3776620285 - strauss, wolfgang - unternehmen a

Upload: haiko-mau

Post on 13-Jul-2015

370 views

Category:

Documents


4 download

TRANSCRIPT

WOLFGANG STRAUSS

Unternehmen Barbarossa und der russische HistorikerstreitMit Dokumenten, Karten und Abbildungen

HERBIG

3

Abbildungsnachweis

Alle Abbildungen aus den Archiven des Verfassers und der Buchverlage Langen Mller Herbig, auer: S. 187,201,202,203 (Sammlung C. Weber)

Gescannt von c0y0te.

Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht fr den Verkauf bestimmt!

1. Auflage Mai 1998 2. Auflage Oktober 1999 Sonderproduktion 3. Auflage April 2001 Sonderproduktion 1998 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Mnchen Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 12/15 Punkt Minion Drucken und Binden: GGP Media GmbH, Pneck Printed in Germany ISBN 3-7766-2028-5

4

InhaltStatt eines Vorworts 9Von der mystischen zur revisionistischen Revolution

1 Geheimarchive nicht mehr geheim 19ber 14 Millionen Dokumente in Sonderverwahrung 25 ber 5000 Arbeitsvernichtungslager 28 Arbeits- und Besserungslager ein Zeuge erinnert sich 29

2 Stalin plante Angriffskrieg gegen Hitler 34Der Mythos von der unbesiegbaren Wehrmacht 42 Eine Diskussion im MGFA 45 Welch ein groes Volk! 47

5

3 66 Millionen Opfer 51Aufzhlung, nicht Aufrechnung 52 Stalin, Retter des russischen Volkes? 55

4 Vom Preis eines Sieges 59Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk 62 An deutscher Seite 67 Ein Sieg der Sklaven 69

5 Tglicher Revisionismus 71Wer ermordete die Zarenfamilie? 80 Vernichtung durch Arbeit 86 Keine Tabus 89

6 Der Zweite Weltkrieg begann am 19. August 1939 92Die Stalin-Rede eine Flschung? 92 Der 22. Juni ein Prventivschlag Hitlers? 99 Der Roten Armee zuvorgekommen? 102

6

7 Der Fall Gorodetsky 106Eine antifranzsische Flschung? 106 So kann Stalin gesprochen haben 111 Der Sowjetunion das Rckgrat brechen 115

8 berfall oder Gegenangriff 119Warum Katyn? 120 Als erste losschlagen ... 126 Die Katastrophe von 1941 135 Zehnfache bermacht 145 Die Seele zerstren 150 ... die Eroberung ganz Europas 159 Der Auftakt eines Eroberungskrieges 172

Nachwort 175Von der inneren Verwandtschaft des Kommunismus und Kapitalismus Anmerkungen 182

Anhang 187Dokumente 188 Bibliographie 204 Personenregister 206

7

8

Statt eines Vorworts Von der mystischen zur revisionistischen Revolutionine Schlsselgestalt der religisen Wiedergeburt in Ruland ist Tatjana Goritschewa. Lange vor der Augustrevolution von 1991 erlebte Ruland eine mystische Revolution. Ohne den asketischen Heroismus einer Goritschewa wre sie undenkbar gewesen. Vom Gottesleugner zum Tufer, so kann ihre Jugend umschrieben werden, die im Schatten der letzten groen Christenverfolgung stand. Anfang der sechziger Jahre hatte Chruschtschow verkndet, es solle kein Christentum mehr geben, die Kirche werde total vernichtet, er werde dann den letzten Priester im Fernsehen vorfhren. Chruschtschow sagte noch etwas Schrecklicheres: die Christen seien wahnsinnig. Damit schaffte er die Grundlage fr eine neue Vernichtungsmethode die Einlieferung der Glubigen in 1 psychiatrische Kliniken. In dieser dunklen Zeit begann die ffentliche Ttigkeit der Goritschewa. In einem atheistischen System aufgewachsen, stand sie, ein Kind der bolschewistischen Nomenklaturaklasse, an der Spitze der Lenin-

E

9

grader Kommunisten, lehrte mit 26 Jahren atheistische Philosophie. In der Unruhe des Herzens und der Suche nach Wahrheit fand die Intellektuelle zum Christentum. Zum Damaskuserlebnis wurde die Begegnung mit Neubekehrten, den Neophyten, die aus dem totalitren Nihilismus, aus dem Nichts zu Gott gekommen waren; insofern war es eine Neugeburt, nicht eine Wiedergeburt. Das Wunder des Heiligen Geistes ist, da man die Angst verliert, erklrte spter die Goritschewa das Glck der Bekehrungserfahrung in der Verfolgung. 1974 grndete sie mit ihren Freunden das christliche Jugendseminar in Leningrad, und sie gehrte zu den Initiatoren von Marija, der ersten inoffiziellen 2 Frauenbewegung Rulands, eine Untergrundbewegung der von GULag und Irrenhaus bedrohten Neuchristen. Ab 1974 war Tatjana einige Jahre mit dem dissidentischen Dichter Viktor Kriwulin verheiratet. Es folgten Entzug der Lehrbefugnis und Berufsverbot. berflle, Verhaftungen, Verhre, Folterungen gehrten zu Tatjanas alltglichen Erfahrungen. 1980 mute sie emigrieren. In ihren Bchern berichtet die Zeitzeugin Goritschewa nicht nur von ihrem Bekehrungserlebnis und einer tiefen Gotteserfahrung, sondern beschreibt auch die metaphysischen Wurzeln, die geistigen Kraftquellen des Geschichtsrevisionismus. Rulands mystische Revolution (Goritschewa) fhrte zur revisionistischen Revolution, lange bevor hierzulande der Begriff Revisionismus in den Feuilletons auftauchte. In den strmischen russischen Siebzigern begann das Umdenken, das Neudenken auch in der geschichts-

10

philosophischen Perspektive. Verbunden mit den Anfngen des religisen Aufbruchs, mit der Entdeckung der Wege vom Marxismus zum Christentum, stand die Selbstbekehrung zu einem neuen Geschichtsbild, in dem das kommunistische Gesellschaftsexperiment als etwas welthistorisch Singulres erschien, einmalig in seiner Grausamkeit, seinem Vernichtungsdrang und Vernichtungsausma etwas Teuflisches, um mit Tatjana Goritschewa zu sprechen. Da trotz aller Leiden und Selbstdemtigungen die Kirche in Ruland eine im Geiste sehr starke Kirche blieb, kann nur aus revisionistischer Perspektive erklrt werden, wie sich berhaupt jedes gesellschaftliche, nationale Trauma, jede Katastrophenepoche nur dem Revisionisten wirklich erschliet. Hinter dem Entsetzen ber die Dngerhalden erlittener Geschichte und die Massenfriedhfe ermordeter Menschlichkeit zieht sich eine doppelte Spur durch das Grauen: eine unbesiegbare Liebe zum Leben und ein unstillbarer Drang zur Wahrheit. Beide bilden den Grundstein fr den modernen russischen Revisionismus. Seit 1990 ist der russische Revisionismus zu neuen fundamentalen Erkenntnissen gelangt: Stalins Rede vom 19. August 1939, gehalten vor Politbro-Mitgliedern vier Tage vor der Unterzeichnung des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes. Stalin wollte den Weltkrieg, der Nichtangriffspakt diente ihm als Initialzndung. Stalin beabsichtigte die Vernichtung des polnischen Staates und seine territoriale Zersplitterung. Durch

11

Eroberung, Okkupation und Annexion sollte das Sowjetimperium nach Westen erweitert werden. Stalin strebte den gesamteuropischen Krieg an, einen Erschpfungskrieg, in dem sich die kapitalistischen Staaten und Systeme zugrunde richten sollten. Auf den Trmmern des kapitalistischen Europa wollte er die Sowjetisierung mit militrischer Gewalt durchfhren. Der Schlsselbegriff Sowjetisazija tauchte mehrmals in seiner Rede auf. Ohne Stalin htte es keine Ausweitung zum Zweiten Weltkrieg gegeben. Mit 8000 Panzern wollte die Rote Armee im Juli 1941 einem deutschen Angriff zuvorkommen und ihrerseits einen berfall starten. Einfall in Polen, Ostpreuen und Schlesien, bis hin nach Breslau, mit dem kriegsentscheidenden Ziel, Deutschland vom Balkan und damit von den rumnischen lquellen abzuschneiden. Ein klassischer Aggressionskrieg, dem die von Stalin eingesehenen und gebilligten Generalstabsplne vom 18. September 1940 und 15. Mai 1941 zugrunde lagen. Nastupatelnije namerenije hie der militrisch exakte Begriff: Angriffsabsichten. Der Nachweis, da Stalin diese Eroberungen vorbereitete, entschuldigt Hitlers imperialistische Politik in keiner Weise. Barbarossa kam Stalins Angriff auf Deutschland nur um Wochen zuvor angelegt war der berfall auf Deutschland nicht als eine Gegenoffensive auf einen deutschen Vorsto, sondern als sowjetischer Erstschlag. In seiner Rede vor Absolventen sowjetischer Offiziersschulen am 5. Mai 1941 bezeichnete Stalin den militrischen Vormarsch nach We-

12

sten als Fortsetzung der kommunistischen Revolutionsdoktrin: die Zerschlagung des kapitalistischen Systems. Als Hitler am 22. Juni angriff, befand sich die Rote Armee noch im Zustand der Umgruppierung und Entfaltung. Die Aufmarsch-Vorbereitungen zum berraschungsschlag sollten erst am 15. Juli 1941 abgeschlossen sein. Am 22. Juni war Stalins Armee weder zur hinhaltenden Verteidigung noch zu einem Sofortangriff fhig, woraus sich die vernichtenden Kesselschlachten des Sommers 1941 erklren. Die Niederlagen des Sommers 1941 waren aber nicht nur militrisch bedingt, sie trugen auch politischen, psychologischen Charakter. Vielerorts wurden die vorrckenden deutschen Truppen als Befreier begrt, insbesondere in den nichtrussischen Gebieten der Sowjetunion (Baltikum, Ukraine). ber drei Millionen Rotarmisten ergaben sich bereitwillig der Wehrmacht. Die Stimmung in der Bevlkerung war extrem antibolschewistisch. Nach 24 Jahren Diktatur mit Brgerkrieg, Hungerkatastrophen, Massenverfolgung, Suberungen, Polizeiterror, Bauernlegung und Archigulag hatte sich ein riesiges revolutionres Potential angehuft. Millionen von Leidgeprften erblickten im Krieg eine Chance, sich von einem volksfeindlichen Regime zu befreien. Der Drang, sich der kommunistischen Ketten zu entledigen, uerte sich auch in der verbreiteten Kollaborationsbereitschaft mit den Eroberern.

13

Im Sommer 1941 htte die Sowjetordnung leicht zusammenbrechen knnen, wren nicht Hitlers Rassenwahn und Slawenha gewesen. Hitlers unmenschliche Kolonialpolitik rettete Stalin, der auf dem Hhepunkt der Schlacht um Moskau den im Volk verhaten marxistischen Internationalismus durch einen grorussischen, das heit panslawistischen Sowjetpatriotismus ersetzte. Es ist genau 40 Jahre her, seit Alexander Dallin 1958 in seinem Buch Deutsche Herrschaft in Ruland 19411945 berzeugend herausgearbeitet hat, da die Bevlkerung in den eroberten Gebieten zunchst groe Bereitwilligkeit gezeigt hatte, die deutsche Herrschaft zu akzeptieren. Erst Hitlers Kolonisationsplne und das Verhalten der Besatzungsbehrden trieben die Menschen, die Stalins Bolschewismus ebenso haten wie den Antislawismus Hitlers, zu den Partisanen. Stalins Groer Vaterlndischer Krieg zeigte ein Janusgesicht: Es war einerseits ein Vernichtungskrieg gegen den ueren Feind und andererseits zugleich eine physische Vernichtung der eigenen Vlker. Von Anfang an zeichnete sich die sowjetische Kriegfhrung durch Brutalitt und Menschenverachtung aus. Stalins Armee kmpfte ohne Rcksicht auf Verluste, die Straen des Sieges waren gepflastert mit den Leichen rcksichtslos geopferter Soldaten. Wenn Angriffe steckenblieben, wurde Division nach Division an derselben Stelle in den Kampf gejagt mit Feuer von hinten. Minenfelder wurden mit den Fen gnadenlos vorwrts getriebener Schtzen gerumt.

