336 seiten final 9 april 2011 seiten geändert€¦ · die verschwiegene epidemie 20 was george w....

5
die verschwiegene epidemie 18 kapitel 2 Einleitung M öchten Sie im Sommer wieder mehr Zeit draußen verbringen? Lieben Sie es, zu wandern oder im Garten zu arbeiten? Toben sich Ihre Kinder auf der Wiese des städtischen Parks und im Freibad aus? Legen Sie sich gerne mal ins Gras und genießen ein Sonnenbad? Falls Sie diese Fragen mit Ja beantworten, sollten Sie unbedingt Ihren Blick für ein Spinnentier schärfen, das oft nicht größer ist, als der Punkt am Ende dieses Satzes. Ein Tier, das es sich an versteckten Körperstellen für eine Blutmahlzeit gemütlich macht und allein in Deutschland knapp eine Million Bundesbürger jedes Jahr neu erkranken lässt. Die Rede ist von Zecken. Wir leben in sonderbaren Zeiten. Es erkranken inzwischen so viele Menschen wie noch nie durch Zeckenstiche, gleichzeitig wird die wach- sende Gesundheitsgefahr von den Medien, von offizieller Seite und man- chen medizinischen Meinungsführern verharmlost und heruntergespielt. Die „offiziellen“ Erkrankungszahlen, die Gesundheitsbehörden über die häufigste von Zecken übertragene Infektion, die Lyme-Borreliose, melden, lauten „40 000 – 100 000 Neuerkrankungen pro Jahr“. Das ist auch das, was Redakteure immer wieder in den Zeitungen veröffentlichen. Zahlen, die jedoch zwei Jahrzehnte alt sein sollen, wie der Borreliose und FSME Bund Deutschland e.V. (BFBD) berichtet. Die WHO (World Health Organization) schätzt, in Deutschland seien bereits zwei bis vier Millionen Menschen mit dem Borreliose-Erre- ger Borrelia burgdorferi infiziert. Krankenkassen kommen, allein aufgrund diagnostizierter Wanderröte, dem Frühstadium der Lyme-Borreliose, auf Zahlen, die acht- bis zehnmal so hoch sind, wie die „offiziellen“ des Robert Koch-Instituts oder die des Nationalen Referenzzentrums Borrelien. Ange- sichts der Krankenkassen-Zahlen haben die Zahlen, die von „offizieller Seite“ verbreitet werden, mit der Realität nicht mehr viel zu tun. Weltweit gehören Zecken zu den gefährlichsten Krankheitsüberträ- gern überhaupt. Bereits 1991 wurde in wissenschaftlichen Publikationen

Upload: others

Post on 19-Oct-2020

0 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

  • die verschwiegene epidemie

    18

    kapitel 2

    Einleitung

    Möchten Sie im Sommer wieder mehr Zeit draußen verbringen? Lieben Sie es, zu wandern oder im Garten zu arbeiten? Toben sich Ihre Kinder auf der Wiese des städtischen Parks und im Freibad aus? Legen Sie sich gerne mal ins Gras und genießen ein Sonnenbad?

    Falls Sie diese Fragen mit Ja beantworten, sollten Sie unbedingt Ihren Blick für ein Spinnentier schärfen, das oft nicht größer ist, als der Punkt am Ende dieses Satzes. Ein Tier, das es sich an versteckten Körperstellen für eine Blutmahlzeit gemütlich macht und allein in Deutschland knapp eine Million Bundesbürger jedes Jahr neu erkranken lässt. Die Rede ist von Zecken.

    Wir leben in sonderbaren Zeiten. Es erkranken inzwischen so viele Menschen wie noch nie durch Zeckenstiche, gleichzeitig wird die wach-sende Gesundheitsgefahr von den Medien, von offizieller Seite und man-chen medizinischen Meinungsführern verharmlost und heruntergespielt.

    Die „offiziellen“ Erkrankungszahlen, die Gesundheitsbehörden über die häufigste von Zecken übertragene Infektion, die Lyme-Borreliose, melden, lauten „40 000 – 100 000 Neuerkrankungen pro Jahr“. Das ist auch das, was Redakteure immer wieder in den Zeitungen veröffentlichen. Zahlen, die jedoch zwei Jahrzehnte alt sein sollen, wie der Borreliose und FSME Bund Deutschland e.V. (BFBD) berichtet.

    Die WHO (World Health Organization) schätzt, in Deutschland seien bereits zwei bis vier Millionen Menschen mit dem Borreliose-Erre-ger Borrelia burgdorferi infiziert. Krankenkassen kommen, allein aufgrund diagnostizierter Wanderröte, dem Frühstadium der Lyme-Borreliose, auf Zahlen, die acht- bis zehnmal so hoch sind, wie die „offiziellen“ des Robert Koch-Instituts oder die des Nationalen Referenzzentrums Borrelien. Ange-sichts der Krankenkassen-Zahlen haben die Zahlen, die von „offizieller Seite“ verbreitet werden, mit der Realität nicht mehr viel zu tun.

