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Giovanni Arrighi u.a.

KAPITALISMUS RELOADED Kontroversen zu Imperial ismus, Empire und Hegemonie

Herausgegeben von Christina Kaindl, Christoph Lieber, Oliver Nachtwey, Rainer Rilling und Tobias ten Brink

VSA-Verlag Hamburg

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w w w . v s a - v e r l a g . d e

Die Veröffent l ichung erfo lgt mit f reundl icher f inanz ie l le r Unte r s tü t zung der Rosa -Luxemburg -S t i f t ung Berl in .

© VSA-Verlag 2007, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg Titelgrafik: Julia Schnegg (Berlin), E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Buchbindearbeiten: Idee, Satz & Druck, Hamburg ISBN 978-3-89965-181-2

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Inhalt

Vorwort 7

Welcher Kapitalismus?

Alex Callinicos Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem? 11

Kees van der Pijl Globale Rivalitäten und Aussichten auf Veränderung 33

Rainer Rilling Imperialität 53

Produktion und Macht

Andreas Boes/Tobias Kämpf Lohnarbeit reloaded 80 Arbeit und Informatisierung im modernen Kapitalismus

Stefanie Hürtgen Globalisierungskritik statt Modellanalyse 104 Das Beispiel der Elektronik-Kontraktfertigung in Mittel- und Osteuropa

Hans Jürgen Krysmanski Geldmacht 126 Strukturen und Akteure des Reichtums

Weltmarkt und Staat

Peter Gowan Weltmarkt, Staatensystem und Weltordnungsfrage 146

Frank Unger George W. Bush im historischen Kontext US-amerikanischer Außenpolitik 171

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Frank Deppe »Euroimperialismus« 197 Anmerkungen zu einem neuen Schlagwort

Ingo Malcher Nach dem Neoliberalismus? 220 Linkswende in Lateinamerika und ihre Perspektiven

China

Giovanni Arrighi Adam Smith in Beijing 243

Hyekyung Cho Sozialistische Fata Morgana in kapitalistischer Wüste 252 Die Illusion vom chinesischen Sozialismus

Rolf Geffken Klassenkampf statt Marktsozialismus? 268 China auf neuen Wegen oder auf altem Wachstumspfad?

Ideologie und Subjekt

Rosemary Hennessy Deregulierung des Lebens 278 Körper, Jeans und Gerechtigkeit

Mario Candeias Leben im Neoliberalismus 305 Zwischen erweiterter Autonomie, Selbstvermarktung und Unterwerfung

Christina Kaindl Die extreme Rechte in Europa 328 Teil des herrschenden Blocks oder Gegenhegemonie?

Neoliberalismus

Dieter Plehwe/Bernhard Walpen Neoliberale Denkkollektive und ihr Denkstil 347

Christoph Lieber Gouvernementalität und Neoliberalismus bei Foucault 372 Zur »Agenda und Non-Agenda« des bürgerlichen Staates

Autorinnen und Autoren 398

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Vorwort

Die globale Vernetzung der Welt ist kein Novum der letzten zwei Jahr-zehnte, sondern wird schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch eine sich entwickelnde Weltwirtschaft vorangetrieben. Analysen der gegenwärtigen Globalisierung, die sie nur als weitere ökonomische Durch-dringung und Neustrukturierung fassen, greifen zu kurz. Die neue Qualität des gegenwärtigen Kapitalismus lässt sich nicht fassen, ohne den Blick zu richten auf die Neuorganisation von (Geld-)Macht und Gewalt, von Poli-tik und Staatlichkeit, von Wertschöpfungsketten und Lohnarbeit und auf die Frage der Organisation von Zustimmung, von Einbindung der Vielen in neue herrschaftliche Konzepte.

Der Irak-Krieg und seine Kritik haben die Linke neu ausgerichtet: über-mächtig erschienen die USA, synonym mit der Wiederkehr des Imperialis-mus. Die Linke begann, neu über die Reorganisation der Weltordnung zu sprechen. Die weltweite Bewegung, die sich seit Seattle 1999 sichtbar gegen neoliberalen Kapitalismus wandte, richtete sich als Antikriegsbewegung aus und konnte damit ihre Basis erweitern. Doch die starke Konzentration der Linken auf die USA steht auch in der Kritik: dagegen steht einerseits die Vorstellung des globalen Empires, in dem die einzelnen Nationalstaaten kei-ne dominante Rolle mehr spielen und Kriege den Charakter von »Polizei-operationen« annehmen würden; eine andere Diskussion konzentriert sich auf das zwischen Europa und USA gespaltene Imperium und die Perspektive einer sich verschärfenden Konkurrenz zwischen den USA und der EU und schließlich steht die Frage nach einem transnationalen Block an der Macht, gestützt auf eine weltweite neoliberale Hegemonie.

Aber wie stabil ist diese jenseits der europäischen Metropolen? Die Bush-Administration gerät innen- wie außenpolitisch weiter unter Druck, in La-teinamerika drängen (Mitte-)Links-Regierungen die bisherige neoliberale Wirtschaftspolitik weiter in die Defensive und mit China betritt ein Akteur den Weltmarkt, über dessen Charakter als Ausgeburt des Neoliberalismus, ökonomisch erfolgreicher Staatskapitalismus oder marktsozialistische Zu-kunft innerhalb der Linken divergierende Auffassungen existieren. Diese neue Debatte ist noch am Anfang.

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8 Ch. Kaindl/Ch. Lieber/O. Nachtwey/R. Rilling/T. ten Brink

Also: In welchem Kapitalismus leben wir eigentlich? Einschlägige Gewiss-heiten schwinden weiter. Das sozialdemokratische Jahrhundert? Es ist pas-see. Mitte der 1990er Jahre war zwischenzeitlich von einer Renaissance der europäischen Sozialdemokratie die Rede, die sich aber in eine ideologische Subordinierung unter neoliberale Imperative verkehrte und derzeit wieder einen Transformationsprozess durchläuft, von dem immer noch nicht ab-schließend gesagt werden kann, wo er zum Stehen kommen wird.

Der Aufstieg des Rechtspopulismus? In Kärnten und anderswo - aber kei-neswegs immer und überall und fast unaufhaltsam, wie es vor einem Jahr-zehnt noch schien. Aber er bleibt virulent, nicht nur im bürgerlichen Lager, auch bei Teilen der Lohnabhängigen.

Eine große rifondazione der Linken? Die Arithmetik der Wahlordnung spricht nicht unbedingt dafür. Eine Chance besteht. Aber schaut man über den deutschen Tellerrand, führten die Spielräume für eine »linke Linke« in den zurückliegenden Jahren, die insbesondere in Italien und Frankreich in verschiedenen »Bündniskonstellationen« mit den sozialen Bewegungen -wie Sozialforen, Attac u.a. - ausgelotet wurden, noch zu keiner nachhaltigen Revitalisierung. Eine Aufarbeitung dieses »politischen Zyklus« seit Ende der 1990er Jahre, seiner partiellen Erfolge, seiner Schwierigkeiten und seiner Momente des Scheiterns, stehen von Seiten der Linken noch aus.

Und wie ist es um den Triumphzug des Neoliberalismus bestellt? Die Schar der Gläubigen dünnt aus und der Rest wird durch hohen Einsatz bombastischen Kapitals und coolen Zwangs bei der Stange gehalten. Die neoliberale Hegemonie à la TINA (»There is no Alternative«) ist brüchig geworden. Dennoch erweist sich der Neoliberalismus als wandlungs- und anpassungsfähig. Auch das bürgerliche Lager differenziert sich gegenwär-tig neu und modernisiert sich in Teilen, und die Kombinationen harter und sanfter neoliberaler Politikformen etwa eines Sarkozy sind innovativ.

Die Verheißungen der Informations- und Wissensgesellschaft mitsamt ihrer virtuellen Ökonomie? Sie sind schon da und niemand staunt mehr. Zugleich dementieren sich diese Verheißungen immer wieder selbst. Viele Subjekte werden nach wie vor von den emanzipatorischen Potenzialen ge-sellschaftlicher Produktivkraft ausgeschlossen, als Produzenten und Konsu-menten von den Möglichkeiten erhöhter Autonomie, Kooperation, Bildung und Partizipation am »general intellect« (Marx).

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Vorwort 9

Immerhin: es gibt auch Überraschungsfestes. Noch die blödeste Idee wird im capitalism 2.0 entschlossen in Wert gesetzt, die Weltengrenzen zwischen Reichenland und Armenland wachsen verlässlich und die nachhaltige Na-turzerstörung findet einfach statt, schließlich wird akkumuliert. Kurz: die Räume der Möglichkeiten und Notwendigkeiten werden neu vermessen und neu befestigt. Und das eben ist die gute Nachricht. Offenbar verlieren die Schattenlinien der großen Schließung, die das Monumentalgemälde des neu-en Globalkapitalismus vor zwei oder drei Jahrzehnten zu zeichnen begann, deutlich an Kraft, überall. Ein gutes historisches Stück des ersten Kapita-lismus ist vorbei - Ermattung, ja: eine gewisse Erschöpfung breitet sich da aus und der gegenwärtige Transformationsprozess verläuft trotz konjunk-tureller Aufschwungsphasen keineswegs in ruhigen Bahnen. Die dem kapi-talistischen Akkumulationsprozess inhärente »Schrankenlosigkeit in Gren-zen« erfordert neue Lösungsformen. Dabei erweist sich »die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform (als) der einzige geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung« (Marx). Der Streit über eine zweite Version hat begonnen - von der noch unübersichtlichen Wirklichkeit eines Kapitalismus reloaded angeheizt.