14

Stalins Armee verlor bis zu zehnmal mehr Soldaten als die Wehrmacht. Jene Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, wurden nach dem Krieg als Vaterlandsverrter in den GULag gesteckt. Mit der gleichen Menschenverachtung wurden die deutschen Kriegsgefangenen behandelt, zumal die UdSSR der Genfer Konvention von 1929 nicht beigetreten war. Im Sommer 1941 stie die Wehrmacht bei der Rckeroberung zeitweilig verlorengegangener Orte auf Leichen verstmmelter Verwundeter. Es waren deutsche Kriegsgefangene, gefoltert und ermordet. Pogrome gegen die deutsche Zivilbevlkerung beim Einmarsch der Roten Armee in Ost- und Mitteldeutschland charakterisierten Stalins Vernichtungskrieg gegen ein anderes Volk, vergleichbar den Pogromen der Himmlerschen Einsatzgruppen im Rcken der Wehrmacht 1941/42. In Stalins sowjetisch-deutschem Vernichtungskrieg verlor allein Ruland ein Fnftel seiner Bevlkerung -31 Millionen! Drfer wurden total entvlkert, Millionen russischer Witwen blieben in einem wie ausgestorbenen Land zurck. Stalins Sieg ber den Hitlerfaschismus festigte seine Tyrannei auf Kosten der russischen Volkssubstanz. Die 74 Jahre andauernde Herrschaft des Kommunismus in Osteuropa und Mittelasien zerstrte den organischen Lebensablauf der Vlker, Klassen, Kulturen. Alle Verluste, die das russische Volk seit der Zeit der

15

Wirren (Smuta) im 17. Jahrhundert erlitten hat, lassen sich auch nicht im entferntesten mit dem Aderla und dem Niedergang whrend der bolschewistischen Epoche vergleichen. Der Bolschewismus war nichts anderes als der kollektive Mord ganzer Ethnien, Kirchen, Klassen, die Lenin und Stalin im Namen der ideologischen Rechtglubigkeit zum Untergang verurteilt hatten. Das Zentrum der Vernichtungsmaschine war der GULag. Gulagismus wurde, zu Recht, das Symbol fr den Versuch, Kulturnationen und ihre Wertesysteme und Religionen auszurotten. Archigulag bleibt das Schlsselwort fr ein Verbrechen, das die Menschheitsgeschichte vordem nicht gekannt hat. Die Khnheit des Denkens und der Gedankenfhrung, die Originalitt der Interpretation und die prgnanten Formulierungen verleihen den Arbeiten russischer Revisionisten eine epochale Bedeutung. Die Ideologen haben die Welt nur anders interpretiert, es kommt darauf an, die Interpretation zu verndern durch mutige Revisionisten, die auch der Tabu-Frage nach der Vergleichbarkeit nicht ausweichen. In ihrer Untersuchung der Genesis des Leninschen und Stalinschen Totalitarismus nhern sich die russischen Revisionisten der Zentralthese Ernst Noltes: da Hitlers Antibolschewismus als Gegenvernichtung verstanden werden mu, als Antwort auf die bolschewistische Bedrohung. Ihren

16

Ursprung verdanken die faschistischen Bewegungen der ideologischen Kriegserklrung durch den Bolschewismus. In der berarbeiteten Neuauflage seines Werkes Der europische Brgerkrieg 1917-1945 vertieft Nolte seine Kernthese, wonach zwischen dem Bolschewismus und dem militanten Antibolschewismus der faschistischen Bewegungen (Italien, Deutschland) ein Verhltnis von Aktion und Re-Aktion, von Herausforderung und Antwort bestanden hat, folglich auch ein urschlicher Zusammenhang zwischen den Vernichtungsmanahmen der beiden Regime. Im Brennpunkt des Nolte-Buches steht die Frage, ob es sich am 22. Juni 1941 um einen Prventivkrieg, einen berfall oder einen Gegenangriff gehandelt hat. Nolte gelangt zu dem Resultat, da es sich auf beiden Seiten um einen unvermeidbaren Entscheidungskampf gehandelt habe ideologisch, machtpolitisch, militrisch. Ein Prventivkrieg kann nicht auf blo objektiven Tatsachen beruhen; zu seinem Begriff gehrt unabdingbar ein Gefhl unmittelbaren Bedrohtseins auf der Seite des Angreifers, schreibt Nolte. Aber ein Angriffskrieg ist gleichwohl nicht notwendigerweise schon deshalb ein berfall, weil er nicht ein Prventivkrieg ist. Er kann ein objektiv begrndeter und unvermeidbarer Entscheidungskampf 3 sein. In dem im Mrz dieses Jahres erschienenen Briefwechsel Francois Furet Ernst Nolte besttigt der franzsische Historiker Noltes Kernaussage von der dialektischen Beziehung zwischen Kommunismus

17

und Faschismus; die Frage sei, bemerkt Furet im August 1996, inwieweit sich die beiden groen, vom Ersten Weltkrieg gezeugten Massenbewegungen gegenseitig 4 bedingten und verstrkten.

18

1 Geheimarchive nicht mehr geheimJahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands zerbrach die Kolonialmacht Sowjetunion unter dem Ansturm der neuen Nationalbewegungen. Der Nationalismus besiegte den Kommunismus. Ein multinationales Imperium zerfiel in seine nationalen Bestandteile. Der 9. Mai 1945 hatte den Untergang der Siegermacht nicht stoppen knnen, sondern nur hinausgezgert. Nicht alle Historiker akzeptieren diesen Tatbestand. Als Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges bezeichnete Professor Jewgennij Ussenko die von Deutschland geforderte Rckgabe der sogenannten Beutekunst. Als Chefgutachter der Russischen Akademie der Wissenschaften bert Ussenko die Staatsduma und den Fderationsrat. Seine Ablehnung formulierte er in einem offenen Brief an Bundeskanzler Helmut 5 Kohl. Der Wissenschaftler scheint den August und den Dezember 1991 verschlafen zu haben. In der Russischen Augustrevolution war die Alleinherrschaft der Bolschewiki wie ein Kartenhaus zusammengestrzt, die KPdSU entmachtet worden, und im Dezember dieses welthistorischen Jahres hatten der Russe Jelzin, der

46

19

Ukrainer Krawtschuk und der Weirusse Schuschkjewitsch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken fr aufgelst erklrt. Kein anderes Ereignis in der modernen Geschichte war hnlich bedeutsam und durch seine Pltzlichkeit hnlich berraschend wie die Implosion des Sowjetimperiums. Vor der Geschichte bedeutet der Zusammenbruch der Staatsschpfung Lenins und Stalins die denkbar radikalste Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Von diesem Schlag hat sich die westliche Linke bis heute nicht erholt. Jede nderung in der Geschichte gebiert automatisch das Lager der Revisionisten und das der Konterrevisionisten: Aus dem Zusammenprall beider Lager entstand der russische Historikerstreit. Zu den Antirevisionisten zhlt etwa Ussenko, whrend Boris Jelzin ins Lager der Revisionisten gehrt. Jelzin dekretierte die Ersetzung der roten Sowjetfahne mit Hammer und Sichel durch die petrinische Flagge Wei-Blau-Rot und den Tausch der Stalinhymne gegen Glinkas Patriotisches Lied aus dem 19. Jahrhundert. Als neues Staatssymbol fhrte er den Doppeladler der Romanows ein. Eine fundamentalere Form des Paradigmenwechsels ist geschichtsphilosophisch nicht denkbar: Vom System der Zarenmrder zur Restauration zaristischer Symbole. Im post-sowjetischen Ruland beschftigt man sich mit Vergangenheitsbewltigung und Geschichtsaufarbeitung, jedoch nicht mit psychopathologischen Exzemethoden. Die russische ffentlichkeit ist frei von nationalmasochistischen Schuldkomplexen. In

20

das Gstebuch der KZ-Gedenksttte Dachau schrieb der russische General Alexander Lebed am 18. Januar 1997: Man soll nicht mit Pistolen auf die Vergangenheit schieen, sonst kommen Kanonenkugeln zurck. Da der bolschewistische Klassen- und Vlkergenozid ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Phnomen darstellt, ist im Bewutsein russischer Intellektueller tief verwurzelt. Whrend Solschenizyn und der Historiker Kurganow von 66 Millionen Men6 schenopfern sprechen, beziffert Lebed die Zahl der Erschossenen, Verhungerten, durch Zwangsarbeit Umgekommenen, in Brgerkriegen und Weltkriegen 7 Gefallenen im Zeitraum 1914-1991 auf 75 Millionen. Daraus den Schlu zu ziehen, da alle noch lebenden Kommunisten mit Berufsverbot, Parteiverbot, Druckverbot, gesellschaftlicher chtung oder polizeilicher Verfolgung bestraft werden mten, ist so absurd, da der Gedanke daran nicht einmal in der kontroversen Medien-Diskussion auftaucht. Da der Gulagismus das Bse an sich war, verleitet weder Antikommunisten noch Revisionisten dazu, in jedem Kommunisten den Bsen an sich zu sehen. Das post-kommunistische Ruland kennt weder Verfassungsschutzmter noch Verfassungsschutzberichte. Das Delikt Gulaglge existiert nicht, folglich gibt es auch keine politische Justiz, politische Gefangene gehren der Vergangenheit an, Zensur und Indizierung finden nicht statt. Eine polizeigeschtzte Staatsreligion bilden weder der Antistalinismus noch der Antifaschismus. In Ruland gibt es keine Verbotszonen in Sachen

21

Vergangenheitsbewltigung. Als im Oktober 1995 die Moskowskije Nowostij und die Iswestija berichteten, der Generalstaatsanwalt habe ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet (Nr. 16-123 666), das die Ermordung der Zarenfamilie im Jahre 1918 erneut aufrollen soll, wurde bekannt, da die Staatsanwaltschaft eine Version der Ermordung ausgearbeitet hatte, wonach Juden den Zaren gemartert und einen Ritualmord verbt htten. Die Staatsanwaltschaft Rulands hatte in diesem Zusammenhang den Patriarchen Alexij II. um Amtshilfe 8 gebeten. Und die Pressereaktion in Sachen Ritualmord 1918? Wtende Aufschreie, Vorwrfe des Antisemitismus, der Ruf nach dem Kadi? Nichts von alledem. Der Unterschied zu Deutschland ist eklatant. Beruht die Vergangenheitsbewltigung hierzulande auf Konformismus, ist es in Ruland Differenz. Folgende Besonderheiten charakterisieren den Revisionismus und den Historikerstreit in Ruland: Der Diskurs findet im herrschaftsfreien Raum statt, ohne Einmischung von Staat, Regierung, Justiz. Ein Schwerpunkt besteht in der kontroversen Fixierung der Opferzahlen (Brgerkrieg, Kollektivierung, Groe Tschistka, Zweiter Weltkrieg). Ein anderer Schwerpunkt ist die Prventivkriegsthese, also die Frage, ob es sich um einen Angriffskrieg oder einen Gegenangriff gehandelt hat, wobei auch hier auffllt, da Gegner wie Befrworter dieser These

22

bemht sind, rein wissenschaftlich, nicht ideologisch zu argumentieren, ohne gegenseitige persnliche Anschuldigung. Die Herrschaft Stalins in der Authentizitt zu erfassen, in ihrer Widersprchlichkeit (Nationalittenpolitik, grorussischer Messianismus, Bauernfeindschaft, Kirchenpolitik, Judenfrage, Armeesuberung) aufzuzeigen und deren Grnde zu erforschen, beschftigt beide Lager. Die Revisionisten rumen auf mit dem Mythos einer siegreichen, unschlagbaren, integren Roten Armee, die von 1941 bis 1945 einen reinen Verteidigungskrieg gefhrt habe. Dagegen verteidigen die Antirevisionisten das Dogma vom Groen Vaterlndischen Krieg als eine lebensgeschichtliche Erfahrung von Millionen Russen. Russischer Revisionismus ist strukturell auf eine wohlverstandene Historisierung angelegt, auf das Verstehen als einen Verstndigungsversuch im konkurrierenden Diskurs, ungeachtet der Tatsache, da die sowjetische Klassen- und Vlkervernichtung als Modell des modernen Genozids und als das verwerflichste Verbrechen in der russischen Geschichte nicht in Zweifel gezogen wird. Der russische Revisionismus bercksichtigt die schwer traumatisierten Verfolgungs- und Kriegsopfer, in der Gewiheit, da das Verzeihen in den Lagern und

23

Schtzengrben nicht gestorben ist. Das russische Volk verweigert sich einer Selbstverhhnung und Selbstverdammung, es will keinen nachtrglichen Brgerkrieg, keine neue Tschistka, keine demokratische Entkommunisierung per chtungslisten, Publikationsverbote, Tribunale. Vergangenheitsbewltigung in Ruland kennt keine russophobe Seelenlandschaft. Betroffenheitsfanatiker sucht man vergeblich, Betroffenheitsrituale sind nicht an der Tagesordnung. Einig sind sich alle darber, da es fr die historische Forschung und die ffentliche Debatte keine Tabus geben darf, keine Denkblockaden, keine Gedankenverbote, keine juristischen Grenzen der Geschichtsinterpretation und auch kein Odium des Anrchigen. Rulands Vergangenheitsbewltigung bedeutet eine Zsur in der Geschichte des post-faschistischen und post-kommunistischen Europa: Nichts ist revolutionrer, als zu erkennen und auszusprechen, was war. An seine Verbannung im sibirischen Krasnojarsk zur Breschnew-Zeit erinnert sich Sergej Kowaljow. Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte in der frhen Jelzin-ra mute damals aus Platzmangel in einer berfllten Todeszelle ausharren. Nachts kamen die Henker und fhrten die Todeskandidaten auf den engen, von Patrouillen bewachten Korridor. Wenn

24

einer schrie, verschlo man ihm mit Pflastern den Mund. Die Hinrichtung erfolgte durch einen Genickschu, wobei der Kopf des Delinquenten ber ein Klosettbecken gestoen wurde, damit kein Blut auf den Korridor spritzte. Jede Nacht, erinnert sich Kowaljow, kamen sie. Wenn sie die Zellentr verschlossen hatten, waren alle erleichtert und schliefen endlich ein. Dieses Gefhl der Erleichterung vergit man nie wie9 der. Die Henker von damals sind heute, soweit nicht pensioniert, immer noch in Amt und Wrden, denn auch die Jelzin-ra kennt Gefngnisse, Straflager, Todeszellen, wenn auch, und das ist der entscheidende Unterschied, nicht fr Politische. Gefangene aus politischen, weltanschaulichen, religisen Motiven im Ruland von heute unvorstellbar. Der mutige Dissident Sergej Kowaljow hat fr die Henker von damals nicht die Todesstrafe als Shne verlangt. Gefhlsduselei, moralische Gleichgltigkeit oder falsch verstandene Humanitt sind dafr nicht ausschlaggebend. Ein freies Ruland, das mit Galgen und Genickschssen seine Existenz begrnden wollte, wre kein freies Ruland.

ber 14 Millionen Dokumente in SonderverwahrungDer Zugang zu den frher verschlossenen Justizakten und Geheimarchiven verlieh dem Revisionismus einen mchtigen Schub. Die Nachforschungen konnten sich auf einer breiten wissenschaftlichen Basis entfalten.

