear unabh. Losungen des Dgl.-Systems.
Beachte: Wenn �v� ein Eigenvektor von A zum Eigenwert λ ist, so ist in der Summe nur dererste Summand von Null verschieden. Wenn �v� im 2. Schritt gefunden wurde, sind nur dieersten beiden Summanden von Null verschieden, etc.
Hohere Mathematik 563
Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung
Alternative in Fall 2:
Bilde Potenzen von A− λEn, bis der Rang von (A− λEn)p gleich n −m ist;d.h. der Kern von (A− λEn)p ist m-dimensional.
Wahle eine Basis �v1, . . . ,�vm des Kerns von (A− λEn)p.
Wende die Formel (∗) auf jeden dieser Vektoren an.
Bemerkung: Es gibt ein r mitker(A− λEn) ⊂
�=ker(A− λEn)2 ⊂
�=· · · ker(A− λEn)r = ker(A− λEn)r+1 =
ker(A− λEn)r+s
Dabei ist stets r ≤ m.
Hohere Mathematik 564
Systeme von Differentialgeichungen Konstruktion reeller Losungen bei komplexen Eigenwerten
23.16 Konstruktion reeller Losungen bei komplexen Eigenwerten
Im Dgl.-System Y � = A Y sei A eine konstante und reelle Matrix.
Dann ist das charakteristische Polynom reell, und die nichtreellen Nullstellen sindpaarweise komplex konjugiert.Zu dem Paar λ = a+ ib, λ = a− ib (mit b �= 0) gehoren komplexe Eigenvektoren
�v = �r + i�s, �w = �r − i�s
(ebenfalls nicht reell, also �s �= �0).
Die beiden komplexen Losungen des Dgl.-systems
Φ1(x) = eλx�v = eax(cos bx + i sin bx)(�r + i�s),
Φ2(x) = eλx �w = eax(cos bx − i sin bx)(�r − i�s),
ersetzen wir durch die linear unabhangigen reellen Losungen
Ψ1(x) = ReΦ1(x) =12Φ1(x) +
12Φ2(x) = eax((cos bx)�r − (sin bx)�s),
Ψ2(x) = ImΦ1(x) =12iΦ1(x)− 1
2iΦ2(x) = eax((cos bx)�s + (sin bx)�r).
Hohere Mathematik 565
Systeme von Differentialgeichungen Inhomogenitaten mit Exponentialfunktion
23.17 Inhomogenitaten mit Exponentialfunktion
Ist im inhomogenen System Y � = AY + eµxG , (A und G konstant) die Zahl µkein Eigenwert der Matrix A, so gibt es eine partikulare Losung der Form
Yp(x) = eµxZ
mit einem konstanten Vektor Z .
Hohere Mathematik 566
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Einleitung: elektrischer Schwingkreis
24: Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung
24.1 Einleitung: elektrischer SchwingkreisIm elektrischen Reihen-Schwingkreis mit Kondensator (Kapazitat C ), Spule(Induktivitat L) und ohmschem Widerstand (R) erfullt die Ladungsmenge Q desKondensators die Differentialgleichung 2. Ordnung
1
CQ + RQ � + LQ �� = 0. (∗)
Anfangswerte sind Q(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0RC
.
Herleitung: Ladung Q und Stromstarke I erfullen I = Q�. Die Kirchhoff’sche Maschenregel
besagt, dass die Gesamt-Spannung in der Reihenschaltung Null ist. Waren nur der Kondensatorund der ohmsche Widerstand vorhanden, so musste gelten UC + UR = 1
CQ + RQ
� = 0. Zum
Anfangswert Q(0) = Q0 lautet die Losung Q(t) = Q0e− t
RC .Bei Hinzunahme der Spule in die Reihenschaltung erhalten wir die Spannungsbilanz
Uges = UC + UR + UL =1
CQ + RQ
� + LQ�� = 0.
Hinweis: Bei zeitanhangigen Problemen nimmt man oft �t � statt �x � als Variable.
Hohere Mathematik 567
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. n-ter Ordnung
Wir betrachten im ganzen Kapitel lineare Dgl’n n-ter Ordnung.
24.2 Definition und Satz: Lineare Dgl. n-ter Ordnung
Die lineare inhomogene Dgl. n-ter Ordnung lautet
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = g(x), (∗i )
mit stetigen Funktionen b0, . . . , bn−1, g : I → R. Die zugehorige homogene lineareDgl. ist
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = 0. (∗h)
Als Losung bezeichnen wir alle Funktionen y = y(x), die n-mal stetigdifferenzierbar sind und die entsprechende Gleichung erfullen.
Sehr viele Eigenschaften der Losungen lassen sich aus dem Abschnitt uberSysteme ubernehmen. Dazu wird die Dgl. n-ter Ordnung in ein System von nDifferentialgleichungen erster Ordnung umgeschrieben.
Hohere Mathematik 568
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Unabhangigkeit von Funktionen
24.3 Lineare Unabhangigkeit von Funktionen
Funktionen ϕ1, . . . ,ϕn : I → R sind linear unabhangig, wenn aus der Identitat
c1ϕ1(x) + · · ·+ cnϕn(x) = 0 fur alle x ∈ I
folgt, dass c1 = · · · = cn = 0 gilt; d.h. wenn nur die triviale Linearkombination diekonstante Nullfunktion liefert.Anders ausgedruckt: Fur jeden Vektor von Koeffizienten (c1, . . . , cn) �= �0 folgt,dass es mindestens ein x ∈ I gibt, fur das
c1ϕ1(x) + · · ·+ cnϕn(x) �= 0
gilt.
Hohere Mathematik 569
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Umschreiben einer Dgl. in ein System
24.4 Umschreiben einer Dgl. in ein System
Gegeben sei die inhomogene lineare Dgl. n-ter Ordnung
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = g(x). (∗i )
Wir setzen
y1 = y , y2 = y �, . . . , yn−1 = y (n−2), yn = y (n−1).
Dann ist die gegebene Dgl. n-ter Ordnung aquivalent zu dem System 1. Ordnung
y �1 = y2
y �2 = y3
...
y �n−1 = yn
y �n
= −b0(x)y1 − b1(x)y2 − · · ·− bn−1(x)yn + g(x).
(∗∗)
Beachte: Die Losungen von (∗) sind stets die ersten Komponenten derLosungsvektoren von (∗∗).Hohere Mathematik 570
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Umschreiben einer Dgl. in ein System
Die Matrix-Form des Dgl.-Systems (∗∗) lautet
Y� =
0 1 0 · · · 0
.... . .
. . .. . .
...
0 · · · 0. . . 0
0 · · · · · · 0 1
−b0(x) −b1(x) · · · −bn−2(x) −bn−1(x)
Y +
0
...
0
0
g(x)
.
Ist
Φ1 =
φ1
φ�1...
φ(n−1)1
, Φ2 =
φ2
φ�2...
φ(n−1)2
, · · · , Φn =
φn
φ�n
...
φ(n−1)n
ein Fundamentalsystem des Dgl.-Systems, so sind
φ1, . . . ,φn : I → R
linear unabhangige Losungen der homogenen Dgl. n-ter Ordnung,
Hohere Mathematik 571
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung
24.5 Beispiel Fortsetzung
Q �� +R
LQ � +
1
LCQ = 0
wird mit y1 := Q und y2 := Q � zu
y �1 = y2 und y �
2 = Q �� = −R
LQ � − 1
LCQ = −R
Ly2 −
1
LCy1.
Die Matrixform ist mit Y = (y1, y2)�
Y � =
0 1
− 1
LC−R
L
Y
Das charakteristische Polynom ist λ2 +R
Lλ+
1
LCmit den Nullstellen
λ1,2 = − R
2L±
�� R
2L
�2−
� 1√LC
�2
Hohere Mathematik 572
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Fundamentalsystem
24.6 Fundamentalsystem
(i) Die Losungen der homogenen Dgl. (∗h) sind auf I definiert. Sie bilden einenVektorraum der Dimension n.Linear unabhangige Losungen φ1, . . . ,φn : I → R bilden eine Basis diesesVektorraums und heißen Fundamentalsystem der Dgl. (∗h).
(ii) Die entsprechende Fundamentalmatrix der Losungen von (∗∗)Φ(x) = (Φ1(x), . . . ,Φn(x)) heißt Wronskimatrix.
(iii) Die Determinate der Wronskimatrix heißt Wronskideterminante W(x).
(iv) Es gilt das Superpositionsprinzip:Ist ys eine (spezielle) Losung der inhomogenen Dgl. (∗i ), so erhalt man alle
Losungen der inhomogenen Dgl. als
y(x) = ys(x) + c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x)
mit beliebigen reellen Konstanten c1, . . . , cn, wobei die Funktionen φ1, . . . ,φn
ein Fundamentalsystem der homogenen Dgl. (∗h) sind.
”Fundamentalmatrix”, ”-system” und ”Wronskimatrix” beziehen sich immer aufdie homogene Dgl!
Hohere Mathematik 573
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Fundamentalsystem
Bemerkung: Die Linearitat der Differentialgleichung bedeutet folgendes: Durch
L(y) = y (n) + bn−1(x)y(n−1) + . . .+ b1(x)y
� + b0(x)y
ist eine Abbildung auf dem Vektorraum der n-mal stetig differenzierbarenFunktionen C n(I ) gegeben. Diese Abbildung erfullt die Linearitat
L(αy1 + βy2) = αL(y1) + βL(y2).
Man nennt L deshalb einen linearen Differentialoperator.
Die Funktionen φ1, . . . ,φn eines Fundamentalsystems bilden eine Basis des Kernsvon L, also des Vektorraums der Losungen von L(y) = 0.
Hohere Mathematik 574
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung
24.7 Beispiel Fortsetzung
(i) Fur 0 ≤ R < 2�
L/C ist mit δ = R
2L und ω =�
1LC
− R2
4L2
φ1(t) = e−δt cos(ωt), φ2(t) = e−δt sin(ωt)
ein Fundamentalsystem von Losungen. Speziell ergibt sich im Fall R = 0 mit
ω0 =�
1LC
φ1(t) = cos(ω0t), φ2(t) = sin(ω0t)
(ii) Im Fall R = 2�
L/C hat die Dgl. das Fundamentalsystem
φ1(t) = e−δt , φ2(t) = te−δt .
(iii) Fur R > 2�
L/C ist mit γ1,2 =R
2L ±�
R2
4L2 − 1LC
φ1(t) = e−γ1t , φ2(t) = e−γ2t
ein Fundamentalsystem.
Hohere Mathematik 575
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Bemerkung
24.8 Bemerkung:Wie man sieht, ist es sinnvoll, auch komplexwertige Losungen y : I → C der Dgl.zu zuzulassen.Am Beispiel oben der Ladungsmenge Q(t) = Ce−δt±iωt erfolgt der Ubergang insReelle mit Hilfe der Eulerschen Formeln
1
2
�e−δt+iωt + e−δt−iωt
�= e−δt cos(ωt),
1
2i
�e−δt+iωt − e−δt−iωt
�= e−δt sin(ωt).
Die Rechnung wird durch die Verwendung komplexer Losungen deutlich einfacher.
Hohere Mathematik 576
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Losung inhomogener Dgl.
Inhomogene Dgl. kann man wie in 23.12 durch Variation der Konstanten losen.
24.9 Losung inhomogener Dgl.
Sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem von
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = g(x).
Eine spezielle Losung von erhalt man durch
ys(x) = Φ(x)C (x) = c1(x)φ1(x) + · · ·+ cn(x)φn(x),
wobei der Vektor C �(x) = (c �1(x), . . . , c�n(x))�Losung des Gleichungssystems
Φ(x)C �(x) = c �1(x)Φ1(x) + · · ·+ c �n(x)Φn(x) = (0, . . . , 0, g(x))�
ist.
Spezialfall n = 2: Ist φ1, φ2 Fundamentalsystem der Dgl. so ergibtys(x) = c1(x)φ1(x) + c2(x)φ2(x) eine partikulare Losung.
Dabei ist c �1(x) = −g(x)φ2(x)
W(x)und c �2(x) =
g(x)φ1(x)
W(x).
Hohere Mathematik 577
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Anfangswertproblem (AWP)
Eindeutigkeit der Losung wird durch Vorgabe von Anfangswerten erzielt.
24.10 Anfangswertproblem (AWP)
Die Funktionen b0, . . . , bn−1, g : I → R seien stetig.Ist x0 ∈ I und sind a0, . . . , an−1 ∈ R gegeben, so hat das AWP
y (n) + bn−1(x)y (n−1) + . . .+ b1(x)y � + b0(x)y = g(x), (∗i )
y(x0) = a0y �(x0) = a1...
y (n−1)(x0) = an−1
eine eindeutige Losung y : I → R.
Hohere Mathematik 578
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Losung des Anfangswertproblems
24.11 Losung des AnfangswertproblemsEs sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem der linearen Dgl.
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = g(x),
ys eine Losung der inhomogenen Dgl.Die Koeffizienten c1, . . . , cn der Losung
y(x) = c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x) + ys(x)
zu den Anfangswerten
y(x0) = a0, y �(x0) = a1, . . . , y (n−1)(x0) = an−1,
bestimmt man aus dem linearen Gleichungssystem
φ1(x0) φ2(x0) · · · φn(x0)φ�1(x0) φ�
2(x0) · · · φ�n(x0)
......
...
φ(n−1)1 (x0) φ(n−1)
2 (x0) · · · φ(n−1)n (x0)
c1c2...cn
=
a0 − ys(x0)a1 − y �
s(x0)
...
an−1 − y (n−1)s (x0)
.
Hohere Mathematik 579
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung
24.12 Beispiel Fortsetzung
Die allgemeine Losung ist Q(t) = e−δt(C1 cosωt + C2 sinωt).
Q �(t) = e−δt�C1(−δ cosωt − ω sinωt) + C2(−δ sinωt + ω cosωt)
�
Dabei nennt man δ Dampfungsfaktor und ω =�
ω20 − δ2 < ω0
Resonanzfrequenz.
Vergleich Q(0) = C1!= Q0 und Q �(0) = −δC1 + ωC2
!= − Q0
RC= −Q0ω
20
2δ ) gibt:Die Ladungsmenge des Kondensators ist also
Q(t) = Q0 e−δt
�cosωt +
1
ω
�δ − ω2
0
2δ
�sinωt
�.
Der ungedampfte Fall R = 0 fuhrt zur Resonanzfrequenz ω0.
Im Fall R = 2�
L/C ist δ = ω0. Zur Losung e−δt der Dgl. tritt noch eineweitere Losung te−δt hinzu. Die Ladungsmenge des Kondensators (beiQ(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0
RC= −Q0δ
2 ) ist dann
Q(t) = Q0
�1 +
δ
2t
�e−δt .
Hohere Mathematik 580
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung
Fur großen Widerstand R > 2�
L/C ist δ > ω0. Mit γ1,2 = δ ±�
δ2 − ω20 ist
die Ladungsmenge (bei Q(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0RC
= −Q0γ1γ2
γ1+γ2)
Q(t) =Q0
γ21 − γ2
2
�γ21e
−γ2t − γ22e
−γ1t�.
Ein großer Widerstand unterdruckt also die Oszillation, es findet eineinmaliges Entladen des Kondensators statt.
Hohere Mathematik 581
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Definition und Satz: Wronski-Determinante
Die Matrix des Gleichungssystems im AWP ist die Wronskimatrix.
24.13 Definition und Satz: Wronski-Determinante
Es sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem der homogenen linearen Dgl. (∗h).Die Determinante der Fundamentalmatrix Φ
W(x) = det
φ1(x) φ2(x) · · · φn(x)φ�1(x) φ�
2(x) · · · φ�n(x)
......
...
φ(n−1)1 (x) φ(n−1)
2 (x) · · · φ(n−1)n (x)
heißt die Wronski-Determinante des Fundamentalsystems φ1, . . . ,φn.
Direkt aus der Umschreibung auf ein System (24.4) folgt: DieWronski-Determinante ist auf I differenzierbar und erfullt die homogene lineareDgl. 1. Ordnung
W �(x) = −bn−1(x)W(x), x ∈ I .
Daher ist W(x) = Ce−Bn−1(x) mit einer Stammfunktion Bn−1 von bn−1 und einerKonstanten C �= 0.
Hohere Mathematik 582
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Folgerung
24.14 Folgerung
Die Funktionen φ1, . . . ,φn : I → R seien Losungen der homogenen linearen Dgl.(∗h). Dann sind aquivalent:
(i) φ1, . . . ,φn ist ein Fundamentalsystem der Dgl., d.h. die Funktionen sindlinear unabhangig.
(ii) Die Wronski-Determinante W(x) ist ungleich Null fur alle x ∈ I .
(iii) Die Wronski-Determinante W(x) in (ii) ist ungleich Null fur mindestens einx ∈ I .
Hohere Mathematik 583
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Reduktion der Ordnung (d’Alembert)
Schon fur lineare Dgl. 2. Ordnung gibt es kein allgemeines Losungsverfahren. Hatman aber eine Losung, so kann man die Ordnung einer linearen Dgl. n- terOrdnung um eins reduzieren:
24.15 Reduktion der Ordnung (d’Alembert)
Ist y0 eine nichttriviale Losung der Dgl.
y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y
� + b0(x)y = 0,
so erfullt d(x) := c �(x) im Ansatz y(x) = y0(x)c(x) eine lineare Dgl. (n − 1)sterOrdnung.
Hohere Mathematik 584
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten
Wichtige Teilklasse von linearen Dgl.:
24.16 Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten
Zur homogenen linearen Dgl. n-ter Ordnung
y (n) + bn−1y(n−1) + . . .+ b1y
� + b0y = 0
mit konstanten Koeffizienten b0, . . . , bn−1 ∈ R definieren wir das charakteristischePolynom
p(λ) = λn + bn−1λn−1 + . . .+ b1λ+ b0, λ ∈ C.
Die reellen und komplexen Nullstellen von p liefern dann das folgendeFundamentalsystem von Losungen der Dgl.:
(r1) Ist λ0 eine einfache reelle Nullstelle von p, so ist φ(x) = eλ0x Losung der Dgl.
(rk) Ist λ0 eine k-fache reelle Nullstelle von p (mit k ≥ 2), so sind
φ1(x) = eλ0x , φ2(x) = xeλ0x , . . . , φk(x) = xk−1eλ0x
linear unabhangige Losungen der Dgl.
Hohere Mathematik 585
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten
(c1) Sind λ = δ + iω (mit ω �= 0) und die komplex konjugierte Zahl λ = δ − iωeinfache komplexe Nullstellen von p, so sind
φ1(x) = eδx sin(ωx), φ2(x) = eδx cos(ωx)
linear unabhangige Losungen der Dgl.
(ck) Sind λ = δ + iω und λ = δ − iω (mit ω �= 0) jeweils k-fache komplexeNullstellen von p, so sind
φ2�+1(x) = x�eδx sin(ωx), φ2�+2(x) = x�eδx cos(ωx)
mit 0 ≤ � ≤ k − 1 linear unabhangige Losungen der Dgl.
Die Gesamtheit der n hierdurch bestimmten Losungen der Dgl. ist linearunabhangig.
Hohere Mathematik 586
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beweisidee
24.17 Beweisidee
Das charakteristische Polynom ist mit dem charakteristischen Polynom deszugehorigen Systems (ev. bis auf das Vorzeichen) identisch.
Stets ist die geometrische Vielfachheit eins. Es gibt immer einen Eigenvektor,dessen erste Komponente ungleich Null ist.
Bei mehrfachen Eigenwerten (mit algebraischer Vielfachheit k) muss man Fall2 von 23.15 bis zur (k − 1)sten Potenz gehen. Da es ein F.S. geben muss,kann keiner der iterierten Vektoren in der ersten Komponente Null sein.In diesem Fall kommen also in der ersten Komponente Funktionen mitLinearkombinationen von eλx , xeλx bis xk−1eλx vor.Eine Basis des aufgespannten Raums sind genau die angegebenen Funktionen.
Da bei einer reellen Matrix mit jedem komplexen EW die konjugiert komplexeZahl EW gleicher Vielfachheit (und konjugiertem EV) ist, folgt (c) durchAufteilen in Real- und Imaginarteil wie in 23.16.
Eine alternative Beweismethode geht die Laplacetransformation (→ HM 3) zuruck.
Hohere Mathematik 587
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beweisidee
Bemerkung: Die Losungeny(x) = c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x)
der homogenen linearen Dgl. n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten sind auf ganz R
definiert. Haufig interessiert man sich fur das Langzeitverhalten limx→∞ y(x) bei gegebenenAnfangswerten y(x0) = a0, . . . , y (n−1)(x0) = an−1.
Ist der Realteil aller Nullstellen des charakteristischen Polynoms negativ, so giltlimx→∞ φk (x) = 0 fur alle 1 ≤ k ≤ n, also auch limx→∞ y(x) = 0 fur beliebigeAnfangswerte.
Ist der Realteil aller Nullstellen negativ oder Null, so konnen mehrere Falle auftreten, z.B.
y(x) = c1 + c2 cos 2x + c3 sin 2x (zu einfachen Nullstellen 0, 2i ,−2i) hat einenGrenzwert c1 nur dann, wenn c2 = c3 = 0 gilt. Ansonsten oszilliert die Losung
zwischen c1 ±�
c22 + c23 .
y(x) = c1 cos x + c2x cos x + c3 sin x + c4x sin x (zu doppelten Nullstellen i ,−i) istnur dann beschrankt, wenn c2 = c4 = 0 gilt, ansonsten tritt eine Oszillation mit linearwachsender Amplitude ein.
Fur reelles λ > 0 treten Losungen mit exponentiell wachsendem Betrag auf und furkomplexes λ = δ + iω mit Realteil δ > 0 treten oszillierende Losungen mit exponentiellwachsender Amplitude auf.
Hohere Mathematik 588
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.
24.18 Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.Wir betrachten einige Beispiele von rechten Seiten g(x) in
y (n) + bn−1y(n−1) + · · ·+ b1y
� + b0y = g(x).
Das charakteristische Polynom der homogenen linearen Dgl. ist
p(λ) = λn + bn−1λn−1 + · · ·+ b1λ+ b0.
Die spezielle Losung ys : R → R wird durch das Einsetzen des “Ansatzes” in dieDgl. und Koeffizienten-Vergleich berechnet.
(a) g ist ein Polynom vom Grad M ≥ 0.
→ Ansatz ys(x) = A0 + A1x + · · ·+ AMxM , falls p(0) �= 0,
→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx
M) mit k ≥ 1,wenn p(0) = 0 und k die exakte Ordnung der Nullstelle λ0 = 0 ist.
(b) g(x) = Q(x)eαx mit einem Polynom Q vom Grad M ≥ 0.
→ Ansatz ys(x) = (A0 + A1x + · · ·+ AMxM)eαx , falls p(α) �= 0 ,
→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx
M)eαx mit k ≥ 1,wenn p(α) = 0 und k die exakte Ordnung dieser Nullstelle ist.
Hohere Mathematik 589
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.
(c) g(x) = Q(x)eαx sin(ωx) oder g(x) = Q(x)eαx cos(ωx) mit einem PolynomQ vom Grad M ≥ 0.
→ Ansatz ys(x) = (A0 + A1x + · · ·+ AMxM)eαx sin(ωx)+
(B0 + B1x + · · ·+ BMxM)eαx cos(ωx) (BEIDE!),
wenn p(α± iω) �= 0 gilt,
→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx
M)eαx sin(ωx)+xk(B0 + B1x + · · ·+ BMx
M)eαx cos(ωx)mit k ≥ 1, wenn p(α± iω) = 0 und k die exakte Ordnung dieser komplexenNullstelle ist.