Auf dem Kongress »Kapitalismus Reloaded« (Berlin 2005) diskutierten dazu über 800 Besucherinnen und ein paar Dutzend Referentinnen mit internati-onaler Beteiligung. Der Kongress brachte unterschiedliche Zugänge ins Ge-spräch. Jenseits der üblichen nach Fächern, Disziplinen und politischen Vor-lieben sortierten Zugriffe fragte er nach dem Zusammenhang von Weltmarkt und Staat, von Produktion und Macht und schließlich von Hegemonie und Subjektivität. Der Blick sollte darauf gelenkt werden, dass die Reprodukti-on des Kapitalismus auf allen Ebenen stattfindet und umkämpft ist. Zu die-sen - vielfältigen - Kämpfen wollte der Kongress einen Beitrag leisten. Ein erster Schritt dazu war schon der Kreis der vorbereitenden Gruppen und Organisationen. Ungewöhnlich für die deutsche Linke - und nicht immer einfach - lag der Kreis der Veranstalter quer zu den eingeschliffenen und bornierten Lagern und Frontstellungen und umfasste Zeitschriftenprojekte wie PROKLA, Das Argument, Sozialismus, Sand im Getriebe (Attac), Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Sozialistische Zeitschrift - Soz, ak -analyse & kritik, Fantomas, Arranca; und politische Gruppen wie Attac, Ar-beitsschwerpunkt Weltwirtschaft des BUKO, Kritik & Praxis Berlin, FelS, Linksruck; wissenschaftspolitische Organisationen wie Assoziation für kri-tische Gesellschaftsforschung, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen

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10 Ch. Kaindl/Ch. Lieber/O. Nachtwey/R. Rilling/T. ten Brink

und Wissenschaftler (BdWi), WISSENTransfer; und schließlich Stiftungen wie Rosa Luxemburg, Helle Panke, Bildungswerk Berlin der Heinrich Boll Stiftung e.V., Hans Böckler Stiftung. Sie alle vertrugen sich, stritten und gin-gen wieder auseinander - auf ein mögliches Wiedersehen.

Der Kongress hätte definitiv nicht stattgefunden ohne die Arbeit von Sa-rah Bormann und Henning Füller, die Mitarbeit über zwei Jahre hinweg ei-ner vielköpfigen Vorbereitungsgruppe, die Multitude engagierter Helfer und die ÜbersetzerInnen. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt!

Das Gros der folgenden Analysen zur Kritik des neuen Kapitalismus geht auf diese Debatte zurück. Ihnen unterliegt die Einsicht, dass die kapitalis-tische Gesellschaft »kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist« (Marx) - und in diesen Umwandlungsprozess gilt es einzugreifen.

Christina Kaindl/Christoph Lieber/Oliver Nachtwey/ Rainer Rilling/Tobias ten Brink

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Alex CalIinicos Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem?

Die Debatte über den neuen Imperialismus

Es ist mittlerweile ein Klischee zu sagen, dass der von der Bush-Regierung verkündete »lange Krieg« gegen den Terrorismus die Rückkehr des Imperia-lismus mit aller Macht eingeläutet hat. Damit einher ging ein Wiederaufleben marxistischer Literatur über den Imperialismus, auch wenn diese intellek-tuelle Renaissance bereits vor der Regierungsübernahme durch George W. Bush begann. Es waren die besonderen Umstände der 1990er Jahre - spezi-ell das Zusammentreffen der konkurrenzlosen Hegemonie der Vereinigten Staaten mit dem um sich greifenden Globalisierungsdiskurs die unter mar-xistischen Theoretikern eine erneute Fokussierung auf den Imperialismus hervorriefen (siehe z.B. Rupert/Smith 2002 für eine brauchbare Übersicht theoretischer Perspektiven). Natürlich war die Wiederaufnahme der Debat-te keine bloße Wiederholung. Denn die meisten Autoren waren sich darin einig, dass die Imperialismustheorie, wie sie während des Ersten Weltkriegs von Lenin und in einer erheblich verfeinerten Version von Bucharin vorge-legt worden war, ein toter Hund sei (Halliday 2002 bildet hier eine Ausnah-me; siehe auch Lenin 1917 und Bucharin 1915 für die Originaltexte).

Dennoch bietet der Lenin-Bucharin-Ansatz einen nützlichen Rahmen, um die Positionierungen in der gegenwärtigen marxistischen Debatte über den Imperialismus1 miteinander zu kontrastieren. Dieser Theorieansatz

1 In einem solchen kurzen, in erster Linie begrifflichen Beitrag dieser Art ist ein gewisses Maß an Stilisierung angemessen. In Wirklichkeit war die Theorie von Lenin und Bucharin keineswegs die einzige marxistische Sichtweise zurzeit der Zweiten und Dritten Internationale: Rosa Luxemburg vertrat eine Erklärung, die sich in weiten Tei-len unterschied und deren Prämissen - nämlich die in ihrer Die Akkumulation des Ka-pitals entwickelte Zusammenbruchstheorie - Lenin implizit ablehnte und Bucharin ex-plizit kritisierte (siehe Luxemburg/Bukharin 1972.) Mein Dank gilt Alex Anievas, Sam Ashman, Oliver Nachtwey und Justin Rosenberg für ihre Kommentare zum Entwurf des vorliegenden Beitrags sowie Duncan Bell und anderen Teilnehmern am Cambridge International Political Seminar, auf dem ich die wesentlichen Argumente zum ersten Mal vortrug.

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12 Alex Callinicos

leistete zweierlei: Erstens bot er eine Beschreibung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten spezifischen Phase der kapitalistischen Entwicklung - deren Bewertung die Marxisten jener Zeit im Allgemeinen teilten -, in der die Konzentration und Zentralisation des Kapitals jenen von Hilferding so bezeichneten »organisierten Kapitalismus« auf nationaler Ebene hervorge-bracht hatten und nun im (von Bucharin stärker als von Lenin hervorge-hobenen) Verschmelzen des staatlichen mit dem privaten Kapital gipfelten. Zweitens unternahm er den Versuch, die geopolitischen Rivalitäten unter den Großmächten, an deren Ende der Erste Weltkrieg stand, als Folge des wirt-schaftlichen und territorialen Wettkampfs unter den »staatskapitalistischen Trusts« zu erklären, die nunmehr jene Staaten dominierten. In Anbetracht dieser beiden Theoriebestandteile kann man gut den Zorn nachvollziehen, mit dem Lenin und Bucharin Karl Kautskys Theorie des Ultraimperialismus (Kautsky 1914) begegneten, wonach der Prozess der »Organisation« an den nationalen Grenzen nicht halt machen, sondern das Kapital transnational in einer Weise integrieren würde, die den Krieg aus kapitalistischer Perspektive irrational erscheinen lassen musste (Callinicos 2002).

Dies ist nicht der richtige Ort für eine eingehende Würdigung der Stär-ken und Schwächen der Theorie Lenins und Bucharins (vgl. Callinicos 1987: 79-88; Callinicos 1991). Wichtig an dieser Stelle ist, dass der zweite Punkt ihres Ansatzes als Vorlage dienen kann, um die gegenwärtigen Debatten ein-zuordnen. In dieser sind, grob gesagt, drei Positionen auszumachen. Zum einen gibt es diejenigen, die eine Spielart von Kautskys Argument vertreten. So behaupten Michael Hardt, Toni Negri und William Robinson, dass der Kapitalismus heute sowohl wirtschaftlich als auch politisch in transnatio-naler Weise organisiert sei. Die sich unmittelbar daraus ergebende Schluss-folgerung ist, dass geopolitische Konflikte unter den führenden kapitalisti-schen Staaten obsolet sind (Hardt/Negri 2000 u. 2004; Robinson 2004). Eine untergeordnete Prämisse lautet, dass das zwischenstaatliche System, das seit einigen hundert Jahren zunächst in Europa, dann weltweit den strukturellen Kontext für geopolitische Rivalitäten bildete, weder inhärent notwendig noch länger erforderlich für das Funktionieren kapitalistischer Produktions-verhältnisse ist. Diese Behauptung stieß auf entschiedenen Widerspruch, na-mentlich seitens Ellen Woods (Wood 2002 u. 2003), wobei die Gegner ihrer-seits unterschiedliche Sichtweisen des gegenwärtigen Imperialismus vertreten. Eine zweite Argumentationslinie, am systematischsten von Leo Panitch und Sam Gindin entwickelt, nimmt an, dass der Kapitalismus das Staatensystem zwar braucht, es den USA nach dem Zweiten Weltkrieg aber gelungen sei,

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ein »informelles Imperium« zu gründen, das die anderen führenden kapita-listischen Staaten letztlich der amerikanischen Hegemonie unterordnet (Pa-nitch/Gindin 2004a, 2004b u. 2005). Diese Argumentationslinie impliziert eine gleiche Schlussfolgerung wie die von Hardt/Negri und Robinson, näm-lich dass die geopolitische Konkurrenz sich überlebt hat. Weder die Krise der 1970er Jahre, welche die japanische und westdeutsche Konkurrenz zu den USA maßgeblich mit verursachte, noch das irakische Missgeschick hätten die Vorrangstellung Amerikas entscheidend geschwächt, so Panitch/Gindin.

Es wäre wohl fair zu sagen, dass die eine oder andere Spielart dieser letz-teren Argumentationslinie unter linken Intellektuellen großen Anhang hat. Sie liegt beispielsweise der redaktionellen Ausrichtung der Zeitschrift New Left Review zugrunde. Sie deckt sich mit der Behauptung amerikanischer Macht unter Bush-Jr. (eine äußerst ungelegene Entwicklung für Hardt/Ne-gri, vgl. Boron 2005) und sie zeichnet sicherlich ein ganz treffliches Bild von der Machtasymmetrie zwischen den USA und den übrigen Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges. Ray Kiely vertritt eine Spielart dieser The-orie, die sich mit seiner Behauptung, »die zunehmende Globalisierung des Kapitals bedeutet nicht die Erosion des Nationalstaats oder das Ende des hierarchischen nationalstaatlichen Systems«, insofern von Hardt/Negri un-terscheidet. Allerdings betont er die Vorteile, die die amerikanische Hege-monie für die übrigen führenden kapitalistischen Klassen mit sich bringt, sodass »die brauchbarste klassische marxistische Theorie zum Verständnis der Gegenwart die Kautskys ist .. . die Theorie der ultraimperialistischen Kooperation unter den führenden kapitalistischen Staaten«. (Kiely 2006)

Beide Sichtweisen werden von einer dritten Gruppe infrage gestellt, die Kiely die »Theoretiker des neuen Imperialismus« tituliert (2005: 32-34), de-ren prominentester Vertreter David Harvey ist, unter denen sich aber auch Waiden Bello, Peter Gowan, Chris Harman, John Rees, Claude Serfati und der Autor dieser Zeilen befinden (Bello 2005; Callinicos 2003; Gowan 1999; Harman 2003; Harvey 2005; Rees 2006; Serfati 2004). Grob umrissen vertre-ten sie folgende Thesen: 1. Der globale Kapitalismus hat die Ära der ökonomischen Krisen, in die er

in den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren eingetreten ist, bislang nicht hinter sich gelassen (Brenner 1998 u. 2003).