25

Praktisch jede sowjetische Staats-, Partei- und Militrinstitution besa eine eigene Geheimakten-Sammlung: das Zentralkomitee, das Politbro und das Parteisekretariat ebenso wie das Innen- und Justizministerium, die Rote Armee, die historischen Institute, die Forschungs- und Lehranstalten, Presse, Gewerkschaft, Komsomol, ganz abgesehen von den offiziellen Geheimdienstorganisationen wie Polizei, KGB, Abwehr, Auslandsspionage. Im Zentrum des Spinnennetzes: der GULag mit seinen Lager-, Sklaven-, Todeslisten. Alles in allem eine schier unabsehbare Zahl von Kellern und Stahlschrnken voller Dokumente. Zwischen 1918 und 1991 fielen fast 14 Millionen Dokumente unter eine besondere Geheimhaltungsstufe, die Sonderbehandlung. Nicht alle Aktenverliese des Terrors konnten bis heute geknackt werden, noch liegen nicht alle Geheimnisse auf dem Schreibtisch der Geschichtsforscher. Gegen die ffnung von Archiven mit historischem Explosivpotential sperrt sich der Prsident. Doch die Methoden, Verbote zu unterhhlen, haben sich unter den Bedingungen legaler wissenschaftlicher Enttabuisierung verfeinert. In einer korrumpierten Gesellschaft bleiben Geheimnisse nicht lange verschlossen, und journalistische Cleverne frdert den Inhalt der Giftschrnke ans Licht einer sensationshungrigen ffentlichkeit. Wo alles kuflich geworden ist, kommt auch die Erforschung der historischen Wahrheit zum Zuge. Russischer Revisionismus ist ein Abenteuer mit vielen, manchmal sogar bunten Facetten.

26

Ein wichtiges Gebiet des Revisionismus umfat das Kapitel Rehabilitierung. Unter Chruschtschow waren zwischen 1956 und 1961 fast 740 000 Opfer des Stalinschen Terrors juristisch rehabilitiert worden. Im Jahre 1989, im Endstadium von Glasnost, kam es unter Gorbatschow erneut zu mehr als 800 000 Rehabilitierungen, das heit Aufhebung von Verurteilungen aus politischen Grnden. Seit dem Erla des Gesetzes der Russischen Fderation vom 18. Oktober 1991 ber die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung wurden bis Mitte 1996 bei regionalen und lokalen Stellen des Innenministeriums, bei den zivilen Staatsanwaltschaften und bei Militrstaatsanwaltschaften 2,6 Millionen Antrge auf Rehabilitierung gestellt. Stattgegeben wurden rund zwei Millionen. Die hohe Zahl der Rehabilitierungen zeugt vom riesigen Ausma der stalinistischen Verfolgung, die seit Ende der zwanziger Jahre bis zu Stalins Tod 1953 in verschiedenen Terrorkampagnen alle Schichten der Bevlkerung in Mitleidenschaft 10 zog. Nach Recherchen des Moskauer Journalistenbundes und der Vereinigung der Verfolgungsopfer leben heute in Ruland rund 60 Millionen Menschen, deren Angehrige verhaftet, interniert oder erschossen worden 11 sind. Was besagt, da jede zweite russische Familie unter dem stalinistischen Terror unmittelbar zu leiden hatte.

27

ber 5000 ArbeitsvernichtungslagerEin gigantisches Aktengebirge ber deutsche Soldaten und Zivilverschleppte stapelten NKWD, MGB und KGB in ihren Sonderarchiven, insbesondere im Geheimarchiv der Hauptverwaltung fr Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten, kurz GUPWI. ber das Schicksal von mehr als vier Millionen Kriegsgefangenen und Zivilisten zwischen 1941 und 1956 wurde penibel Buch gefhrt vier Millionen, darunter auch Frauen und Jugendliche, in ca. 5000 Arbeitsvernichtungslagern des Archipels GUPWI. Zwlf Stunden Arbeit am Tag bei bis zu minus 50 Grad, Hungerrationen und Schreibverbot bestimmten die Leidenszeit, die Hunderttausende nicht berlebten. Vernichtung durch Sklavenarbeit, Erschpfung und Unterernhrung. Rund 30 000 deutsche Kriegsgefangene sind zwischen 1941 und 1950 als angebliche Kriegsverbrecher verurteilt worden. Tausende von Todesurteilen wurden vollstreckt, die meisten von den Verurteilten zur Zwangsarbeit in die Todeslager der Polarzone geschickt. Die Beschuldigungen vieler verurteilter Kriegsgefangener sind abstrus und oft nachweislich erfunden. Meist wurden festgestellte Zerstrungen und Menschenverluste auf die ausgesuchten Angeklagten aufgeteilt; nicht selten beglichen NKWD-Mitglieder persnliche Rechnungen mit renitenten Kriegsgefangenen. Der sogenannte Ukas 43 vom April 1943 ffnete der Willkr Tr und Tor. Er befahl,

28

alle Schuldigen zu verurteilen, sie im Falle des Todesurteils aufzuhngen und zur Abschreckung drei Tage hngen zu lassen. Zwischen Mai 1947 und Januar 1950, als die Todesstrafe in der UdSSR abgeschafft war, wurden alle Todesurteile automatisch in 25 Jahre 12 Lagerhaft umgewandelt.

Arbeits- und Besserungslager ein Zeuge erinnert sichAls ich im Mai 1945 in sowjetische Gefangenschaft gehen mute, habe ich die Fragen nach Truppenteil und Einsatzorten wahrheitsgem beantwortet. Die Sowjets bemhten sich, aus ber 3 000 000 deutschen Kriegsgefangenen mglichst viele Verbrecher herauszufinden und zu verurteilen. Als ich im Mai 1949 in das berchtigte Untersuchungsgefngnis in Stalinogorsk eingeliefert wurde, weil ich mich gegen die unmenschliche Behandlung in der Gefangenschaft zur Wehr gesetzt hatte, lief die Kampagne gegen die deutschen Verbrechern auf Hochtouren. Mit Folterungen wollte man Gestndnisse erzwingen, und durch Gegenberstellungen mit Zivilisten, wo die Verbrechen angeblich begangen wurden, sollten die Verbrecher berfhrt werden. Aber die russischen Menschen, denen ich in Krieg und Gefangenschaft immer mit grter Hochachtung begegnet bin, hatten den Mut, die Wahrheit zu sagen und die Anschuldigungen nicht zu besttigen, jedenfalls in der Masse der Flle. Auch mich versuchte der Untersuchungsrichter wegen

29

Kriegsverbrechen zu berfhren, aber er gab es bald auf und klappte die Akte, die ber meine Division angelegt war, wieder zu. Statt dessen wurden auf Befehl Stalins etwa 30 000 deutsche Kriegsgefangene wegen angeblicher Kriegsverbrechen ohne jede rechtsstaatliche Ermittlung zu 25 Jahren Arbeits- und Besserungslager verurteilt. Stalin brauchte Geiseln. Nach seinem Tod konnten seine Nachfolger diese Ungeheuerlichkeit vor der Weltffentlichkeit nicht lnger aufrechterhalten, und so wurden die Geiseln 1953 und 1955 endlich repatriiert. Die Heimat hat uns damals mit Erleichterung, tiefer Dankbarkeit und berwltigendem Jubel empfangen. Keiner fragte nach den Urteilen, es war bekannt, da sie das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben 13 waren. Im Oktober 1955 beschlo das Bundeskabinett, die in der Sowjetunion gefllten Urteile nicht anzuerkennen. Dennoch wurde dieses Terrorkapitel von den Bonner Auenministern v. Brentano bis Brandt und Genscher als so explosiv (friedensgefhrdend) eingestuft, da man es aus der historisch-ffentlichen Diskussion verbannte deutsche Revisionisten bekamen keine Chance. Der unabhngigen Wissenschaftlichen Kommission fr deutsche Kriegsgefangenengeschichte unter Federfhrung des Zeithistorikers Professor Dr. Erich Maschke, die zwischen 1962 und 1974 eine Dokumentation ber deutsche Kriegsge14 fangene im Zweiten Weltkrieg in 22 Bnden herausgab, wurde es sogar verboten, das Schicksal der unter Stalin verurteilten Soldaten und Offiziere der Wehrmacht zu publizieren.

30

Zu den verurteilten Deutschen gehrten mehrere zehntausend Zivilisten, Jugendliche und Frauen, die vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet, nach der Verurteilung erschossen oder in den Archigulag deportiert wurden. Selbst Zwlfjhrige waren von der Verurteilung als Kriegsverbrecher nicht ausgenommen. Nach der Wiedereinfhrung der Todesstrafe in der UdSSR 1950 wurden die in der DDR von sowjetischen Militrgerichten zum Tode verurteilten Deutschen zur Erschieung in die Sowjetunion gebracht. In zahlreichen Fllen blieben Ort und Datum der Hinrichtung unbekannt. Im Zentralarchiv des russischen Innenministeriums in den Kellern der Lubjanka lagern heute insgesamt 25 Millionen (!) Strafprozeakten der Sowjetzeit, im ehemaligen Sonderarchiv des KGB befinden sich etwa 33 000 Personalakten verurteilter Deutscher. Eine unbekannte Zahl von Prozedokumenten liegt noch in den Bunkerregalen des Geheimen Militrarchivs der ehemaligen UdSSR. 1993 konstituierte sich in Moskau eine Sonderabteilung der Militrstaatsanwaltschaft zur Rehabilitierung auslndischer Staatsbrger, eine Kommission von 47 Mitarbeitern unter Leitung von Oberst Kopalin. Diese rehabilitierte im Verlauf von drei Jahren 4875 verurteilte Deutsche, grtenteils Zivilisten. 417 Antrge von ehemaligen Kriegsgefangenen wurden abgelehnt, 750 Antrge muten eingestellt werden, da man die entsprechenden Akten nicht finden konnte. Ein furchtbares Erbe des stalinistischen Staatsterrors Hunderte von Geheimarchiven, Millionen von

31

Prozeakten, aber es sind weder Personal noch finanzielle Mittel vorhanden, um diesen singulren Schrecken nur einigermaen dokumentarisch aufzuarbeiten. Vor dieser Aufgabe stehen die Forscher des russischen Revisionismus. Sie graben die Wurzeln des Schreckens aus. Ihre Erkenntnis: Der Bolschewismus war von Anfang an ein Regime des Massenverbrechens. Besttigt wird diese Interpretation durch einen 850 Seiten starken Sammelband, der 1997 in Frank15 reich erschien. Herausgeber Stephane Courtois schrieb das brisante Vorwort, in dem es u. a. heit: Der Tod eines ukrainischen Bauernkindes, das vom stalinistischen Regime vorstzlich dem Hunger berlassen wurde, zhlt genausoviel wie der Hungertod eines Kindes im Warschauer Ghetto. Die Kernthesen des Historikers Courtois lauten: In der Sowjetunion und in den brigen kommunistischen Regimes wurden rund 100 Millionen Menschen ermordet. Erschossen, erhngt, verbrannt, durch Hunger und Zwangsarbeit zu Tode gemartert. Die Kommunisten haben das Massenverbrechen zum Regierungssystem gemacht. Der Terror hatte schon mit Lenin begonnen. Die von Lenin erprobten, von Stalin systematisierten

32

Methoden des Klassen- und Vlker-Genozids gingen der Diktatur Hitlers voraus. Stalin war im Vergleich zu Hitler der grere Verbrecher. Die Mitverantwortung Stalins fr die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ist unbezweifelbar. Courtois sieht im Kommunismus das blutigste Mrdersystem in der Geschichte der Menschheit, der Schrecken der Schrecken, die grausamste Tyrannei, die je die Welt entstellt hat.