(e) Linearkombinationen dieser speziellen rechten Seiten werden durchSuperposition behandelt (siehe 24.6(iv)).
(f) Die allgemeine Losung der Dgl. erhalt man wie in 24.6.
Hohere Mathematik 590
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Potenzreihenansatz
Wir behandeln im Folgenden lineare Dgl. 2. Ordnung, deren Losungen yI → R
eine Darstellung als Potenzreihe besitzen:
24.19 Potenzreihenansatz
In der homogenen linearen Dgl. 2. Ordnung
y �� + p(x)y � + q(x)y = 0
sollen die Funktionen p, q im Intervall I = (x0 − r , x0 + r) die Darstellung durchPotenzreihen besitzen, also
p(x) =∞�
k=0
pk(x − x0)k , q(x) =
∞�
k=0
qk(x − x0)k .
Dann ist jede Losung y : I → R unendlich oft differenzierbar und besitzt die in Ikonvergente Potenzreihe
y(x) =∞�
k=0
ak(x − x0)k . (∗)
Hohere Mathematik 591
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Potenzreihenansatz
Bemerkung: Fundamentallosungen φ1,φ2 erhalt man, indem man die Koeffizienten(a0, a1) = (1, 0) fur φ1 bzw. (a0, a1) = (0, 1) fur φ2 in (*) vorgibt und dann dieKoeffizienten a2, a3, . . . durch Einsetzen in die Dgl. und Koeffizientenvergleichbestimmt.Hilfreich: mit a−1 = a−2 := 0 ist
y =∞�
n=0
anxn y � =
∞�
n=0
(n + 1)an+1xn y �� =
∞�
n=0
(n + 1)(n + 2)an+2xn
xy =∞�
n=0
an−1xn xy � =
∞�
n=0
nanxn xy �� =
∞�
n=0
n(n + 1)an+1xn
x2y =∞�
n=0
an−2xn x2y � =
∞�
n=0
(n − 1)an−1xn x2y �� =
∞�
n=0
n(n − 1)anxn
Hohere Mathematik 592
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung
24.20 Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung
In der homogenen linearen Dgl. 2. Ordnung
y �� +p(x)
x − x0y � +
q(x)
(x − x0)2y = 0,
sollen die Funktionen p, q im Intervall I = (x0 − r , x0 + r) die Darstellung durchPotenzreihen besitzen, also
p(x) =∞�
k=0
pk(x − x0)k , q(x) =
∞�
k=0
qk(x − x0)k .
x0 heißt dann schwach singulare Stelle der Dgl.
Hohere Mathematik 593
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung
Der Ansatz
y(x) = (x − x0)ρ
∞�
k=0
ak(x − x0)k , (x > x0, ρ, ak ∈ C, a0 �= 0)
mit in (x0 − r , x0 + r) konvergenter Potenzreihe f (x) =�∞
k=0 ak(x − x0)k liefertmindestens eine nicht-triviale Losung der Dgl. Der Exponent ρ erfullt dabei dieIndexgleichung
ρ(ρ− 1) + p(x0)ρ+ q(x0) = 0.
Hohere Mathematik 594
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung
Bemerkung: Falls zwei Losungen ρ1 �= ρ2 der Indexgleichung existieren, so liefertder Ansatz zwei Losungen φ1,φ2.
(a) Falls ρ1 − ρ2 �∈ Z gilt, so sind φ1,φ2 linear unabhangig, also einFundamentalsystem der Dgl.
(b) Falls ρ1 − ρ2 ∈ Z gilt, muss die lineare Unabhangigkeit gepruft werden (eskann sich bei den Darstellungen von φ1, φ2 um reine Verschiebungen desSummations-Index der Potenzreihe handeln!)
Falls die Indexgleichung eine doppelte Nullstelle hat, macht man den zusatzlichenAnsatz
y2(x) = (x − x0)ρ ln(x − x0)
∞�
k=0
bk(x − x0)k .
Dies entspricht dem Auffinden einer zweiten Losung durch das d’AlembertscheReduktionsverfahren.
Praktische Vorgehensweise: Man findet ρ1, ρ2 aus der Indexgleichung, macht denobigen Ansatz und findet die Koeffizienten der Potenzreihe durch Einsetzen in dieDgl.
Hohere Mathematik 595
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung
Wichtige Potenzreihen (mit a−1 := a−2 := 0)
y =∞�
n=0
anxn+ρ y � =
∞�
n=0
(n + ρ+ 1)an+1xn+ρ + ρa0x
ρ−1
xy =∞�
n=0
an−1xn+ρ xy � =
∞�
n=0
(n + ρ)anxn+ρ
x2y =∞�
n=0
an−2xn+ρ x2y � =
∞�
n=0
(n + ρ− 1)an−1xn+ρ
xy �� =∞�
n=0
(n + ρ+ 1)(n + ρ)an+1xn+ρ + ρ(ρ− 1)a0x
ρ−1
x2y �� =∞�
n=0
(n + ρ)(n + ρ− 1)anxn+ρ
Hohere Mathematik 596
Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Euler-Dgl.
24.21 Euler-Dgl.: Fur die schwach singulare Dgl. mit konstanten Koeffizienten
y �� +a
xy � +
b
x2y = 0
seien ρ1, ρ2 die Losungen der Indexgleichung
ρ(ρ− 1) + aρ+ b = 0.
Dann ist ein Fundamentalsystem gegeben durch
φ1(x) = xρ1 , φ2(x) = xρ2 , falls ρ1 �= ρ2, (diese sind auch im Fallρ2 − ρ1 ∈ Z lin. unabh.)
φ1(x) = xρ1 , φ2(x) = xρ1 ln x , falls ρ1 = ρ2.
Hohere Mathematik 597
Normierte Vektorraume
25: Normierte Vektorraume
Fur eine systematische Behandlung von Grenzwert-Prozessen fur Funktionenfolgenbenotigen wir die allgemeine Definition der normierten Vektorraume und einenpassenden Abstandsbegriff.
Hierauf aufbauend behandeln wir im Weiteren
die Fourier-Reihen
die Fourier- und Laplace-Transformation
den Banachschen Fixpunktsatz und seine Anwendungen
Ein Teil der hier zusammengestellten Begriffe und Satze wurde bereits im Kapiteluber allgemeine Vektorraume definiert und bewiesen.Daher enthalt dieser Abschnitt zum Teil Wiederholungen.Wieder werden Vektoren ohne Pfeil geschrieben.
Hohere Mathematik 598
Normierte Vektorraume Wiederholung: Norm, normierter Raum
Wir wollen
weitere Normen auf dem Rn und C
n
Normen auf vielen weiteren Vektorraumen, z.B. dem Vektorraum der stetigenFunktionen C [a, b],
kennenlernen.
25.1 Wiederholung: Norm, normierter Raum
Es sei V ein reeller oder komplexer Vektorraum. Eine Norm auf V ist eineAbbildung � · � : V → R mit folgenden Eigenschaften:
(i) Definitheit: �v� ≥ 0 fur alle v ∈ V , und (�v� = 0 ⇐⇒ v = 0),
(ii) pos. Homogenitat: �αv� = |α| �v� fur alle α ∈ R bzw. C und v ∈ V ,
(iii) Dreiecksungleichung: �v + w� ≤ �v�+ �w� fur alle v ,w ∈ V .
Ein Vektorraum V mit einer Norm � · � heißt ein normierter Raum.
Hohere Mathematik 599
Normierte Vektorraume Wiederholung: Norm, normierter Raum
Bemerkungen: Die Norm liefert einen Abstands-Begriff:
�v� ist der Abstand des Vektors v vom Nullpunkt 0 ∈ V .
�v − w� ist der Abstand der beiden Vektoren v und w
Genau wie es in 1.22(f) fur den Betrag gemacht wurde, beweist man die zweiteDreiecksungleichung: In jedem normierten Raum gilt die Ungleichung
�v − w� ≥ | �v� − �w� |.
Hohere Mathematik 600
Normierte Vektorraume Beispiele von Normen auf dem Rn und Cn
25.2 Beispiele von Normen auf dem Rn und C
n
Euklidische Norm: �x� = �x�2 :=�|x1|2 + · · ·+ |xn|2
Maximumsnorm: �x�∞ := max{|x1|, . . . , |xn|}
Betragssummennorm: �x�1 := |x1|+ · · ·+ |xn|
Allgemein: fur 1 ≤ p < ∞ die sog. p-Norm
�x�p := (|x1|p + . . .+ |xn|p)1/p .
Hohere Mathematik 601
Normierte Vektorraume Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung
Zum Beweis der Dreiecksungleichung fur die p-Normen benotigt man dieHolder-Ungleichung.
25.3 Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung
Wir definieren
zu 1 < p < ∞ den konjugierten Index q = p
p−1 (also ist 1 < q < ∞ und1p+ 1
q= 1),
zu p = 1 den konjugierten Index q = ∞ und zu p = ∞ den konjugiertenIndex q = 1.
Dann gilt fur beliebige Vektoren x , y ∈ Rn die Ungleichung
�����
n�
k=1
xkyk
����� ≤ �x�p �y�q.
Daraus folgt die Dreiecksungleichung, die hier Minkowski-Ungleichung heißt:
�x + y�p ≤ �x�p + �y�p
Hohere Mathematik 602
Normierte Vektorraume Weitere Beispiele von Normen
25.4 Weitere Beispiele von NormenDer Vektorraum aller stetigen Funktionen auf dem abgeschlossenen undbeschrankten Intervall I = [a, b] wurde mit C [a, b] bezeichnet . Wir definierenverschiedene Normen auf diesem Vektorraum:
Maximumsnorm: �f �∞ := max{|f (x)| | x ∈ [a, b]}.
fur 1 ≤ p < ∞ die Lp-Norm:
�f �p :=
��b
a
|f (x)|p dx
�1/p
.
Hohere Mathematik 603
Normierte Vektorraume Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung auf C [a, b]
Mit den Rechenregeln und dem 2. Integral-Mittelwertsatz folgt�����
�b
a
f (x)g(x) dx
����� ≤�
b
a
|f (x)| |g(x)| dx = |f (ξ)|�
b
a
|g(x)| dx ≤ �f �∞ �g�1.
Dies ist eine Version der Holder-Ungleichung fur Integrale. Allgemein:
25.5 Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung auf C [a, b]
Zu 1 ≤ p ≤ ∞ sei q der konjugierte Index wie in 25.3. Dann gilt fur stetigeFunktionen f , g ∈ C [a, b]
�����
�b
a
f (x)g(x) dx
����� ≤ �f �p �g�q.
Weiter gilt �f + g�p ≤ �f �p + �g�p
Hohere Mathematik 604
Normierte Vektorraume Konvergenz von Folgen und Reihen
Nach den Uberlegungen zur Geometrie normierter Raume kommen wir noch zurTopologie dieser Raume: Die Norm beinhaltet den Abstandsbegriff und ermoglichtdie Einfuhrung der Begriffe der Analysis wie im R
n:
25.6 Konvergenz von Folgen und Reihen
Eine Folge (vk)k∈N von Elementen vk des normierten Raumes V heißt konvergentgegen v ∈ V , wenn gilt
limk→∞
�v − vk� = 0.
Eine Reihe∞�
k=1
vk mit Summanden vk ∈ V heißt konvergent gegen w ∈ V , wenn
gilt
limN→∞
�����w −N�
k=1
vk
����� = 0.
Eine Teilmenge W eines normierten Raumes V heißt dicht, wenn es zu jedem
ε > 0 und jedem v ∈ V ein w ∈ W gibt mit �v − w� < ε.
Hohere Mathematik 605
Normierte Vektorraume Aquivalente Normen
Bemerkung: 25.7 Aquivalente Normen
(a) Alle Normen auf dem Rn sind aquivalent: Die Konvergenz limk→∞ vk = v
bzgl. einer Norm (z.B. der Maximums-Norm) zieht sofort die Konvergenzbezuglich aller anderen Normen nach sich:
limk→∞
�v − vk�p = 0 fur alle 1 ≤ p ≤ ∞.
Dies folgt aus den Ungleichungen
�x�∞ ≤ �x�p ≤ n1/p�x�∞.
Hohere Mathematik 606
Normierte Vektorraume Aquivalente Normen
(b) Die Lp-Normen auf C [a, b] sind nicht aquivalent.
Die Maximumsnorm (p = ∞) fuhrt auf den Konvergenzbegriff dergleichmaßigen Konvergenz:
limk→∞
fk = f ⇐⇒ limk→∞
�maxx∈[a,b]
|fk(x)− f (x)|�
= 0.
Die L2-Norm auf C [a, b] fuhrt auf die Konvergenz im quadratischen Mittel:
limk→∞
fk = f ⇐⇒ limk→∞
��b
a
|fk(x)− f (x)|2 dx�
= 0.
Es gibt keine Norm auf C [a, b], die die punktweise Konvergenz induziert.
Hohere Mathematik 607
Normierte Vektorraume Cauchy-Folge, vollstandig, Banachraum
Wie beim Ubergang von den rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen gibt es auchbei normierten Raumen den Begriff der Vollstandigkeit:
25.8 Cauchy-Folge, vollstandig, Banachraum
Eine Folge (vk)k∈N von Elementen vk des normierten Raumes V heißtCauchy-Folge, wenn gilt
limk,�→∞
�vk − v�� = 0.
Ein normierter Raum V heißt vollstandiger Raum oder Banachraum, wennjede Cauchy-Folge einen Grenzwert v ∈ V besitzt.
Ein Skalarproduktraum (siehe 25.10) V heißt vollstandiger Raum oderHilbertraum, wenn jede Cauchy-Folge einen Grenzwert v ∈ V besitzt.
Hohere Mathematik 608
Normierte Vektorraume Beispiele
25.9 Beispiele
(a) Rn ist mit jeder p-Norm ein Banachraum, und mit der Euklidischen Norm (p = 2)
sogar ein Hilbertraum.
(b) C [a, b] ist mit der Maximumsnorm ein Banachraum.
(c) C [a, b] versehen mit der L2-Norm ist nicht
vollstandig. Ein Beispiel einer Cauchy-Folgein C [−1, 1] ohne einen Grenzwert in C [−1, 1]ist
fk(x) =
−1 x ≤ − 1k
kx − 1k≤ x ≤ 1
k
1 x ≥ 1k
, k = 1, 2, . . .
Man erkennt, dass �fn− fm�22 ≤ 2max{ 1n, 1m}
ist. Eine stetige Grenzfunktion musste furx > 0 den Wert 1 und fur x < 0 den Wert−1 haben.
1n
fnfm
y
x
1
−1
Hohere Mathematik 609
Normierte Vektorraume Skalarprodukt und Norm
Eine besonders wichtige Rolle spielen Skalarproduktraume.
25.10 Skalarprodukt und Norm
Wie in 6.4 definieren wir: Ein Skalarprodukt auf einem Vektorraum V ist eineAbbildung (v ,w) −→< v ,w > von V × V in die reellen oder komplexenZahlen, die definit, symmetrisch, linear in der ersten und antilinear in derzweiten Komponente ist.
Wie in 6.7 bewiesen wurde, induziert das Skalarprodukt eine Norm durch
�v� =√< v , v >
Jeder Skalarprodukt-Raum ist also auch ein normierter Raum. DieUmkehrung gilt i.a. nicht.
Es gilt die Cauchy-Schwarz Ungleichung
|�v ,w�| ≤��v , v� �w ,w� = �v� �w�
Hohere Mathematik 610
Normierte Vektorraume Parallelogramm-Identitat und Winkel
25.11 Parallelogramm-Identitat und Winkel
(i) In einem Skalarproduktraum V gilt die Identitat
�v + w�2 + �v − w�2 = 2(�v�2 + �w�2). (∗)
(ii) Umgekehrt: Falls in einem normierten Raum V die Parallelogramm-Identitat (∗)gilt, so ist durch
�v ,w� := 14
��v + w�2 − �v − w�2
�
bzw. im komplexen Fall
�v ,w� := 14
��v + w�2 − �v − w�2 + i�v − iw�2 − i�v + iw�2
�
ein Skalarprodukt definiert, das diese Norm induziert.
(iii) In reellen Raumen ist durch
cos(α) =�v ,w�
�v� �w�
der Winkel α = ∠(v ,w) im Intervall 0 ≤ α ≤ π festgelegt.
Hohere Mathematik 611
Normierte Vektorraume Beispiel: die 2-Norm auf C([a, b])
25.12 Beispiel: die 2-Norm auf C ([a, b]) Der Vektorraum C [a, b] mit demSkalarprodukt
�f , g� =�
b
a
f (x)g(x) dx , f , g ∈ C [a, b]
ist ein Skalarproduktraum . Die induzierte Norm ist die L2-Norm in 21.6
�f �2 =��f , f � =
��b
a
|f (x)|2 dx�1/2
.
Die Cauchy-Schwarz Ungleichung heißt hier
�����
�b
a
f (x)g(x) dx
����� ≤��
b
a
|f (x)|2 dx�1/2 ��
b
a
|g(x)|2 dx�1/2
.
Dies ist ein Spezialfall (mit p = q = 2) der Holder-Ungleichung.
Hohere Mathematik 612
Normierte Vektorraume Orthonormal-System
Wieder gilt: v ,w ∈ V heißen orthogonal, wenn �v ,w� = 0 gilt.Ein normierter Raum heißt separabel, wenn es eine abzahlbare dichte Menge gibt.Wir betrachten hier nur separable Hilbertraume.
25.13 Orthonormal-System
Die Vektoren v1, v2, . . . im Skalarproduktraum V bilden einOrthonormal-System (ONS), wenn gilt
�vj , vk� =�0 fur j �= k
1 fur j = k
Das ONS heißt vollstandig, wenn aus < w , vj >= 0 fur alle j schon w = 0folgt.
Zur Konstruktion von ONS kann (auch fur unendlich viele Vektoren) dasGram-Schmidt-Verfahren (siehe 6.19) verwendet werden.
Hohere Mathematik 613
Normierte Vektorraume Satz des Pythagoras und Besselsche Ungleichung
25.14 Satz des Pythagoras und Besselsche Ungleichung
Falls die Vektoren v1, v2, . . . , vN im Skalarproduktraum V einOrthonormal-System bilden, so gilt der Satz des Pythagoras
�����
N�
k=1
ckvk
�����
2
=N�
k=1
|ck |2 (ck ∈ R beliebig)
und die Besselsche Ungleichung
N�
k=1
|�w , vk�|2 ≤ �w�2 (w ∈ V beliebig).
Hohere Mathematik 614
Normierte Vektorraume Orthonormalbasen und Parseval-Identitat
Orthonormalsysteme in Hilbertraumen haben fast dieselben Eigenschaften wie inendlichdimensionalen Raume:
25.15 Orthonormalbasen und Parseval-Identitat
Sei v1, v2, . . . ein vollstandiges ONS in einem Hilbertraum V . dann gilt:
v1, v2, . . . ist eine Orthonormalbasis (ONB): es gilt fur jeden Vektor w ∈ V :
w =∞�
k=1
< w , vk > vk
Es gilt die Parsevalsche Identitat
∞�
k=1
|�w , vk�|2 = �w�2
Hohere Mathematik 615
Normierte Vektorraume Orthogonalprojektion
Orthonormalsysteme dienen zur Projektion auf den Teilraum
Z = span(v1, . . . , vN).
25.16 Orthogonalprojektion
Die Vektoren v1, v2, . . . , vN seien ein Orthonormalsystem in V . Mit Z sei der obigeTeilraum bezeichnet.Zu beliebigem w ∈ V ist der Vektor
P(w) :=N�
k=1
�w , vk� vk
die Orthogonal-Projektion von w auf den Teilraum Z , d.h.
�w − P(w), z� = 0 fur alle z ∈ Z .
Hohere Mathematik 616
Normierte Vektorraume Orthogonalprojektion
(Forts.)
Weiterhin gelten die Identitaten
�w�2 = �w − P(w)�2 + �P(w)�2, (i)
und�w − z�2 = �w − P(w)�2 + �P(w)− z�2 fur alle z ∈ Z , (ii)
also ist die Orthogonal-Projektion P(w) ∈ Z der eindeutig bestimmte Vektor imTeilraum Z mit minimalem Abstand vom Vektor w .
Bemerkung: Man sieht an der expliziten Form in diesem Satz, dass dieOrthogonalprojektion ein linearer Operator ist, dass also
P(αw1 + βw2) = αP(w1) + βP(w2)
gilt.
Hohere Mathematik 617
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Einleitung
26: Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung
Die Fourier-Entwicklung ist eines der wichtigsten mathematischen Werkzeuge infast allen technischen Bereichen. Sie wurde vom franzosischen Mathematiker undPhysiker Jean Baptiste Joseph Fourier (geb. 21. Marz 1768 bei Auxerre; gest. 16.Mai 1830 in Paris) eingefuhrt. Auf ihn geht die Theorie der Warmeleitung zuruck.
26.1 Einleitung Fourier stellte fest, dass man durch die “unendliche” Linearkombinationen derFunktionen
1, sin x , cos x , sin 2x , cos 2x , . . . ,
also durch die nach ihm benannten Fourier-Reihen
a0
2+
∞�
k=1
(ak cos kt + bk sin kt)
(fast) jede periodische Funktion mit der Periodenlange T = 2π “erhalt”. Durch Wahl derKoeffizienten ak und bk gelang es ihm, einige Differentialgleichungen fur periodische Funktionenzu losen.Fourier gab damit einen wesentlichen Impuls fur die Untersuchung der Konvergenz von Reihen.Die heute klar formulierten Begriffe wie “punktweise Konvergenz” bzw. “gleichmaßigeKonvergenz” von Funktionenreihen waren zu seiner Zeit noch unbekannt; durch die fehlendePrazisierung erschienen unendliche Reihen noch als “mysterios”.
Hohere Mathematik 618
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])
Eigentlich reicht hier eine Untersuchung reellwertiger Funktionen. Durch dieBenutzung komplexwertiger Funktionen werden allerding die Beweise sehrvereinfacht.
Der “richtige” Skalarproduktraum fur die Fourier-Analyse:
26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])
Eine Funktion f : [0,T ] → C heißt quadrat-integrierbar, wenn das Integral
�T
0|f (t)|2 dt
existiert.
Eine Teilmenge M ⊂ R heißt Nullmenge, wenn es zu jedem ε > 0 IntervalleI1, I2, u.s.w. gibt, so dass gilt
(a) M ⊂∞�
k=1
Ik und dabei ist (b)∞�
k=1
|Ik | < ε
Hohere Mathematik 619
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])
26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])(Fortsetzung)
Zwei quadrat-integrierbare Funktionen f und g werden als gleich angesehen(d.h. miteinander “identifiziert”), wenn
�T
0|f (t)− g(t)|2 dt = 0
gilt. (D.h. die Funktion f steht als Reprasentant einer ganzenAquivalenzklasse von Funktionen.)Dies ist genau dann der Fall, wenn sich die Funktionen nur auf einerNullmenge voneinander unterscheiden. Schreibweise:
f = g f. u. (in englischsprachigen Texten a.e.)
Mit L2([0,T ]) bezeichnen wir den Vektorraum aller quadrat-integrierbarenFunktionen f : [0,T ] → R (unter Berucksichtigung der Identifikation“gleicher” Funktionen).