    Weltweit gehören Zecken zu den gefährlichsten Krankheitsüberträ-gern überhaupt. Bereits 1991 wurde in wissenschaftlichen Publikationen

  • einleitung

    19

    darauf aufmerksam gemacht, dass Zeckenstiche eine zunehmend ernste Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen. Mit einem einzigen Stich können sie bis zu 50 verschiedene Krankheitserreger auf den ahnungslosen Wirt übertragen. Unklar bleibt dabei für jeden Gestochenen, wie sich im Einzelfall der unheil-volle Cocktail aus Bakterien, Viren, Pilzen und anderen krankmachenden Mikroben zusam-mensetzt. Allein mit den gefährlichen Borrelien ist in manchen Gegenden bereits jede zweite Zecke infiziert.

    Die Zeiten sind wahrlich sonderbar: Menschen werden durch Borre-liose chronisch krank und nicht selten erwerbsunfähig, dessen ungeach-tet behauptet so mancher Mediziner medienwirksam, eine chronische Borreliose gebe es gar nicht und falls doch, existiere sie nur in der lebhaf-ten Phantasie der Patienten. Dabei berufen sie sich auf US-Wissenschaft-ler und Leitlinienautoren, denen mit Misstrauen zu begegnen ist, wie wir noch sehen werden.

    Fakt ist, die von Zecken übertragenen Erreger lösen häufig schwere chronische Erkrankungen aus. Meist bleibt deren Ursache unerkannt, denn Borrelien imitieren bei ihrem Treiben extrem viele Krankheitsbilder – geradezu eine Einladung zur Fehldiagnose. Auch das ist ein Umstand, der selten thematisiert wird.

    Fibromyalgie, Multiple Sklerose, Polyneuropathie, Arthrose, Schild-drüsenunterfunktion, Gelenkrheuma oder Depression – ohne adäquate Differenzialdiagnostik lässt sich kaum ausmachen, wie viele Patienten unter gesundheitlichen Folgen leiden, die von einem Spirochätenbakte-rium namens Borrelia burgdorferi verursacht wird. Jahre, manchmal jahr-zehntelang, bevölkern diese Patienten die Wartezimmer, ohne dass Ihnen wirklich geholfen wird.

    Mit einem einzigen Stich können Zecken

    rund 50 verschiedene Krankheitserreger

    übertragen.

  • die verschwiegene epidemie

    20

    Was George W. Bush, Richard Gere und Bastian Schweinsteiger verbindet

    Anfang April 2007. Ann-Kathrin Linsenhoff, eine der erfolgreichsten Dressurreiterinnen erklärt ihren Rücktritt vom aktiven Reitsport. Eine Lyme-Borreliose zwingt sie, sich vom Leistungssport zu verabschieden.

    Im gleichen Monat verkünden die Medien, ein Zeckenstich habe eine hartnäckige Entzündung im Knie des Fußballnationalspielers Bas-tian Schweinsteiger verursacht. Das Boulevardblatt BILD weiß zu berich-ten: „Ein solcher Biss kann schlimme Folgen haben: Bundesligist Thomas Schneider (Stuttgart und Hannover) sowie Zoltan Sebescen (Leverkusen) mussten wegen einer dadurch hervorgerufenen Borreliose-Infektion sogar ihre Karrieren beenden.“

    Im Sommer 2006 erhält der Arzt Dr. Raphael Stricker, seinerzeit Vor-sitzender der US-Borreliosegesellschaft ILADS (International Lyme And Associated Diseases Society), einen Anruf aus Washington D.C., der

    ihn nervös macht. „Es war ein merkwür-diges Telefongespräch“, sagt Stricker einer US-Zeitung, „ich wurde ein wenig para-noid.“ Unzählige Fragen über die Behand-lung von Lyme-Borreliose sollte Stricker dem Fremden am Telefon beantworten. Ein Jahr später berichten die Medien, der ame-rikanische Präsident George W. Bush sei an Borreliose erkrankt und erfolgreich behan-

    delt worden. Für den Borreliose-Experten Stricker klärte sich damit der mysteriöse Anruf aus Washington auf.

    Nicht nur George W. Bush erkrankte. Auch Richard Gere, Schauspie-lerkollege Michael J. Fox, das Model Christy Turlington und die Emmy-Award-Preisträgerin Amy Tan erwischte es. Die Liste der mehr oder weni-ger illustren Gesellschaft, in der man sich als Borreliosepatient befindet, ist lang. Und sie zeigt eines: Es kann jeden treffen.