33

2 Stalin plante Angriffskrieg gegen Hitler

D

ie Aufarbeitung der Geschichte des ehemals kommunistischen Ruland ist vor allem angewiesen auf biographische Literatur, Presse- und Archivmaterial. 14 000 handgeschriebene Manuskriptseiten hinterlie etwa Lasar Mojsejewitsch Kaganowitsch, einer der engsten Vertrauten Stalins und einer der Hauptverantwortlichen fr den Massenterror der Stalin-Epoche. In den dreiiger Jahren nannte man ihn den Henker der Ukraine. Fast drei Jahrzehnte lang stand der Duzfreund Stalins in der ersten Reihe der bolschewistischen Fhrung. Er war Sekretr des ZK der KPdSU, stellvertretender Ministerprsident, Volkskommissar fr Verkehr und Industrie. Whrend der Groen Tschistka gehrte er zum inneren Kreis des Politbros. Vier Jahre nach Stalins Tod, im Juni 1957, wurde Kaganowitsch von Chruschtschow entmachtet, aus dem Politbro und dem Zentralkomitee entfernt, 1961 aus der Partei ausgeschlossen. Sechs Jahre nach seinem Tod im Alter von 97 Jahren erschienen seine Memoiren 1996 in einem Moskauer Verlag unter dem Titel Pamjatnije sapiski (Erinnerungen). Selbstkritische Bemerkungen, Zweifel oder Reue

34

sucht man auf den 570 Seiten vergeblich. Die zehn Millionen Opfer der Kollektivierung und der Hungersnot der Jahre 1928 bis 1933, die Ermordeten (mindestens zwei Millionen) des Groen Terrors 1936-1938, der Archipel GULag mit 7 Millionen Arbeitssklaven im Jahre 1939 das unvorstellbar Grauenvolle ist dem Sohn eines jdischen Tagelhners aus einem Dorf im weirussisch-ukrainischen Grenzgebiet unweit von Tschernobyl keine Zeile wert. Statt dessen rechtfertigt er die Genozidpolitik Lenins und Stalins, verflucht alle Klassenfeinde des Sozialismus als Agenten, Saboteure, Spekulanten, Kulaken. Kaganowitsch verherrlicht den groen Fhrer der Sowjetunion Stalin, nennt ihn Vater der Vlker. Aus den 1996 zugnglich gemachten Besucherlisten von Stalins persnlicher Kanzlei geht hervor, da nach Molotow keiner so hufig von Stalin empfangen wurde wie Kaganowitsch. Was Stalins Protege in seinen Erinnerungen nicht erwhnt: Eine Schwachstunde im Oktober 1941, als die deutschen Panzerdivisionen den groen Riegel der 1. Moskauer Schutzstellung gesprengt hatten noch 100 Kilometer Autobahn, und die Moschaisker Chaussee fhrte direkt zum Roten Platz. In seinem dokumentarischen Roman Moskau schreibt Theodor Plievier, der in die Sowjetunion emigrierte deutsche kommunistische Schriftsteller, ber eine Politbrositzung. Stalin selber war vollkommen verzweifelt und gab den Krieg schon verloren. Und seine Berater? Der Moskauer Parteisekretr Schtscherbakow forderte die Verteidigung der Hauptstadt. Die anderen schwiegen. Marschall Woroschilow, Wirt-

35

schaftskommissar Wosnjessenskij, Verkehrskommissar Kaganowitsch vllige Ratlosigkeit herrschte unter der Kremlkuppe. Molotow schlug vor, Moskau zu rumen und mit Hitler zu verhandeln. Und immer noch schwieg Stalin, schwieg Kaganowitsch. Zaghaft untersttzt vom Wolgarussen Malenkow, forderte allein der Armenier Mikojan den Endkampf in den Straen Moskaus. Mit einfacher Mehrheit beschlo man, den Krieg fortzusetzen, obwohl an einen Sieg schon niemand mehr glaubte. Plievier schrieb: Moskau lag wehrlos vor den Deutschen. Sie htten durch rechtzeitigen Einsatz einer kampfkrftigen Division die Hauptstadt erobern und einen zumindest partiellen Sieg ber die Sowjetunion 16 davontragen knnen. Als Moskau 1952 erschien, stieen Plieviers Thesen im Westen auf Skepsis, in der Sowjetunion auf Emprung. Nur vier Jahre spter sollte Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag die Darstellung des deutschen Kommunisten besttigen. Bis zuletzt hatte Kaganowitsch an den Sowjetkommunismus leninistischer und stalinistischer Prgung geglaubt. In seinen Memoiren glorifiziert der Altbolschewik den genialen Lehrer Lenin, ber den seit Beginn der Glasnost-ra eine schier unberschaubare Flle von Enthllungen hereinbrach. Hier erscheint Lenin als grausamer, zynischer Machtpolitiker. Hngt (aber so, da es die Leute sehen) mindestens hundert Kulaken, Reiche und Blutsauger auf. Verffentlicht ihre Namen. Nehmt ihnen alles Getreide ab, bestimmt Geiseln, schrieb Lenin im August 1918 an

36

Parteifunktionre in der Provinz Pensa, wo ein Bauernaufstand entbrannt war. Drei Jahre spter, nachdem Tscheka und Rote Armee die Bauernerhebung im Blut erstickt hatten und eine Hungersnot fnf Millionen Menschenleben dahinraffte, rief Lenin zur Liquidierung der Kirche und Priesterschaft auf: Jetzt, wenn in den Hungergebieten die Leute Menschenfleisch essen und Hunderte, wenn nicht Tausende Leichen auf den Straen liegen, knnen (und mssen) wir die Beschlagnahme der Kirchenschtze mit der wildesten und erbarmungslosesten Energie durchfhren, ohne vor irgendeinem Widerstand haltzumachen ... Beide Briefe und weitere 120 bisher unbekannte Dokumente Lenins hatten russische Historiker 1995 in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Osteuropaexperten Richard Pipes im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv 17 entdeckt. Wenn von Vernichtungspolitk und Weltanschauungskrieg die Rede ist, wenn Unterwerfungs- und Vernichtungspraxis, Massenexekutionen und Suberungsaktionen thematisiert werden, kann das Kapitel Lenin nicht fehlen. Diesem Thema widmen die russischen Wochenzeitungen und Monatszeitschriften breiten Raum, von links bis rechts. Keine Nummer seriser russischer Zeitschriften ohne einen relevanten Beitrag mit neuen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen. Aus Anla einer Denkmalsenthllung in der KZKolonie Kolyma erinnert der Schriftsteller Leonid Schuchwitzkij an den stalinistischen Holocaust in

37

den ostsibirischen Goldminen. Drei Millionen Tote allein in den dreiiger Jahren verhungert, erfroren, erschlagen, erschossen. Die Industrialisierung des Massenmordes, eine Errungenschaft des Kommunismus, liest man in der Moskauer Literaturzeitung vom 3. Juli 1996. Lenins Verhltnis zu den Februarrevolutionren 1917 und seine Hasardstrategie untersucht der Historiker Professor W. T. Loginow in der Prawda vom 15. Mrz 1997. ber diskriminierte Dichter, Geistesunterdrckung, Verfolgung der Frhdissidenten unter Chruschtschow berichtet aus eigenem Erleben der russisch-jdische Schriftsteller Daniil Granin in Literaturnaja Gaseta vom 12. Mrz 1997. Der Historiker Stanislaw Tarasow recherchierte ber Stalins Terroristenttigkeit im Kaukasus vor 1917 und die Grnde der Todfeindschaft zwischen dem Menschewikenfhrer Julij Martow alias Zederbaum und Stalin in der Prawda Fnf vom 21. Mrz 1997. Stalins manische Furcht vor der Popularitt eines Schukow und die Intrigenversuche des Diktators, den Marschall noch vor der Kapitulation Deutschlands als einen politischen und militrischen Versager hinzustellen Warum haben Sie Hitler nicht lebendig bekommen? , schildert eine Zeitzeugin, die SchukowVertraute Elena Rschewskaja in Literaturnaja Gasetavom 27. November 1996. In einem neuen Licht erscheinen auch die letzten Tage Stalins; in den Tod getrieben von seinen nchsten Mitarbeitern, gehat von Malenkow, Chruschtschow,

38

Bulganin, vor allem jedoch von dem Geheimpolizeichef Berija, der schon damals, im Mrz 1953, eine Palastrevolution anstrebte. Angeblich sei der 73jhrige Diktator vllig gesund gewesen, bis zu der Nacht des 2. Mrz, als er aus medizinisch unerklrlichen Grnden eine Gehirnblutung mit Schlaganfall erlitt, behauptet der Historiker Michail Dokutschajew im national-russischen Schriftstellerorgan Literaturnaja Rossija vom 11. Oktober 1996. Aus bis vor kurzem verschlossenen Archiven schpft der Revisionist Oleg Chlewnjuk sensationelle Erkenntnisse ber die Zerschmetterung des von AltLeninisten besetzten Politbros im Zuge des Groen 18 Terrors. Chlewnjuk weist nach, da sich mit der physischen Liquidierung der allermeisten Politbromitglieder das sowjetische Machtzentrum zur Regierung verschob, zum Rat der Volkskommissare (Sownarkom), dessen Vorsitzender im Mai 1941 Stalin selbst wurde. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tode inne. Nach dem groen Sprung whrend des 1. Fnfjahresplanes terroristische Bauernlegung durch die Kollektivierung und beschleunigter Aufbau einer gigantischen Schwerund Rstungsindustrie wagte Stalin ab 1934, nach der Ermordung des Rivalen Kirow, einen zweiten groen Sprung: Entmachtung des internationalistischen Fhrungszentrums der alten Garde zugunsten eines grorussisch orientierten Regierungszentrums. Anders ausgedrckt: vom altbolschewistischen Parteimythos zur Realitt der neuen Sowjetstaatlichkeit;

39

vom berflssigen Internationalismus zum nationalen Sozialismus stalinscher Prgung. Der Diktator wechselte nicht nur die Prioritten aus, sondern auch die Motive und Ziele. Im neuen Koordinatensystem war fr die Bucharin, Sinowjew, Kamenjew kein Platz mehr. Ab 1938 war das Politbro zu einer rein beratenden Instanz degradiert, ungeachtet der Tatsache, da Stalin wichtige Entscheidungen zuerst dem Politbro mitzuteilen pflegte. So wurde das Politbro zu einer Art Schattenkabinett, besetzt von Regierungsmitgliedern. Stalins Rechtsschwenk in den Jahren 1936 bis 1938 rechts aus der Sicht der alten Internationalisten untersucht ein anderer Revisionist, Anatolij Iwanow. Der Autor des Buches Logik des Alptraums, das 1993 auf russisch erschien, sttzt sich in erster Linie auf 19 Primrquellen. In diesem Standardwerk des russischen Revisionismus werden erstmals die ideologischen, vor allem jedoch die ethno-psychologischen Hintergrnde der Erschieung Marschall Tuchatschewskijs und seiner Generle wissenschaftlich durchleuchtet. Warum enthauptete Stalin seine Armee? Nach Iwanow hatte der Diktator dafr mehrere Grnde: Zum einen organisierten die fhrenden Militrs einen Parteiputsch gegen Stalin, zum anderen bestand die Generalitt zu 90 Prozent aus Nichtrussen sie spuckten auf Ruland , altgedienten Internationalisten-Leninisten, die nach 1933 einen Prventivkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland befrworteten, nach den Vorstellungen Tuchatschewskijs sogar im Bndnis mit England und Frankreich. Der

40

Nationalkommunist Stalin stand ihnen im Wege. Die Motive des Georgiers 1936/37: Russifizierung der Sowjetarmee und Anknpfung an zaristische Militrtraditionen, Glorifizierung autoritrer Herrscher wie z. B. Iwan den Schrecklichen, Peter den Groen, Liquidierung der internationalistischen Linksopposition, Abkehr von den Dogmen Weltproletariat und Weltstaat, Hinwendung zum moskowitischen Imperialgedanken, Aufbau des Sozialismus in einem Land. In den Geheimprozessen wurden die angeklagten Militrs als Einfluagenten des Faschismus denunziert nach Iwanow eine propagandistische Farce, bestand doch ein wesentlicher Teil der Beschuldigten aus jdischen Brgerkriegshelden. Auch die Suberungsopfer Sinowjew und Kamenjew gehrten zur jdischen Avantgarde des Leninismus; sie waren Antifaschisten der ersten Stunde, bedingungslose Feinde Hitlers und Hitler-Deutschlands. Ausgerechnet den jdischen Altbolschewiken eine Kollaboration mit dem judenfeindlichen Regime in Deutschland zu unterstellen, htte, so Iwanow, jeglicher Glaubwrdigkeit entbehrt. Eine Publizierung des politischen wie intim persnlichen Briefwechsels zwischen den Fhrern der Bolschewiki war, mit Ausnahme der meisten Briefe Lenins, bis 1991 verboten. Nach der Russischen Augustrevolution hat der vorhin erwhnte Revisionist Oleg Chlewnjuk, in Zusammenarbeit mit dem Historiker Alexander Kwaschonkin, die bislang geheimen Personalunterlagen des Zentralen Parteiarchivs sichten knnen. Aus den Materialien whlte Chlewnjuk

41

232 Briefe und Telegramme aus. Zu den Verfassern gehren neben Stalin und Kalinin auch Kirow, Molotow, Ordschonikidse, Trotzkij und Dzerschinskij. 1912 richtete ein gewisser Koba aus Krakau einen Brief an Lenins Freund Leo Kamenjew, der damals im Exil in Genf lebte: Ich ksse Dich mit der Nase, nach Eskimoart. Ohne dich langweile ich mich hllisch. Keinem, keinem kann ich hier mein Herz ausschtten, zum Teufel auch. 25 Jahre spter wurde der Altrevolutionr Kamenjew nach einem Schauproze als Volksfeind erschossen das Todesurteil hatte jener Koba unterschrieben, Josif Dschugaschwili, genannt Stalin. Freundschaften wie Feindschaften wurden buchstblich mit 20 Blut besiegelt.