2. Eine wichtige Dimension dieser Krise ist die Verteilung des entwickelten Kapitalismus auf drei konkurrierende Zentren wirtschaftlicher und poli-tischer Macht, die so genannte Triade, bestehend aus Westeuropa, Nord-amerika und Ostasien.

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14 Alex Callinicos

3. In der Konsequenz und trotz der realen Machtasymmetrie zwischen den USA und anderen führenden kapitalistischen Staaten gibt es bedeutende Interessenskonflikte unter ihnen (und mit anderen Staaten wie Russ-land oder China), die im Kontext eines fortgesetzten »langfristigen Ab-schwungs« wahrscheinlich in geopolitische Auseinandersetzungen mün-den werden.2

Diese dritte Schule unterscheidet sich von den beiden ersteren durch ihre Behauptung, dass der geopolitische Konflikt in der Zeit nach dem Kalten Krieg fortdauert. Ich selber habe diesen Gedanken im Rahmen einer Debat-te mit Panitch/Gindin mit Nachdruck vertreten (Callinicos 2005c u. 2006; Panitch/Gindin 2006). Wer Recht behalten wird in dieser und anderen Fra-gen, ist letztendlich eine empirische und historische Frage. In diesem Beitrag habe ich mir das Ziel gesetzt, einige theoretische Probleme zu beleuchten, um Kritiken an Harveys und meinen eigenen Ansichten besser begegnen zu können. Vielleicht sollte ich zunächst einige Bemerkungen über meine eige-ne Herkunft voranstellen. Mein Ausgangspunkt ist der einer relativen Sym-pathie für den Lenin-Bucharin-Ansatz, bei gleichzeitiger Anerkennung, dass dessen Beschränkungen nach Kritik, Überarbeitung und Verfeinerung rufen. Daher - Frieden sei mit manchen denkfaulen Kritikern - ist meine Position nicht einfach eine Neuformulierung oder Verteidigung der Theorien Lenins und Bucharins.3 Auch Harveys Analyse in Der neue Imperialismus (2005) ist

2 Diese Klassifizierung der gegenwärtigen Debatte ist keineswegs erschöpfend. Der bedeutendste zeitgenössische Vertreter der Weltsystemtheorie, Giovanni Arrighi, über-spannt mühelos alle drei Positionen: Er verwirft zwar die Prämissen Hardt/Negris, teilt aber deren Schlussfolgerung (dass geopolitische Rivalitäten obsolet seien) und behaup-tet gleichzeitig, dass die USA gegenwärtig hegemonial seien, sich ihre Dominanz aber wahrscheinlich im »Endstadium« befindet. Vgl. Arrighi 2005a u. 2005b.

3 Kiely ist ein Beispiel für diese Art denkfauler Kritik. Er wirft den »Theoretikern des neuen Imperialismus« vor, Lenin und Bucharin bloß zu wiederholen. Ein Beispiel: »Der Kleinmachtimperialismus des irakischen Regimes im Jahre 1991 wird in diesen Schilderungen kaum erwähnt, da >lokale< Konflikte scheinbar restlos von den globalen imperialen Konflikten (der Großmächte) bestimmt werden. Der Analyse fehlt daher eine überzeugende Darstellung des Vorgangs der Staatenbildung und -entwicklung und der primitiven Akkumulation in der Peripherie.« (Kiely 2005: 33) Als Beleg für diese Herangehensweise beruft sich Kiely auf einen Sammelband, zu dem ich eine überarbei-tete Fassung von Callinicos 1991 beitrug, die in ihrer Übersicht über den »Imperialis-mus nach dem Kalten Krieg« einen ausgedehnten Abschnitt über den »Aufstieg von Su-bimperialismen in der Dritten Welt« enthält, der Saddam Husseins Irak als prominentes Beispiel behandelt (siehe Callinicos u.a. 1994: 45-54). Diese Analyse mag unzureichend sein, das wäre aber kein Grund, ihre Existenz zu leugnen, was Kiely im Endeffekt tut. Seine historische Kritik des Lenin-Bucharin-Ansatzes (vgl. Kiely 2005: 30-4 u. 2006)

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offensichtlich eine Fortentwicklung - in einem breiteren »geo-historischen« Rahmen - seiner bereits in The Limits to Capital (1982) formulierten und erweiterten Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise. An-zumerken wäre hier, dass schon dieses frühe Werk mit einer Schilderung schließt, wie interimperialistische Rivalitäten und Kriege einen Ausweg zur Lösung von Überakkumulationskrisen bieten können. (Mehr über Harvey in: Ashman/Callinicos 2006.)

Diese Bemerkung führt mich zum ersten Gegenstand einer notwendigen Klärung. Die gegenwärtige Debatte sieht meistens in der Frage nach dem Fortbestehen interimperialistischer Rivalitäten eine der Hauptkontroversen. Für meinen Teil ziehe ich es vor, diese Frage auf der abstrakteren Ebene des Fortbestehens geopolitischer Konkurrenz zu stellen, aus zwei Gründen. Die aus der Theorie Lenins/Bucharins hergeleitete marxistische Diskussion verleiht dem Ausdruck »interimperialistische Konkurrenz« zwar einen bei-nahe offiziellen Status, dabei hat dieser jedoch den Nachteil, zwischenstaat-liche Konflikte mit der Polarisierung des Staatensystems in große Macht-blöcke gleichzusetzen, wie sie zwischen den 1890er Jahren und 1989-91 vorherrschten. Zweifler an der geopolitischen Konkurrenz wie Toni Negri haben dann leichtes Spiel mit ihrem scheinbar unschlagbaren Einwand, ob denn Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union heute vorstellbar sei. Das mag ein guter rhetorischer Zug sein, beantwortet aber nicht die Frage, ob zwischenstaatliche Konflikte nicht auch andere For-men als die eines allgemeinen Krieges zwischen Koalitionen der mächtigsten Staaten annehmen können. Da dies offensichtlich doch der Fall sein kann, bevorzuge ich den weitgefassteren Begriff der geopolitischen Konkurrenz, der alle zwischenstaatlichen Konflikte in Bezug auf Sicherheit, Gebietsan-sprüche, Ressourcen und Einflusssphären einschließt.4

bezieht sich auf Phänomene, die den »Theoretikern des neuen Imperialismus« geläufig sind (vgl. Callinicos 1987: 79-88 u. 1991: 13-26). Viele seiner konkreten Schilderungen der gegenwärtigen globalen politischen Ökonomie sind in meinen Augen nicht zu be-anstanden - schade nur, dass er sich gezwungen sieht, theoretische Differenzen derma-ßen karikaturenhaft darzustellen.

4 Theoretiker des Realismus wie John Mearsheimer tendieren dazu, zwischenstaat-liche Konkurrenz auf die Konkurrenz in Sicherheitsfragen zu reduzierens (siehe Mears-heimer 1994/1995 u. 2001). Eine marxistische Herangehensweise, die sich das Ziel setzt, interstaatliche Beziehungen im globalen Akkumulationsprozess zu orten, und daher die Vielfalt der Interessen und der Verflechtungen von Staatsbeamten hervorhebt, hat eine solch einengende Hypothese nicht nötig.

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16 Alex Callinicos

Die so konzipierte geopolitische Konkurrenz kennzeichnet eine der wich-tigsten Formen der Wechselbeziehungen zwischen den Einheiten des Staa-tensystems. Das hat den Vorzug, das Problem im Lichte der Beziehungen zwischen dem Kapitalismus und dem Staatensystem neu zu formulieren. So-wohl weberianische historische Soziologen wie Anthony Giddens, Michael Mann und Theda Skocpol als auch Theoretiker der Disziplin der Internatio-nalen Beziehungen in der einen oder anderen »realistischen« Tradition haben Marxisten vorgeworfen, nicht sehen zu wollen, dass der zwischenstaatliche Systeme kennzeichnende Wettbewerb ein überhistorisches Phänomen ist, welches einer Logik gehorcht, die sich auf die der Klassenausbeutung nicht reduzieren lässt. Neuerdings sind sogar einige marxistische Theoretiker, dar-unter Hannes Lacher und Benno Teschke, diesen Kritikern ein Stück weit entgegengekommen. Sie argumentieren, dass erstens das moderne Staaten-system zwar kein überhistorisches, wie von den Weberianern und Realisten behauptet, sehr wohl aber ein vor der Vorherrschaft des Kapitalismus ent-standenes Phänomen sei - aus der Zeit der inmitten der Krise der feudalen Eigentumsverhältnisse aufkommenden absolutistischen Staaten, die ihrer-seits noch nicht Ausdruck des Übergangs zum Kapitalismus gewesen seien, so ihre (früheren marxistischen Interpretationen des Absolutismus wider-sprechende) Argumentationslinie; dass zweitens das Staatensystem folglich nur bedingt mit dem Kapitalismus zusammenhängt, der im Prinzip auf es verzichten könnte (Lacher 2002; Teschke 2003).