Hohere Mathematik 620
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])
26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])(Fortsetzung)
Das Skalarprodukt auf L2([0,T ]) ist
�f , g� =�
T
0f (t)g(t) dt,
und die zugehorige Norm ist die L2-Norm
�f �2 :=��
T
0|f (t)|2 dt
�1/2
.
Hohere Mathematik 621
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Periodische Funktionen und Fortsetzung
26.3 Periodische Funktionen und Fortsetzung
(a) Eine Funktion f : R → C ist periodisch mit der Periode T , wenn stetsf (t) = f (t + T ) gilt.
(b) Induktiv folgt dann f (t) = f (t + kT ) fur jedes k ∈ Z.
(c) Ist f uber das Intervall [0,T ] integrierbar, so ist fur jedes t0 ∈ R:�T
0
f (t) dt =
�t0+T
t0
f (t) dt.
(d) Die (Standard-)Periodisierung einer Funktion f : [0,T ] → C ist gegeben durch dieFunktion f : R → C mit
f (t) = f (t − kT ) fur t ∈ [kT , (k + 1)T ) und k ∈ Z.
(e) Die ungerade periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T/2] → C erhalt man,indem man f auf das Intervall (−T/2, 0) durch die Festlegung
f (t) = −f (−t), t ∈ (−T/2, 0),
fortsetzt und anschließend wie in (d) periodisiert.
Hohere Mathematik 622
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Periodische Funktionen und Fortsetzung
26.3 Periodische Funktionen und Fortsetzung(Fortsetzung)
(f) Die gerade periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T/2] → C erhaltman, indem man f auf das Intervall (−T/2, 0) durch die Festlegung
f (t) = f (−t), t ∈ (−T/2, 0),
fortsetzt und anschließend wie in (d) periodisiert.
Bemerkung:
(a) Bei der ungeraden Fortsetzung muss man ggf. f (0) := 0 setzen.
(b) Selbst wenn f : [0,T ] → R stetig ist, kann die periodische Fortsetzung in (a) an denStellen kT mit k ∈ Z unstetig sein. (Ebenso fur die Falle (e) und (f) und die Stellen kT
sowie (k + 1/2)T .)
Hohere Mathematik 623
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung ONS in L2([0, T ])
Wir geben 3 verschiedene Orthonormalsysteme zur Periodenlange T > 0 an.
26.4 ONS in L2([0,T ])
Zur Periodenlange T > 0 definieren wir die Grundfrequenz ω = 2πT.
(a) Fur L2([0,T ]) definieren wir das ONS
φ0(t) =
�1
T, φ2k−1(t) =
�2
Tsin (kωt)
φ2k(t) =
�2
Tcos (kωt) , k = 1, 2, 3, . . . .
(b) Fur L2([0,T/2]) definieren wir das ONS
φk (t) =
�4
Tsin (kωt) , k = 1, 2, 3, . . .
(bezogen auf die ungerade periodische Fortsetzung) und als Alternative
φ0(t) =
�2
T, φk (t) =
�4
Tcos (kωt) , k = 1, 2, 3, . . .
(bezogen auf die gerade periodische Fortsetzung).
Hohere Mathematik 624
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung ONS in L2([0, T ])
26.4 ONS in L2([0,T ])(Fortsetzung)
(c) Das in (a) angegebene System φ0,φ1, . . . ist ein ONS bzgl. des Skalarprodukts
�f , g� =�
T
0f (t)g(t) dt
(d) Beide in (b) angegebenen Systeme sind ONS bzgl. des Skalarprodukts
�f , g� =�
T/2
0f (t)g(t) dt
(e) Schrankt man sich auf reelle Koeffizienten ein, ist jedes der angegebenenSysteme ein ONS auf dem entsprechenden Teilraum der reellwertigenFunktionen.
Hohere Mathematik 625
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Definition der Fourier-Analyse
Die allgemeine Aussage zur Orthogonalprojektion in Satz 25.16 liefert dieGrundlage der Fourier-Analyse.Die Konstanten in den Funktionen werden dabei in die Koeffizienten gezogen.
26.5 Definition der Fourier-Analyse
Wir wahlen das ONS in 26.4(a) auf L2([0,T ]). Zur Funktion f ∈ L2([0,T ]) undder Grundfrequenz ω = 2π
Tdefinieren wir die Fourier-Koeffizienten
a0 =2√T�f ,φ0� =
2
T
�T
0f (t) dt,
ak =
�2
T�f ,φ2k� =
2
T
�T
0f (t) cos(kωt) dt,
bk =
�2
T�f ,φ2k−1� =
2
T
�T
0f (t) sin(kωt) dt,
k = 1, 2, 3, . . .
Hohere Mathematik 626
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Definition der Fourier-Analyse
26.5 Definition der Fourier-Analyse (Fortsetzung)
Die Orthogonalprojektion
SN [f ](t) =2N�
k=0
�f ,φk�φk =a02
+N�
k=1
(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))
=N�
k=−N
ckeiωkt
heißt die Fourier-Partialsumme von f , und die Reihe
∞�
k=0
�f ,φk�φk =a02
+∞�
k=1
(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))
=∞�
k=−∞cke
iωkt
heißt die Fourierreihe von f .
Hohere Mathematik 627
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Komplexe Fourierreihe
26.6 Komplexe Fourierreihe
Die komplexen Fourierkoeffizienten von f : [0,T ] → R sind fur k ∈ Z definiertdurch
ck(f ) =1
T
�T
0f (t)e−ikωt dt.
Die komplexe Fourierreihe von f lautet
f ∼∞�
k=−∞ck(f )e
ikωt .
Zu den Koeffizienten ak und bk in 26.5 bestehen die Beziehungen
a0 = 2c0, ak = ck + c−k , bk = i(ck − c−k), k ∈ N,
und umgekehrt
c0 =a02, ck =
1
2(ak − ibk), c−k =
1
2(ak + ibk), k ∈ N.
Hohere Mathematik 628
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Komplexe Fourierreihe
Falls f reellwertig ist, so gilt
c−k = ck fur alle k ∈ N.
Daraus ergeben sich die reellen Fourierkoeffizienten
ak = 2Re ck , bk = −2Im ck , k ∈ N.
Hohere Mathematik 629
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse
26.7 Hauptsatz der Fourier-Analyse
Es sei f ∈ L2([0,T ]). Dann gilt die Konvergenz im quadratischen Mittel
limN→∞
�f − SN [f ]�22 = limN→∞
�T
0|f (t)− SN [f ](t)|2 dt = 0
sowie die Parseval-Identitat
�f �22 =T
4a20 +
T
2
∞�
k=1
(a2k+ b2
k) = T
∞�
k=−∞|ck |2.
Hohere Mathematik 630
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse
BILDER von S0, S1, S10, S20, S50, S100 fur f (t) = t auf [0, 1], gezeichnet wird die periodischeFortsetzung auf das Intervall [0, 3].
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S0
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S1
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S10
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S20
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S50
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5
0
0.5
1
1.5
Fourier−Partialsumme S100
Hier liegt tatsachlich die Approximation im quadratischen Mittel vor! Weiter erkenntman das Gibb’sche Phanomen (Uberschwingen um 9% der Spunghohe oben und unten)
Hohere Mathematik 631
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse
BILDER von S0, S1, S10, S20, S50, S100 fur g(t) = 1− |t| auf [−1, 1], gezeichnet wird dieperiodische Fortsetzung auf das Intervall [−1, 3].
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
1.2
Fourier−Partialsumme S0
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
1.2
Fourier−Partialsumme S1
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
1.2
Fourier−Partialsumme S10
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
Fourier−Partialsumme S20
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
Fourier−Partialsumme S50
−1 0 1 2 3−0.2
0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
Fourier−Partialsumme S100
Hier liegt sogar die gleichmaßige Konvergenz der Fourierreihe gegen g vor.
Hohere Mathematik 632
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse
1. Beweisteil des Hauptsatzes 26.7:Die Funktion SN [f ] ist die Orthogonal-Projektion von f auf den Teilraum, der von denFunktionen φj in 26.4(a), j = 0, 1, 2, . . . , aufgespannt wird. Denn:
a02 = �f ,φ0� φ0,
ak cos(kωt) = �f ,φ2k � φ2k ,bk sin(kωt) = �f ,φ2k−1� φ2k−1, k = 1, 2, . . . .
Mit der Besselschen Ungleichung 25.14 folgt
�f �22 ≥ �SN [f ]�22 =T
4a20 +
T
2
N�
k=1
(a2k+ b
2k).
Die Identitat im Satz uber Orthogonalprojektionen 25.16(i) ergibt
�f − SN [f ]�22 = �f �22 − �SN [f ]�22 = �f �22 −�T
4a20 +
T
2
N�
k=1
(a2k+ b
2k)
�.
Dies zeigt, dass die Konvergenz limN→∞ �f − SN [f ]�22 = 0 aquivalent ist zur Parseval-Identitatin 26.7.
Hohere Mathematik 633
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Vollstandigkeit des Orthonormal-Systems 26.4(a)
2. Beweisteil des Hauptsatzes 26.7:Es bleibt die Frage zu beantworten, ob es eine quadrat-integrierbare Funktion f gibt, die einenpositiven Abstand zu dem Teilraum besitzt, der von den Funktionen φj in 26.4(a),j = 0, 1, 2, . . . , aufgespannt wird. Das folgende Resultat verneint diese Frage.
26.8 Vollstandigkeit des Orthonormal-Systems 26.4(a)
Die Funktion f : [0,T ] → R sei quadrat-integrierbar und es gelte
�f ,φj � = 0
fur alle trigonometrischen Funktionen φj in 26.4(a). Dann gilt f ≡ 0.
Bemerkung; Fur quadrat-integrierbare Funktionen gilt
f = limN→∞
SN [f ]
im Sinne der Konvergenz in der L2-Norm (“im quadratischen Mittel”). Man schreibt oft
f (t) =a0
2+
∞�
k=1
�ak cos
2kπt
T+ bk sin
2kπt
T
�,
obwohl diese Identitat nicht immer fur alle t ∈ R erfullt ist.
Hohere Mathematik 634
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Erganzung: gerade und ungerade periodische Fortsetzung
26.9 Erganzung: gerade und ungerade periodische FortsetzungBisher wurde die periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T ] → R betrachtet. InAnwendungen bevorzugt man manchmal die geraden und ungeraden periodischen Fortsetzungenin 26.3. Die Grundfrequenz ist wieder ω = 2π
T.
Die Funktion f : [0,T/2] → R sei quadrat-integrierbar. Dann besitzt die ungeradeperiodische Fortsetzung die Fourierreihe (auch Sinus-Reihe genannt)
f (t) =∞�
k=1
bk sin(kωt)
mit den Fourier-Koeffizienten
bk =4
T
�T/2
0f (t) sin(kωt) dt.
Die Funktion f : [0,T/2] → R sei quadrat-integrierbar. Dann besitzt die gerade periodischeFortsetzung die Fourierreihe (auch Cosinus-Reihe genannt)
f (t) =a0
2+
∞�
k=1
ak cos(kωt)
mit den Fourier-Koeffizienten
ak =4
T
�T/2
0f (t) cos(kωt) dt.
Hohere Mathematik 635
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Punktweise Konvergenz der Fourierreihe
Wie steht es um punktweise und gleichmaßige Konvergenz der Fourierreihe?
26.10 Punktweise Konvergenz der Fourierreihe
Die Funktion f : [0,T ] → R sei stuckweise stetig differenzierbar, d.h. es gibt eineUnterteilung 0 = t0 < t1 < · · · < tr = T des Intervalls [0,T ], so dass f auf jedemTeilintervall [tk , tk+1] stetig und stetig differenzierbar ist (mit einseitigenGrenzwerten der Funktion und der Ableitung am Rand).
Dann konvergiert die Fourier-Reihe von f an jeder Stelle t ∈ [0,T ], der Grenzwertist der Mittelwert des links- und rechtsseitigen Grenzwerts von f an dieser Stelle,d.h.
limN→∞
SN [f ](t) =1
2
�lim
h→0+f (t + h) + lim
h→0+f (t − h)
�.
Bei t = 0 oder T ist hierbei der Grenzwert der periodischen Fortsetzung von f zubilden.
Hohere Mathematik 636
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Punktweise Konvergenz der Fourierreihe
Wichtiger Spezialfall: Wenn f stuckweise stetig differenzierbar ist und dieperiodische Fortsetzung von f an der Stelle t stetig ist, dann gilt
limN→∞
SN [f ](t) = f (t).
Die Stetigkeit von f reicht nicht aus, damit die Fourierreihe konvergiert: Es gibtstetige Funktionen, deren Fourierreihe an vielen Stellen gar nicht konvergiert(sogar an uberabzahlbar vielen Stellen!).
Die Zusatzvoraussetzung, dass f stuckweise stetig differenzierbar ist, ist wesentlichfur die Konvergenz der Fourierreihe.
Hohere Mathematik 637
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Rechenregeln fur Fourierreihen
26.11 Rechenregeln fur Fourierreihen
Fourierreihen konnen gliedweise differenziert und integriert werden: Sei T > 0 diePeriodenlange und ω = 2π
Tdie Grundfrequenz. Dann gilt fur f : [0,T ] → R mit der
Fourierreihe
f ∼ a0
2+
∞�
k=1
(ak cos(kωt) + bk sin(kωt)) :
(i) falls a0 = 0 gilt, sind durch
F (t) = C +∞�
k=1
�ak
kωsin(kωt)− bk
kωcos(kωt)
�
mit C ∈ R alle Stammfunktionen von f gegeben.
(ii) falls die periodische Fortsetzung von f stetig ist und f stuckweise stetigdifferenzierbar ist, so besitzt die stuckweise gebildete Ableitung f
� die Fourierreihe
f� ∼
∞�
k=1
(−kωak sin(kωt) + kωbk cos(kωt)) .
Entsprechendes gilt fur die komplexe Form.
Hohere Mathematik 638
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Abnahme-Geschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten
Die Geschwindigkeit der Konvergenz der Fourierreihe hangt davon ab, wie schnellder Betrag der Fourier-Koeffizienten abnimmt. Es besteht ein direkterZusammenhang zu der “Glattheit” der Funktion selbst.
26.12 Abnahme-Geschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten
Es sei r ∈ N0. Die periodische Fortsetzung von f : [0,T ] → C sei r -mal stetigdifferenzierbar.
(i) Falls die r -te Ableitung noch stuckweise stetig differenzierbar ist, erfullen dieFourier-Koeffizienten von f
limk→∞
k r+1ak = 0, limk→∞
k r+1bk = 0.
(ii) Falls die r -te Ableitung sogar zweimal stuckweise stetig differenzierbar ist,erfullen die Fourier-Koeffizienten von f
|ak | ≤C
k r+2, |bk | ≤
C
k r+2
Bemerkung: Anhand vom Beispiel zu f (t) = 1− |t| (mit r = 0) erkennt man, dassdie Abnahme-Geschwindigkeit in (ii) nicht verbessert werden kann.Hohere Mathematik 639
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Fourier-Analyse in den Anwendungen: lineare zeitinvariante Filter
26.13 Fourier-Analyse in den Anwendungen: lineare zeitinvariante Filter
Wir betrachten analoge periodische Signale der festen Periodenlange T > 0.Sendet man ein Signal f : R → R durch einen Ubertragungs-Kanal, so entstehenTransformationen des Signals. Ein einfaches Modell fur das empfangene Signal hwird durch lineare zeitinvariante Filter ausgedruckt:
h(t) = (f ∗ g)(t) =�
T
0f (s)g(t − s) ds.
Hierbei stellt die Funktion g : R → R (ebenfalls periodisch mit der gleichenPeriodenlange T ) die Wirkung des Kanals auf ein beliebiges Eingangssignal f dar(g ist die “Impuls-Antwort” des Kanals). In der Mathematik spricht man von der“Faltung” der Funktion f mit der Funktion g .
Aufschluss uber die Wirkung des Kanals ergeben die Fourierkoeffizienten von g .
Hohere Mathematik 640
Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Faltungssatz
26.14 Faltungssatz
f , g : R → C seien periodische Funktionen der Periodenlange T . Beide seienquadrat-integrierbar uber [0,T ]. Dann ist die Faltung
h = f ∗ g , h(t) =
�T
0f (s)g(t − s) ds, t ∈ R,
ebenfalls periodisch zur Periodenlange T .h ist stetig, und seine Fourierkoeffizienten sind
ck(f ∗ g) = T · ck(f ) · ck(g).
Fur die reellen Fourierkoeffizienten bedeutet das
a0(h) =T
2a0(f )a0(g)
ak(h) =T
2(ak(f )ak(g)− bk(f )bk(g))
bk(h) =T
2(ak(f )bk(g) + bk(f )ak(g)) .
Hohere Mathematik 641
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Lineares Randwertproblem 2. Ordnung
27: Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen
27.1 Definition: Lineares Randwertproblem 2. Ordnung
Ein lineares Randwertproblem (RWP) 2. Ordnung besteht aus einer linearenDifferentialgleichung 2. Ordnung
y�� + p(x)y � + q(x)y = g(x), x ∈ [a, b],
mit stetigen Funktionen p, q, g : [a, b] → R sowie den Randbedingungen
Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = A, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = B,
mit reellen Koeffizienten α,β, γ, δ und vorgegebenen reellen Randwerten A,B. (Hierbeiist (α,β) �= (0, 0) und (γ, δ) �= (0, 0) vorausgesetzt.)Das RWP heißt homogen, wenn sowohl die Dgl. als auch die Randbedingungen homogensind, d.h. wenn g ≡ 0 und A = B = 0 gilt.
Bemerkung: Typische Form einfacher Randbedingungen:
nur Funktionswerte am Rand: y(a) = A, y(b) = B, oder
nur Ableitungswerte am Rand: y �(a) = A, y�(b) = B
Die Definition enthalt eine allgemeinere Form, in der Funktions- und Ableitungswerte gemischtauftreten.Hohere Mathematik 642
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eindeutigkeit der Losung
27.2 Eindeutigkeit der Losung
Das inhomogene RWP 27.1 ist genau dann eindeutig losbar, wenn das zugehorigehomogene RWP nur die Losung y ≡ 0 besitzt.
Dieser Fall liegt genau dann vor, wenn fur ein Fundamentalsystem ϕ1, ϕ2 derhomogenen Dgl.
y �� + p(x)y � + q(x)y = 0, x ∈ [a, b],
gilt
D := det
�Ra(ϕ1) Ra(ϕ2)Rb(ϕ1) Rb(ϕ2)
��= 0.
Die Losung wird in drei Schritten bestimmt:
1. Bestimme ein Fundamentalsystem ϕ1, ϕ2 der homogenen Dgl. (Kap. uber gew. Dgl.).
2. Bestimme eine spezielle (=partikulare) Losung yS der inhomogenen Dgl.
3. Bestimme die Konstanten c1 und c2 in
y(x) = yS (x) + c1ϕ1(x) + c2ϕ2(x)
durch Losen des linearen Gleichungssystems
Ra(y) = A, Rb(y) = B.
Hierbei tritt genau die obige Matrix auf.Hohere Mathematik 643
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Losungsstruktur von RWP
Wir betrachten nun homogene RWP’e.
27.3 Losungsstruktur von RWP
Die Menge aller Losungen des homogenen linearen RWP zweiter Ordnung ist einUntervektorraum von C 2([a, b]). Es konnen die folgenden beiden Falle auftreten:
(i) y ≡ 0 ist die einzige Losung; dies ist der in 27.2 dargestellte Fall.
(ii) Die Menge der Losungen hat die Dimension 1, d.h. die Losungen haben dieForm y(x) = cϕ(x) mit c ∈ R und einer von Null verschiedenen Losung ϕdes homogenen RWP.
Hohere Mathematik 644
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Rand-Eigenwertproblem
Homogene RWP’e mit eindimensionalen Losungsmengen sind von besondererBedeutung.
27.4 Definition: Rand-Eigenwertproblem
Ein homogenes Randwertproblem zur Dgl. 2. Ordnung
y �� + p(x)y � + q(x)y = µy , x ∈ [a, b], (mit µ ∈ C)
mit homogenen Randbedingungen
Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0
heißt Rand-Eigenwertproblem zum DifferentialoperatorL(y) = y �� + p(x)y � + q(x)y .
Wenn fur die Zahl µ eine Losung ϕ �≡ 0 des homogenen RWP existiert,so heißt µ Eigenwert und ϕ Eigenfunktion dieses Rand-Eigenwertproblems.
Bemerkung: Satz 27.3 besagt, dass alle Eigenwerte einfach sind.
Hohere Mathematik 645
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Wichtige Beispiele
27.5 Wichtige Beispiele
Wir betrachten das Randeigenwertproblem
c2y�� − µy = 0, x ∈ [0, L], (mit µ ∈ C)
mit den Randbedingungen y(0) = 0 und y(L) = 0 sind die Eigenwerte undEigenfunktionen
µk = −�kπcL
�2
und ϕk(x) = sin
�kπL
x
�, k = 1, 2, 3, . . . .
mit den Randbedingungen y�(0) = 0 und y
�(L) = 0 sind die Eigenwerte undEigenfunktionen
µk = −�kπcL
�2
und ϕk(x) = cos
�kπL
x
�, k = 0, 1, 2, . . . .
Hohere Mathematik 646
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eigenschaften der Eigenwerte und -funktionen
Die Behandlung gemischter Randbedingungen Ra(y) = αy(a) + βy �(a) (und Rb(y)
entsprechend) erfolgt erst im 4. Semester. Die folgenden Aussagen gelten jedoch auch hierfur.
27.6 Eigenschaften der Eigenwerte und -funktionen
Wir betrachten das Rand-Eigenwertproblem
c2y�� = µy , x ∈ [a, b], (mit µ ∈ C)
mit den homogenen Randbedingungen
Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0,
und (α,β) �= (0, 0) sowie (γ, δ) �= (0, 0). Dann gilt:
(i) Es gibt abzahlbar viele Eigenwerte. Alle Eigenwerte sind reell.
(ii) Die Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogonal: Sind y1 und y2
Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten µ1 �= µ2, so gilt
�b
a
y1(x)y2(x) dx = 0.
(iii) Die Eigenfunktionen bilden ein vollstandiges Orthogonalsystem im Raum L2([a, b]).
Hohere Mathematik 647
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem
Als Verallgemeinerung von c2y �� − µy = 0 tritt in Anwendungen das regulareSturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem auf.
27.7 Definition: Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem
Auf dem Intervall [a, b] seien eine stetig differenzierbare Funktion p und stetigeFunktionen q,σ gegeben. Weiterhin gelte p(x) > 0 und σ(x) > 0 fur allex ∈ [a, b]. Das Rand-Eigenwertproblem
−(p(x)y �)� + q(x)y − µσ(x)y = 0 (mit µ ∈ C)
und homogenen Randbedingungen
Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0
heißt regulares Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem.
Hohere Mathematik 648
Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eigenschaften von Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblemen
27.8 Eigenschaften von Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblemen
Das regulare Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem besitzt unendlich viele reelleEigenwerte
µ1 < µ2 < µ3 < · · · , limk→∞
µk = ∞,
mit reellen Eigenfunktionen ϕk , k = 1, 2, 3, . . ., die paarweise orthogonal sindbezuglich des Skalarprodukts
�f , g� =�
b
a
f (x)g(x) σ(x) dx .
Hohere Mathematik 649
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grundbegriffe
28: Funktionentheorie
In den folgenden Kapiteln betrachten wir Funktionen f : M → C mit M ⊆ C. Wirnennen solche Funktionen komplexe Funktionen.