Der Mythos von der unbesiegbaren WehrmachtEine Bresche in die Mauer von Geschichtslgen und Geschichtsklitterungen bezglich des 22. Juni 1941 schlgt ein Buch, das 1995 in Moskau erschienen ist: Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler? heit der Titel des Sammelbandes, dessen Titel eigentlich korrekt lauten mte: Angriffskrieg gegen das deutsche 21 Volk. In dieser Publikation kommen Revisionisten wie auch Kritiker der Revisionismusschule zu Wort, doch luft im Endeffekt das Ergebnis auf das gleiche hinaus: Die antifaschistische Legitimation der Kriegspolitik Stalins ab 1939 wird zerstrt. Die Version, der Zweite Weltkrieg sei ausschlielich ein vom nationalsoziali-

42

stischen Deutschland verschuldetes Verbrechen gewesen, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden. Die historische Wahrheit aus der Sicht russischer Revisionisten dokumentiert, neben den Sammelband-Herausgebern Grigorij Bordjugow und Wladimir Neweschin, der renommierte Kriegshistoriker Michail Meljtjuchow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Allrussischen Forschungsinstitut fr Dokumentation und Archivwesen. Dieses vorlufig jngste Standardwerk des russischen Revisionismus vertieft die Kenntnisse ber Stalins Vorbereitungen zu einem militrischen Erstschlag gegen Deutschland im Sommer 1941. Der strategische Aufmarschplan, am 15. Mai 1941 von Stalin bei einer Konferenz mit Generalstabschef Schukow und Verteidigungskommissar Timoschenko gebilligt, sah einen Blitzkrieg vor: Ausbruch der Panzerdivisionen und Mechanisierten Korps aus dem Brester und Lemberger Balkon, mit Vernichtungsschlgen aus der Luft. Der Auftrag bestand darin, Ostpreuen, Polen, Schlesien und das Protektorat zu erobern und Deutschland vom Balkan und damit vom rumnischen l abzuschneiden. Lublin, Warschau, Kattowitz, Krakau, Breslau, Prag galten als Angriffsziele. Ein zweiter Angriffskeil zielte auf Rumnien mit der Einnahme von Bukarest. Erfllung des Nahauftrages, die Masse des deutschen Heeres vor der Weichsel, Narew, Oder zu zerschlagen (rasgromitj), bildete die Voraussetzung fr den Hauptauftrag, Deutschland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Das in Polen

22

43

und Ostdeutschland stehende Hauptkontingent der Wehrmacht sollte in khnen Operationen unter weitem Vorantreiben von Panzerarmeen eingekesselt und vernichtet werden. Drei Begriffe tauchen im Mobilmachungsplan vom 15. Mai mehrmals auf, die den Aggressionscharakter der Absichten Stalins enthllen: berraschungsschlag (wnjesapnij udar), Vorwrtsentfaltung der sowjetischen Streitkrfte (raswertiwanija), Angriffskrieg (nastupatelnjaja woina). Von 303 an der Westfront zusammengezogenen Divisionen waren 172 fr die erste Angriffswelle bestimmt. Fr die Totalmobilisierung war ein Monat eingeplant, der Zeitraum 15. Juni 15. Juli. Michail Meljtjuchow: Davon ausgehend, erscheint es glaubhaft, da die Kriegshandlungen gegen Deutschland im Juli beginnen muten. (S. 106) Ein anderer Schwerpunkt des Sammelbandes ist die Analyse der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941, gehalten vor Absolventen sowjetischer Kriegsakademien. In dieser Rede rechtfertigte Stalin seine auenpolitische Wende im Zeichen des beschlossenen berfalls auf Deutschland. Aus kommunistischer Sicht sei ein sowjetischer Angriffskrieg ein gerechter Krieg, diene er doch der Erweiterung des Territoriums der sozialistischen Welt und der Zertrmmerung der kapitalistischen Welt. Wobei es Stalin an diesem 5. Mai vor allem darauf ankam, den, so wrtlich, Mythos von der unbesiegbaren Wehrmacht zu entzaubern. Die Rote Armee wre jetzt stark genug, jeden beliebigen Feind zu schlagen, auch die scheinbar unbesiegbare Wehrmacht.

44

Eine Diskussion im MGFADer eben erwhnte Sammelband, immerhin das Hauptwerk des russischen Geschichtsrevisionismus nach 1991, ist bis heute nicht in deutscher bersetzung erschienen. Das hngt auch oder sogar im wesentlichen mit der Revisionismus-Verteufelung hierzulande ab. Am Nachmittag des 12. Mai 1993 wurde im 23 Militrgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg ein Fachgesprch zwischen dem russischen Militrhistoriker Viktor Suworow und dem wissenschaftlichen Direktor Dr. Joachim Hoffmann ber die Frage des Prventivkrieges 1941 von einem Moskauer Fernsehteam aufgenommen. Anwesend waren neben den Genannten der Regisseur Sinelnikow, ein Dolmetscher und sieben russische TV-Operateure. Sinelnikow richtete zunchst das Wort an Dr. Hoffmann. Auf seiner Deutschlandreise habe er u. a. auch Richard von Weizscker, Marion Grfin Dnhoff, Egon Bahr, Heinrich Graf von Einsiedel (heute PDS-Bundestagsabgeordneter) und andere Persnlichkeiten aus Politik und Publizistik zum Thema Prventivkrieg befragt. Und man htte ihm geantwortet, da, selbst wenn Viktor Suworow recht htte, und Hitler Stalin nur um Wochen zuvorgekommen wre, dies nicht gesagt werden drfe, weil damit Hitler ja entlastet wrde. Um seine Meinung dazu befragt, antwortete Dr. Hoffmann darauf sinngem, da diese Reaktion bezeichnend wre fr die in der Bundesrepublik verbreitete Unmoral. Die Deutschen in ihrem Egoismus merkten schon gar nicht

45

mehr, was sie hier von den Russen eigentlich verlangten. Denn das hiee doch nichts anderes, als die Meinung, die Russen knnten ja ruhig mit den stalinistischen Propagandalgen weiter leben, wenn nur sie, die Deutschen, ein Alibi in Hitler htten. Die negative Erscheinung Hitler aber brauchten sie, um der Welt und das auf Kosten der Russen zu demonstrieren, was fr gute und edle Menschen sie doch heute geworden seien. Im Gedchtnisprotokoll Dr. Hoffmanns vom 12. Mai 1993 heit es ergnzend dazu: Hitler ist einem mit berwltigenden Krften vorbereiteten Angriff Stalins erwiesenermaen nur kurzfristig zuvorgekommen. Das sagt aber natrlich nichts ber seine eigenen Kriegsziele in Ruland aus. Auf dieses Kapitel kommt Dr. Hoffmann in seiner Stellungnahme in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Mai 1996 drei Jahre spter zurck: Am 12. Mai 1993 nahm das Moskauer Fernsehen im Militrgeschichtlichen Forschungsamt eine Diskussion zwischen meinem Freunde Viktor Suworow und mir ber diese Fragen auf. Der Regisseur erbat eingangs in ziemlicher Fassungslosigkeit von mir eine Erklrung zu dem, was einige prominente deutsche Persnlichkeiten ihm zuvor gesagt hatten, nmlich da, selbst wenn Viktor Suworow recht htte und Hitler Stalin zuvorgekommen wre, dieses niemals gesagt werden drfe, weil damit ja Hitler entlastet werden wrde. Vielleicht ist dies eine Erklrung fr die Penetranz, mit der die Verfechter berholter Anschauungen an den lngst widerlegten Thesen festhalten.

46

Welch ein groes Volk!1944 besuchte de Gaulle das Schlachtfeld von Stalingrad. Beim Anblick der Ruinenlandschaft rief der General aus: Welch ein groes Volk! Nachdem sein Dolmetscher, der sptere Diplomat Jean Laloy, diesen Satz bersetzt hatte, applaudierte die sowjetische Begleitung. De Gaulle bemerkte das Miverstndnis und korrigierte: Ich meine nicht die Russen, ich meine die Deutschen. Jean Laloy unterlie es wohlweislich, 24 die Worte des Generals ins Russische zu bersetzen ... Heute wrde eine russische Begleitung dem belegten Ausspruch des groen Franzosen vorbehaltlos zustimmen. Im russischen Deutschlandbild von heute hat die militrische wie menschliche Tugend der deutschen Soldaten ihren festen Platz. Das gilt nicht nur fr die Revisionisten; sie vor allem aber erinnern an die Moral und Hrte, den Todesmut, die Standfestigkeit und Opferbereitschaft der einstigen Eroberer und der spter Geschlagenen. Die Tragdie der deutschen Stalingradkmpfer steht stellvertretend fr ein ganzes Volk: Spricht man heute von den Deutschen, meint man das Volk von Stalingrad. Eine Legende, ein Mythos -und Mythen sterben nicht im Geschichtsbewutsein der Russen. Die Tatsache, da die soldatischen Tugenden der Wehrmacht sich im sowjetisch-deutschen Krieg mit dem Nationalsozialismus verbanden, mit Hitlers Kolonialpolitik, schmlert nicht den Respekt, sogar den Respekt der Russen fr den frheren Gegner.

47

Am 2. Februar 1943 hatten die ersten Sowjetsoldaten den Divisionsgefechtsstand der ostpreuischen 24. Panzerdivision im Nordkessel von Stalingrad erreicht. General von Lenski lie seine berlebenden Panzergrenadiere zusammenkommen, Offiziere wie Mannschaften. Nach einem Abschiedswort erklang ein dreifaches Hurra auf Deutschland. Die Russen, schon in der Bunkertr stehend, lieen es schweigend geschehen. 53 Jahre spter, am 8. Juni 1996, wurde im Wolgograder Steppenvorort Pestschanka ein Denkmal fr alle Opfer der Schlacht um Stalingrad enthllt, aufgestellt mit Untersttzung russischer Behrden und der Bevlkerung selbst. Die vom Wiener Architekten Wilhelm Holzbauer entworfene zehn Meter hohe Halbpyramide aus Stahl, in der eine ffnung zu einem Holzkreuz fhrt, entstand auf Initiative eines Personenkomitees 50 Jahre Stalingrad, dem der frhere Wiener Brgermeister Helmut Zilk vorsteht, ein Sozialdemokrat. Rund 50 000 Soldaten aus sterreich hatten in der 6. Armee gekmpft, darunter die 44. ID, die Reichsgrenadierdivision Hoch- und Deutschmeister aus dem Wehrkreis Wien mit dem traditionellen Divisionswappen Rotweirot. Die 44. ID hatte verbissen um das Halten des Flugplatzes Pitomnik gekmpft und war am 10. Januar 1943 beim sowjetischen Entscheidungsangriff in den Untergangsstrudel hineingerissen worden. Dieses Denkmal ist allen Opfern der Schlacht um Stalingrad gewidmet, besagt eine Inschrift in deutscher und russischer Sprache. Es erinnert an die Lei-

48

den der hier gefallenen Soldaten und die der Zivilbevlkerung. Fr die hier Gefallenen und in Gefangenschaft Verstorbenen erbitten wir den ewigen Frieden in russischer Erde. Ein halbes Jahr zuvor hatte Rulands oberster Kirchenfhrer die Deutschen um Vergebung gebeten, in einem kumenischen Gottesdienst im Berliner Dom am 21. November 1995. Es drfe nicht mit Schweigen bergangen werden, sagte Patriarch Alexij II., da die DDR von der Sowjetunion errichtet worden sei und da viele meiner Landsleute diesen kommunistischen Staat durch ihre falsche Handlungsweise gesttzt haben. Viele Deutsche htten darunter zu leiden gehabt. Dafr wolle er sich beim deutschen Volk entschuldigen. Der Patriarch bewies Mut zum Revisionismus, besttigte er doch die von altlinken Historikern bestrittene Tatsache, da die SED eine von der KPdSU geleitete Partei gewesen war, die gegen den Willen des deutschen Volkes die Etablierung eines kommunistischen Separatstaates betrieb. Heute sollten die Deutschen und die Vlker der untergegangenen Sowjetunion fr immer die tragischen Seiten in ihren Beziehungen umblttern, forderte das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Aus der Vergangenheit von Deutschen und Russen sei nur das Beste zu behalten, die geistige und politische Zusammenarbeit, die gemeinsamen Erfolge auf dem Gebiet von Kultur und Wissenschaft. Gebe Gott, da niemals mehr zwischen uns eine verderbliche Feindschaft aufkomme!