Lachers und Teschkes Argumentationslinie beruht teilweise auf einer un-zulänglichen Sichtweise der Entwicklung des Kapitalismus (Harman 1989 u. 2004). Ihre zweite Schlussfolgerung im vorangehenden Absatz wird zumin-dest von einer Theoretikerin, die ihre Grundannahmen teilt, nämlich von Ellen Wood, abgelehnt (Wood 2002). Auch wenn das moderne Staatensys-tem dem Kapitalismus voranging, brauchte der souveräne Territorialstaat kapitalistische Eigentumsverhältnisse und die aus ihnen resultierende Tren-nung des Politischen vom Ökonomischen zu seiner Vervollkommnung, so Wood (vgl. auch Rosenberg 1994). Je global integrierter die kapitalistische Entwicklung sich vollzieht, desto abhängiger wird sie von einem Staatensys-tem für die Gewährleistung einer umfassenden Verwaltung derer, die ihrer Herrschaft unterliegen. Woods Argumentationslinie kann um Manns Unter-scheidung zwischen despotischer und infrastruktureller Macht von Staaten (Mann 1986 u. 1993) ergänzt werden. Die despotische Macht eines Staates ist umso größer, je weniger ihre Ausübung gegen die Untertanen Einschrän-kungen unterliegt. Die infrastrukturelle Macht eines Staates hingegen ist ein

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Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem? 17

Ausfluss seiner Fähigkeit, das Leben all seiner Untertanen tatsächlich zu regulieren. So hatten die Herrscher der antiken Großmächte enorme des-potische Macht, die sich allerdings auf ein relativ beschränktes Gebiet um die Hauptstadt konzentrierte; moderne Staaten hingegen besitzen dank ihrer bürokratischen Organisation und der durch die kapitalistischen Produkti-onsverhältnisse erleichterten extrahierenden Fähigkeiten (z.B. Einzug von Steuern) eine enorme infrastrukturelle Macht, die sie despotisch ausüben können oder auch nicht. Man könnte also Woods Position neu formulie-ren und behaupten, dass die kapitalistische Herrschaft nicht nur die von der Pluralität der Staaten ausgeübte infrastrukturelle Macht ermöglicht, sondern diese sogar voraussetzt.

Diese Argumentation wirft zwei Schwierigkeiten auf. Erstens leidet sie unter dem, was Vivek Chibber »weichen Funktionalismus« nennt (Chibber 2005: 157). Mit anderen Worten geht sie von den Bedürfnissen des Kapi-tals aus und schließt hiervon auf die Existenz des Staatensystems. Zweitens bleibt immer noch die Frage, warum diese Funktion von einer Pluralität von Staaten ausgeübt werden sollte, auch wenn wir einräumen, dass der Kapi-talismus eine wesentlich ausgedehntere Verwaltung von Bevölkerungen so-wohl erleichtert als auch erfordert, als es frühere Produktionsweisen taten (Callinicos 2004b). Hardt/Negri sind sich absolut im klaren darüber, dass die kapitalistische Reproduktion staatlicher Fähigkeiten bedarf, nur lehnen sie die Vorstellung ab, dass diese Fähigkeiten heute von souveränen Terri-torialstaaten ausgeübt werden. Stattdessen sind es transnationale politische Netzwerke - transnationale Konzerne, internationale Behörden, NGOs usw. -, die ihnen zufolge die neue »imperiale Souveränität« ausmachen. Das veranschaulicht eines der allgemeineren Probleme des harten wie des weichen Funktionalismus, nämlich, dass die Ortung einer unverzichtbaren Funktion zur Erzielung bestimmter Effekte allein keine Erklärung dafür lie-fert, warum diese Funktion eine spezifische Form annehmen sollte. Um es nochmals zu wiederholen: Selbst wenn man einräumt, dass die Reproduk-tion kapitalistischer Verhältnisse von der Ausübung jener staatlichen Fähig-keiten abhängen, die Mann als infrastrukturelle Macht kennzeichnet, warum sollte deren Ausübung einer Pluralität von Staaten zufallen?

Auch andere marxistische Herangehensweisen, die die Beziehung zwi-schen Kapitalismus und dem Staatensystem als notwendig erachten, scheinen ebenfalls angreifbar. Harvey und ich haben unabhängig voneinander ganz ähnliche Konzepte des kapitalistischen Imperialismus als Ausfluss des Zu-sammenspiels kapitalistischer und territorialer Machtlogiken einerseits bzw.

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18 Alex Callinicos

wirtschaftlicher und geopolitischer Konkurrenz andererseits entwickelt. Einer der Vorzüge dieser Herangehensweise ist es, dass sie jedem Versuch aus dem Weg geht, geopolitische Strategien von Staaten auf Wirtschaftsin-teressen zu reduzieren. In Harveys Worten sollte die »Beziehung zwischen diesen beiden Logiken ... als problematisch und oft widersprüchlich (also dialektisch) angesehen werden statt als funktionell oder einseitig«. (Harvey 2005: 36f.) Im gleichen Sinne argumentiere ich, dass

»die Bush-Doktrin nicht einfach als Reflex der Geschäftsbeziehungen der Regierung interpretiert werden kann. Sie stellt vielmehr ein mehr oder we-niger zusammenhängendes Projekt zur Aufrechterhaltung und Stärkung der US-Hegemonie dar, die, unter anderem, eine ökonomische Dimension besitzt ... Allgemeiner ausgedrückt: Während der gesamten Geschichte des moder-nen Imperialismus ließen sich die Großmächte von komplexen Mischungen ökonomischer und geopolitischer Beweggründe leiten ... Die marxistische Theorie des Imperialismus analysiert die Formen, in denen geopolitische und wirtschaftliche Konkurrenz im modernen Kapitalismus mittlerweile mitein-ander verflochten sind, versucht aber nicht, diese analytisch verschiedenen Dimensionen aufeinander zu reduzieren.« (Callinicos 2003: 105-06)

Es mag anstößig erscheinen, wenn ich mich so ausgiebig zitiere. Es hat mit der Karikatur meiner und ähnlicher Ansichten zu tun. So wird meine Positi-on als eine beschrieben, die »die Bush-Regierung im Licht ihrer Funktiona-lität für das US-Kapital versteht« (Kiely 2006), eine Auslegung, die schlecht mit dem oben zitierten Auszug in Übereinstimmung gebracht werden kann, geschweige denn mit der allgemeinen Analyse der Globalstrategie der Bush-Regierung in The New Mandarins of American Power (2003), aus der dieser Auszug stammt.5 Die wirkliche Herausforderung für Harveys und meine Position ist nicht, dass sie etwa unter ökonomischem Reduktionismus leide, sondern gerade das Gegenteil. So schreibt Gonso Pozo:

»Zwei separate Logiken werden vorausgesetzt, und so scheint es ohne wei-teres möglich, den realistischen Ansatz zu bekräftigen, in dem Sinne, dass in bestimmten Zusammenhängen die territoriale Logik scheinbar Vorrang vor der ökonomischen gewinnt. Könnte dies nicht zu einem Missbrauch von Erklärungen führen, die auf Themen wie nationales Interesse oder Macht-gleichgewicht fußen? ... Hat der Marxismus dem Realismus nicht bereits ei-

5 Panitch erhob auf dem Internationalen Marx-Kongress in Paris im Oktober 2004 den (genauso unwahrscheinlichen) Vorwurf, dass Harvey einer instrumentalistischen Vorstellung des Staates unterliege.

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nen ausreichenden Schlag versetzt, nur um zu dessen (teilweisen) Vorzügen zurückzufinden?« (Pozo 2006)

Pozo zitiert mich als Paradebeispiel für diese »Zweideutigkeit in Bezug auf den Realismus«. Ein Artikel von mir über den Irak wird »als marxis-tische Interpretation, die sich an vielen Stellen als hervorragende realistische liest«, gedeutet (Pozo 2006; vgl. Callinicos 2005b). Diese Kritik kann fol-gendermaßen zusammengefasst werden: Harveys und mein Konzept des Imperialismus können lediglich formal in einen marxistischen Rahmen ge-presst werden. Dadurch, dass wir zwei verschiedene Logiken oder Formen der Konkurrenz - die wirtschaftliche und die geopolitische - voraussetzen, haben wir unter der Hand den Deutungspluralismus Webers und der his-torischen Soziologen wie Mann und Skocpol wieder aufgegriffen. Die Be-hauptung, dass die beiden Logiken sich überschneiden und miteinander in-teragieren, sagt nichts aus über die relative Vorrangstellung der einen vor der anderen. Ohne eine solche Festlegung sei unsere Position quasi identisch mit Manns Vorstellung von den vier Quellen der Macht (ideologische, mi-litärische, wirtschaftliche und politische), oder Skocpols Ansicht von zwei relativ autonomen und kausal gleichwertigen transnationalen Dimensionen der Weltwirtschaft und des zwischenstaatlichen Systems (Mann 1986: Kap. 1; Skocpol 1979). Harvey und ich haben sich folglich dem ökonomischen Reduktionismus und einer instrumentalistischen Vorstellung vom Staat ent-zogen, zahlen aber dafür einen hohen Preis, da der Deutungspluralismus, dem wir in Wirklichkeit huldigen, es gestattet, auf verdinglichte Konzepte des nationalen Interesses und Ähnliches zurückzugreifen, wie sie für den Realismus in den Internationalen Beziehungen kennzeichnend sind.6

Geopolitische Konkurrenz und die Logik des Kapitals

Diesen Vorwurf muss man sehr ernst nehmen, er ist aber widerlegbar. Dafür ist es notwendig, einen Umweg über Marx' Theorie der kapitalistischen Pro-duktionsweise zu nehmen, wie er sie im Kapital, unvollständig, entwickel-te. Bei Marx sind zweierlei Trennungen kennzeichnend für kapitalistische Produktionsverhältnisse - die der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln, was den Verkauf ersterer an das Kapital zu Bedingungen nach sich zieht, die

6 Anievas 2005 und Robert Brenner (auf einer seinem Werk gewidmeten Konferenz in London im November 2004) erheben im Wesentlichen gleichlautende Vorwürfe.