28.1 Grundbegriffe
Die komplexe Zahl z = x + iy ∈ C wird durch ihren Realteil x ∈ R und ihrenImaginarteil y ∈ R definiert.
Manchmal betrachten wir Teilmengen von C auch als Teilmengen von R2:
z = x + iy ∈ C ←→ (x , y) ∈ R2.
Alternativ wird die Darstellung in Polarkoordinaten verwendet:
z = x + iy = |z |(cosφ+ i sinφ) = |z |e iφ (fur z �= 0), mit
|z | =�
x2 + y 2, φ = arg(z) =
arccos x√x2+y2
, falls y ≥ 0,
2π − arccos x√x2+y2
, falls y < 0,
den Betrag und das Argument von z bezeichnen.
(arg (z) ∈ [0, 2π) ist der Winkel, den der Vektor vom Nullpunkt zum Punkt (x , y)mit der positiven x-Achse bildet.)
Hohere Mathematik 650
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grundbegriffe
Zu z = x + iy (mit x , y ∈ R) ist
z = x − iy = |z |(cosφ− i sinφ) = |z |e−iφ
die komplex konjugierte Zahl. Es gilt |z | =√zz .
Die offene Kreisscheibe mit Mittelpunkt z0 und Radius R > 0 ist
KR(z0) = {z ∈ C | |z − z0| < R}.
Eine Menge M ⊆ C ist offen, wenn zu jedem Punkt z ∈ M eine offeneKreisscheibe um z existiert, die Teilmenge von M ist.
Eine offene Menge M ⊆ C ist zusammenhangend, wenn sie NICHT dieVereinigung von zwei nichtleeren und disjunkten offenen Teilmengen ist. Eineoffene und zusammenhangende Menge nennen wir Gebiet.(Gebiete ubernehmen die Rolle der Intervalle in R.)
Hohere Mathematik 651
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Kurven, einfach zusammenhangende Mengen
28.2 Kurven, einfach zusammenhangende Mengen
Eine Kurve in C ist eine stetige Abbildung �c : [a, b] → C (wie in Def. 20.1).Die Kurve �c heißt
geschlossen, wenn �c(a) = �c(b) gilt,doppelpunktfrei, wenn �c(t1) �= �c(t2) fur alle a < t1 < t2 < b gilt, also dieInjektivitat auf dem offenen Intervall (a, b) vorliegt,regular, wenn �c stetig differenzierbar ist und
d
dt�c(t) = �c(t) �= �0 fur alle t ∈ [a, b] gilt,
stuckweise regular, wenn �c die Aneinanderreihung endlich vieler regularerKurven ist (siehe 20.1).
Das Innere einer geschlossenen doppelpunktfreien und stuckweise regularenKurve ist das beschrankte Gebiet M, dessen Rand die Kurve ist.
Ein Gebiet M ⊆ C heißt einfach zusammenhangend, wenn das Innere jedergeschlossenen doppelpunktfreien und stuckweise regularen Kurve eineTeilmenge von M ist.
Anschaulich: M hat keine Locher.
Hohere Mathematik 652
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grenzwerte in C
28.3 Grenzwerte in C
Wir bilden Grenzwerte wie im R2: Eine Folge (zn)n→∞ konvergiert gegen
c = a+ ib ∈ C genau dann, wenn limn→∞ |zn − c | = 0 gilt. Dies ist genau dannder Fall, wenn
limn→∞
Re zn = a und limn→∞
Im zn = b
gilt.
28.4 Real- und Imaginarteil komplexer Funktionen
Die Funktion f : M → C (mit M ⊆ C) kann mit ihrem Real- und Imaginarteilgeschrieben werden:
f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y),
wobei u : M → R der Realteil und v : M → R der Imaginarteil von f ist.Beachte: Wir schreiben das Argument von u und v als Koordinaten-Paar (x , y) ∈ R
2 anstattx + iy .Eigenschaften von f lassen sich durch Eigenschaften von u und v ausdrucken.
Hohere Mathematik 653
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition und Satz: Stetigkeit
28.5 Definition und Satz: Stetigkeit
(i) Eine komplexe Funktion f : M → C heißt stetig im Punkt z0 ∈ M, wenn
limz→z0
f (z) = f (z0)
gilt. Wir sagen f ist stetig, wenn f in jedem z0 ∈ M stetig ist.
(ii) f : M → C ist genau dann stetig (im Punkt z0), wenn ihr Realteil und ihrImaginarteil (im Punkt z0) stetig sind.
Beispiele:
(a) f : C → C, f (z) = z2 ist stetig. Jedes Polynom mit reellen oder komplexen Koeffizienten
ist stetig.
(b) g : C \ {0} → C mit g(z) = 1zist stetig. Jede rationale Funktion
h : C \ {z1, . . . , zr} → C, h(z) =P(z)
Q(z),
mit Polynomen P und Q ist stetig. Hierbei bezeichnen z1, . . . , zr ∈ C samtliche Nullstellendes Polynoms Q.
(c) h : C → C mit h(z) = ez ist stetig.
Hohere Mathematik 654
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
28.6 Darstellung komplexer Funktionen
Zeichne die Graphen von u = Re f und v = Im f getrennt.
Haufige Alternative: zeichne zu mehreren Kurven �c1, . . . ,�cm imDefinitionsbereich M die Bildkurven f ◦ �c1, . . . , f ◦ �cm.
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) = z2
Hohere Mathematik 655
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) = z2
Hohere Mathematik 656
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) =1
z
Hohere Mathematik 657
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) = ez
Hohere Mathematik 658
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
Bilder in “Polarkoordinaten”, also den Geraden durch den Nullpunkt und Kreisenum den Nullpunkt:
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) = z2
Hohere Mathematik 659
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) =1
z
Hohere Mathematik 660
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
–3
–2
–1
0
1
2
3
–3 –2 –1 1 2 3
z f (z) = ez
Hohere Mathematik 661
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen
Bei Betrachtung der Beispiele stellt man fest:
Schneiden sich die Kurven �c1 und �c2 des Definitionsbereichs rechtwinklig im Punktz0, so schneiden sich die Bildkurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2 im Punkt f (z0) ebenfallsrechtwinklig.
Diese Eigenschaft gilt sogar fur andere Schnittwinkel α �= π/2. Wir werden spaterhierzu die Definition der konformen Abbildung angeben.
Frage: Woran erkennt man diese geometrische Eigenschaft?
Hohere Mathematik 662
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Winkel sich schneidender Kurven
28.7 Untersuchung der Winkel sich schneidender Kurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2Der Punkt z0 ∈ C sei der gemeinsame Ausgangspunkt von zwei Strecken im Gebiet M
�c1(s) = z0 + sv1, �c2(t) = z0 + tv2 mit s, t ∈ [0,R),
wobei v1, v2 ∈ C mit |v1| = |v2| = 1 die Richtung der Strecken angeben. Der “orientierteWinkel” α zwischen �c1 und �c2 ist
α = ∠(�c1,�c2) = arg(v2)− arg(v1) = arg
�v2
v1
�= arg
�tv2
sv1
�,
wobei im letzten Term s, t ∈ (0,R) beliebig gewahlt werden konnen.
Jetzt wird eine stetige komplexe Funktion f : M → C angewandt. Die Bildkurven sind
(f ◦ �c1)(s) = f (z0 + sv1), (f ◦ �c2)(t) = f (z0 + tv2) mit s, t ∈ [0,R).
Diese Kurven schneiden sich in f (z0) mit dem Winkel
β = ∠(f ◦ �c1, f ◦ �c2) = lims,t→0
arg
�f (z0 + tv2)− f (z0)
f (z0 + sv1)− f (z0)
�,
also dem Grenzwert des orientierten Winkels der Strecken von f (z0) nach f (z0 + sv1) bzw.f (z0 + tv2) (falls der Grenzwert existiert).
Hohere Mathematik 663
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Winkel sich schneidender Kurven
Beide Winkel sind genau dann gleich, wenn
0 = β − α = lims,t→0
arg
��f (z0 + tv2)− f (z0)
f (z0 + sv1)− f (z0)
���tv2
sv1
��
= limt→0
arg
�f (z0 + tv2)− f (z0)
tv2
�− lim
s→0arg
�f (z0 + sv1)− f (z0)
sv1
�.
gilt. Hier stehen zwei komplexe Differenzenquotienten. Falls beide denselben Grenzwert
0 �= c = limt→0
f (z0 + tv2)− f (z0)
tv2= lim
s→0
f (z0 + sv1)− f (z0)
sv1
haben, ergibt sich tatsachlich die Eigenschaft α = β, d.h. Strecken in M und ihreBildkurven schneiden sich mit gleichem orientierten Winkel!
Dies veranlasst uns, eine neue Form der Differenzierbarkeit fur komplexe Funktioneneinzufuhren. Obwohl die Definition gleich aussieht wie fur reelle Funktionen, haben wirsoeben eine starke geometrische Eigenschaft beschrieben, die aus der neuenDifferenzierbarkeit folgt.
Hohere Mathematik 664
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: Komplexe Differenzierbarkeit
28.8 Definition: Komplexe Differenzierbarkeit
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sowie z0 ∈ M seien gegeben.f heißt komplex differenzierbar in z0, wenn der Grenzwert
limz→z0
f (z)− f (z0)
z − z0=: f �(z0)
existiert. Die komplexe Zahl f �(z0) heißt die Ableitung von f in z0.
Falls f in jedem Punkt von M komplex differenzierbar ist, so heißt f holomorph inM.
Bemerkung: Die Holomorphie (=komplexe Differenzierbarkeit im Gebiet M) ist eine sehr starkeEigenschaft: Im nachsten Abschnitt zeigen wir, dass hieraus die Eigenschaft folgt, dass f umjeden Punkt z0 in eine Potenzreihe entwickelt werden kann. Hieraus folgt dann:
Falls f : M → C holomorph ist, so ist f unendlich oft komplex differenzierbar!
Noch einmal:
Obwohl die Definition so aussieht wie im Reellen, liegt eine viel starkere Eigenschaft dadurch vor,
dass der Grenzwert des komplexen Differenzenquotienten existiert.
Hohere Mathematik 665
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Rechenregeln fur die komplexe Ableitung
Wir benotigen keine neuen Rechenregeln!
28.9 Rechenregeln fur die komplexe Ableitung
Fur die komplexe Ableitung gelten die gleichen Rechenregeln wie im Reellen: dieSumme, die Differenz, das Produkt, der Quotient und die Verkettung von komplexdifferenzierbaren Funktionen ist wieder komplex differenzierbar, und die Ableitungwird mit den Regeln fur Summen, Differenzen bzw. mit der Produkt-, Quotienten-und Kettenregel berechnet.
Hohere Mathematik 666
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: Konforme Abbildung
Wir kommen auf die geometrische Betrachtung zuruck:
28.10 Definition: Konforme Abbildung
Der orientierte Winkel α = ∠(�c1,�c2) zwischen zwei regularen Kurven�c1,�c2 : [0, 1] → C mit gleichem Anfangspunkt z0 wird definiert als
α = arg �c2(0)− arg �c1(0).
Eine komplexe Funktion f : M → C auf einem Gebiet M heißt konform, wenndie folgenden Eigenschaften erfullt sind:(a) Fur jede regulare Kurve �c : [a, b] → M ist auch die Bildkurve f ◦ �c regular.(b) Schneiden sich zwei regulare Kurven �c1 und �c2 im Punkt z0 ∈ M mit dem
orientierten Winkel α, so schneiden sich die Bildkurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2 imPunkt f (z0) ebenfalls mit dem orientierten Winkel α, d.h. f ist winkeltreu.
Hohere Mathematik 667
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Holomorphe und konforme Funktionen
28.11 Holomorphe und konforme Funktionen:
Jede holomorphe Funktion f : M → C, die zusatzlich f �(z) �= 0 fur alle z ∈ Merfullt, ist konform.
Der Beweis wurde im Wesentlichen schon oben erbracht.
Man betrachte die Bilder zu f (z) = z2 nochmals.f ist in M = C \ {0} konform, denn f ist holomorph in M und f
�(z) �= 0 furalle z ∈ M.
Die Kurven in C, die durch den Nullpunkt z0 = 0 laufen, haben keine regularenBildkurven. Also ist f nicht in ganz C konform.
Hohere Mathematik 668
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Riemannscher Abbildungssatz
In diesem Zusammenhang sei der folgende Hauptsatz der Funktionentheorieerwahnt.
28.12 Riemannscher Abbildungssatz
M ⊂ C sei ein einfach zusammenhangendes Gebiet, und es sei M �= C. Dannexistiert eine bijektive konforme holomorphe Abbildung von M auf dieEinheitskreisscheibe
D := {z ∈ C | |z | < 1}.
Hohere Mathematik 669
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Riemannscher Abbildungssatz
Beispiel Die obere Halbebene
M = H+ = {z ∈ C | Im z > 0}
ist ein einfach zusammenhangendes Gebiet. Die Funktion f (z) = z−i
z+ibildet H+
bijektiv, holomorph und konform auf den Einheitskreis D ab.
M
f g
H+
D
Hohere Mathematik 670
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen
28.13 Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen
Auf dem Gebiet M ⊆ C sei die komplexe Funktion f : M → C,
f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y)
mit u = Re f und v = Im f definiert. Dann sind aquivalent:
(i) f ist holomorph in M.
(ii) u und v sind in M stetig partiell differenzierbar, und die partiellen Ableitungenerfullen die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen.
ux(x0, y0) = a, vx(x0, y0) = b,uy (x0, y0) = −b, vy (x0, y0) = a,
in Kurzformux = vy , uy = −vx .
In diesem Fall ist die komplexe Ableitung
f�(z) = f
�(x + iy) = ux(x , y) + ivx(x , y) = vy (x , y)− iuy (x , y).
Hohere Mathematik 671
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Erganzung zur komplexen Differenzierbarkeit in einem Punkt
Erganzung
Betrachtet man eine in z0 = x0 + iy0 komplex differenzierbare Funktion f mit f �(z0) �= 0
als f (x , y) =
�u(x , y)v(x , y)
�, so hat die Ableitungsmatrix die Form
�ux uy
vx vy
�=
�a b
−b a
�, ist also das Vielfache einer orthogonalen Matrix. Daraus folgt
noch einmal die Winkeltreue.
28.14 Erganzung zur komplexen Differenzierbarkeit in einem Punkt
Die komplexe Funktion f : M → C mit Realteil u : M → R und Imaginarteil v : M → R
ist genau dann im Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ M komplex differenzierbar, wenn u und v imPunkt (x0, y0) total differenzierbar sind und dort die Cauchy-Riemann Dgl. gelten.
28.15 Folgerung:
M ⊆ C sei ein Gebiet und die komplexe Funktion f : M → C sei holomorph in M.
(i) Falls f �(z) = 0 fur alle z ∈ M gilt, so ist f konstant.
(ii) Falls |f | eine konstante Funktion ist, so ist auch f konstant.
Hohere Mathematik 672
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Zusammenhang holomorpher Funktionen und harmonischer Funktionen
Eine viel weitreichendere Folgerung der CR-Dgl’en:
28.16 Zusammenhang holomorpher Funktionen und harmonischer Funktionen
Sowohl der Realteil als auch der Imaginarteil einer holomorphen Funktionf : M → C sind harmonisch, d.h. fur f = u + iv gilt
∆u = uxx + uyy = 0, ∆v = vxx + vyy = 0 in M.
Hohere Mathematik 673
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: konjugiert harmonische Funktionen
Ziel: Konstruktion einer holomorphen Funktion f (z) = f (x + iy), wenn z.B. nurder Realteil u(x , y) vorgegeben ist.
28.17 Definition: konjugiert harmonische Funktionen
M sei ein Gebiet im R2 (oder in C). Zwei harmonische Funktionen u, v : M → R
heißen zueinander konjugiert harmonisch, wenn sie die CR-Dgl’en erfullen.
In diesem Fall ist die komplexe Funktion f : M → C mit
f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y)
holomorph in M.
Hohere Mathematik 674
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Satz: Konstruktion einer konjugiert harmonischen Funktion
28.18 Satz: Konstruktion einer konjugiert harmonischen Funktion
M ⊆ R2 sei ein einfach-zusammenhangendes Gebiet und u : M → R sei
harmonisch. Weiter sei z0 = x0 + iy0 ∈ M.
Dann gibt es zu jedem Anfangswert A ∈ R genau eine harmonische Funktionv : M → R mit v(x0, y0) = A und so, dass u und v zueinander konjugiertharmonisch sind.
Fur jede stuckweise regulare Kurve �c : [0, b] → M mit dem Anfangspunkt�c(0) = (x0, y0) gilt
v(�c(b)) = A+
�
C
(−uy dx + ux dy).
Bemerkung:
Man beachte, dass das vektorielle Kurvenintegral in diesem Satz wegunabhangig ist. Dieserkennt man daran, dass das Vektorfeld (−uy , ux ) die Integrabilitatsbedingung erfullt:
(−uy )y = (ux )x , denn u ist harmonisch.
Der Satz besagt: Zu einer harmonischen Funktion u auf einemeinfach-zusammenhangenden Gebiet M ⊆ C lasst sich immer eine harmonische Funktion v
konstruieren, so dass f = u + iv holomorph auf M ist.
Hohere Mathematik 675
Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Folgerung
Eine einfache Folgerung aus Satz 28.18:
28.19 Folgerung
M,N ⊆ C seien einfach-zusammenhangende Gebiete. Falls f : M → N holomorphist und r : N → R harmonisch ist, so ist auch h = r ◦ f harmonisch.
Mit Hilfe dieser Tatsache und des Riemannschen Abbildungssatzes kann man kannman das Dirichlet-Problem der Potentialgleichung auf das Standardgebiet”Einheitskreis” transportieren, dort losen und die Losung auf das ursprunglicheGebiet zuruckubersetzen.
Hohere Mathematik 676
Holomorphe Funktionen: Beispiele Polynome, rationale Funktionen
29: Beispiele holomorpher Funktionen
Viele der “elementaren” Funktionen aus der Analysis lassen sich auf C erweitern.29.1 Polynome, rationale Funktionen
Jedes Polynom
P : C → C, P(z) = a0 + a1z + · · · anzn,
mit Koeffizienten a0, . . . , an ∈ C ist holomorph in ganz C.
Jede rationale Funktion
R : C \ NQ → C, R(z) =P(z)
Q(z),
wobei P und Q Polynome sind und die Menge NQ := {z1, . . . , zm} ⊂ C dieMenge aller Nullstellen von Q ist, ist holomorph in ganz C \ N.
Hohere Mathematik 677
Holomorphe Funktionen: Beispiele Polynome, rationale Funktionen
Bemerkung:
Bis auf einen konstanten Vorfaktor, sind Polynome bereits durch ihre Nullstellen (und derenVielfachheit) festgelegt:
P(z) = an
n�
k=1
(z − zk ),
falls P ein Polynom vom Grad n mit dem Hochstkoeffizienten an �= 0 ist.
Rationale Funktionen R = P
Qtreten als sog. “Filter” in der Signalverarbeitung auf. Zur
Darstellung zeichnet man haufig ein Diagramm, das nur die Nullstellen NR und diePolstellen NQ enthalt.
Hohere Mathematik 678
Holomorphe Funktionen: Beispiele Exponentialfunktion
29.2 Exponentialfunktion Die Exponentialfunktion
f : C → C, f (z) = ez =∞�
k=0
zk
k!
ist holomorph in ganz C, und es gilt
f �(z) = ez , z ∈ C.
Die angegebene Potenzreihe konvergiert fur jedes z ∈ C. Sie konvergiert sogargleichmaßig auf beschrankten Teilmengen M ⊂ C.
Real- und Imaginarteil von ez (mit z = x + iy) erhalt man aus
ez = e
x+iy = exeiy = e
x cos y + iex sin y .
Insbesondere gilt|ez | = e
x fur z = x + iy .
Die Exponentialfunktion auf C ist nicht injektiv. Vielmehr ist sie 2π-periodisch iny -Richtung:
ez+2πi = e
z fur alle z ∈ C.
Um die Umkehrfunktion ln z zu definieren, muss man die Exponentialfunktion auf einenStreifen parallel zur x-Achse einschranken, z.B.
S = R× (−π,π) ⊂ C.
Hohere Mathematik 679
Holomorphe Funktionen: Beispiele Hyperbelfunktionen
29.3 Hyperbelfunktionen Die Hyperbel-Funktionen
cosh : C → C, cosh(z) =1
2(ez + e−z) =
∞�
k=0
z2k
(2k)!,
sinh : C → C, sinh(z) =1
2(ez − e−z) =
∞�
k=0
z2k+1
(2k + 1)!,
sind holomorph in ganz C, ihre Potenzreihen konvergieren fur jedes z ∈ C. Es gilt
(cosh z)� = sinh z , (sinh z)� = cosh z .
Real- und Imaginarteil der Funktionen lassen sich leicht berechnen:
cosh(x + iy) = 12 (e
x (cos y + i sin y) + e−x (cos y − i sin y)) = cosh x cos y + i sinh x sin y ,
sinh(x + iy) = 12 (e
x (cos y + i sin y)− e−x (cos y − i sin y)) = sinh x cos y + i cosh x sin y .
Hieran erkennt mancosh
�z + i
π
2
�= i sinh z
und| cosh z| ≤ cosh x , | sinh z| ≤ cosh x fur z = x + iy .
Beide Hyperbelfunktionen sind 2π-periodisch in y -Richtung:
cosh(z + 2πi) = cosh z, sinh(z + 2πi) = sinh z fur alle z ∈ C.
Hohere Mathematik 680
Holomorphe Funktionen: Beispiele Cosinus- und Sinusfunktion
29.4 Cosinus- und Sinusfunktion Die komplexe Cosinus- und Sinusfunktion
cos : C → C, cos(z) =1
2(e iz + e−iz) =
∞�
k=0
(−1)kz2k
(2k)!,
sin : C → C, sin(z) =1
2i(e iz − e−iz) =
∞�
k=0
(−1)kz2k+1
(2k + 1)!,
sind holomorph in ganz C, ihre Potenzreihen konvergieren fur jedes z ∈ C. Es gilt
(cos z)� = − sin z , (sin z)� = cos z .
Hohere Mathematik 681
Holomorphe Funktionen: Beispiele Cosinus- und Sinusfunktion
Real- und Imaginarteil der Funktionen lassen sich ebenso berechnen:
cos(x + iy) = 12 (e
−y (cos x + i sin x) + ey (cos x − i sin x)) = cos x cosh y − i sin x sinh y ,
sin(x + iy) = 12i (e
−y (cos x + i sin x)− ey (cos x − i sin x)) = sin x cosh y + i cos x sinh y .
Hieran erkennt man, dass die aus dem Reellen bekannte Beziehung
cos�z +
π
2
�= − sin z
auch im Komplexen gultig ist. Weiterhin gilt
| cos z| ≤ cosh y , | sin z| ≤ cosh y fur z = x + iy .
Insbesondere sind cos z und sin z im Komplexen NICHT beschrankt.
Der komplexe Cosinus und Sinus ist 2π-periodisch in x-Richtung:
cos(z + 2π) = cos z, sin(z + 2π) = sin z fur alle z ∈ C.
Hohere Mathematik 682
Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion
29.5 Wurzelfunktion
Wir betrachten zunachst die Funktion f : C → C mit f (z) = z2.Fur 0 ≤ α ≤ π betrachten wir die Halbebene
Hα = {z ∈ C | z �= 0, α < arg z < α+ π}.