49

Die tragischen Seiten im deutsch-russischen Geschichtsbuch: Auf der einen Seite Hitlers Slawenha und sein Weltanschauungskrieg im Osten, auf der anderen Stalins Deutschlandha und sein Feldzug der kollektiven Strafmanahmen gegen Kriegsgefangene und Zivilisten.

50

3 66 Millionen Opfer

1926

lebten laut sowjetischen Regierungsangaben auf dem Territorium der UdSSR 194 Nationen, Vlker, Stmme, Minoritten, in der Amtssprache etnitscheskije obschtschinij ethnische Gemeinschaften. Bei der Volkszhlung im Jahre 1937 waren davon nur noch 109 briggeblieben! Dem grauenvollen Hintergrund der Volkszhlung vom Januar 1937 widmet der Historiker Anatolij Rubinow eine Analyse, erschienen in der Kulturzeitschrift Literaturnaja Gaseta vom 27. November 1996, mit der berschrift: Eine schicksalhafte Volkszhlung. Auf dem XVII. Parteikongre 1934 hatte Stalin ein rasantes biologisches Wachstum vorausgesagt und den Anstieg der Sowjetbevlkerung von derzeit 168 Millionen auf 180 Millionen im Jahre 1937 verkndet. Die amtliche Auswertung der Volkszhlung vom 5. und 6. Januar 1937 widerlegte Stalins Prognose: Anstelle der eingeplanten 180 Millionen lebten tatschlich von den 168 Millionen von 1934 nur 162 Millionen in der Sowjetunion. Womit war das Minus von sechs Millionen zu erklren? Stalin verlor darber kein Wort. Rubinow schlsselt den Verlust folgendermaen auf: Rund fnf Millionen whrend der Kollektivierung in der Ukraine

51

verhungert beziehungsweise erschossen und 1,7 Millionen Gulaghftlinge zwischen 1930 und 1936 umgebracht. Stalins Reaktion auf den Bevlkerungsrckgang durch Genozid: Er lie den Vorsitzenden des Zentralen Statistischen Amtes, Iwan Adamowitsch Krowalj, verhaften und mit seinen Mitarbeitern erschieen. Die Zahl der unter dem sowjetischen Kommunismus Ermordeten ist astronomisch. Es gibt fr diesen Vernichtungsfeldzug in der Menschheitsgeschichte keinen Vergleich. 70 Jahre der Selektion haben das Land 70 Millionen Menschenleben gekostet, stellte die Moskauer Tageszeitung Moskowskij Komsomolez am 24. November 1995 fest. Whrend seines Amerikabesuchs im Herbst 1996 sagte General Lebed u. a.: Stalin sah in jedem Menschen nur ein Schrubchen der Staatsmaschinerie ... Was die Grenzen des Blutvergieens betrifft, mit Blick auf die Todesstrafe, so hat Ruland diese Grenze nicht nur in diesem Jahrhundert berschritten. Eine Grenze unvorstellbaren Leidens, und immer war unser Volk das Opfer. Die Verluste in beiden Weltkriegen und die Verluste in der Zwischenkriegszeit, als Folge von Kollektivierung, Suberungen, Massenverfolgungen, all dies lschte mehr als 75 Millionen 25 Menschenleben aus.

Aufzhlung, nicht AufrechnungDas Unvergleichbare im Vergleichsversuch zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus bildet einen Schwerpunkt im russischen Revisionismus. In seinem

52

Essay Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhun26 derts erwhnt Solschenizyn den Zeitgeschichtler und Soziologen Professor I. A. Kurganow, der die Opfer des stndigen inneren Krieges der Sowjetregierung gegen das eigene Volk auf 66 Millionen berechnet hat, bezogen auf die Epoche zwischen 1917 und 1947. Erstmals erscheint hier Kurganows Aufschlsselung der Opfer-Zahlen im singulren Ereignis des bolschewistischen Holocaust: 3 Millionen im Brgerkrieg 1917-1921 50 000 im Krieg gegen Finnland 1918 110 000 im Krieg gegen die baltischen Staaten 1918/19 600 000 im Krieg gegen Polen 1920 20 000 im Krieg gegen Georgien 1921/22 30 000 im Krieg gegen Japan 1938/39 3000 im Krieg gegen Polen 1939 400 000 im Krieg gegen Finnland 1939 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg Roter Terror 1917-1923: 160 000 Akademiker, Schriftsteller, Knstler, Studenten 50 000 Offiziere, Unternehmer, Beamte, Gutsbesitzer 40 000 Geistliche 1,3 Millionen Bauern und Arbeiter 6 Millionen whrend der ersten Aushungerung 1921/22 2 Millionen whrend der zweiten Terror-Welle 19231930 7 Millionen in der zweiten Hungerwelle 1930-1933

53

750 000 gettete Kulaken 1.6 Millionen in der Terror-Welle 1933-1937 1,005 Millionen in der Jeschowschtschina 1937/38 2.7 Millionen in den Vor- und Nachkriegsjahren 19371947 20 Millionen KZ-Hftlinge, Opfer von Zwangsarbeit, Exekution, Folter, Seuchen, Hunger Kurganows Opfer-Aufschlsselung besteht aus 21 Rubriken, darunter auch der Hinweis: 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg. Diese Angabe verwirrt, sie kann miverstanden werden. Handelt es sich dabei um Kriegsverluste in der Zivilbevlkerung, um gefallene Rotarmisten an der Front, erschossene Deserteure, Verschollene, an ihren Verwundungen gestorbene Soldaten? Sind darin eingeschlossen auch die Kriegsgefangenen, umgekommen in deutschen Lagern? Auf wen konkret beziehen sich Kurganows 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg? Seine Zhlmethode ist eher moralisch zu werten. Die Art, wie Stalin im Krieg die eigenen Soldaten und Zivilisten behandeln lie, wie er die eigene Truppe ins Feuer schickte, gnadenlos und menschenverachtend, deutet der Historiker Kurganow als ein Verbrechen des Kommunismus, wobei er sich auf das Urteil des fronterfahrenen Artillerie-Oberleutnants Solschenizyn berufen kann. Anders als eine physische Vernichtung des eigenen Volkes kann man auch die rcksichtslose, unbarmherzige Art nicht nennen, mit der die Straen des Sieges in Stalins sowjetisch-deutschem Krieg mit den Leichen der Rotarmisten berst wurden,

54

schreibt der Literaturnobelpreistrger 1994. Die Minenrumaktionen mit den Fen der vorwrts getriebenen Infanterie sind nicht einmal das krasseste Bei27 spiel. Solschenizyn beziffert die Kriegsverluste sogar auf 31 Millionen. Dies sei die blutigste Periode der russischen Geschichte gewesen, kommentiert der Historiker W. W. Isajew die Zahlen. Gettet wurden von der Sowjetmacht 66 818 000 Menschen, mehr als 40 Prozent der Bevlkerung. Wahrlich eine Errungenschaft, von der kein anderes Land trumen konnte. Vernichtet die intellektuelle, geistig schpferische Lebensbasis einer Nation, liquidiert die Fleiigsten ihrer Arbeiter und Bauern! Und ruft man nicht heute wieder diese Macht zurck unter Hammer und Sichel und unter den Bildern von Marx, Engels, 28 Stalin?

Stalin, Retter des russischen Volkes?Im russischen Historikerstreit steht die historische Potenz Stalins auer Zweifel, sie stellt sich fr die Revisionisten jedoch in einem negativen Licht dar. Im kommunistischen Oppositionslager sei heute die Meinung verbreitet, Stalin sei Verteidiger und Retter des russischen Volkes gewesen, bemerkt der oben erwhnte Historiker Isajew htten wir wieder einen Stalin, gbe es Ordnung im Lande. Isajew fhrt weiter aus: Betrachten wir doch einmal, was Stalin in verschiedenen Perioden sagte und schrieb.

55

Stalin telegraphierte nach dem Revolverattentat auf Lenin am 6. August 1918 an das damalige Staatsoberhaupt Swerdlow: Der Kriegsrat der Nordkaukasischen Front erfuhr vom Anschlag der Bourgeoisie auf den grten Revolutionsfhrer der Welt und Lehrer des Proletariats, den Genossen Lenin. Darauf gibt es nur eine Antwort: offener, massenhafter, systematischer Terror gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten. Unterschrieben von Stalin und Woroschilow am 31. August 1918. Damit schlo sich Stalin der Meinung von Sinowjew an, der als Vergeltung die Liquidierung von mindestens zehn Millionen Russen verlangt hatte. Stalin forderte und untersttzte ab 1918 die Bekmpfung der Kosaken, die Suberung der Intelligenzija, die Ausrottung des Brgertums, die Verfolgung der Kulaken, die Entwurzelung der Kleinbauernschaft, die Kollektivierung der Drfer. Terror ist absolut notwendig, absolut ntzlich im Kampf mit unserem Klassenfeind, schrieb Stalin in Band 12 seiner gesammelten Werke auf Seite 209. Stalins Ha in jener Zeit galt vor allem der innerrussischen Opposition. Er verachtete das russische Volk und stand damals auf der Seite der russophoben Parteifhrer Bucharin und Sinowjew. Isajew: Im August 1918 erscho in Petrograd der jdische Student Kanegisser den jdischen Tschekisten Uritzki, was, nach einem Aufruf des Petrograder Tscheka-Chefs

56

Jakob Peters, den Massenterror auslste. 10 000 Geiseln wurden sofort erschossen. Ihre Namen wurden auf Plakaten verffentlicht. Was sofort auffiel: Es waren ausnahmslos russische Namen. Unter den Exekutierten 29 befand sich kein einziger Jude. Was der Revisionist Isajew nicht erwhnt: Jdische Namen tauchten auf Liquidationslisten zwanzig Jahre spter massenhaft auf, worber der englische Genozidforscher Robert Conquest 1990 in seinem Stan30 dardwerk The Great Terror ausfhrlich berichtet. Whrend der dreiiger Jahre fanden im Ziegeleilager von Workuta Massenerschieungen statt. Spezialkommandos des NKWD liquidierten mit Maschinengewehren Zehntausende von Trotzkisten in der Mehrzahl Juden. Nachdem der Russe Nikolaj Jeschow den jdischen GPU-Chef Genrich Jagoda 1936 abgelst hatte, verbten Tausende von Jagoda-Freunden Selbstmord, ausnahmslos Juden. Die GPUisten strzten sich aus dem Fenster, erschossen oder erhngten sich. Familienangehrige folgten ihrem Beispiel. So wei man von einem Massensuizid, den eine Gruppe von 13- und 14jhrigen Kindern hingerichteter GPU-Offiziere verbte; die Leichen fand man im Prosorowski-Wald bei Moskau. Das Ausma des Terrors der slawenfeindlichen Expansionspolitik Hitlers Himmlers Einsatzgruppen, Hitlers Kommissarbefehl vom 13. Mai 1941 wird von russischen Revisionisten weder verschwiegen noch bagatellisiert. Eine revisionistische Schrift von 1996 behandelt dieses Thema ausfhrlich. Sie erschien

57

unter dem Titel Die Wahrheit ber das Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg im Verlag der monarchoslawophilen Wochenzeitung Russkij Westnik (Russischer Bote), die vom Internationalen Fonds Slawischer 31 Sprache und Kultur gegrndet wurde. Der Militrhistoriker Oleg Platonow schrieb die Einfhrung. Er erinnert daran, da als Folge der verbrecherischen Ostpolitik Hitlers mehr Slawen als Juden umgekommen sind. Im Vorwort der russischen Ausgabe wird daraufhingewiesen, da 27 Millionen Sowjetbrger und 9 Millionen Deutsche im Laufe des Zweiten Weltkrieges gettet wurden. Nach Platonow betrug die Zahl der in den Kriegsgefangenenlagern umgekommenen Slawen nicht weniger als 3,3 Millionen. Unvorstellbar gro ist die Zahl slawischer Sklavenarbeiter, die ab 1941 nach Deutschland deportiert wurden. Nach Recherchen von Franz W. Seidler, Professor fr Sozial- und Militrgeschichte der Neuzeit an der Universitt der Bundeswehr in Mnchen, wurden allein aus der Ukraine ber zwei Millionen Menschen Mnner, Frauen, Jugendliche als Zwangsarbeiter ins 32 Reich transportiert.