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zu ihrer Ausbeutung führen; und die der »vielen Kapitalien«, die in ihrer Ge-samtheit die Produktionsmittel beherrschen, aber in Konkurrenz unterein-ander interagieren, was wiederum die einzelnen Produktionseinheiten unter systematischen Druck setzt, die Profitabilität zu maximieren und Kapital zu akkumulieren. Daraus folgt, dass die charakteristischen Tendenzen der kapi-talistischen Produktionsweise - Ausbeutung der Lohnarbeit, Akkumulation und Krisen - eine Konsequenz ökonomischer Mechanismen ist, in der Kon-kurrenz eine unverzichtbare Rolle spielt (eine gute Behandlung des Themas Konkurrenz im Kapital in jüngerer Zeit findet sich in: Arthur 2002). So gese-hen kann die Entstehung des kapitalistischen Imperialismus als Transforma-tion der den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zugrundeliegenden Konkurrenz betrachtet werden.

Wie sowohl die Weberianer als auch Marxisten wie Lacher und Tesch-ke hervorheben, geht die geopolitische Konkurrenz dem Kapitalismus his-torisch voraus. Robert Brenner hat eine wichtige Analyse der »politischen Akkumulation« geliefert, wie er sie nennt (Brenner 1983: 37-41). In vorka-pitalistischen Produktionsweisen (besonders dem Feudalismus), als weder die Ausbeutenden noch die Ausgebeuteten besonderen Anreiz hatten, ihre Einkünfte durch die Einführung produktivitätssteigernder technologischer Erneuerungen zu erhöhen, bot sich der herrschenden Klasse die territori-ale Ausdehnung - wobei Grundherren die Landgüter anderer Grundherren mitsamt ihren Bauern erbeuteten - als wichtigstes Mittel an, ihre materiel-le Lage zu verbessern. Das bedingte Investitionen in Truppen und Waffen ebenso wie die effektivere politische Organisation der Anwesen, um diese Investitionen zu organisieren und die zu ihrer Finanzierung erforderlichen Mittel zu mobilisieren. Die Entstehung des zwischenstaatlichen Systems im Europa des späten Mittelalters und der beginnenden Moderne war daher nicht einfach die Folge unmittelbarer Erfordernisse militärischer und po-litischer Macht, wie Mann es darstellt, sondern war eine Folge der für die feudalen Eigentumsverhältnisse spezifischen »Reproduktionsregeln«, wie Brenner sie nennt, womit jene Strategien gemeint sind, die Wirtschaftsak-teure, in Klassen organisiert und im Rahmen eines vorgegebenen Systems der Eigentumsverhältnisse, verfolgen müssen, um Zugang zu den Subsis-tenzmitteln zu erlangen (Brenner 1986).

Aber - hier gehe ich weiter als Brenner - die Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse verleiht jenen Staaten, in denen sie vorherrschen (zunächst den Niederlanden, dann England in der Frühmoderne) einen punktuellen Vorteil im Prozess der zwischenstaatlichen Konkurrenz, in ers-

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ter Linie dank der spektakulär gestiegenen Kapazitäten jener Staaten, ihre Aktivitäten zu finanzieren und zu organisieren (siehe beispielsweise Brewer 1989). Dieser Vorteil war bereits vor der Entwicklung des industriellen Ka-pitalismus zugegen, allerdings hatten mit der »Industrialisierung des Kriegs« im 19. Jahrhundert (McNeill 1982: Kap. 7 u. 8) auf einmal alle Staaten ein unmittelbares Interesse, kapitalistische Produktionsverhältnisse zu fördern, um im eigenen Land die hochtechnologischen Waffen- und Transportsys-teme zu entwickeln, von denen der militärische Erfolg nun abhing. Parallel dazu machten im ausgehenden 19. Jahrhundert die von Bucharin hervorge-hobenen Trends einer zunehmenden Konzentration wirtschaftlicher Macht innerhalb der nationalen Grenzen einerseits sowie der Internationalisierung des Handels und der Investitionen andererseits die Einzelkapitalien zuneh-mend abhängig von der Unterstützung ihrer jeweiligen Nationalstaaten zur Durchsetzung ihrer Interessen. Diese Prozesse bewirkten eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Kapital, mit dem Ergebnis, dass die zwischenstaatliche Konkurrenz unter die zwischen den Kapitalien subsu-miert wurde. Als dieser Vorgang zu einer historischen Realität wurde, Ende des 19. Jahrhunderts, trat der kapitalistische Imperialismus in Erscheinung.

Diese hier nur kurz umrissene historische Argumentationslinie habe ich zum ersten Mal vor etwa 20 Jahren entwickelt (Callinicos 2004a: §4.4; siehe auch Carling 1992: Teil I). Sie scheint mir heute noch richtig zu sein, be-darf allerdings eines präziseren theoretischen Fundaments, insbesondere um genauer zu umreißen, in welchem Sinne behauptet werden kann, dass die geopolitische Konkurrenz unter die Konkurrenz zwischen Kapitalien sub-sumiert wurde und dadurch zu einer Variation letzterer geworden ist. Dafür ist es erforderlich, den Platz, den der Staat in Marx' eigenem theoretischen Diskurs im Kapital einnimmt, und die von ihm angewandte Methode zu be-trachten. Nach Marx' ursprünglichem Konzept sollte seine Kritik der poli-tischen Ökonomie »zerfallen in 6 Bücher: 1. Vom Kapital. 2. Grundeigen-tum. 3. Lohnarbeit. 4. Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt.« (Marx 1858, in: MEW, Bd. 29: 312) Bekannterweise hat er das Kapital, das erste die-ser sechs »Bücher«, niemals vollendet. Kommentatoren sind sich nicht einig, ob er seinen umfassenderen Plan aufgegeben hat oder nicht (vgl. Rosdolsky 1977; Dussel 2001). Nach meinem Dafürhalten sah sich Marx gezwungen, als er das Kapital zu schreiben begann, große Teile des erst für Buch 2 und 3 vorgesehenen Materials über Lohnarbeit und Grundeigentum einfließen zu lassen. Allerdings nahm er die drei letzten »Bücher«, was auch immer er mit ihnen vorhatte, nicht wirklich in Angriff, auch nicht das über den Staat. Aber

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er entwickelte eine Methode der Theoriekonstruktion, die für die Annähe-rung an das hier diskutierte Problem relevant ist.

Bekanntlich ist das Kapital als mehrstufige theoretische Struktur konzi-piert, in der die aufeinanderfolgenden Stufen steigende Komplexitätsgrade darstellen. So analysiert Band I die Schaffung von Wert und Gewinnung von Mehrwert im Produktionsprozess. Band III, der dem kapitalistischen Wirtschaftssystem als Ganzes gewidmet ist, zeichnet die Aufteilung des Mehrwerts nach, zunächst auf verschiedene Einzelkapitalien, dann auf ver-schiedene Spielarten des Kapitals (produktives, Geld- und Handelskapital) und auf das Grundeigentum, allesamt Vorgänge, die zur Entstehung einer allgemeinen Profitrate führen und zur Differenzierung des Mehrwerts in verschiedene Einkunftsarten - Profit des produktiven Kapitals und Profit des Handelskapitals, Zinsen und Grundrente (Mosley 2002). Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Stufen ist nicht deduktiv. Mit anderen Worten sind die im Verlauf des Kapitals entwickelten Komplexitäten nicht irgendwie bereits in den zu Beginn des Buchs dargelegten Konzepten von Ware, Ge-brauchswert, abstrakter und konkreter Arbeit usw. »enthalten«. Vielmehr werden neue und komplexere Bestimmungen nach und nach eingeführt, um entstehende Probleme in früheren Phasen der Analyse zu überwinden. Diese Bestimmungen werden durch ihren Platz in der allgemeinen Argumentation begründet, jede besitzt aber ihre spezifischen Eigenschaften, die auf die zu-vor vorausgesetzten Bestimmungen nicht reduzierbar sind. (Für eine erheb-lich umfassendere Behandlung des Wesens und der Schwierigkeiten dieser Herangehensweise siehe Callinicos 2001 u. 2005a).

Diese Herangehensweise kann bei dem Versuch, ein marxistisches Ver-ständnis des Staatensystems zu entwickeln, herangezogen werden. (Einer der vielen Gründe, warum niemand den Versuch unternehmen sollte, Marx' fehlendes Buch über »den Staat« zu schreiben, ist, wie Colin Barker in der Staatsdebatte der 1970er Jahre hervorhob, dass kapitalistische Staaten immer im Plural existieren: Barker 1978). Mit anderen Worten muss man den Staat als gesonderte Bestimmung begreifen (oder vielmehr als Zusammenhang von Bestimmungen) innerhalb des weitergefassten Vorhabens, eine zufrieden-stellende Theorie der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln. Wie ich bereits anmerkte, besitzt eine Bestimmung spezifische Eigenschaften, die nicht auf die Eigenschaften vorher eingeführter Bestimmungen reduzierbar sind. Daher ist die Tatsache, die Pozo als Gegenargument gegen Harveys und meine Konzeptualisierung des Imperialismus anführt, nämlich dass die geopolitische Konkurrenz eine eigene, von der ökonomischen Konkurrenz