Die Einschrankung
f |Hα : Hα → {w ∈ C | w �= 0, argw �= 2α}
ist bijektiv. Die Bildmenge ist ganz C ohne einen Strahl Γβ ausgehend vomNullpunkt in Richtung arg z = β mit β = 2α; diesen Strahl nennt man einenVerzweigungsschnitt.
Zu jedem Schnitt Γβ kann die Umkehrfunktion gebildet werden:
g1 : C \ Γβ → Hα, g1(z) =√z .
g1 ist holomorph und definiert einen Zweig der komplexen Wurzelfunktionzum Schnitt Γβ : Mit Polarkoordinaten fur z = |z |e iφ undφ = arg z ∈ (β,β + 2π) gilt
g1(z) =√z =
�|z |e iφ/2 ∈ Hα, α = β/2.
Hohere Mathematik 683
Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion
Ein zweiter Zweig der Wurzelfunktion zum Schnitt Γβ ist die holomorpheFunktion
g2(z) =√z =
�|z |e i(φ/2+π) ∈ Hα+π.
Fur jeden Schnitt Γβ gibt es zwei Zweige g1 und g2 der Wurzelfunktion. Furalle z ∈ C \ Γβ gilt (wie im Reellen)
g �1(z) =
1
2g1(z), g �
2(z) =1
2g2(z).
Hierbei darf man nicht von dem Zweig g1 auf den anderen Zweig g2“springen”.
Hohere Mathematik 684
Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion
Skizzen: Links ist der Definitionsbereich C \ Γπ, in der Mitte steht der Zweigg1 : C \ Γπ → Hπ/2 und rechts der Zweig g2 : C \ Γπ → H−π/2 der Wurzelfunktion.
Γπ
Hohere Mathematik 685
Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung
29.6 Bemerkung Ebenso lassen sich zum Schnitt Γβ jeweils n Zweige der n-tenWurzelfunktion bestimmen: mit z = |z |e iφ und φ = arg z ∈ (β,β + 2π) ist
gk : C \ Γβ → {w ∈ C | w �= 0, (β + 2kπ)/n < argw < (β + 2(k + 1)π)/n},
gk(z) = n√z = n
�|z |e i(φ+2kπ)/n,
der k-te Zweig von n√z , 0 ≤ k ≤ n − 1. Die Bildmenge ist jeweils ein Kegel mit
Spitze in 0 und Offnungswinkel 2π/n.Die Funktionen gk sind holomorph und es gilt (wie im Reellen)
g �k(z) =
1
n(gk(z))n−1.
Hierbei darf man nicht auf einen anderen Zweig der n-ten Wurzel “springen”.
Hohere Mathematik 686
Holomorphe Funktionen: Beispiele Logarithmusfunktion
29.7 Logarithmusfunktion
Wir betrachten zunachst die Funktion f : C → C mit f (z) = ez .Fur c ∈ R definieren wir den Streifen
Sc = {z ∈ C | c < Im z < c + 2π},
also eine “Periode” der komplexen Exponentialfunktion. Die Einschrankung
f |Sc: Sc → {w ∈ C | w �= 0, argw �= c}
ist bijektiv. Die Bildmenge besitzt den Verzweigungsschnitt Γc , siehe 29.5.
Insbesondere wahlen wir den Schnitt Γπ. Die Umkehrfunktion wird mit”log z” bezeichnet:
log : C \ {z ∈ C | z = x + 0i , x ≤ 0} −→ C.
log ist holomorph und definiert einen “Zweig” der komplexenLogarithmusfunktion zum Schnitt Γπ: Mit Polarkoordinaten fur z = |z |e iφund φ = arg z ∈ (−π,π) gilt
log0(z) := log z = ln |z |+ iφ.
Hohere Mathematik 687
Holomorphe Funktionen: Beispiele Logarithmusfunktion
Weitere Zweige der Logarithmusfunktion zum gleichen Schnitt Γπ sind
logk(z) = ln |z |+ i(φ+ 2kπ), k ∈ Z.
Es gilt (wie im Reellen)
log�k(z) =
1
z, z ∈ C \ Γπ.
Bemerkung: Mit dem gleichen Verzweigungsschnitt bei arg z = π fur allebeteiligten Funktionen und bei passender Wahl der Zweige gelten die Formeln
√z = e(log z)/2, n
√z = e(log z)/n.
Es ist stets exp(log z) = z und log exp(z) = z + 2kπi mit k ∈ Z.
Hohere Mathematik 688
Holomorphe Funktionen: Beispiele Allgemeine Potenz
In Verallgemeinerung der fur reelle positive Basen gultigen Formel ab = eb ln a
definiert man
29.8 Allgemeine Potenz
Seien z ,w ∈ C mit z �= 0.Dann ist zw = exp(w log z) = exp(w(ln |z |+ i arg z + 2kπi)) mit k ∈ Z.
Fur w ∈ Z hat die allgemeine Potenz nur einen Wert.
Die Schreibweise ist mit√z = z1/2 kompatibel.
Hohere Mathematik 689
Holomorphe Funktionen: Beispiele Definition: Mobius-Transformation
Wir behandeln nun spezielle rationale Funktionen, deren Zahler und Nennerjeweils ein Polynom vom Grad 0 oder 1 ist.
29.9 Definition: Mobius-Transformation
Eine rationale Funktion
f (z) =az + b
cz + dmit a, b, c , d ∈ C, ad − bc �= 0,
heißt Mobius-Transformation.
Hohere Mathematik 690
Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation
29.10 Eigenschaften der Mobiustransformation
Die Mobius-Transformation f (x) = az+b
cz+d(mit ad − bc �= 0) ist holomorph und
konform im Definitionsbereich Mf , wobei
Mf = C \ {−d/c}, falls c �= 0 gilt,
Mf = C, falls c = 0 (und d �= 0) ist.
Die Ableitung ist
f �(z) =ad − bc
(cz + d)2�= 0 fur alle z ∈ Mf .
Der Bildbereich ist
Nf = C \ {a/c}, falls c �= 0 gilt,
Nf = C, falls c = 0 (und d �= 0) ist.
Hohere Mathematik 691
Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation
Es gilt weiterhin:
(i) Die bijektive Funktion f : Mf → Nf besitzt die Umkehrfunktion
g = f −1 : Nf → Mf , g(z) =dz − b
−cz + a,
ist also selbst wieder eine Mobius-Transformation.
(ii) Die Komposition f ◦ g von Mobius-Transformationen f (z) = az+b
cz+dund
g(z) = ez+f
gz+hlautet
f ◦ g : Mg → Nf , f ◦ g(z) = (ae + bg)z + (af + bh)
(ce + dg)z + (cf + dh),
ist also wieder eine Mobius-Transformation.
Hohere Mathematik 692
Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation
Merkregeln: Die Parameter a, b, c, d der Mobius-Transformation schreibt man in Form einer2× 2-Matrix:
f (z) =az + b
cz + d∼ Af :=
�a b
c d
�.
Die Bedingung ad − bc �= 0 bedeutet detAf �= 0.
Die Umkehrfunktion f−1 passt zur Matrix
�d −b
−c a
�= (detAf ) A
−1f
.
Die Komposition f ◦ g passt zum Matrixprodukt�ae + bg af + bh
ce + dg cf + dh
�=
�a b
c d
��e f
g h
�= Af Ag .
Daran erkennt man auch, dass f ◦ g die Zusatzbedingung erfullt:
det
�ae + bg af + bh
ce + dg cf + dh
�= detAf detAg �= 0.
Hohere Mathematik 693
Holomorphe Funktionen: Beispiele Satz: Geometrische Eigenschaft der Mobius-Transformation
29.11 Satz: Geometrische Eigenschaft der Mobius-Transformation
Fur eine beliebige Mobius-Transformation f (z) = az+b
cz+d(mit ad − bc �= 0) gilt:
Falls c = 0 ist: Die Bildmenge einer beliebigen Geraden in C ist eine Gerade,und die Bildmenge einer beliebigen Kreislinie in C ist eine Kreislinie.
Falls c �= 0 ist:Die Bildmenge einer beliebigen Geraden durch den Punkt −d/c ist eineGerade durch den Punkt a/c.
Die Bildmenge jeder anderen Geraden in C ist eine Kreislinie durch den Punkta/c.
Die Bildmenge einer beliebigen Kreislinie durch den Punkt −d/c ist eineGerade.
Die Bildmenge jeder anderen Kreislinie in C ist eine Kreislinie.
Kurz gesagt: Jede Mobius-Transformation bildet Geraden und Kreise in Geradenund Kreise ab.
Hohere Mathematik 694
Holomorphe Funktionen: Beispiele Riemannsche Zahlenkugel
29.12 Riemannsche Zahlenkugel
Wir definieren C = C ∪ {∞}.Die Riemannsche Zahlenkugel S ist eine Kugel mit Radius 1, deren Sudpol im Ursprungder komplexen Ebene liegt.Die stereographische Projektion ordnet bijektiv jeder Zahl z ∈ C einen Punkt w auf S zu.Der Nordpol N wird auf den “Punkt“ ∞ aubgebildet.
Damit definiert man: eineFolge komplexer Zahlen zn
konvergiert gegen ∞,genau wenn dieentsprechende Folge wn
bezuglich des gewohnlichenAbstandsbegriffs gegen N
konvergiert.
N
S
z
w
Re z
Im z
C
Hohere Mathematik 695
Holomorphe Funktionen: Beispiele Riemannsche Zahlenkugel
Jede Mobiustransformation lasst sich als bijektive Abbildung S → S auffassen, dieKreise auf S in Kreise abbildet.Es gelten die Entsprechungen:
• Gerade in C ⇐⇒ Kreis auf S durch N
• Kreis in C ⇐⇒ Kreis auf S nicht durch N
Hohere Mathematik 696
Holomorphe Funktionen: Beispiele Hilfssatz: Geraden und Kreise in C
29.13 Hilfssatz: Geraden und Kreise in C
Die Gerade px + qy = c (mit p, q, c ∈ R, (p, q) �= (0, 0)) in der GaußschenZahlenebene wird beschrieben durch
αz + α z = β (α = p − qi ∈ C, α �= 0, β = 2c ∈ R).
Der Kreis |z − z0|2 = r2 (mit r > 0) wird beschrieben durch
z z+αz+α z = β (α = z0 ∈ C, β = r2− |z0|2 ∈ R, αα+β = r2 > 0).
Hohere Mathematik 697
Holomorphe Funktionen: Beispiele 6-Punkte-Formel
Als Methode zur Konstruktion von Mobius-Transformationen wird dasDoppelverhaltnis verwendet.
29.14 6-Punkte-Formel Bestimme eine Mobius-Transformation, die die 3 Punktez1, z2, z3 auf die 3 Bildpunkte w1,w2,w3 abbildet.
Beachte: Je drei Punkte bestimmen einen Kreis oder eine Gerade.
Losung: Stelle das Doppelverhaltnis auf (auch 6-Punkte-Formel genannt):
(w − w1)(w2 − w3)
(w − w3)(w2 − w1)� �� �=g(w)
=(z − z1)(z2 − z3)
(z − z3)(z2 − z1)� �� �=h(z)
Auflosen nach w ergibt eine Mobius-Transformation
w = f (z) =az + b
cz + dmit ad − bc �= 0.
Dass tatsachlich wk = f (zk) fur k = 1, 2, 3 erfullt ist, sieht man folgendermaßen:
g(w) = h(z) = 0 ⇔ w = w1 und z = z1,
g(w) = h(z) = 1 ⇔ w = w2 und z = z2,
g(w) = h(z) = ∞ ⇔ w = w3 und z = z3.
Hohere Mathematik 698
Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung
29.15 Bemerkung Die orientierte Kreislinie (oder Gerade) durch die Punktez1, z2, z3 teilt C in zwei disjunkte Mengen: eine Menge M1, die links von dieserLinie liegt, und eine Menge M2, die rechts von dieser Linie liegt.
Ebenso ergibt die orientierte Kreislinie (oder Gerade) durch die Bildpunktew1,w2,w3 eine Menge N1, die links von dieser Linie liegt, und eine Menge N2, dierechts von dieser Linie liegt.
Als konforme Abbildung muss die Mobius-Transformation diese Orientierungbeibehalten, d.h. die Bildmengen sind
f (M1) = N1, f (M2) = N2.
z1
z2
z3
f (z1)
f (z3)f (z2)
f
Hohere Mathematik 699
Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung
29.16 Bemerkung Fur Geraden bietet sich die Wahl des “Punktes” zk = ∞ furein k an. Wird z.B. z1 = 0, z2 = 1, z3 = ∞ gewahlt (Gerade G = reelle Achse),so vereinfacht sich die rechte Seite im Doppelverhaltnis zu
z − z1z2 − z1
= z .
Genauer: Die Faktoren im Zahler und Nenner, die zk = ∞ enthalten, werdengegeneinander “gekurzt”, d.h. ihr Quotient wird durch 1 ersetzt.
Ebenso darf man auch mit der Wahl der Bildpunkte verfahren, falls sie auf einerGeraden liegen. Dadurch vereinfacht sich die linke Seite im Doppelverhaltnisentsprechend.
Hohere Mathematik 700
Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung
Beispiel: Allpass-FilterDie speziellen Mobius-Transformationen der Form
hα(z) =z − α
1− αzmit α ∈ C, |α| < 1,
bilden jeweils bijektivdas Innereden Randdas Außere
des Einheitskreises auf sich ab. Denn:
die Werte
hα(1) =1− α
1− α, hα(i) =
i − α
1− iα, hα(−1) =
−1− α
1 + αliegen alle auf dem Rand des Einheitskreises (sie sind von der Form σ w
wmit σ ∈ {1,−1, i},
haben also den Betrag 1.)
Weil hα eine Mobius-Transformation ist, bildet sie die gesamte Einheits-Kreislinie bijektivauf einen Kreis oder eine Gerade ab. Wir haben durch die Angabe der 3 Bildpunkte gezeigt,dass das Bild wieder die Einheits-Kreislinie ist.
Um zu entscheiden, ob das Innere des Einheitskreises auf sich abgebildet wird, braucht mannur einen Wert zu testen, z.B. hα(0) = −α. Wegen |α| < 1 liegt hα(0) im Innern desEinheitskreises, also wird das gesamte Innere des Einheitskreises bijektiv auf sich abgebildet.Dann folgt auch, dass das Außere bijektiv auf sich abgebildet wird.
Beachte: |α| > 1 wurde eine Umkehrung des Inneren nach außen bewirken.
Diese speziellen Mobius-Transformationen heißen Allpass-Filter, da
|S(z)hα(z)| = |S(z)| fur alle z der Form z = eit
gilt, die Amplitude eines gegebenen Signals S(z) also erhalten bleibt.Hohere Mathematik 701
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Motivation
30: Holomorphe Funktionen und die Cauchy’schen Integralsatze
In diesem Kapitel werden die wichtigsten Eigenschaften holomorpher Funktionenentwickelt. Grundlage ist ein Integralsatz, den wir in 3 Versionen angeben werden.
30.1 Motivation Wir versuchen, das Konzept der Stammfunktion mit Hilfe vonkomplexen Kurvenintegralen zu entwickeln.
Die Funktion f : C → C, f (z) = z ist holomorph in ganz C. Die Funktionen
F (z) =z2
2+ A mit einer Konstanten A ∈ C
sind ihre komplexen Stammfunktionen, denn F�(z) = f (z).
Wir versuchen nun, die Stammfunktionen F durch ein geeignetes Kurvenintegral zubestimmen. Zu gegebenem z ∈ C wahlen wir die Strecke von 0 nach z
�c : [0, 1] → C, �c(t) = tz .
Definieren wir das komplexe Kurvenintegral gema�
C
f (w) dw =
� 1
0
f (�c(t)) �c(t) dt =
� 1
0
tz z dt = z2� 1
0
t dt =z2
2,
so ergibt sich die Stammfunktion F mit F (0) = 0.Hohere Mathematik 702
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung
Alle Stammfunktionen erhalt man also als
F (z) = A+
�
C
f (w) dw .
30.2 Bemerkung
Das gerade verwendete komplexe Kurvenintegral
�
C
f (z) dz =
� 1
0
f (�c(t)) �c(t) dt
ist tatsachlich etwas ganz neues. Hier wird das komplexe Produkt von f (�c(t)) ∈ C
mit dem “Tangentenvektor” �c(t) ∈ C gebildet. Dies unterscheidet sich wesentlichvom Skalarprodukt von Vektoren im R
2, das beim reellen vektoriellen Kurvenintegral20.5 auftritt. Den Zusammenhang zum vektoriellen Kurvenintegral erkennt man mit
f (z) = u(x , y) + iv(x , y), �c(t) = c1(t) + ic2(t).
Hohere Mathematik 703
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung
Dann ist das komplexe Kurvenintegral gegeben durch
�
C
f (z) dz =
� 1
0
f (�c(t)) �c(t) dt
=
� 1
0
(u(�c(t)) + iv(�c(t)) (c1(t) + i c2(t)) dt
=
� 1
0
[u(�c(t))c1(t)− v(�c(t))c2(t) + i (u(�c(t))c2(t) + v(�c(t))c1(t))] dt
=
�
C
(u dx − v dy) + i
�
C
(u dy + v dx),
also durch je ein vektorielles Kurvenintegral fur den Real- und Imaginarteil.
Hohere Mathematik 704
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Definition: Komplexes Kurvenintegral
30.3 Definition: Komplexes Kurvenintegral
M ⊆ C sei ein Gebiet und�c : [a, b] → M.
sei eine stuckweise regulare Kurve in M. Fur eine stetige komplexe Funktionf : M → C definieren wir das komplexe Kurvenintegral
�
C
f (z) dz :=
�b
a
f (�c(t)) �c(t) dt.
Dieses lasst sich mit Hilfe von zwei vektoriellen Kurvenintegralen�
C
f (z) dz =
�
C
(u dx − v dy) + i
�
C
(v dx + u dy)
schreiben, wobei f = u + iv gesetzt wird.
Hohere Mathematik 705
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Grundlegende Eigenschaften des komplexen Kurvenintegrals
30.4 Grundlegende Eigenschaften des komplexen Kurvenintegrals
Die Funktionen f , g : M → C seien stetig und die Kurve �c : [a, b] → M sei stuckweiseregular.
(i) Linearitat:
�
C
(af (z) + bg(z)) dz = a
�
C
f (z) dz + b
�
C
g(z) dz fur alle a, b ∈ C.
(ii) Umkehrung der Kurve:
�
−C
f (z) dz = −�
C
f (z) dz (siehe hierzu Bemerkung 20.7).
(iii) Ist C aus stuckweise regularen Kurven C1, . . . ,Cn zusammengesetzt, so gilt�
C
f (z) dz =n�
k=1
�
Ck
f (z) dz .
(iv) Der Betrag des komplexen Kurvenintegrals lasst sich durch ein skalaresKurvenintegral abschatzen:
�����
C
f (z) dz
���� ≤�
C
|f | ds =
�b
a
|f (�c(t))| |�c(t)| dt.
Hohere Mathematik 706
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Wegunabhangigkeit des komplexen Kurvenintegrals
Folgerung aus (iv): Falls |f (z)| ≤ M entlang der Kurve C gilt, so ist
�����
C
f (z) dz
���� ≤ M�C ,
wobei �C =�b
a|�c(t)| dt die Bogenlange der Kurve C ist, siehe 20.3.
Wichtige Eigenschaft:
30.5 Wegunabhangigkeit des komplexen Kurvenintegrals
M ⊆ C sei einfach zusammenhangend und f : M → C sei holomorph. Sind C1 undC2 stuckweise regulare Kurven in M, die den gleichen Anfangspunkt und dengleichen Endpunkt besitzen, so gilt
�
C1
f (z) dz =
�
C2
f (z) dz .
Hohere Mathematik 707
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Definition und Satz zur komplexen Stammfunktion
30.6 Definition und Satz zur komplexen Stammfunktion
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei eine komplexe Funktion.
Die Funktion F : M → C heißt komplexe Stammfunktion von f : M → C, wenn F
holomorph ist und F� = f gilt.
(i) Eine stetige Funktion f : M → C besitzt genau dann eine komplexe StammfunktionF , wenn das komplexe Kurvenintegral uber f wegunabhangig ist. In diesem Fall gilt
�
C
f (z) dz = F (�c(b))− F (�c(a))
fur jede stuckweise regulare Kurve �c : [a, b] → M.
(ii) Wenn f : M → C holomorph ist und M einfach zusammenhangend ist, dann besitztf die folgende komplexe Stammfunktion F :
zu festem z0 ∈ M und beliebigem z ∈ M wahlen wir eine stuckweise regulare Kurve�c : [a, b] → M mit Anfangspunkt �c(a) = z0 und Endpunkt �c(b) = z und setzen
F (z) = A+
�
C
f (w) dw mit beliebigem A ∈ C.
Hohere Mathematik 708
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beispiele
30.7 Beispiele von komplexen Stammfunktionen
(a) f : C → C, f (z) = zk mit k ∈ N0 hat als Stammfunktionen F (z) = A+ z
k+1
k+1 .
(b) f : C → C, f (z) = ecz mit c �= 0 hat als Stammfunktionen F (z) = A+ 1
cecz .
(c) f : C → C, f (z) = cos z hat die Stammfunktionen F (z) = A+ sin z,
g : C → C, g(z) = sin z hat die Stammfunktionen G(z) = A− cos z.
(d) f : C\{0} → C, f (z) = 1zhat keine Stammfunktion in M = C\{0}: die Kurvenintegrale zu
�c1 : [0,π] → M, �c1(t) = eit ,
�c2 : [0,π] → M, �c2(t) = e−it
ergeben unterschiedliche Werte, obwohl beide den Anfangspunkt 1 und den Endpunkt −1haben (obere bzw. untere Halfte des Einheitskreises):
�
C1
1
zdz =
� π
0
1
eitie
itdt =
� π
0i dt = iπ,
�
C2
1
zdz =
� π
0
1
e−it(−ie
−it) dt =
� π
0(−i) dt = −iπ.
Also ist das komplexe Kurvenintegral nicht wegunabhangig, also hat f keineStammfunktion (in C \ {0}).
Hohere Mathematik 709
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beispiele
30.7 Beispiele(Forts.):
(e) Schrankt man 1/z auf eine geschlitzte Ebene ein, z.B.
g : C \ Γπ → C, g(z) =1
z,
so existiert die Stammfunktion! Denn C \ Γπ ist einfach zusammenhangend und g istholomorph. Stammfunktionen sind
G(z) = A+ log z, z ∈ C \ Γπ ,
wobei log z ein beliebiger Zweig der Logarithmus-Funktion zum Schnitt Γπ sein darf.(Verschiedene Zweige zum Schnitt Γπ unterscheiden sich nur durch eine Konstante.)
(f) Genau so lassen sich auch Stammfunktionen von
f : C \ Γπ → C, f (z) = za
mit a ∈ C \ N0, a �= −1, angeben. Damit f wohldefiniert ist, mussen wir beim Umschreiben
f (z) = ea log z
einen festen Zweig der Logarithmusfunktion zum Schnitt Γπ wahlen. Unter Verwendungdesselben Zweiges erhalten wir dann
F (z) = A+z
a+ 1ea log z = A+
1
a+ 1za+1.
Hohere Mathematik 710
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (1. Formulierung)
Eine wichtige Rolle spielen die komplexen Kurvenintegrale zu geschlossenenKurven.