58

4 Vom Preis eines Siegeser Historikerstreit in Ruland hat mit dem Historikerstreit in Deutschland vieles gemeinsam, unterscheidet sich jedoch durch eine andere Ausgangslage, eine andere Motivation. Der Weg zur Wahrheitsfindung ist der gleiche: Revisionismus, Hinterfragung, Dogmenzertrmmerung, Mythenzerstrung. Im russischen Historikerstreit spielen Totalitarismustheorien, die Frage nach der Vergleichbarkeit von Hitlers Diktatur und Stalins Terrorherrschaft, also auch die Frage nach einer System-Verschiedenheit oder System-Gleichsetzung, eine untergeordnete Rolle. Das Resultat der Verschwrung gegen Ruland, das Resultat des Genozids am russischen Volk in diesem Jahrhundert war, da unser Land mehr als hundert Millionen Menschen verlor, liest man in einer oppositionellen Petersburger Zeitung. Allein im Krieg gegen Hitler-Deutschland verloren wir rund 26 Millionen unserer Vter und Grovter. Dies war nicht einfach ein Krieg gegen die Deutschen, es war ein Krieg gegen die Deutschen bis zum letzten Russen. Und wie viele wurden nicht geboren, ermordet im Mutterleib oder abgetrieben aus Furcht vor dem alltglichen Grauen ... Ganze Klassen wurden vernichtet, die Le-

D

59

bensbedingungen fr Millionen zerstrt, die Nation ihrer Elite beraubt und dann in die Sklaverei getrie33 ben. Was soll, angesichts des weltgeschichtlich Einmaligen, eigentlich noch verglichen werden? Genozidumfang, Opferzahlen, traumatische Folgen? Wo hrt jede Vergleichbarkeit auf? Im moralischen Visier des russischen Revisionismus steht die Frage nach dem Preis des Sieges im Groen Vaterlndischen Krieg. War es berhaupt ein Sieg? Und wenn ja, fr wen? Auf wessen Kosten? Beim Ausbruch aus dem Bialystok-Kessel Ende Juni 1941 vier Sowjetarmeen, eine halbe Million Mann waren eingeschlossen strmten die Rotarmisten in breiter Front in unbersehbaren Schtzenketten, untergehakt, vier, fnf, zehn Reihen hintereinander, gefolgt von T 26, und auf den Panzern fuhren Politkommissare mit Maschinenpistolen. Regimenter, ganze Divisionen zwischen deutschen MGs und sowjetischen MPs. Das wiederholte sich Wochen spter in der Hllenschlacht im Jelnjabogen stlich von Smolensk, wo Regimenter dicht aufgeschlossen Welle um Welle ins deutsche Artilleriefeuer liefen, berittene Offiziere hinter den russischen Infanteristen. Es gab kein Zurck. Immer wieder jagten Offiziere und Kommissare ihre Mnner gegen das befohlene Ziel. Rcksicht auf den Menschen war der Stalinschen Angriffstaktik vllig fremd. Der Schriftsteller Wladimir Kristoforow schildert, anhand jngst aufgefundener Tagebcher und Soldatenbriefe, den Untergang des 22. Schtzenregiments der 32. Armee im Kessel von Wjasma im Oktober 1941.

60

Mit Stalin-Gedichten ausgestattet schickte man halbverhungerte, miserabel bewaffnete Reservisten in die Schlacht. Das war die Hlle, heit es im Tagebuch eines Gefallenen. Eine ganze Armee wurde abgeknallt, von Panzern zermalmt. Warum? Wofr? 1996 konstatiert der russisch-jdische Militrhistoriker Lasar Lasarjew, Stalins Militrdoktrin beruhe auf dem Raskolnikow-Prinzip Der Mensch ist eine Laus (aus dem Dostojewskij-Roman Schuld und Shne). Der einzelne zhlt nichts eine Doktrin der absoluten Menschenverachtung. Da die Zahl der Toten auf sowjetischer Seite so ungeheuer hoch war, viel hher als auf der deutschen, die den Krieg schlielich doch verloren hat, hat nach Lasarjew hierin seinen Hauptgrund. In der damaligen sowjetischen Felddienstordnung heit es: Allein der Angriff, der mit der wilden Entschlossenheit gefhrt wird, den Feind im Nahkampf zu vernichten, gibt den Sieg. So strmten und starben Hunderttausende, in der Winterschlacht an der Wolga bei Rschew 1942, in den Wolchowsmpfen 1942, bei der gescheiterten Charkow-Offensive im Frhjahr 1942, zwischen Kertsch und Feodosia im Wintersturm 1942, am Westufer der Wolga im September 1942, als General Lopatin Stalingrad schon aufgeben wollte. Und 1945 beim Sturmlauf ber Weichsel und Oder. Die Armee ist alles, der Muschik selbst ist nichts. Keine Zeit zum Einsammeln der Erkennungsmarken oder zum Bergen der Toten und Verwundeten, die noch einem Zweck dienen: Brustwehr fr die nachfolgenden Reihen. In Mitteldeutschland gibt es ca. 600 sowjeti-

61

sche Soldatenfriedhfe, eingerahmt von monumentalen Obelisken, Statuen, Sowjetsternen. Ehrenhaine mit Namensdenkmlern verbot Stalin schon frhzeitig, sollte doch die wahre Zahl der Toten geheim bleiben. Der Gefallene, ein Namenloser. Kollektiv gestorben, kollektiv geehrt. Klassische Soldatengrber sind in Ruland eine Seltenheit.

Vernichtungskrieg gegen das eigene VolkSolschenizyn, der sich auf Ergebnisse des russischen Revisionismus beruft, beziffert die Kriegsverluste unter Soldaten und Zivilisten auf 31 Millionen: Eine erdrckende Zahl ein Fnftel der Bevlkerung! Wann hat welches Volk so viele Menschen in einem Krieg 34 verloren? Andere Historiker bezweifeln diese Zahl, werfen Solschenizyn bertreibung vor und meinen, er entehre dadurch die Opfer des Groen Vaterlndischen Krieges. Immer noch, Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, existierten Lgenlabors in Ruland, behauptet der ukrainische Militrhistoriker Leonid Woloschin. So wrde man die Legende verbreiten, die Verluste der Sowjetarmee bei Kriegshandlungen wren verhltnismig gering gewesen, geringer als die Opfer der Zivilbevlkerung, whrend die Wehrmacht viermal mehr an Soldaten verloren haben soll. Mut, Hrte und Todesverachtung des russischen Soldaten sind sprichwrtlich. Stalin gengte das nicht. Die Toten sollten den angreifenden Feind frmlich

62

erdrcken. Um die Faktoren Schlagkraft, Einsatzbereitschaft, Kampfgeist wute der andere grte Feldherr aller Zeiten, hher aber wertete er den Faktor Masse tot oder lebendig. Nur 32 000 Russen berlebten als Gefangene die Schlacht am Wolchow, Mai 1942. Zehntausende lagen in den Sumpfwldern verhungert, verblutet, ertrunken. So opferte Stalin seine Elitetruppe, Wlassows 2. Stoarmee. Aus der WolchowHlle ging einer als Todfeind Stalins hervor: der ehemalige Vorzeigebolschewik Andrej Wlassow, ein petrinischer Russe, stolz und tapfer, operativ hoch begabt, ein hervorragender Offizier. Er war der Oberbefehlshaber der 2. Stoarmee und sprach Stalin fr ihren Untergang schuldig. In den Leichensmpfen des Wolchow wurde Wlassow zum Antibolschewiken. In den Augen der Konterrevisionisten gilt dieser Mann immer noch als Vaterlandsverrter; anders sieht es der ehemalige Artillerieoffizier Solschenizyn, der diesem tragisch gescheiterten slawischen Andreas ein Ruhmeskapitel in der russischen Freiheitsgeschichte prophezeit. Aus der Sicht ukrainischer Revisionisten war Moskau die Zentrale der Vernichtungsmaschinerie, und folglich war der Groe Vaterlndische Krieg auch ein antiukrainischer Krieg. Sprechen die russischen Revisionisten von Russophobie, so taucht in den Schriften ukrainischer Revisionisten die Ukrainophobie auf, Hauptmerkmal der Stalinschen Nationalittenpolitik in bezug auf das zweitgrte Slawenvolk. Die von Moskau inszenierte Hungersnot 1932/33 identifi-

63

ziert man als Genozid bzw. Ethnozid, als einen Versuch der KPdSU (B), nicht nur die Bauernklasse, sondern ein ganzes Volk, seine Kultur und Religion auszurotten. Innerhalb von zwei Jahren verlor das ukrainische Volk ein Viertel seiner biologischen Substanz. 1933 bleibt fr diese Slawennation das Schlsselwort fr ein Verbrechen, das die europische Geschichte vordem nicht gekannt hat. Golodomor sagen dazu die Ukrainer. Massenmord durch Aushungerung. Davon ist in Woloschins Beitrag auch die Rede, doch steht im Vordergrund die wissenschaftlich fundierte Entlarvung der Legende von der angeblichen berlegenheit der Stalinschen Armee im sowjetisch-deutschen Krieg. Woloschins Forschungsergebnisse erschienen 1995 unter dem Titel Welchen Preis bezahlte die Sowjetunion fr den sogenannten Groen Vaterlndischen 35 Krieg. Leonid Woloschin ist ein junger Historiker aus Jalta, der aus Guderians Erinnerungen eines Soldaten und Halders Tagebchern genauso zitiert wie aus Wolkogonows Triumph und Tragdie und Karpows Marschall Schukow. Er schpft aus der russischen Kriegsgeschichtsforschung und den Geheimarchiven. Seine Studie kommt zu folgenden Ergebnissen: Vom ersten Kriegstag an betrieb Moskau Desinformation auf diesem Gebiet erwies sich Stalins Propagandazentrale als unschlagbar. An der Spitze der Flscherwerkstatt Sowinform-Bro stand S. Losowski alias Salomon Dridso, gleichzeitig Stellvertreter von Auenminister Molotow. Zu Sowinform bemerkte Solschenizyn einmal ironisch, man habe nie

64

erfahren, ob sich die Rote Armee auf dem Vormarsch oder auf dem Rckzug befinde. Losowski kam sieben Jahre nach dem Sieg auf unnatrliche, nicht eben soldatische Weise ums Leben. Erschossen auf Befehl Stalins, liquidiert als Fhrungsmitglied des Jdischen Antifaschistischen Komitees (JAK). Stalin stand Losowski in nichts nach. Wrtlich erklrte er am 6. November 1941: In vier Monaten Krieg verloren wir 350 000 Tote und 378 000 Verschollene. In der gleichen Zeit bte der Feind 4,5 Millionen ein, gefallen, verwundet, gefangen. Eine kommunistische Planbererfllung um 1,3 Millionen, betrug doch das deutsche Kontingent bei Beginn von Barbarossa rund 3,2 Millionen Mann. Die eigenen Verluste verkleinerte Stalin um das zweieinhalbfache. Laut Stawka (Sowjetgeneralstab) verlor die Rote Armee an Gefallenen 651 065 Mann allein im Juni und Juli 1941, 692 924 im August, 491 023 im September. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 3,8 Millionen Soldaten und Offiziere der Roten Armee auf deutscher Seite, als Gefangene oder berlufer. Nachzulesen ist dies in W. Karpows groer Biographie Marschall Schukow. Der Historiker zitiert aus Halders Angaben bezglich der deutschen Verluste zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. Mrz 1942: 23 541 Offiziere und 799 389 Soldaten verwundet, 8827 Offiziere und 225 553 Soldaten gefallen sowie 855 Offiziere und 51 665 Soldaten verschollen. Den 3,2 Millionen deutschen Soldaten standen am 22. Juni 1941 ca. 13 Millionen Rotarmisten gegenber, darunter drei Millionen Mitglieder oder Kandidaten

65

der KP und 3,5 Millionen Komsomolzen. 1943/44 betrug die berlegenheit der Sowjetstreitkrfte: 11:1 bei der Infanterie, 7:1 bei den Panzern, 20:1 bei der Artillerie und den Granatwerfern. Nach Aussagen Guderians besa die Rote Armee 1944 eine 15fache berlegenheit beim Heer, auf ein deutsches Flugzeug kamen 20 sowjetische Flugzeuge. Stalins Ukas Nr. 227 vom 28. Juli 1942 ordnete die sofortige Erschieung aller Rotarmisten an (vom Rekruten bis zum Kommandeur), die der Panikmache, Fahnenflucht oder Befehlsverweigerung verdchtig waren. Im Verlauf des Krieges wurden 158 000 exekutiert, in den meisten Fllen vor angetretener Mannschaft. In die Strafbataillone versetzte man 400 000 Mann. Beim Sturm auf Berlin, verteidigt von einer 100fach unterlegenen deutschen Truppe (Volkssturm, Arbeiter, Hitlerjungen, europische Freiwillige), mobilisierte Marschall Schukow 2,5 Millionen Mann und erlitt, gemessen an Menschenopfern, die nach Kiew und Brjansk grten Verluste. Das war ihm jedoch gleichgltig, denn Stalin hatte befohlen, auf das eigene Menschenpotential keine Rcksicht zu nehmen. Zwischen Juni 1941 und April 1945 gerieten 5,754 Millionen Soldaten und Offiziere in deutsche Gefangenschaft. Rund 1,1 Millionen Sowjetbrger meldeten sich freiwillig zum Kampf auf deutscher Seite. Aufgrund der schweren Verluste im ersten Kriegsjahr wurden an Frontsoldaten keine Adressenkapseln

66

mehr ausgegeben (im Landserjargon Medaillons), die im Falle des Todes fr die Verwandten bestimmt waren. Die millionenfach Gefallenen wurden also als Verschollene gefhrt. Leonid Woloschin zieht den Schlu: An der Ostfront verloren die Deutschen 1,5 Millionen Soldaten und Offiziere, vierzehnmal weniger als die Rotarmisten. Seinen Sieg bezahlte das kommunistische Imperium mit der Auslschung von 46 Millionen Menschenleben, einem Viertel der UdSSR-Bevlkerung von 1941, darunter 22 Millionen Soldaten und Offiziere, also zwlf Prozent der Bevlkerung. Wer will hier noch von Sieg sprechen?