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divergierende Logik besitzt, genau das, was diese Methode uns in diesem Falle erwarten lässt. Offenkundig hat das Staatensystem charakteristische Merkmale. Eine Folgerung dieser Feststellung ist, dass jeder marxistischen Analyse internationaler Beziehungen und Konjunkturen ein »realistisches« Moment innewohnt. Eine derartige Analyse hat die Strategien, das Kalkül und das Zusammenspiel der rivalisierenden politischen Eliten im Staatensys-tem zu berücksichtigen. Das ist aber noch lange kein Grund, der uns zu einer unkritischen Verdinglichung von Konzepten verleiten sollte, auf die realisti-sche Theoretiker wie Kenneth Waltz und John Mearsheimer zurückgreifen. Kritiker sollten konkrete Beispiele dafür liefern, wo Harvey, ich oder ande-re mit einem ähnlichen Standpunkt diesen Fehler begangen haben, anstatt vage Warnungen auszugeben. Von entscheidender Bedeutung ist es, dass eine genaue marxistische Analyse sich dadurch auszeichnet, die Strategien, Berechnungen und Interaktionen von Staatsbeamten immer im Kontext der Krisentendenzen und Klassenauseinandersetzungen zu behandeln, die dem Kapitalismus in jedem Stadium seiner Entwicklung innewohnen. Das erklärt u.a. den Erfolg von Der neue Imperialismus, weil Harvey, indem er die Handlungen der Bush-Regierung in diesem Sinne einbettet, einen eigen-ständigen Beitrag zu einem Verständnis der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung leistet.7

Es reicht jedoch nicht aus, das Staatensystem als gesonderten Zusammen-hang von Bestimmungen im Rahmen einer weitgefassten Theoretisierung der kapitalistischen Produktionsweise als gegeben hinzustellen. Wie Jacques Bidet anmerkt, sah sich Marx im Laufe der Neuformung seiner Konzepte und der Ausarbeitung seiner Argumente für die aufeinanderfolgenden Ent-würfe des Kapital zunehmend genötigt, konkurrenzbezogene Strukturen heranzuziehen, um die innewohnenden Tendenzen, die er dem Kapitalismus zuschrieb, erklären zu können (Bidet 2000). Um das wichtigste Beispiel, den tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate, herauszugreifen, der in Marx' Krisentheorie eine zentrale Rolle spielt: Dieser ist als eine Folge der

7 Aus dieser Position folgt, dass trotz der durchaus gerechtfertigten Kritik am Rea-lismus, die etwa Justin Rosenberg (1994) erhebt, es Streitpunkte geben wird, in denen sich Marxisten und Realisten auf der gleichen Seite der Barrikade wieder finden werden - beispielsweise in der Ablehnung übertriebener Hoffnungen auf zwischenstaatliche Harmonie nach dem Ende des Kalten Krieges und in der Kritik idealistischer Kon-zepte der internationalen Beziehungen, die Konstruktivisten und andere anbieten. Ein Beispiel für eine realistische Herausforderung in diesen beiden Fragen findet sich in: Mearsheimer 1994/1995.

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technologischen Erneuerungen zu verstehen, die Kapitalien auf der Suche nach einer überdurchschnittlichen Profitrate tätigen, die dann von ande-ren Kapitalien nachgeahmt werden, was zu einer allgemeinen Zunahme der Investitionen pro Arbeiter führt und somit zu einer Senkung der relativen Kapitalerträge. Diese Argumentationsweise beliefert Marx' Theorie mit »Mikrofundamenten«, indem sie aufzeigt, wie Makrotendenzen dank der Anreize wirksam werden, die kapitalistische Verhältnisse individuellen Ak-teuren aufzwingen, so zu handeln, dass sie die diesen Tendenzen zugrunde-liegenden Prozesse realisieren. Jede Theorie über den Ort des Staatensystems in der kapitalistischen Produktionsweise muss solche Mikromechanismen nennen können. Sam Ashman und ich argumentieren, dass das Zusammen-spiel wirtschaftlicher und geopolitischer Konkurrenz nur verstanden werden kann im Lichte der Reproduktionsgesetzmäßigkeiten von zwei Gruppen von Akteuren, den Kapitalisten und den Staatsbeamten (Ashman/Callinicos 2006). Dieses Argument fußt auf der Idee, die Fred Block in den 1970ern als einer der ersten vertrat, dass die Verfolgung ihrer separaten Interessen beide Gruppierungen in eine gemeinsame Allianz führen wird: Kapitalisten brau-chen aus einer Vielzahl von Gründen staatliche Unterstützung, während die relative Macht eines jeden Staates von den Ressourcen abhängt, die der Pro-zess der Kapitalakkumulation generiert (Block 1987). Diese Idee, die den großen Vorzug hat, zu ihrem Ausgangspunkt die Nicht-Interessensidentität zwischen Kapitalisten und Staatsbeamten zu nehmen, scheint uns auf die internationale Arena gewinnbringend übertragbar zu sein.8

Das alles gibt uns allerdings noch immer keine Antwort auf die Fra-ge nach dem pluralen Charakter des Staatensystems. Warum gibt es viele Staaten? Handelt es sich bloß um einen zweitrangigen, aus den vorkapitalis-tischen Vorgängen der »politischen Akkumulation« geerbten historischen Umstand? Oder ist dem Kapitalismus ein Wesenszug eigen, die Staaten plu-ral zu belassen? In meinen Augen gibt es diese Tendenz: die Tendenz zur ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der Kapitalismus tendiert dazu,

8 Ein ähnliches Konzept wurde in den 1970er Jahren von Claus Offe und Volker Ronge vertreten, auch wenn sie keine symmetrische Interdependenz zwischen Staat und Kapital als gegeben hinnehmen: »Die Träger der Akkumulation haben kein In-teresse, die Macht des Staates zu >benutzen<, aber der Staat hat sehr wohl ein Interesse - zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Machtstellung -, einen >gesunden< Akkumu-lationsprozess zu gewährleisten und zu schützen, von dem er abhängt.« (Offe/Ronge 1982: 250) Vgl. auch Harman 1991, der, wie Block, für die strukturelle Interdependenz von Staat und Kapital argumentiert.

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die Welt in ein einziges Weltsystem zu vereinen, in der allerdings der Zugang zu Investitionen und Märkten geographisch extrem ungleich verteilt ist. Es lohnt sich, die Rolle, die dieser Gedanke in Lenins Kritik an Kautskys The-orem des Ultraimperialismus spielt, genauer zu betrachten. Lenin räumt ein, dass die Formation eines einzigen Weltmonopols infolge der zunehmenden Organisierung des Kapitalismus theoretisch vorstellbar sei, argumentiert aber, es sei höchst irreführend, eine politische Analyse auf eine solche Mög-lichkeit zu stützen. Internationale Vereinbarungen und Kartelle schreiben das momentane Kräfteverhältnis zwischen den kapitalistischen Mächten fest, aber angesichts der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, die die globale Machtverteilung ständig ändert, wird es sich notwendigerweise um vorübergehende Arrangements handeln, denen wahrscheinlich neue Perio-den der Instabilität folgen werden, die nur nach erfolgtem Kräftemessen in eine neue Korrelation übergeleitet werden können:

»... unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflussspbären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unter-nehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapita-lismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Russland. Ist die Annahme >denkbar<, dass das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig fahren unverändert geblieben sein w i r d ? Das ist absolut undenkbar.« (Lenin 1917, in: LW, Bd. 22: 300f.)

Diesem Argument liegt Lenins Ansicht zugrunde, dass der Kapitalismus wesensbedingt dynamisch ist und vom Gesetz der ungleichmäßigen Ent-wicklung reguliert wird, wie er es nennt. Beide Ansichten hängen miteinan-der zusammen. Marx' Analyse der Konkurrenz beruht auf der Idee, dass einzelne Kapitalien gezwungen werden, ihre Marktstellung zu verteidigen oder zu verbessern, indem sie über dem Durchschnitt liegende Profitraten anstreben (Extraprofite). Monopole bilden eine Quelle für Extraprofite, viel wichtiger jedoch ist die technologische Innovation, die vermittels Produkti-vitätssteigerungen die Produktionskosten des Erneuerers unter den Durch-schnitt seines Sektors drückt. Es ist also die Suche nach überdurchschnitt-lichen Profiten, die dem Kapitalismus seine Dynamik verleiht. Es stimmt, dass dies nur dann geschieht, wenn Innovationen verallgemeinert werden,

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wodurch der Wettbewerbsvorteil des Erneuerers, und damit auch sein Extra-profit, schwindet. (Wir könnten dies womöglich als den ökonomischen Kern des »Gesetzes« der kombinierten Entwicklung betrachten.) Damit wird aller-dings eine erneute destabilisierende Innovationsrunde, immer auf der Suche nach Extraprofiten, eingeläutet. Ungleichmäßige Entwicklung, oder besser, eine ungleichmäßige Entwicklung, die zugleich die Produktivität erhöht und ökonomisch destabilisierend wirkt, wohnt dem Kapitalismus inne. Es ist diese Dynamik, so Lenin, die die Anstrengungen zur Integration »vieler Kapitalien« in eine einzige Einheit ständig untergräbt. Natürlich beschränkt sich dieses Ar-gument lediglich auf das Ökonomische. Die Annahme, dass es einfach auf die politische Sphäre übertragbar sei, würde meinen Ausführungen weiter oben widersprechen. Allerdings gibt es Gründe für die Annahme, dass es sich tat-sächlich überträgt: Denn die Tendenz, nicht nur zur ungleichen Entwicklung, sondern auch zu destabilisierenden Verschiebungen ihrer Muster, untergräbt ständig Anstrengungen zur Gründung eines transnationalen Staates.