30.8 Cauchy’scher Integralsatz (1. Formulierung)
M ⊆ C sei einfach zusammenhangend und f : M → C sei holomorph. Dann giltfur jede geschlossene stuckweise regulare Kurve �c : [a, b] → M
�
C
f (z) dz = 0.
M
G
C
Hohere Mathematik 711
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (2. Formulierung)
Eine andere Version des Cauchy’schen Integralsatzes beweist man mit dem Satzvon Green in der Ebene, siehe 21.9.
30.9 Cauchy’scher Integralsatz (2. Formulierung)
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. G sei ein Normalgebiet mitG ⊂ M; also besteht der Rand Γ = ∂G aus endlich vielen geschlossenendoppelpunktfreien Kurven C1, . . . ,Cr .
Wird jede dieser Kurven so durchlaufen, dass G links liegt, so gilt�
Γf (z) dz =
�
C1
f (z) dz + · · ·+�
Cr
f (z) dz = 0.
M
G
C1
C2 C3C4
Hohere Mathematik 712
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (3. Formulierung)
Eine noch allgemeinere Version des Cauchy’schen Integralsatzes funktioniert ohneden Ubergang zu Teilgebieten G ⊂ M.
30.10 Cauchy’scher Integralsatz (3. Formulierung)
G ⊆ C sei ein Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.Dann gilt �
Γf (z) dz =
�
C1
f (z) dz + · · ·+�
Cr
f (z) dz = 0.
Beweis: Man nahert sich mit Kurven D1, . . . ,Dr von “innen” dem Rand von G .Diese Kurven bilden den Rand eines Normalgebiets H ⊂ G , und hierauf ist 30.9anwendbar.Der Grenzubergang D → ∂G und die Stetigkeit von f im Abschluss G liefern dieBehauptung.
Hohere Mathematik 713
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Ein wichtiges Kurvenintegral
30.11 Ein wichtiges KurvenintegralDie Funktion f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ M wahlen wir einen Kreis Kr (z0)vom Radius r um z0, der ganz in M liegt. Die Randkurve (in mathematischpositiver Orientierung) ist
�cr : [0, 2π] → M, �c(t) = zo + re it .
1. Feststellung
Das komplexe Kurvenintegral �
Cr
f (z)
z − z0dz
ist unabhangig vom Radius r , sofern Kr (z0) ⊂ M gilt.
Hohere Mathematik 714
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Integralformel von Cauchy (1. Version)
Welchen Wert nimmt dieses Integral an?
30.12 Integralformel von Cauchy (1. Version)
Die Funktion f : M → C sei holomorph.Fur z0 ∈ M sei r > 0 so gewahlt, dass Kr (z0) ⊂ M gilt. Dann gilt
1
2πi
�
Cr
f (z)
z − z0dz = f (z0),
mit der geschlossenen Kurve �cr : [0, 2π] → M, �cr (t) = z0 + re it , die den Kreisrand(genau einmal) gegen den Uhrzeigersinn durchlauft.
Hiermit ist die wichtigste Formel fur holomorphe Funktionen gezeigt.
Hohere Mathematik 715
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Integralformel von Cauchy (2. Version)
Die Verallgemeinerung wie in 30.10 bietet sich an:
30.13 Integralformel von Cauchy (2. Version)
G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .
Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.
Dann gilt fur jedes z0 ∈ G
1
2πi
�
Γ
f (z)
z − z0dz = f (z0),
M
G
C1
C2 C3C4
z0
Hohere Mathematik 716
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung
30.14 Bemerkung Die Integralformel erlaubt es, viele komplexe Kurvenintegrale“ohne Integration” auszurechnen: z.B. ist fur Γ = ∂K1(1) (gegen denUhrzeigersinn durchlaufen)
�
Γ
e2z
z − 1dz = i2πe2,
weil die Funktion f : C → C, f (z) = e2z holomorph ist.
Hohere Mathematik 717
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Folgerung
Aus der Integralformel 30.13 folgt diese Aussage mit weitreichendenKonsequenzen:
30.15 Folgerung
G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .
Dann ist f in ganz G allein durch die Funktionswerte auf dem Rand von Geindeutig bestimmt.
Hohere Mathematik 718
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Mittelwerteigenschaft holomorpher Funktionen
In der Herleitung der Cauchyformel wurde der Spezialfall G = Kr (z0) bereitsbehandelt:
30.16 Mittelwerteigenschaft holomorpher Funktionen
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Dann gilt fur jedes z0 ∈ Mund r > 0 mit Kr (z0) ⊂ M
f (z0) =1
2π
� 2π
0f (z0 + re it) dt.
Damit haben wir ein Maximumprinzip fur holomorphe Funktionen!
30.17 Maximumprinzip holomorpher Funktionen
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph und nicht konstant. Dannbesitzt |f | in M kein lokales oder globales Maximum.
Insbesondere: Falls M beschrankt ist und f sogar stetig in M ist, so nimmt |f | seinMaximum auf dem Rand ∂M an.
Hohere Mathematik 719
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Eigenschaften harmonische Funktionen
Die letzten Aussagen lassen sich auch fur harmonische Funktionen treffen. Dazusetzen wir manchmal voraus, dass G einfach zusammenhangend ist, damit dieharmonische Funktion u : G → R als Realteil einer holomorphen Funktionf : G → C interpretiert werden darf (siehe 28.16).
30.18 Eigenschaften harmonische Funktionen
G ⊂ R2 sei ein Normalgebiet, einfach zusammenhangend und beschrankt, Dann
ist jede Funktion u : G → R, die stetig in G und harmonisch in G ist, allein durchdie Funktionswerte auf dem Rand von G eindeutig bestimmt.
Hohere Mathematik 720
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Mittelwerteigenschaft harmonischer Funktionen
30.19 Mittelwerteigenschaft harmonischer Funktionen
M ⊆ R2 sei ein Gebiet und u : M → R sei harmonisch.
Dann gilt fur jedes (x0, y0) ∈ M und r > 0 mit Kr (x0, y0) ⊂ M
u(x0, y0) =1
2π
� 2π
0u(x0 + r cos t, y0 + r sin t) dt.
Man beachte, dass u reellwertig ist, wir also Maxima und Minima von ubehandeln konnen (ohne den Ubergang zu Betragen durchzufuhren).
30.20 Maximumprinzip harmonischer Funktionen
M ⊆ R2 sei ein Gebiet und u : M → R sei harmonisch und nicht konstant.
Dann nimmt u in M weder lokale noch globale Maxima oder Minima an.
Insbesondere: Falls M beschrankt ist und u sogar stetig in M ist, so nimmt u seinMaximum und sein Minimum auf dem Rand ∂M an.
Hohere Mathematik 721
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung
30.21 Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung
Die Funktion f : Kr (0) sei holomorph in Kr (0) und stetig in Kr (0).Dann sind der Realteil u und der Imaginarteil v fur alle(x , y) = (s cosφ, s sinφ) ∈ Kr ((0, 0)) mit 0 ≤ s < r und φ ∈ [0, 2π) gegebendurch
u(x , y) =1
2π
� 2π
0u(r cos t, r sin t)
r2 − s2
r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)dt,
v(x , y) =1
2π
� 2π
0v(r cos t, r sin t)
r2 − s2
r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)dt.
u und v lassen sich also durch Integration ihrer Randwerte mit Hilfe desPoisson-Kerns
p(x , y) = P(s,φ) =r2 − s2
r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)
bestimmen.
Hohere Mathematik 722
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung
Wir haben damit eine explizite Form der Losung der Laplace-Gleichung
∆u(x , y) = 0 fur (x , y) ∈ Kr ((0, 0))
bei vorgegebenen (stetigen) Randwerten
u(r cos t, r sin t) = h(t) fur t ∈ [0, 2π).
Die schwierig aussehenden Integrale lassen sich mit dem im nachsten Abschnittenthaltenen Residuensatz berechnen.
Hohere Mathematik 723
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Die Cauchyschen Integralformeln
30.22 Die Cauchyschen Integralformeln
Die Funktion f : M → C sei holomorph.
Dann ist f beliebig oft komplex differenzierbar.
Fur z0 ∈ M sei r > 0 so gewahlt, dass Kr (z0) ⊂ M gilt. Dann gilt fur n ∈ N0
f (n)(z0) =n!
2πi
�
Cr
f (z)
(z − z0)n+1dz
mit der geschlossenen Kurve �cr : [0, 2π] → M, �cr (t) = z0 + re it , die den Kreisrand(genau einmal) gegen den Uhrzeigersinn durchlauft.
Bemerkung: Die Aussagen
f ist komplex differenzierbar im Gebiet M,
f ist holomorph im Gebiet M,
f ist beliebig oft komplex differenzierbar im Gebiet M
sind alle aquivalent.
Hohere Mathematik 724
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchysche Integralformeln (2. Version)
Eine Variante der Integralformel fur die n-te Ableitung folgt wie in 30.13.
30.23 Cauchysche Integralformeln (2. Version)
G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .
Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.
Dann gilt fur jedes z0 ∈ G
f (n)(z0) =n!
2πi
�
Γ
f (z)
(z − z0)n+1dz .
Hohere Mathematik 725
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Ganze Funktion, Satz von Liouville
Weitere Anwendungen der Integralformel von Cauchy:
30.24 Ganze Funktion, Satz von Liouville
Eine holomorphe Funktion f : C → C heißt ganze Funktion.
Falls die ganze Funktion f : C → C beschrankt ist (d.h. es gibt ein B > 0 mit|f (z)| ≤ B fur alle z ∈ C), so ist sie konstant.
Hohere Mathematik 726
Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beschrankte ganze Funktionen
Die Integralformel von Cauchy liefert tiefliegende mathematische Resultate.
Zwei weitere Beispiele dafur sollen noch angegeben werden.
30.25 Beschrankte ganze Funktionen
Es existiert keine bijektive, holomorphe und konforme Abbildung von C auf denEinheitskreis K1(0). (Vgl. hierzu den Riemannschen Abbildungssatz, C ist einfachzusammenhangend, aber ohne Randpunkt.)
30.26 Fundamentalsatz der Algebra
Jedes nichtkonstante Polynom P : C → C hat mindestens eine Nullstelle in C.
Hohere Mathematik 727
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Einleitung
31: Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen
31.1 Einleitung Wir wissen bereits, dass eine holomorphe Funktion f : M → C
unendlich oft komplex differenzierbar ist. Fur jedes z0 ∈ M konnen wir die(komplexe) Taylorreihe von f mit dem Entwicklungspunkt z0 bilden:
f ∼∞�
k=0
f (k)(z0)
k!(z − z0)
k .
Die Frage nach dem Konvergenzradius dieser Potenzreihe hat fur holomorpheFunktionen eine interessante Antwort.
Hohere Mathematik 728
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3
31.2 Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3
Die Potenzreihe∞�
k=0
ak(z − z0)k mit den Koeffizienten ak ∈ C besitzt den
Konvergenzradius
r =1
lim supk→∞
k
�|ak |
.
(i) Falls 0 < r < ∞ ist, so gilt:Die Reihe konvergiert fur jedes z ∈ C mit |z − z0| < r .
Die Reihe divergiert fur jedes z ∈ C mit |z − z0| > r .
Eine allgemeine Aussage zur Konvergenz fur z ∈ C mit |z − z0| = r lasst sichnicht treffen.
(ii) Falls r = ∞ ist (d.h. lim supk→∞
k
�|ak | = 0), so konvergiert die Potenzreihe
in ganz C.
(iii) Falls r = 0 ist, so konvergiert die Potenzreihe nur im Punkt z0.
Hohere Mathematik 729
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3
Bemerkung: Eine zweite Berechnungsformel fur den Konvergenzradiusfunktioniert, wenn die Koeffizienten ak der Potenzreihe fur alle k ≥ k0 ungleichNull sind und wenn
limk→∞
|ak+1||ak |
= c
(incl. der Falle c = 0 und c = ∞) existiert. Dann gilt
r =1
c.
(incl. der Falle r = ∞ und r = 0), siehe 12.4.
Hohere Mathematik 730
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Potenzreihen sind holomorph
Falls die Potenzreihe∞�
k=0
ak(z − z0)k den Konvergenzradius r > 0 hat, so
konvergiert sie gleichmaßig und absolut in jedem abgeschlossenen Kreis Ks(z0) mit0 < s < r . Deswegen darf die Potenzreihe gliedweise differenziert und integriertwerden, siehe 15.4.
31.3 Potenzreihen sind holomorph
Eine Potenzreihe stellt in ihrem Konvergenzgebiet Kr (z0) eine holomorpheFunktion dar; d.h.
f : Kr (z0) → C, f (z) =∞�
k=0
ak(z − z0)k ,
ist holomorph.
Hohere Mathematik 731
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Konvergenzradius der Taylorreihe einer holomorphen Funktion
Umgekehrt: Sei nun f : M → C holomorph. Die Taylorreihe von f mit demEntwicklungspunkt z0 ist die Potenzreihe
∞�
k=0
f (k)(z0)
k!(z − z0)
k .
Ihr Konvergenzradius r lasst sich oft ohne die Rechnung in 31.2 bestimmen, alleindurch Betrachtung der Geometrie:
31.4 Satz: Konvergenzradius der Taylorreihe einer holomorphen Funktion
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ M bestimmen wirdie Zahl
ρ := d(z0, ∂M) = sup{s > 0 | Ks(z0) ⊂ M},
also den Abstand von z0 zum Rand von M. Dann hat die Taylorreihe von f mitEntwicklungspunkt z0 den Konvergenzradius r ≥ ρ und es gilt
f (z) =∞�
k=0
f (k)(z0)
k!(z − z0)
k fur alle z ∈ Kρ(z0).
Hohere Mathematik 732
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Holomorphe Funktionen sind analytisch
Satz 31.4 ergibt eine neue Charakterisierung der holomorphen Funktionen:
31.5 Satz: Holomorphe Funktionen sind analytisch
M ⊆ C sei ein Gebiet.Eine Funktion f : M → C ist genau dann holomorph, wenn sie analytisch ist, d.h.wenn zu jedem z0 ∈ M eine Kreisscheibe Ks(z0) mit s > 0 existiert, so dass
f (z) =∞�
k=0
f (k)(z0)
k!(z − z0)
k
fur alle z ∈ Ks(z0) gilt.
Hohere Mathematik 733
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Identitatssatz fur holomorphe Funktionen
Den Identitatssatz fur Potenzreihen haben wir in 15.1 kennengelernt. Mit demletzten Satz (und ein paar geometrischen Uberlegungen, die hier nicht gezeigtwerden) folgt:
31.6 Identitatssatz fur holomorphe Funktionen
M1,M2 seien Gebiete in C und M1 ∩M2 sei nichtleer.
Falls zwei holomorphe Funktionen f1 : M1 → C und f2 : M2 → C an allen Stellen(zn)n∈N einer komplexen Zahlenfolge mit paarweise verschiedenen Folgengliedernubereinstimmen und falls diese Folge einen Haufungspunkt z0 ∈ M1 ∩M2 besitzt,so gilt
f1(z) = f2(z) fur alle z ∈ M1 ∩M2.
Hohere Mathematik 734
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Bemerkung
31.7 BemerkungMan interessiert sich meist fur den maximalen Definitionsbereich einer gegebenenholomorphen Funktion f : M → C, also fur eine holomorphe Funktion �f : �M → C
mit M ⊂ �M, die auf M mit f ubereinstimmt.Der Identitatssatz besagt, dass eine solche “Fortsetzung” von f eindeutig ist.
Es gilt sogar noch mehr:
I ⊆ R sei ein Intervall und f : I → R sei analytisch, d.h. die Taylorreihe mitbeliebigem Entwicklungspunkt x0 ∈ R hat einen positiven Konvergenzradius.
Dann existiert eine eindeutige Fortsetzung zu einer holomorphen Funktion�f : �M → C, wobei �M ein Gebiet in C ist, das das Intervall (a, b) enthalt.
Hohere Mathematik 735
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Motivation der Laurent-Reihen
31.8 Motivation der Laurent-ReihenDie komplexe Form der Fourier-Reihe einer 2π-periodischen Funktion f lautet
f ∼∞�
k=−∞cke
ikt , t ∈ R,
wobei ck = 12π
� 2π0 f (t)e−ikt
dt, k ∈ Z, die komplexen Fourierkoeffizienten von f sind.
Die einfache Substitution z = eit ergibt
∞�
k=−∞ckz
k mit z ∈ C, |z| = 1.
Insbesondere fur die Stabilitat von Filtern ist es wichtig zu wissen, ob diese Reihe auch in einerUmgebung des Einheitskreises konvergiert, ob also Radien 0 < ρ1 < 1 < ρ2 existieren, so dassdie Reihe
∞�
k=−∞ckz
k fur alle z ∈ C mit ρ1 < |z| < ρ2
konvergiert.
Damit wird das Konzept der Potenzreihen in zweierlei Hinsicht erweitert:
Die Reihe erstreckt sich auch uber negative Potenzen von (z − z0).
Die Konvergenzbereiche sind keine Kreise, sondern Kreisringe mit einem inneren Radius ρ1und einem außeren Radius ρ2.
Hohere Mathematik 736
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: Laurent-Reihe
31.9 Definition: Laurent-Reihe
Eine Reihe der Form∞�
k=−∞ak(z − z0)
k
mit Koeffizienten ak ∈ C heißt Laurent-Reihe mit dem Entwicklungspunkt z0.
Bezeichnung: Man nennt den Teil
−1�
k=−∞ak(z − z0)
k
den Hauptteil der Laurentreihe. Den anderen Teil nennt man Potenzreihen-Anteiloder Nebenteil.
Hohere Mathematik 737
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe
31.10 Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe
Eine Laurentreihe∞�
k=−∞ak(z − z0)
k
heißt (absolut) konvergent in einem Punkt z ∈ C, wenn beide Reihen
−1�
k=−∞ak(z − z0)
k und∞�
k=0
ak(z − z0)k
(absolut) konvergieren.
Wir setzenρ1 := lim sup
k→∞
k
�|a−k |,
ρ2 :=1
lim supk→∞
k
�|ak |
,
wobei die Falle ρ1 = ∞ oder ρ2 = ∞ auftreten konnen.
Hohere Mathematik 738
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe
Falls ρ1 < ρ2 ist,
konvergiert die Laurentreihe absolut fur alle z im Kreisring
Kρ1<ρ2(z0) = {z ∈ C | ρ1 < |z − z0| < ρ2},
divergiert die Laurentreihe fur alle z ∈ C mit |z − z0| < ρ1 oder |z − z0| > ρ2.
Eine allgemeine Aussage fur z ∈ C mit |z − z0| = ρ1 oder ρ2 kann nichtgetroffen werden.
Falls ρ1 > ρ2 oder ρ1 = ∞ gilt, divergiert die Laurent-Reihe fur alle z ∈ C.
Falls ρ1 = ρ2 < ∞ gilt, kann hochstens Konvergenz in Punkten der Kreislinie|z − z0| = ρ1 vorliegen.
Hohere Mathematik 739
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe
Beweis: Der Hauptteil der Laurentreihe ist als Potenzreihe von 1/(z − z0) anzusehen. DiesePotenzreihe hat den Konvergenzradius 1/ρ1, also konvergiert die Reihe absolut fur alle z mit
1
|z − z0|<
1
ρ1⇔ |z − z0| > ρ1.
Sie divergiert fur alle z mit
1
|z − z0|>
1
ρ1⇔ |z − z0| < ρ1.
(Die Falle ρ1 = 0 und ρ1 = ∞ sind sinnvoll zu interpretieren.)
Der Potenzreihen-Anteil hat den Konvergenzradius ρ2. Also gilt absolute Konvergenz fur alle z
mit |z − z0| < ρ2 und Divergenz fur |z − z0| > ρ2.
Die absolute Konvergenz beider Teile liegt im Durchschnitt ρ1 < |z − z0| < ρ2 vor.
Hohere Mathematik 740
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe
Bemerkung: Die zweite Berechnungsformel in der Bemerkung zu 31.2 kann zurBerechnung von ρ1 und ρ2 verwendet werden.
Wenn die Koeffizienten ak des Potenzreihenanteils fur alle k ≥ k2 (mitk2 ≥ 0) ungleich Null sind und wenn der Grenzwert
limk→∞
|ak+1||ak |
= c2
(incl. der Falle c2 = 0 und c2 = ∞) existiert, so gilt ρ2 =1c2.
Wenn die Koeffizienten ak des Hauptteils fur alle k ≤ k1 (mit k1 < 0)ungleich Null sind und wenn
limk→∞
|a−(k+1)||a−k |
= c1
(incl. der Falle c1 = 0 und c1 = ∞) existiert, so gilt ρ1 = c1.
Hohere Mathematik 741
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihen sind holomorph
Einige Aussagen gelten ahnlich wie bei Potenzreihen.
Falls die Laurentreihe∞�
k=−∞ak(z − z0)
k im Kreisring Kρ1<ρ2(z0) konvergiert, so
konvergiert sie gleichmaßig und absolut in jedem abgeschlossenen KreisringKs1<s2(z0) mit ρ1 < s1 < s2 < ρ2. Deswegen darf auch die Laurentreihe gliedweisedifferenziert und integriert werden.Dabei andern sich die Radien ρ1 und ρ2 nicht, siehe 15.4
31.11 Satz: Laurentreihen sind holomorph
Eine Laurentreihe mit Radien 0 ≤ ρ1 < ρ2 ≤ ∞ stellt in ihrem KonvergenzgebietKρ1<ρ2(z0) eine holomorphe Funktion dar; d.h.
f : Kρ1<ρ2(z0) → C, f (z) =∞�
k=−∞ak(z − z0)
k ,
ist holomorph.
Hohere Mathematik 742
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihen sind holomorph
Frage: Konnen wir auch umgekehrt zu einer holomorphen Funktion f : M → C
eine Laurentreihe bestimmen, deren Grenzwert die Funktion f ist?
z0ρ1
ρ2
s2
s1
M
zG
Hohere Mathematik 743
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion
Insgesamt erhalten wir das folgende Resultat:
31.12 Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion
M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ C gebe es Radienρ1 ≥ 0 (minimal) und ρ2 > ρ1 (maximal), so dass
Kρ1<ρ2(z0) ⊂ M
gilt. Weiter sei s > 0 mit ρ1 < s < ρ2 ausgewahlt.
Setzen wir
ak =1
2πi
�
Cs
f (w)
(w − z0)k+1dw , k ∈ Z,
so gilt
f (z) =∞�
k=−∞ak(z − z0)
k fur alle z ∈ Kρ1<ρ2(z0).
Insbesondere konvergiert die angegebene Laurentreihe von f im KreisringKρ1<ρ2(z0).
Hohere Mathematik 744
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion
Bemerkungen:
In Satz 31.12 ist auch Satz 31.4 zur Taylorreihe enthalten:Falls f im Kreis Kr (z0) holomorph ist, setzen wir ρ1 = 0 und ρ2 = r . Danngilt fur jedes 0 < s < r
ak =1
2πi
�
Cs
f (w)
(w − z0)k+1dw =
f (k)(z0)
k!fur k ≥ 0, ❥1
0 fur k < 0, ❥2❥1 : Cauchysche Integralformel 30.13 ❥2 : Cauchyscher Integralsatz 30.8
In diesem Fall ist also die Laurentreihe gleich der Taylorreihe von f zumEntwicklungspunkt z0.