An deutscher SeiteDie genaue Zahl der Gefangenen, berlufer, Hilfswilligen, Freiwilligen aus der Roten Armee lt sich noch nicht ermitteln. Franz W. Seidler vertritt folgenden Standpunkt: Aus der Roten Armee liefen in zwei Jahren mehr als eine Million Soldaten zu den Deutschen ber. Etwa 800 000 berichtete die Iswestija vom 23. Juni 1995 kmpften in deutscher Uniform aktiv an der Niederringung des Kommunismus und fr die Befreiung 36 ihrer Vlker. Nach Solschenizyn ergaben sich in der Anfangsphase des Krieges ber drei Millionen bereitwillig den Deutschen. Helmut Heiber beziffert die Zahl der Osttruppen fr Anfang 1943 auf rund 400 000 (ohne Hiwis) und auf

67

knapp eine Million wenige Monate vor Kriegsende. Das Hauptmotiv fr sie war nationale Selbstbefreiung mit Hilfe der Wehrmacht. Rulands bekanntester Militrhistoriker, der als Revisionist 1995 im Alter von 67 Jahren starb, ist Dmitrij Wolkogonow, war als Generaloberst in der ArmeePolitverwaltung stellvertretender Chef fr psychologische Kriegfhrung. Er gehrte 40 Jahre lang der KPdSU an, war hochdekorierter Kriegsveteran, aber wurde schon lange vor der Russischen Augustrevolution von 1991 zu einem kritischen, parteiunabhngigen Oppositionskmpfer. Wolkogonow spricht von 4,5 Millionen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern, von denen nach Kriegsende nur 1,836 Millionen in die Heimat zurckgekehrt seien. Von diesen wurde die eine Hlfte wieder der Truppe eingegliedert, whrend die andere Hlfte im GULag verschwand oder Strafbataillone auffllte. Whrend des Krieges kmpfte fast eine halbe Million an vorderster Front in Strafeinheiten als Panzerfutter. Wolkogonow, dessen Lenin- und Stalin-Biographien jeder russische Offizier und jeder russische Geschichtsstudent kennt, beruft sich auf Stalins Tagesbefehl Nr. 227 vom 28. Juli 1942, in dem die Aufstellung von Strafbataillonen angeordnet wurde Todeskommandos, gesondert fr Mannschaften, Unterfhrer, Offiziere und sogar Kommandeure. Laut Wolkogonow wurden rund 158 000 Rotarmisten, vom Rekruten bis 37 zum General, auf der Stelle erschossen.

68

Ein Sieg der SklavenKein Geringerer als Rulands berhmtester Frontromancier, der heute 75jhrige Grigorij Baklanow, besttigt die verbrecherische Kriegfhrung Stalins. Die Rote Armee sei objektiv das Instrument des Diktators gewesen. Den inneren Feind, das heit das eigene Volk, hat die Sowjetmacht stets mehr gefrchtet als den ueren Feind, schreibt Baklanow, der durch seine ungeschminkte Schtzengrabenprosa Ein Fubreit Erde, Die Toten schmen sich nicht, Juli '41 populr geworden ist. Zum 50. Jahrestag des Sieges ber das nationalsozialistische Deutschland bemerkt Baklanow: Sogar whrend des Krieges fuhr diese Macht fort, das eigene Volk in den Konzentrationslagern zu vernichten. Wie die Sowjetmacht das eigene Volk in den Untergang trieb, dafr gibt es in der Weltgeschichte keine Parallele. Wir siegten nur kraft unserer Masse. Vor dem Krieg wurden 43 000 Offiziere liquidiert... Nach dem Krieg jagte man die Kriegsgefangenen aus den faschistischen Lagern in die sibirischen Lager. Die Atmosphre der Nachkriegsjahre war erfllt von Angst und Verrtertum. Und wir, die Heimgekehrten, die Sieger, fhlten uns im eigenen Vaterland als Besiegte, besiegt von jenem System, das wir an 1418 blutigen Tagen verteidigt hatten ... Und heute mssen wir uns fragen: Was waren wir 1945 eigentlich befreite Menschen oder Sklaven? ... Der Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk hatte schon nach dem Brgerkrieg begon-

69

nen, mit der Errichtung der ersten Lager. Aus den Erinnerungen von Marschall Woronow wissen wir, da im Herbst 1941, als die Deutschen vor Moskau standen, allen Ernstes die Frage errtert wurde, wem man die knapp gewordenen Maschinengewehre geben soll den zur Front rckenden Russen oder den Berija-Divisionen, die in den Vernichtungslagern die eigenen Rus38 sen in Schach hielten. Die Zahl der Opfer, lediglich eine quantitative Gre? 31 Millionen (Solschenizyn), 20 Millionen (Chruschtschow) oder nur sieben Millionen Menschen (Stalin), was steckt dahinter? Worum geht es im Zahlenkrieg? Fr die Anti-Revisionisten um den Versuch der Widerlegung einer Kernthese der Revisionisten, da Stalin den Groen Vaterlndischen Krieg als einen Vernichtungskrieg gefhrt hat, nicht nur gegen ein fremdes Volk, die Deutschen, sondern auch gegen das eigene Volk. Das Menschenleben unter dem Wert einer Patrone. Solschenizyn bringt es auf den Punkt: Anders als eine physische Vernichtung des eigenen Volkes kann man ... die rcksichtslose, unbarmherzige ... Art nicht bezeichnen, mit der die Straen des Sieges in Stalins sowjetisch-deutschem Krieg mit den Leichen der Rotarmisten berst wurden ... Unser Sieg von 1945 39 wirkte sich als eine Festigung der Diktatur Stalins aus ...

70

5 Tglicher Revisionismus

D

ie Flut revisionistischer Verffentlichungen in russischen Buchverlagen, Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen ist kaum mehr zu berschauen. Eine Auflistung des alltglichen oder gewhnlichen Revisionismus (russisch obiknowjennij, powsednewnij) wrde Bnde fllen. Zum gewhnlichen Revisionismus gehrt u. a. der Kultursektor: Das Petersburger Marinskij-Theater, das vor 1991 den Namen Kirow trug, wird umbenannt, und getilgt werden die Begriffe sowjetisch, kommunistisch, marxistsich-leninistisch bei smtlichen Vereinigungen der Komponisten, Knstler, Philosophen, Schriftsteller, Journalisten. Der Krieg steht im Zentrum des alltglichen Revisionismus. Zu einer endgltigen Ausshnung des deutschen und des russischen Volkes ermahnte im April 1997 der Wolgograder Gouverneur Nikolaj Maksjut. Wolgograd hie frher Stalingrad, und vor 1925 Zaryzin. Drei Namen fr eine Stadt, die zum Symbol der deutsch-russischen Tragdie wurde. Stalingrad wurde im Herbst 1942 von der 6. Armee angegriffen und, bis auf einen Uferbezirk, von deutschen Truppen erobert. Seit 1995 wird in Deutschland die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der

71

Wehrmacht 1941-1944 gezeigt, deren Initiatoren behaupten, die 6. Armee habe auf ihrem Vormarsch Verbrechen begangen. Entspricht das der Wahrheit? Konkret: Bestand die Besatzungspolitik der Wehrmacht tatschlich nur aus Geiselerschieungen, Galgen, Brandschatzung? Zwei russische Historiker, renommierte Geschichtsprofessoren aus Wolgograd, unternahmen den Versuch einer wissenschaftlichen Beantwortung dieser Frage. Viktor Lomow ist dort Professor am Lehrstuhl fr Theorie und Geschichte des Staates und des Rechts, der Zeithistoriker Alexander Epifanow war dort in der Glasnost-ra Geschichtspdagoge fr Untersuchungsrichter des damaligen sowjetischen In40 nenministeriums (MWD). Die 6. Armee wurde auf ihrem Vormarsch von Mnnern, Frauen und Jugendlichen des Kosakenvolkes als Befreierin vom stalinistischen Joch begrt der Ha der Okkupierten galt dem inneren Feind. Zehntausende von Kosaken wechselten zu den Paulus-Truppen und boten den deutschen Landsern ihre Dienste im Kampf gegen den Bolschewismus an. Als erste grere Einheit trat das kosakische 436. Infanterieregiment unter Major Iwan Nikitsch Kononow geschlossen zur Wehrmacht ber, und zwar schon am 22. August 1941. Anhand dokumentarischer Unterlagen aus ehemals geheimen NKWD-Archiven untersuchten die Professoren Epifanow und Lomow die Besatzungspolitik der Wehrmacht und das Verhalten der Zivilbevlkerung im Stalingrader Gebiet einschlielich Stalingrad, das von Einheiten der 6. Armee im Sommer/Herbst 1942

72

erobert wurde. Ende August 1942 hatte die 6. Armee 16 Landbezirke des Stalingrader Gebietes und folgende Stadtviertel von Stalingrad besetzt: Traktorenwerk, Ermanwerk, Woroschilowsk, Roter Oktober, Rote Barrikade, Dzerschinski. In der Riesenregion zwischen Donez, Don und Wolga lebten damals 785 000 Menschen Russen, Ukrainer, Kosaken. Die meisten waren nicht evakuiert worden. Was spielte sich in der Wehrmachts-Etappe ab? Repressalien ohne Ende? Brutale Unterdrckung? Zwangsverschickung? Militrischer Terror? Keineswegs, meinen Epifanow und Lomow. Sie listen auf: Burgermeister wurden in freier, direkter Wahl von den Dorfbewohnern bestimmt ohne Einmischung der Wehrmacht. Komsomolzen, das heit Jungkommunisten aus der Arbeiterjugend, verbrannten ffentlich ihre Mitgliedsbcher und meldeten sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht oder Hilfspolizei. Bauern nahmen die Auflsung der Kolchosen in die eigene Hand, indem sie den Boden unter sich aufteilten. Parteimitglieder arbeiteten mit den Deutschen zusammen und rckten in Selbstverwaltungsorgane auf. Junge Frauen heirateten deutsche Offiziere. Glubige der russisch-orthodoxen Kirche erhielten von der Wehrmacht ihre Gotteshuser, religisen Schtze, sogar ihr Gemeindeeigentum zurck. Und ihre Motive? Aus den Untersuchungsunterlagen der sowjetischen Geheimpolizei beziehungsweise des Volkskommissariats fr Inneres (NKWD) kristallisieren sich folgende Hauptbeweggrnde heraus: Der militante Ha auf den bauern- und arbeiterfeindli-

73

chen Kurs Stalins, der Wille zur Selbstbefreiung mit Hilfe der Wehrmacht und die berzeugung von der Unbesiegbarkeit der deutschen Armee. Laut Epifanow und Lomow erkannte die Bevlkerungsmehrheit im Bolschewismus einen permanenten Vernichtungskrieg gegen die eigene nationale und soziale Identitt. Insgesamt sechs Monate lang befand sich die Wehrmacht auf Stalingrader Gebiet. In dieser relativ kurzen Zeit gelang es den Deutschen, ein dichtes Netz von einheimischen Selbstverwaltungsorganen aufzubauen, besonders in den am Don gelegenen Kosakenbezirken. Zu den ersten Manahmen der deutschen Eroberer zhlten die Abhaltung von Dorfversammlungen, auf denen die Dorfltesten gewhlt wurden, die Aufstellung einer russischen Hilfspolizei, die ffnung von Kirchen, die Wiederbelebung des religisen Lebens mit Gottesdiensten, Taufen, Eheschlieungen und arbeitsfreien Sonntagen. In einigen lndlichen Bezirken duldete die Wehrmacht die Liquidierung der kommunistischen Staatsgter