Dieses Argument erhält weitere Nahrung durch Belege, die marxistische Politökonomen zunehmend thematisieren, dass die globale Akkumula-tion nicht zu dem von der neoklassischen Theorie vorhergesagten Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte führt, sondern vielmehr zur räumlichen Konzentration von Investitionen, Märkten und Fachkräften in gewissen pri-vilegierten Regionen der Weltwirtschaft (Ashman 2006). Der Erfolg nährt weiteren Erfolg: Die Regionen, die eine solche Konzentration aufweisen, ha-ben gute Chancen, weiterhin jene Innovationen hervorzubringen, aus denen sich ihre Extraprofite speisen, sodass ihr Vorsprung gefestigt und gar erwei-tert wird. Ungleichmäßige Entwicklung ist daher eine grundlegende Ten-denz der kapitalistischen Produktionsweise, keine kontingente Eigenschaft. Die Ausweitung des ostasiatischen Teils der Triade auf die Küstenstädte Chinas widerspricht dieser Analyse nicht, es unterstreicht eher das globale Bild ungleichmäßiger Entwicklung als ihm zu widersprechen. Harman und Harvey haben unabhängig voneinander argumentiert, dass derartig dichte »Cluster-artige« Zusammenballungen kapitalistischer Verhältnisse den Staa-ten ihre territoriale Basis liefern, wobei sie die für das effektive Funktionie-ren der Staatsapparate notwendigen Ressourcen sowohl einfordern als auch zur Verfügung stellen (Harman 1991: 7-10; Harvey 2005: 103-109). Natür-lich müssen eine ganze Reihe von Umständen, von denen viele eine nicht auf den Kapitalismus zurückzuführende Vergangenheit widerspiegeln, an-dere wiederum Ausflüsse der jüngeren Geschichte sind (etwa der bleibende Einfluss des japanischen Imperialismus in Ostasien), und schließlich, was

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theoretisch und politisch noch mehr wiegt, die Entstehung und Spaltung na-tionaler Identitäten berücksichtigt werden, um die Spezifika der territorialen Aufteilung der Welt in verschiedene Staaten zu erklären. Dennoch sind es eben auch und gerade die zentrifugalen Kräfte infolge der grundsätzlich un-gleichen Verteilung von Ressourcen im Kapitalismus, die das Staatensystem aller Voraussicht nach plural belassen werden.9

Wechselnde Muster zwischenstaatl icher Konkurrenz

Meine Argumentation bewegt sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. Das ließ sich jedoch nicht vermeiden, um festzustellen, ob im Rahmen der mar-xistischen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise das Staatensystem und die geopolitische Konkurrenz notwendige Bestimmungen jener Produk-tionsweise sind. Zum Schluss möchte ich wenigstens skizzieren, wie dieses Argument dazu beitragen könnte, empirische Forschungsvorhaben zu ge-stalten. Der kapitalistische Imperialismus kann am besten als Schnittpunkt ökonomischer und geopolitischer Konkurrenz verstanden werden. Weil, so die Hypothese, diese Konkurrenzformen sich strukturell unterscheiden und (zumindest unmittelbar) von den Interessen unterschiedlicher Akteure getra-gen werden, ist ihr Zusammenspiel historisch variabel. In früheren Arbeiten argumentiert ich, dass sich die erste und zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts signifikant voneinander unterscheiden (z.B. Callinicos 1991). In der ersten Hälfte, der Ära von Arno Mayers »Dreißigjährigem Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts« (1914-1945) haben sich die ökonomische und die geopolitische Konkurrenz gegenseitig genährt (Mayer 1981: 329). Großbritannien, das ent-wickeltste Beispiel für einen Hegemon, den das Staatensystem bis dahin her-vorgebracht hatte, fand sich durch zwei Mächte konfrontiert, die sowohl ihre industrielle Macht als auch ihre Seehoheit herausforderten: Deutschland und

9 Justin Rosenberg (2006 u. 2007) hat ein außerordentlich interessantes Argument dafür entwickelt, Trotzkis Konzept der ungleichen und kombinierten Entwicklung zur Grundlage einer überhistorischen Theorie des »Inter-Gesellschaftlichen« zu erheben. Dieses Argument deckt sich mit dem hier entwickelten, vorausgesetzt, man anerkennt, wie Rosenberg das tut, die wesentlich gesteigerte Stringenz, mit der Gesellschaften un-ter dem Kapitalismus der kombinierten Entwicklung unterworfen sind, die ihrerseits eine Konsequenz der Art und Weise ist, in der die Reproduktionsgesetzmäßigkeiten der Akteure mittlerweile von ihrem Zugang zu den Subsistenzmitteln über den Markt abhängen (siehe Brenner 1986).

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die USA. Die Lösung, für die Großbritannien sich in beiden Weltkriegen ent-schied, war, ersteres im Rahmen einer Allianz mit letzterer zu schlagen, wobei allerdings die Ressourcen ausgingen, um den englischen Anspruch auf einen Hegemonialstatus aufrechtzuerhalten. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hingegen war gekennzeichnet von einer teilweisen Verselbständigung der öko-nomischen von der geopolitischen Konkurrenz. Die neue Hegemonialmacht USA konfrontierte die Sowjetunion geopolitisch und ideologisch, sodass sich das Staatensystem in zwei rivalisierende Blöcke polarisierte. Gleichzeitig waren die USA in der Lage, alle Regionen des entwickelten Kapitalismus in einen einzigen transnationalen politischen und ökonomischen Raum zu inte-grieren. Innerhalb dieses Raums vollzog sich die ökonomische Konkurrenz und entfaltete auch ab Ende der 1960er Jahre ihre destabilisierende Wirkung zunehmend, aber der Niedergang der schwächeren der beiden Supermächte stellte sich als die schnellere Entwicklung heraus.

Seit dem Ende des Kalten Krieges versuchen die USA, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten, indem sie den transnationalen Raum, den sie unter der ei-genen Führung nach 1945 aufgebaut hatten, wirklich global auszuweiten und zu verhindern suchen, dass Verschiebungen der ökonomischen Macht in ge-opolitische Herausforderungen münden. Die institutionalisierten Kooperati-onsformen unter den führenden kapitalistischen Staaten - die internationalen Finanzinstitutionen, die G7, Nato, UN usw. - bieten den politischen Rahmen für diesen Prozess. Deren Rolle und Bedeutung gemeinsam mit der Entwick-lung des Wall-Street-Dollar-Regimes seit den frühen 1970er Jahren, wie Pe-ter Gowan es nennt, bilden den Schlüsselmechanismus zur Regulierung der globalen Finanzmärkte. Diese Entwicklungen sind Belege für das »informelle Imperium« Amerikas, von dem Panitch und Gindin sprechen (Gowan 1999). Allerdings ist das Gesamtbeziehungsgeflecht der führenden kapitalistischen Staaten untereinander wesentlich komplexer und widersprüchlicher, als sie andeuten. Ein hoher Grad der politischen Koordination besteht Seite an Seite mit Bereichen mehr oder weniger intensiver Konkurrenz, die im Rahmen des allgemeinen Beziehungsgeflechts voneinander noch ausreichend isoliert blei-ben - um den gegenwärtigen Zustand von dem einer umfassenden Anarchie zu unterscheiden. Der Bereich, in der die Konkurrenz am heftigsten tobt, ist wahrscheinlich der des internationalen Handels, obwohl die hier entstehen-den Konflikte durch institutionalisierte Verhandlungen unter den wichtigsten Blöcken eingedämmt werden. Geopolitisch hat der Irak-Krieg eine Situation mit relativ offenem Ausgang eingeläutet, in der der amerikanische Unilatera-lismus, so Robert Pape, Gegenmaßnahmen provoziert:

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»Maßnahmen des >Soft-Balancing<, das heißt, Handlungen, die die US-Militärvorherrschaft nicht direkt herausfordern und stattdessen nichtmilitä-rische Mittel einsetzen, um aggressive unilaterale Militärvorhaben der USA aufzuschieben, zu vereiteln und zu untergraben. Dieser sanfte Ausgleich un-ter Einsatz internationaler Institutionen, staatlicher Eingriffe in Wirtschafts-beziehungen und diplomatischer Arrangements sind bereits ein herausra-gendes Merkmal der internationalen Opposition gegen den US-Krieg gegen den Irak.« (Pape 2005: 10)

In seiner vernichtenden Kritik an der Globalstrategie der Bush-Regierung hat auch Francis Fukuyama die Reaktion, die sie in anderen Staaten hervor-gerufen hat, beschrieben:

»Das >Soft-Balancing<, in dem Länder wie Deutschland und Frankreich versucht haben, amerikanische Initiativen zu blockieren oder die Bitte um Kooperation ausgeschlagen haben. Auch asiatische Länder sind zugange, regionale multilaterale Organisationen aufzubauen, weil in ihren Augen Washington nicht allzu große Rücksicht auf ihre Belange nimmt. Hugo Chávez in Venezuela setzt seine Öleinkünfte ein, um Länder der Anden und der Karibik von der amerikanischen Sphäre loszueisen, während Russland und China zusammenarbeiten, um die USA nach und nach aus Zentralasien herauszudrängen.« (Fukuyama 2006: 189-90)

Damit ist noch bei weitem nicht das Ausmaß des gegenseitigen Hoch-schaukelns ökonomischer und geopolitischer Konkurrenz wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht. Zugleich kann sich jeder, der erlebt hat, wie die USA ihre Luftbasis in Usbekistan nach den Protesten vom Mai 2005 und die durch Russland und China dem Karimow-Regime gewährte Unter-stützung verloren haben, eine Vorstellung davon machen, wie wenig harmo-nisch das Staatensystem in eine unbestrittene amerikanische Hegemonie in-tegriert wurde. Für die gegenwärtige globale Situation lassen sich schwerlich historische Parallelen finden, zumindest nicht seit Entstehung des kapitali-stischen Weltsystems. Sorgfältige Analysen und intensive Forschung vieler Wissenschaftler werden vonnöten sein, um Licht in seinen Entwicklungs-gang zu werfen. Der theoretische Apparat des Marxismus, zu dessen Klä-rung vorliegender Beitrag dienen soll, ist kein Ersatz für diese intellektuelle Anstrengung, er kann aber einige nützliche Instrumente bereitstellen.