    Dabei haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer neue Mythen um diese Erkrankung gebildet. Manche glauben bis heute, sie sei eine Art Arthritis und müsse mit geschwollenen Gelenken einhergehen; andere

    Nach Berechnungen der Krankenkassen sollen 2009 in Deutschland knapp 1 Million Menschen neu an Lyme-Borreliose erkrankt sein.

  • einleitung

    21

    denken, nur die Haut – Stichwort Wanderröte – sei betroffen und viele glauben, Borreliose sei selten und einfach zu kurieren. Nichts davon stimmt.

    Mythen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit

    Wie viel wissen Sie über zeckenübertragene Infektionen? Was glauben Sie? Erkranken mehr Menschen durch einen Zeckenstich an FSME (Frühsom-mer-Meningoenzephalitis) oder an einer Lyme-Borreliose? Falls Sie auf FSME getippt haben, sind Sie, genau wie ich und viele andere Menschen auf die Medien- und Marketingstrategie der Impfstoffhersteller herein-gefallen.

    Ladenhüter oder Verkaufsschlager?

    Im Jahr 2009 wurden dem Robert Koch-Institut 313 Fälle von FSME in Deutschland gemeldet; im Jahr 2008 waren es 289. Die Erkrankung nimmt meistens – nach Angaben von Ärzten – einen milden Verlauf. Außerdem kann man sich gegen FSME durch eine Impfung schützen. Das ist auch der entscheidende Grund, warum viele Menschen beim Thema Zecken sofort an FSME denken.

    Mit dem Impfstoff lässt sich gutes Geld verdienen. Die Medien- und Marketingstrategie der Impfstoffhersteller zahlt sich aus. Bei der österrei-chischen Tageszeitung Der Standard hat man das mal genauer nachgerech-net: „Die Zeckenimpfung ist in Österreich ein hervorragendes Geschäft für Pharmafirmen, Ärzte und Apotheker – der Kundenstrom versiegt dank Dauerkampagnen nicht.“ Basierend auf der veröffentlichten Durchimp-fungsrate der Österreicher kommt die Zeitung, vorsichtig geschätzt, auf jährlich 2 Millionen Impfdosen zu 22,50 Euro für Erwachsene und 19,30 Euro für Kinder. Das macht einen Markt von mindestens 40 Millionen Euro, plus etwa fünf Millionen Euro, die die Ärzte von den Krankenkas-sen für das Impfen bekommen.

  • die verschwiegene epidemie

    22

    Weit mehr Menschen erkranken jedes Jahr durch einen Zeckenstich nicht an FSME, sondern an Lyme-Borreliose (nachfolgend auch kurz Borreliose). Hier sprechen wir nicht über einige hundert Betroffene, son-dern – wie bereits erwähnt – über knapp eine Million Menschen, allein in Deutschland im Jahr 2009.

    Berücksichtigt man noch die Patienten, die aufgrund von Fehldiagno-sen „unter falscher Flagge“ durch Deutschlands Arztpraxen und Kliniken segeln, sind es vermutlich weit mehr als eine Million Erkrankter. So oder so. Damit gehört die Borreliose zu den häufigsten Infektionskrankheiten in Deutschland; nach Angaben der Patientenorganisation BFBD sogar zur häufigsten bakteriellen Infektion, gleichwohl sagt das kaum jemand.

    Noch viel weniger Menschen wissen: Patienten werden nach einem Zeckenstich oft nur unzureichend oder gar nicht ursächlich behandelt und

    in der Folge chronisch krank. Das hat erschüt-ternde Gründe, wie wir noch lesen werden. Nur soviel vorab: Einer davon hat mit medizinischen Leitlinien zu tun. Über den Sinn medizinischer Leitlinien lässt sich trefflich diskutieren; im Fall der Lyme-Borreliose zeigt sich jedoch, wie gefähr-lich sie sein können. Ganz besonders dann, wenn bei ihrer Erstellung die Interessen der Leitlinien-autoren und der Pharma- und Versicherungskon-

    zerne geheim gehalten wurden und die intellektuelle Eigenständigkeit der Leitlinienverantwortlichen bezweifelt werden muss.

    Medizinische Leitlinien – die Justiz ermittelt

    Sommer 2009. Auf der ganzen Welt horchen Borreliosepatienten und Patientenvereinigungen auf. In Washington D.C. findet eine neunstün-dige öffentliche Anhörung statt, die vom Justizministerium des US-Bun-desstaats Connecticut erzwungen worden war. Thema: Die umstrittenen medizinischen Leitlinien der amerikanischen Gesellschaft für Infektions-krankheiten, IDSA (Infectious Diseases Society of America), zur Diagnos-tik, Therapie und Prävention der Lyme-Borreliose.

    Die Lyme-Borreliose ist ein Lehrstück über die Manipulation der öffentlichen Meinung.