Die Laurentreihe mit den Koeffizienten ak in Satz 31.12 konvergiert imKreisring Kρ1<ρ2(z0). Man beachte hierbei, dass die Radien ρ1 und ρ2 wiederrein geometrisch bestimmt werden, also keine Berechnung uber die Formelder Konvergenzradien erfordern.
Hohere Mathematik 745
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion
Bemerkung:Zu einer gegebenen Funktion f und festem Entwicklungspunkt z0 gibt es imAllgemeinen mehrere Paare von Radien (ρ1, ρ2) und zugehorige Kreisringe, indenen f als Laurentreihe dargestellt wird.
Beispiel: f sei eine rationale Funktion mit Polstellen in z1 = 0, z2 = 3 und z3 = 5i . DerEntwicklungspunkt sei z0 = 0.
Es gibt drei Paare von Radien, also auch drei Kreisringe:
Mit ρ1 = 0 und ρ2 = 3 erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur 0 < |z| < 3konvergiert. Die Koeffizienten ak in 31.12 erhalt man durch Integration langs der Kreislinievom Radius s = 2 (oder zu beliebigem Radius 0 < s < 3).
Mit ρ1 = 3 und ρ2 = 5 erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur 3 < |z| < 5 konvergiert.Die Koeffizienten ak ergeben sich durch Integration langs der Kreislinie vom Radius s = 4.
Mit ρ1 = 5 und ρ2 = ∞ erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur |z| > 5 konvergiert.Die Koeffizienten ak ergeben sich durch Integration langs der Kreislinie vom Radius s = 6.
Die Koeffizienten, und damit die Laurentreihe, hangen also vom ausgewahltenKreisring ab, in dem f holomorph ist (d.h. keine Polstellen besitzt). Deshalb kannman nicht von “der” Laurentreihe einer Funktion f zum Entwicklungspunkt z0sprechen, sondern muss immer den Kreisring mit angeben.
Hohere Mathematik 746
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Zusammenhang zwischen Laurentreihen und Fourierreihen
31.13 Zusammenhang zwischen Laurentreihen und Fourierreihen
Wir betrachten wie in 31.8 die Fourierreihe einer 2π-periodischen Funktion
f : R → R, f (t) =∞�
k=−∞cke
ikt .
Mit z = eit ∈ C, |z| = 1, schreiben wir
f (t) = g(z) =∞�
k=−∞ckz
k . (∗)
Wenn f analytisch in R ist, so ist die Funktion g analytisch auf der Einheitskreislinie|z| = 1.
Beispiel: f (t) =1
2− cos t=
2
4− eit − e−it←→ g(z) =
2z
4z − z2 − 1.
Die Funktion g ist sogar holomorph auf einem Kreisring um z0 = 0 mit Radienρ1 < 1 < ρ2. Im Beispiel sind ρ1 = 2−
√3 und ρ2 = 2+
√3, weil dies die Nullstellen des
Nenners von g(z) sind.
Aus (∗) folgt fur den gesamten Kreisring Kρ1<ρ2 (0)
g(z) =∞�
k=−∞ckz
k fur alle ρ1 < |z| < ρ2.
Die Koeffizienten ck sind hierbei die Fourier-Koeffizienten von f .(Begrundung erfolgt analog zum Identitatssatz fur Potenzreihen.)
Hohere Mathematik 747
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Folgerung
31.14 Folgerung
Die Fourierkoeffizienten einer analytischen 2π-periodischen Funktion f stimmenmit den Koeffizienten der Laurentreihe der holomorphen Funktion g in (∗) aufdem Kreisring um z0 = 0 mit Radien ρ1 < 1 < ρ2 uberein.
Hohere Mathematik 748
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Abnahmegeschwindigkeit der Fourierkoeffizienten
Die Abnahmegeschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten von f lasst sich nun durch dieKonvergenzradien ρ1 < 1 < ρ2 der Laurentreihe von g bestimmen:
Aus ρ1 = lim supk→∞
k
�|c−k | < 1 folgt, dass fur jedes s1 mit ρ1 < s1 < 1
eine Konstante B1 > 0 existiert mit
|c−k | ≤ B1sk
1 fur alle k > 0.
Aus ρ2 =1
lim supk→∞
k�
|ck |> 1 folgt, dass fur jedes s2 mit 1 < s2 < ρ2 eine Konstante
B2 > 0 existiert mit
|ck | ≤B2
sk2
fur alle k ≥ 0.
31.15 Abnahmegeschwindigkeit der Fourierkoeffizienten
Die Fourierkoeffizienten einer analytischen und periodischen Funktion f : R → R
nehmen exponentiell ab.
Hohere Mathematik 749
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: isolierte Singulariat
Ab jetzt betrachten wir holomorphe Funktionen f : M \ N → C, wobei M ⊆ C einGebiet und N eine diskrete “Ausnahmemenge” von Punkten
N = {z1, . . . , zK} ⊂ M oder N = {zn | n ∈ N} ⊂ M,
ist. Die Menge N soll keine Haufungspunkte enthalten. Genauer:
31.16 Definition: isolierte Singulariat
Der Punkt zn ∈ M heißt isolierte Singularitat von f , wenn es ein s > 0 so gibt,dass f : Ks(zn) \ {zn} → C holomorph ist.
Hohere Mathematik 750
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Typen von isolierten Singularitaten
Wir unterscheiden 3 Typen von isolierten Singularitaten, die wir anschließenddurch die Laurentreihe von f charakterisieren.
31.17 Typen von isolierten Singularitaten
f : M \ N → C sei holomorph. zn ∈ N sei eine isolierte Singularitat von f .
(i) zn heißt hebbar (vom Begriff “heben=aufheben, eliminieren”), wenn derGrenzwert lim
z→zn
f (z) = A ∈ C existiert.
(ii) zn heißt ein Pol der Ordnung m (mit m ∈ N), wenn der Grenzwertlimz→zn
(z − zn)mf (z) = A ∈ C existiert UND ungleich Null ist.
(iii) zn heißt wesentliche Singularitat, wenn zn weder hebbar noch ein Polirgendeiner Ordnung m ∈ N ist.
Hohere Mathematik 751
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Singularitaten und Laurentreihe
31.18 Singularitaten und Laurentreihe
f : M \ N → C sei holomorph. zn ∈ N sei eine isolierte Singularitat von f und
f (z) =∞�
k=−∞ak(z − zn)
k
sei die Laurent-Reihe von f im Kreisring 0 < |z − zn| < ρ2.Dann gilt:
(i) zn ist genau dann hebbar, wenn der Hauptteil der Laurentreihe verschwindet,also 0 = a−1 = a−2 = · · · gilt.In diesem Fall ist f sogar holomorph in Kρ2(zn).
(ii) zn ist genau dann ein Pol der Ordnung m ∈ N, wenn der Hauptteil nur dieGlieder mit k = −m,−m + 1, . . . ,−1 besitzt;genauer: wenn a−m �= 0 und 0 = a−m−1 = a−m−2 = · · · gilt.
(iii) zn ist genau dann eine wesentliche Singularitat, wenn der Hauptteil unendlichviele Glieder besitzt; genauer: es existieren 0 > k1 > k2 > . . . mit akp �= 0 furalle p ∈ N.
Hohere Mathematik 752
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Singularitaten und Laurentreihe
Spezialfall: Anstelle rationaler Funktionen betrachten wir die großere Klasse vonFunktionen
R(z) =f (z)
g(z),
wobei f , g : M → C holomorph und nicht identisch Null sind.
Die Nullstellen von g sind isolierte Singularitaten von R : Hatten sie einenHaufungspunkt in M, so ware g ≡ 0 nach dem Identitatssatz 31.6.
Ob eine Nullstelle von g eine hebbare Singularitat oder ein Pol ist, kann manan den Taylorreihen von f und g ablesen. Dies fuhrt u.a. zur Regel von del’Hospital.
Hohere Mathematik 753
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Regel von de l’Hospital
31.19 Satz: Regel von de l’Hospital
Die Funktionen f , g : M → C seien holomorph. Fur ein z0 ∈ M und ein n ∈ N
gelteg(z0) = g �(z0) = · · · = g (n−1)(z0) = 0, g (n)(z0) �= 0.
Weiter sei m ∈ N0 gegeben mit
f (z0) = f �(z0) = · · · = f (m−1)(z0) = 0, f (m)(z0) �= 0.
(Der Fall m = 0 bedeutet hierbei nur f (z0) �= 0.)Mit anderen Worten: g hat in z0 eine Nullstelle der Ordnung n und f hat dortkeine Nullstelle (m = 0) oder eine Nullstelle der Ordnung m.
Falls m < n gilt, so hat R(z) = f (z)g(z) eine Polstelle der Ordnung n −m in z0.
Falls m ≥ n gilt, so hat R(z) = f (z)g(z) eine hebbare Singularitat in z0, und es
gilt die Regel von de l’Hospital
limz→z0
f (z)
g(z)= lim
z→z0
f (n)(z)
g (n)(z)=
f (n)(z0)
g (n)(z0).
Hohere Mathematik 754
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: Residuum
Die komplexe Funktion f habe eine isolierte Singularitat z0. Der Koeffizient a−1 der Laurentreihezum innersten Kreisring 0 < |z − z0| < r lautet als Kurvenintegral
a−1 =1
2πi
�
Cs
f (z) dz,
wobei Cs eine Kreislinie um z0 vom Radius 0 < s < ρ2 ist. Dieser einzelne Koeffizient spielt eine
wichtige Rolle bei der Berechnung von komplexen Kurvenintegralen.
31.20 Definition: Residuum
Die komplexe Funktion f sei holomorph im Gebiet Kr (z0) \ {z0} . Fur ein0 < s < r sei Cs die Randkurve von Ks(z0) orientiert gegen den Uhrzeigersinn.Dann heißt der Koeffizient der Laurentreihe
Res (f ; z0) := a−1 =1
2πi
�
Cs
f (z) dz
das Residuum von f in z0.
Bemerkung: Ist f sogar holomorph im Kreis Kr (z0) (oder z0 eine hebbareSingularitat von f ), so gilt nach dem Cauchyschen Integralsatz 30.8Res (f ; z0) = 0.
Hohere Mathematik 755
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuen rationaler Funktionen
31.21 Satz: Residuen rationaler Funktionen
Fur die rationale Funktion R(z) = P(z)Q(z) sei die Partialbruchzerlegung
R(z) =K�
n=1
mn�
�=1
An,�
(z − zn)�
bekannt. Dann gilt
Res (f ; zn) = An,1, n = 1, 2, . . . ,K .
Hohere Mathematik 756
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuum an einer Polstelle
31.22 Satz: Residuum an einer Polstelle
f sei holomorph in Kr (z0) \ {z0} und habe eine Polstelle der Ordnung m in z0. Wirdefinieren g : Kr (z0) → C, g(z) = (z − z0)mf (z). Dann gilt
Res (f ; z0) = limz→z0
g (m−1)(z)
(m − 1)!=
g (m−1)(z0)
(m − 1)!.
Hohere Mathematik 757
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuum an einer Polstelle
Spezialfalle:
z0 ist hebbare Singularitat oder ein einfacher Pol:
Res (f ; z0) = limz→z0
(z − z0)f (z).
R =f
gmit f und g holomorph, g(z0) = 0 und g �(z0) �= 0 hat das Residuum
Res (R(z); z0) =f (z0)
g �(z0).
Hohere Mathematik 758
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Residuensatz
Die Integralformeln von Cauchy ermoglichen die Berechnung vieler komplexerKurvenintegrale durch Verwendung von Residuen.
31.23 Residuensatz
M sei ein Gebiet und N ⊂ M eine diskrete Teilmenge ohne Haufungspunkt. DieFunktion f : M \ N → C sei holomorph.
G sei ein Normalgebiet mit G ⊂ M. Der Rand Γ = ∂G bestehe aus endlich vielengeschlossenen doppelpunktfreien regularen Kurven, die so durchlaufen werden,dass G links liegt. Weiterhin gelte Γ ∩ N = ∅.
Dann enthalt G hochstens endlich viele isolierte Singularitaten z1, . . . , zK ∈ N vonf , und es gilt
�
Γf (z) dz = 2πi
K�
n=1
Res (f ; zn).
Hohere Mathematik 759
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Berechnung reeller Integrale
31.24 Berechnung reeller Integrale
Der Residuensatz kann zur Berechnung bestimmter Integrale verwendet werden.
Typ 1:Integration 2π-periodischer Funktionen R(sin x , cos x) uber eine vollePeriode. Dabei ist R eine gebrochen rationale Funktion der Variablen sin xund cos x ohne Polstellen.
Wir setzen dazu z = e it , siehe 31.25.
Typ 2:uneigentliche Integrale
�∞−∞ f (x) dx oder
�∞0 f (x) dx .
Wir “komplexifizieren” das Integral und setzen dazu z = t, siehe 31.26.
Hohere Mathematik 760
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale des Typs 1
31.25 Integrale des Typs 1
Sei R eine gebrochen rationale Funktion der Variablen sin x und cos x ohnePolstellen.Dann ist
2π�
0
R(cos t, sin t)dt = 2π�
|zk |<1
Res
�1
zR
�z2 + 1
2z,z2 − 1
2iz
�, zk
�
Summiert wird dabei also uber alle Residuen von Punkten, die innerhalb desEinheitskreises liegen, d.h. fur die |zk | < 1 gilt.
Hohere Mathematik 761
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale vom Typ 2
Die obige Methode lasst sich allgemein beschreiben.
31.26 Integrale vom Typ 2
Das Gebiet M ⊆ C enthalte die abgeschlossene obere Halbebene H+.Die Teilmenge N ⊂ M sei endlich, enthalte keine Punkte der reellen Achse und dieFunktion f : M \ N → C sei holomorph. Weiter gelte
limR→∞
R |f (Re iφ)| = 0 gleichmaßig fur φ ∈ [0,π].
Dann gilt
limR→∞
�R
−R
f (x) dx = 2πiK�
n=1
Res (f ; zn),
wobei z1, . . . , zK ∈ N samtliche Punkte von N mit Im z > 0 sind.
Bemerkung: Wird die Aussage entsprechend fur die untere Halbebene formuliert,ergibt sich wegen der Orientierung des Randes
limR→∞
�R
−R
f (x) dx = −2πiK�
n=1
Res (f ; zn).
Hohere Mathematik 762
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale vom Typ 2
Beispiele: Typische Beispiele fur die Anwendung von Satz 31.26 sind uneigentliche Integrale uberrationale Funktionen
f (x) =anx
n + · · ·+ a1x + a0
bmxm + · · ·+ b1x + b0
mit an �= 0 und bm �= 0 und m ≥ n + 2, d.h. der Grad des Nennerpolynoms ist um mindestens 2großer als der Grad des Zahlerpolynoms. Wenn der Nenner keine reelle Nullstelle besitzt, folgt dieKonvergenz des uneigentlichen Integrals
� ∞
−∞f (x) dx
mit dem Majorantenkriterium 16.26. Außerdem gilt
R|f (Reiφ)| =����anR
n+1 + · · ·+ a1R2 + a0R
bmRm + · · ·+ b1R + b0
���� ≈|an|
|bm|Rm−n−1fur großes R > 0,
also die gleichmaßige Konvergenz limR→∞
R|f (Reiφ)| = 0. Wir erhalten insgesamt
� ∞
−∞f (x) dx = lim
R→∞
�R
−R
f (x) dx = 2πiK�
n=1
Res (f ; zn),
wobei z1, . . . , zK die Nullstellen des Nennerpolynoms in der oberen Halbebene sind.
Hohere Mathematik 763
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: uneigentliche Integrale vom Fourier-Typ
Fur manche Integrale kann die Voraussetzung an f abgeschwacht werden.
31.27 Satz: uneigentliche Integrale vom Fourier-Typ
Das Gebiet M ⊆ C enthalte die abgeschlossene obere Halbebene H+.Die Teilmenge N ⊂ M sei endlich, enthalte keine Punkte der reellen Achse und dieFunktion f : M \ N → C sei holomorph. Weiter gelte fur ein R0 > 0
|zf (z)| ≤ B fur alle z = |z |e iφ mit |z | ≥ R0, φ ∈ [0,π].
Dann gilt fur jedes ω > 0
limR→∞
�R
−R
f (x) e iωx dx = 2πiK�
n=1
Res (f (z)e iωz ; zn),
wobei z1, . . . , zK ∈ N samtliche Punkte von N mit Im z > 0 sind.
Hohere Mathematik 764
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel
31.28 Beispiel Ein kleiner Zusatztrick wird benotigt, um den Cauchy-Hauptwertdes Integrals � ∞
−∞
e iωx
xdx
fur ω > 0 zu berechnen. Dieser spielt eine wichtige Rolle bei derHilbert-Transformation (→ Signalverarbeitung). Der Cauchy-Hauptwert ist derGrenzwert von � −�
−R
e iωx
xdx +
�R
�
e iωx
xdx ,
fur R → ∞ und � → 0 (mit � > 0), weil
f : C \ {0} → C, f (z) =1
z,
die Polstelle z1 = 0 besitzt.
Hohere Mathematik 765
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Ein wichtiges Integral
31.29 Beispiel: Ein wichtiges Integral
Die Funktion S(x) = sinπxπx ist das Herzstuck der digitalen Signalverarbeitung und
wird “Sinus-Cardinalis” genannt: Ihre Funktionswerte an den ganzen Zahlen sindS(0) = 1 und S(n) = 0 fur alle n ∈ Z \ {0}.
In Kapitel uber die Fourier-Transformation zeigen wir, dass sog. bandbeschrankteFunktionen die Darstellung
f (x) =∞�
n=−∞f (n)
sinπ(x − n)
π(x − n)
besitzen, also aus den diskreten “Abtastwerten” f (n), n ∈ Z, mit Hilfe derFunktion S reproduziert werden konnen. Dies ist die Basis aller Analog-DigitalWandler.
Hohere Mathematik 766
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Ein wichtiges Integral
Ein hierbei auftretendes Integral ist der Cauchy-Hauptwert von
� ∞
−∞
sin x
xdx .
Mit sin x = 12i (e
ix − e−ix) und dem Beispiel 31.28 erhalten wir
CH
� ∞
−∞
sin x
xdx =
1
2i(iπ − (−iπ)) = π.
Man beachte noch, dass der Integrand analytisch ist (z1 = 0 ist hebbareSingularitat). Also ist
CH
� ∞
−∞
sin x
xdx = lim
R→∞
�R
−R
sin x
xdx .
Hohere Mathematik 767
Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Fresnel-Integrale, “Chirps”
31.30 Beispiel: Fresnel-Integrale, “Chirps”Ein ahnliches Verfahren liefert sog. Fresnel-Integrale vom Typ
� ∞
0sin(x2) dx =
� ∞
0cos(x2) dx =
√π
2√2.
Die Funktionen sin x2, cos x2 sind Beispiele sog. Chirp-Signale (engl.chirp=Zwitschern). Sie beschreiben die Wellenform eines akustischen Signals mitlinear wachsender Frequenz (“FM”=frequency modulated). Solche Wellenformentreten beim Doppler-Effekt (Radar-Messung) auf; die Bezeichnung geht auf dieUltraschallsignale zuruck, die Fledermause bei der Jagd aussenden.
Hohere Mathematik 768
Potentialgleichung Potentialgleichung
32.1 Potentialgleichung
Die Potentialgleichung oder Laplace-Gleichung
∆u = 0
ist zeitunabhangig und daher ein typisches Beispiel fur ein Randwertproblem(RWP).Die Losungen der Potentialgleichung heißen harmonische Funktionen.Als Verallgemeinerung betrachten wir auch die Poisson-Gleichung (= inhomogeneLaplace-Gleichung)
∆u = f
Die Gleichung wird auf einem Gebiet K ⊂ R2 oder R3 betrachtet, das die Form
K = G mit Normalgebiet G ⊂ R2 oder R3 hat.
Der Rand ∂K besteht aus endlich vielen regularen Kurven (G ⊂ R2) oder
orientierten Flachenstucken (G ⊂ R3).
�n: sei der außere Normalenvektor auf ∂K (mit Lange 1)∂u
∂�nsei die Richtungsableitung nach der außeren Normalen
Hohere Mathematik 769
Potentialgleichung Randwertprobleme
32.2 Randwertprobleme
Die folgenden Randwertprobleme werden gestellt:
(i) Dirichlet-Problem:
�∆u = 0 (in K )u(�x) = g(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.
(ii) Neumann-Problem:
�∆u = 0 (in K )
∂u
∂�n(�x) = h(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.
(iii) gemischtes Problem: mit a, b ∈ R
�∆u = 0 (in K )
au(�x) + b∂u
∂�n(�x) = k(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.
Die Losungsmethoden Methoden hangen stark vom Korper K ab.
Hohere Mathematik 770
Potentialgleichung Dirichlet-Problem auf einer Kreisscheibe
32.3 Dirichlet-Problem auf einer Kreisscheibe
K ⊂ R2 sei die Kreisscheibe um 0 mit Radius r0 > 0.
Das Dirichlet-Problem in Polarkoordinaten lautet
uxx + uyy = Urr +1
rUr +
1
r2Uϕϕ = 0, 0 < r < r0, 0 < ϕ < 2π. (A)
Dabei ist u(x , y) = U(r ,ϕ) mit x = r cosϕ, y = r sinϕ.
Damit U wohldefiniert ist, verlangen wir�
U(0,ϕ) = const, 0 ≤ ϕ ≤ 2πU(r , 0) = U(r , 2π), 0 < r ≤ r0.
((B))
Die Dirichlet-Randbedingung fur (x , y) ∈ ∂K gibt schließlich
U(r0,ϕ) = g(ϕ), g ist 2π-periodisch. ((C))
Hohere Mathematik 771
Potentialgleichung Losung des Dirichlet-Problems
Wir haben folgende Aussage hergeleitet:
32.4 Losung des Dirichlet-Problems
Gegeben sei das Dirichlet-Problem auf der Kreisscheibe vom Radius r0 > 0 umden Nullpunkt. Die Randbedingung laute in Polarkoordinaten
U(r0,ϕ) = g(ϕ),
wobei g stetig und periodisch mit der Periode 2π sei und die Fourier-Reihe gegeng konvergiere. Dann ist eine Losung des Dirichlet-Problems gegeben durch
u(x , y) = U(r ,ϕ) =1
2π
� π
−πg(θ)
r20 − r2
r20 + r2 − 2r0r cos(θ − ϕ)dθ.
Das obige Integral nennt man das Poisson-Integral von g .u(x , y) ist eine harmonische Funktion im Innern der Kreisscheibe.Es gilt lim
r→r0−U(r ,ϕ) = g(ϕ) fur alle ϕ.
Als Korollar erhalten wir aus den Eigenschaften der Faltung:
Harmonische Funktionen sind beliebig oft differenzierbar.
Hohere Mathematik 772
Potentialgleichung Maximumprinzip fur harmonische Funktionen
Bemerkungen
(1) Fur r = 0 folgt sofort die Mittelwerteigenschaft der harmonischen Funktion u:
u(0, 0) =12π
� π
−π
U(r0, θ) dθ.
(2) Man erkennt auch folgendermaßen, dass u(x , y) harmonisch ist:Mit z = x + iy = re
iϕ gilt
u(x , y) =1π
� π
−π
g(θ)
�12+ Re
� ∞�
n=1
zn
rn0
e−inθ
��dθ
also ist u der Realteil einer holomorphen Funktion im Innern der Kreisscheibe (vgl.Funktionentheorie)
Die Mittelwerteigenschaft liefert das folgende wichtige Prinzip:
32.5 Maximumprinzip fur harmonische Funktionen
G ⊂ R2 (oder R3) sei ein beschranktes Gebiet, u eine in G zweimal stetig differenzierbare
Losung der Potentialgleichung ∆u = 0, die auf G definiert und stetig ist. Dann nimmt usein Maximum auf ∂G an.
Hohere Mathematik 773
Potentialgleichung Eindeutigkeit und Stabilitat
Hieraus folgt schon die Eindeutigkeit der Losung des Dirichlet-Problems:
32.6 Eindeutigkeit und Stabilitat
Sei G ein beschranktes Gebiet (in R2 oder R3). Dann hat das Dirichlet-Problem
∆u = 0 (in K )u(�x) = g(�x) (x ∈ ∂K ) stetige Randbed.
mit stetiger Funktion g hochstens eine Losung. Diese ist stabil.
Hohere Mathematik 774
Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung
Kap. 33: Diffusionsgleichung
33.1 Diffusionsgleichung
Gegeben sei ein Gebiet M ⊂ R3. Die Funktion u : M × [0,T ] sei eine (genugend
oft differenzierbare) Funktion des Ortes (x , y , z) ∈ M sowie der Zeit t ∈ [0,T ].Wir bilden die partiellen Ableitungen ut nach der Zeitvariablen und ∆u nach derOrtsvariablen.
u erfullt die Warmeleitungsgleichung oder Diffusionsgleichung (engl. heatequation), wenn gilt
ut(x , y , z , t)− c2∆u(x , y , z , t) = 0 fur alle (x , y , z) ∈ M, t ∈ [0,T ].
Hierdurch wird oft die Temperaturverteilung in einem Korper modelliert.
Wir werden auch mit nur einer oder zwei Ortsvariablen x bzw. (x , y) arbeiten.M = [a, b] ⊂ R: eine Funktion u(x , t) mit ut − c2uxx = 0 beschreibt die Spannungin einem Kabel oder die Temperatur in einem dunnen Stab zur Zeit t ≥ 0
Hohere Mathematik 775
Diffusionsgleichung Die Diffusionsgleichung
Im physikalischen Modell der Temperaturverteilungin einem homogenen Medium liegen weitere Annah-men vor:
Die Temperaturverteilung zur Zeit t = 0 istbekannt:u(x , 0) = f (x), x ∈ M,Anfangsbedingung L x
t
u(x, 0) = f (x)
ux (0, t) = g(t)
ux (L, t) = h(t)
ut = c2uxx
oderu(0, t) = g(t)
oderu(L, t) = h(t)
Die Temperatur oder der Warmeabfluss am Rand Γ = ∂M des Gebietes sindbekannt, also entweder
u(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Dirichlet-Randbedingung
oder
∂u
∂�n(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Neumann-Randbedingung
wobei ∂u∂�n die Richtungsableitung von u(x , t) am Rand von M in Richtung der
außeren Normalen ist.
Hohere Mathematik 776
Diffusionsgleichung Anfangs-Randwertproblem zur Diffusionsgleichung
33.3 Anfangs-Randwertproblem zur Diffusionsgleichung
M sei ein beschranktes Gebiet im Rn (mit n = 1, 2 oder 3). Gesucht ist eine Funktion
u : M × [0,∞) → R, die die Diffusionsgleichung
ut − c2∆u = 0 (mit c > 0),
die Anfangsbedingung u(x , 0) = f (x) und eine der beiden Randbedingungen erfullt.
Wir beschreiben ausfuhrlich die Losung im eindimensionalen Fall.Mit M = [0, L] (Stab der Lange L) lautet das Anfangs-Randwertproblem
ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0
u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L), (Anfangsbedingung)u(0, t) = g(t)u(L, t) = h(t)
�t > 0, (Dirichlet-Randbedingung)
oder
ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0
u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L), (Anfangsbedingung)ux(0, t) = g(t)ux(L, t) = h(t)
�t > 0. (Neumann-Randbedingung)
Hohere Mathematik 777
Diffusionsgleichung Grundlosungen der Diffusionsgleichung in [0, L] × [0,∞)
33.4 Grundlosungen der Diffusionsgleichung in [0, L]× [0,∞)
Die Funktionen
ψs(x , t) = e−c2st(As cos(
√sx) + Bs sin(
√sx)) mit s > 0,
ψ0(x , t) = A0 + B0x , (fur s = 0),
sowieψs(x , t) = e−c
2st(Ase
√|s|x + Bse
−√
|s|x) mit s < 0
erfullen die Diffusionsgleichung ut − c2uxx = 0.Die Funktionen ψs mit s ≥ 0 sind beschrankt auf dem Definitionsbereich[0, L]× [0,∞).
Hohere Mathematik 778
Diffusionsgleichung Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Dirichlet-Randbedingungen
33.5 Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Dirichlet-Randbedingungen
Das Anfangs-Randwertproblem
ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),
mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen
u(0, t) = 0, u(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)
wird zu jeder Anfangsbedingung
u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L),
mit quadrat-integrierbarer Funktion f gelost durch die Funktion
u(x , t) =∞�
k=1
bk sin
�kπL
x
�e−c
2(kπ/L)2t
mit den reellen Koeffizienten
bk =2L
�L
0
f (x) sin
�kπL
x
�dx , k = 1, 2, 3, . . .
Hohere Mathematik 779
Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung
Bemerkungen zur Konvergenz der Reihe:Fur t = 0: Die Reihe konvergiert gegen f im Sinne der Konvergenz im quadratischenMittel. Falls f stetig ist, die Randbedingung f (0) = f (L) = 0 erfullt und sogar stuckweisestetig differenzierbar ist, konvergiert die Reihe sogar punktweise gegen f .
Fur t > 0: Die Reihe konvergiert gleichmaßig gegen die stetige Funktion u(x , t): denn dieKoeffizienten bk sind beschrankt (sie bilden sogar eine Nullfolge wegen derParseval-Identitat), also ist
∞�
k=1
|bk |e−c2(kπ/L)2t
eine konvergente Majorante. Man zeigt sogar:
33.6 Eigenschaften der Losung
Die Losung u(x , t) der Diffusionsgleichung zu quadrat-integrierbarerAnfangsbedingung u(x , 0) = f (x) und homogenen Dirichlet-Randbedingungen istim Streifen [0, L]× (0,∞) beliebig oft stetig partiell differenzierbar. Es gilt
limt→∞
u(x , t) = 0 fur alle x ∈ [0, L].
(Abkuhlung des gesamten Stabes der Lange L auf 0 Grad.)
Hohere Mathematik 780
Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung
Hohere Mathematik 781
Diffusionsgleichung Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Neumann-Randbedingungen
33.7 Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Neumann-Randbedingungen
Das Anfangs-Randwertproblem
ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),
mit homogenen Neumann-Randbedingungen
ux(0, t) = 0, ux(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)
wird zu jeder Anfangsbedingung
u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L),
mit quadrat-integrierbarer Funktion f gelost durch die Funktion
u(x , t) =a0
2+
∞�
k=1
ak cos
�kπL
x
�e−c
2(kπ/L)2t
mit den reellen Koeffizienten
ak =2L
�L
0
f (x) cos
�kπL
x
�dx , k = 0, 1, 2, . . .
Hohere Mathematik 782
Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung
Die Bemerkungen zur Konvergenz der Reihe gelten wie in 33.6.
33.8 Eigenschaften der Losung
Die Losung u(x , t) der Diffusionsgleichung zu quadrat-integrierbarerAnfangsbedingung u(0, t) = f (x) und homogenen Neumann-Randbedingungen istim Streifen [0, L]× (0,∞) beliebig oft stetig partiell differenzierbar. Es gilt
limt→∞
u(x , t) =a02
=1
L
�L
0f (x) dx fur alle x ∈ [0, L].
(Temperaturausgleich entlang des Stabes der Lange L auf den Mittelwert derAnfangstemperatur.)
Hohere Mathematik 783
Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung
Hohere Mathematik 784
Diffusionsgleichung Inhomogene Randbedingungen
Wie konnen inhomogene Randbedingungen realisiert werden?
Antwort: Mit Hilfe der allgemeinen Grundlosungen ψs und ηs in 33.4. Dabeiverwenden wir nur die beschrankten Grundlosungen mit s ≥ 0.Zunachst werden Dirichlet-Randbedingungen behandelt:
33.9 Inhomogene Randbedingungen
(i) Falls die Funktion h die Darstellung als Parameterintegral
h(t) =
� ∞
0B(s) sin(
√sL)e−c
2st ds,
mit einer stetigen und beschrankten Funktion B besitzt, so ist
uR(x , t) =
� ∞
0B(s) sin(
√sx)e−c
2st ds
eine Losung der Diffusionsgleichung zu den Randwerten
u(0, t) = 0, u(L, t) = h(t), t > 0.
Hohere Mathematik 785
Diffusionsgleichung Inhomogene Randbedingungen
(ii) Falls die Funktion g die Darstellung als Parameterintegral
g(t) =
� ∞
0A(s) sin(
√sL)e−c
2st ds,
mit einer stetigen und beschrankten Funktion A besitzt, so ist
uL(x , t) =
� ∞
0A(s) sin(
√s(L− x))e−c
2st ds
eine Losung der Diffusionsgleichung zu den Randwerten
u(0, t) = g(t), u(L, t) = 0, t > 0.
Bemerkung:
Ersetzt man jeweils sin durch cos, erhalt man Losungen mit inhomogenenNeumann-Randbedingungen.
Statt des Parameterintegrals kann auch eine endliche Summe oder unendlicheReihe solcher Grundlosungen vorliegen.
Hohere Mathematik 786
Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen
Zusammensetzen der Losung (Superposition):
33.10 Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen
Die Diffusionsgleichung mit der Anfangsbedingung u(x , 0) = f (x) undinhomogenen Randbedingungen
R0(u; t) = αu(0, t) + βux(0, t) = g(t),
RL(u; t) = γu(L, t) + δux(L, t) = h(t)
wird wie folgt gelost:1. Bestimme eine Losung uR der Diffusionsgleichung zu den Randwerten R0(u; t) = 0,
RL(u; t) = h(t), siehe 33.9(i). (ohne Anfangsbedingung)
2. Bestimme eine Losung uL der Diffusionsgleichung zu den Randwerten R0(u; t) = g(t),RL(u; t) = 0, siehe 33.9ii). (ohne Anfangsbedingung)
3. Bestimme die (eindeutige) Losung uA der Anfangs-Randwertaufgabe zu den homogenenRandwerten R0(u; t) = RL(u; t) = 0 und der Anfangsbedingung
u(x , 0) = f (x)− uR(x , 0)− uL(x , 0).
Die Gesamtlosung ist dann u = uA + uR + uL.
Hohere Mathematik 787
Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen
Zur Durchfuhrung des 1. Schrittes (inhomogene RB am rechten Rand) ist eserforderlich, die Funktion h(t) als Parameterintegral
h(t) =
� ∞
0B(s) sin(
√sL)� �� �
=:F (s)
e−c2st ds
darzustellen. Dieses Integral beschreibt die Laplace-Transformation einergesuchten Funktion F (s) = B(s) sin(
√sL).
Hier wird also noch mehr Mathematik gebraucht. :-)
Hohere Mathematik 788
Diffusionsgleichung Satz: Maximumprinzip
Weitere qualitative Aussagen stimmen mit der physikalischen Realitat uberein:
33.11 Satz: Maximumprinzip
Die Funktion u : [0, L]× [0,∞) sei zweimal stetig differenzierbar in der offenenMenge (0, L)× (0,∞), stetig in der abgeschlossenen Menge [0, L]× [0,∞) underfulle die Diffusionsgleichung
ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0.
Fur beliebiges T > 0 betrachten wir das Rechteck
GT = {(x , t) | 0 ≤ x ≤ L, 0 ≤ t ≤ T}.
Dann nimmt die Einschrankung u|GTihr Minimum und ihr Maximum auf der
Teilmenge ΓT = Γ1 ∪ Γ2 ∪ Γ3 des Randes an, wobei
Γ1 = {(x , 0) | 0 ≤ x ≤ L}, Γ2 = {(0, t) | 0 < t ≤ T},
Γ3 = {(L, t) | 0 < t ≤ T}.
Bemerkung: Der Satz besagt, dass im “Zeithorizont” [0,T ] das Maximum und Minimumentweder am Rand des Stabes (bei x = 0 oder x = L) oder am “Anfang” t = 0 vorliegen.Hohere Mathematik 789
Diffusionsgleichung Eindeutigkeitssatz
Hat man das Maximumprinzip, so folgen wichtige Eigenschaften “wie von selbst”:
33.12 Eindeutigkeitssatz
Besitzt das Anfangs-Randwertproblem mit inhomogenenDirichlet-Randbedingungen eine stetige Losung u : [0, L]× [0,∞), so ist dieseeindeutig.
Hohere Mathematik 790
Diffusionsgleichung Stabilitatssatz
Stetigkeit der Anfangs- und Randwerte sei im Folgenden immer gegeben.
33.13 Stabilitatssatz
Stetige Losungen u und u : [0, L]× [0,∞) von zwei Anfangs-Randwertproblemenzu unterschiedlichen Anfangswerten und inhomogenen Dirichlet-Randbedingungenunterscheiden sich bis zum Zeithorizont T hochstens so viel, wie sich die Anfangs-und Randwerte der beiden Probleme bis zu diesem Zeithorizont unterscheiden.
Hohere Mathematik 791
Wellengleichung Wellengleichung
Kap. 34: Die Wellengleichung
34.1 Wellengleichung
Gegeben sei ein Gebiet M ⊂ R3. Die Funktion u : M × [0,T ] sei eine (genugend
oft differenzierbare) Funktion des Ortes (x , y , z) ∈ M sowie der Zeit t ∈ [0,T ].Wir bilden die partiellen Ableitungen ut , utt nach der Zeitvariablen und ∆u nachder Ortsvariablen.
u erfullt die Wellengleichung (engl. wave equation), wenn gilt
utt(x , y , z , t)− c2∆u(x , y , z , t) = 0 fur alle (x , y , z) ∈ M, t ∈ [0,T ].
Hierdurch wird oft die Ausbreitung von Wellen in der Akustik, Elektrotechnik etc.modelliert., z.B. schwingende Saiten eines Instruments oder eine schwingendeMembran.
Im physikalischen Modell werden zwei Anfangsbedingungen bei t = 0 undRandbedingungen bei x ∈ Γ := ∂M gestellt:
Hohere Mathematik 792
Wellengleichung Wellengleichung
Die Ausgangslage zur Zeit t = 0 ist bekannt:u(x , 0) = f1(x), x ∈ M1. Anfangsbedingung
Die Geschwindigkeit der Anderung derAuslenkung ist bekannt:ut(x , 0) = f2(x), x ∈ M,2. Anfangsbedingung L x
t
u(x, 0) = f1(x)
ux (0, t) = g(t)
ux (L, t) = h(t)
utt = c2uxx
oderu(0, t) = g(t)
oderu(L, t) = h(t)
ut(x, 0) = f2(x)
Die Auslenkung selbst oder ihre Ableitung in Normalenrichtung ist fur dieRandpunkte bekannt:
u(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Dirichlet-Randbedingung
oder
∂u
∂�n(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0. Neumann-Randbedingung
Hohere Mathematik 793
Wellengleichung Anfangs-Randwertproblem zur Wellengleichung
34.2 Anfangs-Randwertproblem zur Wellengleichung
M sei ein beschranktes Gebiet im Rn (mit n = 1, 2 oder 3). Gesucht ist eine Funktion
u : M × [0,∞) → R, die die Wellengleichung
utt − c2∆u = 0 (mit c > 0),
die Anfangsbedingungen u(x , 0) = f1(x) und ut(x , 0) = f2(x) sowie eine der beidenRandbedingungen erfullt.
Wir beschreiben zuerst die Losung im eindimensionalen Fall.
utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0
u(x , 0) = f1(x), x ∈ (0, L), (1. Anfangsbedingung)ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L), (2. Anfangsbedingung)u(0, t) = g(t)u(L, t) = h(t)
�t > 0, (Dirichlet-Randbedingung)
oder
utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0
u(x , 0) = f1(x), x ∈ (0, L), (1. Anfangsbedingung)ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L), (2. Anfangsbedingung)ux(0, t) = g(t)ux(L, t) = h(t)
�t > 0. (Neumann-Randbedingung)
Hohere Mathematik 794
Wellengleichung Grundlosungen der Wellengleichung in [0, L] × [0,∞)
Man erhalt n ganz analog zur Diffusionsgleichung die folgenden Losungen derWellengleichung (ohne Berucksichtigung von Anfangs- und Randbedingungen):
34.3 Grundlosungen der Wellengleichung in [0, L]× [0,∞)
Es sei µ ∈ R, s =�
|µ|/c. Dann losen die Funktionen
ψs(x , t) = c1 cos (sx) cos (sct) + c2 cos (sx) sin (sct)+
c3 sin (sx) cos (sct) + c4 sin (sx) sin (sct)
= C1 cos (s(x + ct)) + C2 sin (s(x + ct))
+C3 cos (s(x − ct)) + C4 sin (s(x − ct)) fur µ < 0,
ψ0(x , t) = c1 + c2x + c3t + c4xt
= C1 + C2(x + ct) + C3(x − ct) + C4[(x + ct)2 − (x − ct)2] fur µ = 0
sowie
ψs(x , t) = C1es(x+ct) + C2e
−s(x+ct) + C3es(x−ct) + C4e
−s(x−ct) fur µ > 0
die Wellengleichung utt − c2uxx = 0.
Die Funktionen ψs fur µ < 0 (sowie ψ0 mit C2 = C3 und mit C4 = 0) sind beschranktauf dem Definitionsbereich [0, L]× [0,∞).
Hohere Mathematik 795
Wellengleichung Satz: Spezielle Form der Grundlosungen der Wellengleichung
34.4 Satz: Spezielle Form der Grundlosungen der Wellengleichung
Die Grundlosungen der Wellengleichung haben die Form
ψs(x , t) = h1(x + ct) + h2(x − ct)
mit beliebig oft differenzierbaren Funktionen h1, h2 : R → R (und ebenso fur ηs).
Sind andererseits beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktionenh1, h2 : R → R gegeben, so erfullt die Funktion
u(x , t) = h1(x + ct) + h2(x − ct)
die Wellengleichung.
Bemerkung: Die Funktion g : R2 → R, g(x , t) = h1(x − ct) hat als Graphen eineWelle, die mit der “Ausbreitungsgeschwindigkeit” c > 0 in die positive x-Richtunglauft. Ebenso stellt f2(x + ct) eine Welle dar, die mit der Geschwindigkeit c in dienegative x-Richtung lauft. Die Uberlagerung beider Wellen erfullt dieWellengleichung zum Parameter c .
Hohere Mathematik 796
Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen
34.5 Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen
Das Anfangs-Randwertproblem
utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),
mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen
u(0, t) = 0, u(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)
wird zu Anfangsbedingungen
u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L),
mit quadrat-integrierbaren Funktionen f1, f2 gelost durch die Funktion
u(x , t) =1
2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +
1
2c
�x+ct
x−ct
f2(ξ) dξ.
Hierbei mussen die Funktionen f1 und f2 als ungerade periodisch fortgesetzt mitder Periodenlange 2L betrachtet werden.
Hohere Mathematik 797
Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen
Bemerkungen:
Die Losung u(x , t) der Wellengleichung hat fur t > 0 keine hohere“Glattheit” als die 1. Anfangsbedingung: Hat f1 einen Sprung bei x1, so hatu(x , t) (fur festes t) im allgemeinen zwei Sprunge bei x1 + ct und x1 − ct.
Sprunge in der 2. Anfangsbedingung f2 liefern i.a. noch stetige Losungen: Hatf2 einen Sprung bei x2, so entsteht durch die Integration eine stetige Funktion,die an den Stellen x2 ± ct nicht differenzierbar ist (“Kanten” in u(x , t)).
Auch wenn f1 ≥ 0 und f2 = 0 gelten, wird u fur t > 0 negative Werteannehmen. Das liegt an der ungeraden Fortsetzung von f1. (Siehe Beispiel)
Doppelte Periodizitat: Die Losung ist nicht nur periodisch in x-Richtung(Periodenlange 2L), sondern auch in t-Richtung (Periodenlange 2L/c):Dies erkennt man an der Gestalt der Grundlosungen 34.4.
Hohere Mathematik 798
Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen
t
xx − ct x + ct
(x , t)Der Wert der Losung u im Punkt (x , t)hangt ab
(1) von den Werten Funktion f1 in denPunkte x ± ct
(2) von der Werten der Funktion f2 imIntervall [x − ct, x + ct].
Wachstum von u(x , t):Im Fall f2 = 0 ist |u(x , t)| ≤ �f1�∞ fur alle t > 0.
Im allgemeinen Fall gilt
|u(x , t)| ≤ �f1�∞ + t�f2�∞, 0 < t < 2L/c.
D.h. die Welle kann mit wachsender Zeit 0 < t < 2L/c linear anschwellen.
Hohere Mathematik 799
Wellengleichung Cauchyproblem der Wellengleichung
Da in der Losungsformel L nicht explizit vorkommt, gibt die Losungsformel in 34.5auch die Losung des Cauchyproblems an:
34.6 Cauchyproblem der Wellengleichung
Das Cauchyproblemutt = c2uxx , x ∈ R, t > 0
u(x , 0) = f (x), ut(x , 0) = g(x)
hat die (eindeutige) Losung
u(x , t) =1
2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +
1
2c
�x+ct
x−ct
f2(ξ) dξ.
Hohere Mathematik 800
Wellengleichung Losung zum ARWP mit homogenen Neumann-Randbedingungen
34.7 Losung zum ARWP mit homogenen Neumann-Randbedingungen
Die Grundlosungen der Wellengleichung mit homogenenNeumann-Randbedingungen sind
ψ0(x , t) = c1 + c2t,
sowie
ψk(x , t) = cos
�kπx
L
��c1 cos
�kπct
L
�+ c2 sin
�kπct
L
��, k = 1, 2, 3, . . .
Die Anfangsbedingungen u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x) werden durchUberlagerung mit den Koeffizienten der Cosinus-Reihen von f1 und f2 gebildet;hier mussen die Funktionen also gerade fortgesetzt werden zur Periodenlange 2L.
Hohere Mathematik 801
Wellengleichung Zusammenfassung der Losung
34.8 Zusammenfassung der Losung
Das Anfangs-Randwertproblem
utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),
mit homogenen Neumann-Randbedingungen
ux(0, t) = 0, ux(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)
wird zu Anfangsbedingungen
u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L),
mit quadrat-integrierbaren Funktionen f1, f2 gelost durch die Funktion
u(x , t) =1
2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +
1
2c
�x+ct
x−ct
f2(ξ) dξ.
Hierbei mussen die Funktionen f1 und f2 als gerade periodisch fortgesetzt mit derPeriodenlange 2L betrachtet werden.
Hohere Mathematik 802
Wellengleichung Behandlung inhomogener Randbedingungen
34.9 Behandlung inhomogener RandbedingungenDie Behandlung inhomogener Randbedingungen erfolgt durch Verwendung ALLERGrundlosungen ψs mit s ≥ 0 in 34.3, wie bei der Diffusionsgleichung in 33.9. Diesfuhrt hier auf die “Fourier-Transformation” fur nicht-periodische Funktionen (wirdspater behandelt). Auf eine ausfuhrliche Diskussion wird hier verzichtet.
Hohere Mathematik 803