Aus dem Englischen von David Paenson, in Zusammenarbeit mit Thomas Weiß und Tobias ten Brink

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Literatur Anievas, Alexander (2005): »Review of Callinicos (2003) and Harvey (2003)«,

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23-80 Arrighi, Giovanni (2005b): »Hegemony Unravelling - 2«, New Left Review, 11/33,

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Ashman, Sam/Callinicos, Alex (2006): »Capital Accumulation and the State Sys-tem. Assessing David Harvey's The New Imperialism«, Historical Materialism, 14, 4, 107-131

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Kees van der Pijl Globale Rivalitäten und Aussichten auf Veränderung

Der Imperialismus ist zurückgekommen - doch war er jemals verschwun-den? Demgegenüber ist viel eher wirklich neu, dass die Expansion des Wes-tens, die ja mit der Durchsetzung einer globalen kapitalistischen Disziplin kombiniert ist, erneut von profunden und offenen Rivalitäten charakteri-siert ist. Im Folgenden werde ich skizzieren, wie dies in einem breiten histo-rischen Kontext gesehen werden kann. Die Haltung des Westens gegenüber dem Rest der Welt ist seit jeher vom quasiimperialen Konzept des legitimen Zugriffs gegen das Barbarentum gekennzeichnet gewesen; das hat sich nicht geändert. Mit dem Zusammen-schmelzen des Sowjetblocks und der Zersetzung der Dritte-Welt-Koaliti-on für eine Neue Ökonomische Weltordnung trat das »imperiale« Moment zwingend in den Vordergrund. In Fukuyamas These vom »Ende der Ge-schichte« (1989; 1992) wurde ebenso wie in Huntingtons Rede vom »Zu-sammenstoß der Zivilisationen« (1993; 1998) die Differenz zwischen den Fortschrittlichen und Zivilisierten auf der einen und den Barbaren auf der anderen Seite stark gemacht. Fukuyamas Unterscheidung zwischen dem nachgeschichtlichen »universellen homogenen Staat« und jenen Staaten, die im Morast der Geschichte steckengeblieben sind, passt offensichtlich zu diesem Muster; auf den ersten Blick scheint demgegenüber Huntingtons Argument vom »Zusammenstoß der Zivilisationen« auf Aktionen und Ak-teure in gleicher Augenhöhe zurückzugreifen, die Art jedoch, wie er diverse eigenständige Zivilisationen in einen Topf wirft, um eine islamisch-konfuzi-anische Herausforderung an den Westen ausfindig zu machen, zeigt, dass es hier letzten Endes um dieselbe Konstruktion geht.

Paul Kennedy (1987) schrieb kurz vor dem Kollaps der sowjetischen Macht von einem American Empire im Niedergang. Als Grund identifi-zierte er eine »imperiale Überdehnung« - ein Prinzip, das in seiner Sicht allen früheren Beispielen des Niedergangs imperialer Staaten zugrunde lag. Nachdem klar geworden war, dass im Falle der Vereinigten Staaten oder des

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Westens im weiteren Sinne von einem solchen Prinzip nicht die Rede sein konnte, kehrten Hardt und Negri zuversichtlich (wenn auch von einer kri-tischen Perspektive aus) zur Idee des »Empire« zurück, freilich ohne dass es für sie außerhalb des Imperiums noch eine Barbarei gab (2000). Tatsächlich argumentierten sie, dass das Kapital das Staatensystem in sich selbst vollstän-dig aufgenommen habe, sodass wir nicht länger in einer Welt der Staaten, sondern in einem homogenen Universum lebten, in dem jeder Aspekt un-seres Lebens vom Kapital regiert wird. Die Fortdauer einer »barbarischen« Peripherie ist jedoch überzeugend von Rufin dargelegt worden (1991), aber ansonsten sieht er wie Hardt und Negri den Westen (»Norden«) als grund-sätzlich geeint an.

Diese Idee eines homogenen Westens oder Nordens ist in meiner Sicht jedoch grundlegend falsch und ignoriert eine ganze Reihe von Spaltungen und Verwerfungen, die ihn prägen. Betrachtet man zunächst nur das Kapi-tal an sich, dann rebelliert nicht nur die konkurrenzförmige Struktur seiner Bewegung als Gesamtkapital gegen Stabilität und Einheit; auch wenn man nach der Einheit der Klasse der Kapitalisten fragt, die durch die Aktivität des Staates bewerkstelligt werden soll, dann kann diese konkurrenzförmige Struktur durch Kapitalfraktionen (Hickel 1975) nur teilweise überwunden werden. Freilich reicht es nicht aus, einfach zu den klassischen Imperialis-musdebatten zurückzukehren und wieder einmal Lenin Kautsky gegenüber-zustellen. Kautsky hatte, wie erinnerlich, in einem ansonsten lapidaren und unentwickelten Argument (1914) den Vorschlag gemacht, dass die imperia-listischen Staaten sich nach dem Krieg zusammentun sollten, um gemeinsam ihre Arbeiter und die Außenwelt auszubeuten und so die Instabilität in ihren wechselseitigen Beziehungen aufzuheben. Lenin machte unermüdlich Front gegen diese Argumentation: Er befürchtete, dass die Arbeiter dazu verlockt würden, sich im selben Augenblick mit dem Imperialismus auszusöhnen, in dem sie auf den Schlachtfeldern Europas hingeschlachtet wurden.

Lenins Imperialismusanalyse (1917) war zentral in der Analyse von Ri-valitäten verankert. Sie drehte sich um einen asynchronen Prozess der Ka-pitalakkumulation und der Entwicklung von politischen Interessensphären. Die Akkumulation des Kapitals war essentiell transnational und realisierte sich über Bank-Industrie-Kartelle, die Firmen unterschiedlicher Nationali-tät kombinierten und die Weltmärkte untereinander aufteilten. Die Staaten wiederum, welche auch aus innenpolitischen Gründen ihre eigenen »Impe-rien« entwarfen, zeichneten fleißig die Grenzen auf dem Globus neu und formten Allianzen mit anderen Staaten, um ihre unmittelbaren Konkur-

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renten in Schach zu halten. Aber das Tempo der kapitalistischen Konkur-renz und des Kampfes um Märkte war viel schneller, sodass die Aufteilung des Weltmarktes bald seine Verbindung zu den politischen Aufteilungen der Welt verlor. Sobald letztere vollendet waren, ließen die rastlosen Umbauten bei der Bildung, dem Aufstieg und dem Verschwinden der transnationalen Kombinationen des Kapitals in den Kämpfen um Rohstoffe, Investitions-chancen und Märkte nur den Krieg als das Mittel übrig, um die politischen Territorien den ökonomischen Verlagerungen anzupassen. In diesen tek-tonischen Verschiebungen würden die existierenden Staatenbündnisse (im Prinzip zwischen England, Frankreich, Belgien, Serbien und Rußland gegen Deutschland, Österreich und die ungarisch-osmanische Türkei) unvermeid-lich destabilisiert. Die schwächsten Glieder in jeder Koalition, das zaristi-sche Rußland und das osmanische Reich (bzw. Österreich-Ungarn) würden anfällig für die Revolution werden und dies müsste zu einer sozialistischen Revolution geführt werden.

Diese Einschätzung muss heute aus zwei Gründen problematisiert wer-den. Zunächst existiert ein um den englischsprachigen Westen organisierter Teil der Welt, der diese rohen Formen der Konkurrenz überwunden hat. Der englischsprachige Westen entspricht tatsächlich ungefähr dem Modell Kau-tskys. Die Monroe-Doktrin von 1823, mit welcher die Vereinigten Staaten (und Großbritannien als stiller Partner) versuchten, sich Lateinamerika zu sichern, indem sie ihm Schutz vor erneuter Kolonisierung garantierten, war ein perfektes Beispiel für jene gemeinsame Ausbeutung des »agrarischen« Südens, an die Kautsky gedacht hatte. Die Konkurrenzen innerhalb des englischsprachigen Blocks haben alle möglichen Friktionen und Konflikte eingeschlossen, nicht aber mehr Kriege. Mit anderen Worten: Der Leninsche Aspekt der imperialistischen Rivalitäten wurde an die Peripherie dieser spe-zifischen Konstellation geschoben.

Der zweite Wandel, welcher die klassische leninistische Position unter-miniert ist darin zu sehen, dass die Arbeiterklasse nicht länger mehr eine organisierte Kraft in der Form von Parteien darstellt, welche in ihren je-weiligen Gesellschaften die Staatsmacht ergreifen wollen. Heute existiert ein weites Feld von Kräften, die der weltweiten Durchsetzung der neoliberalen kapitalistischen Disziplin Widerstand leisten; deren Organisation zu einer Klasse für sich aber hängt nach meiner Ansicht davon ab, ob sich die Ma-nagerschicht (»Funktionärsschicht«), die am besten als eine disparate sozi-ale Schicht verstanden werden kann, von der Hegemonie der herrschenden Klasse lossagt und in eine Klasse transformiert - doch auch dann würde sie ja

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noch nicht nach der Staatsmacht greifen wollen, wie dies die verschiedensten sozialistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts taten. Betrachten wir diese Veränderungen im Einzelnen.

Der anglophone W e s t e n gegen die Herausfordererstaaten

Wie ich in verschiedenen Texten entwickelt habe (zuletzt in meinem Buch Global Rivalries from the Cold War to Iraq, 2006), entstanden der Kapi-talismus und der englischsprachige Westen gemeinsam als eine historisch konkrete soziale Formation, wobei der eine seine Produktionsweise war, der andere sein spezifischer Staat/Gesellschaft-Komplex (ein Begriff bei Cox 1987). Sie kristallisierten sich in einem kritischen Augenblick heraus, als die mittelalterliche imperiale Formation des westlichen Christentums implo-dierte; die britischen Inseln in ihrem Zusammenspiel mit Flandern konsti-tuierten einen besonderen Sektor der Frontzone dieses Imperiums. Der eng-lischsprachige Entwicklungspfad schloss die Formierung einer räumlichen Konstellation ein, die durch transatlantische Ansiedelung getragen wurde; eine neue Form des Staates entlang der Linie, die von Locke in den Zwei Abhandlungen über die Regierung gezeichnet worden war, fand hier gegen Ende des 17. Jahrhunderts ihren Ort. In diesem Raum integrierten sich die schon weit länger existierenden Elemente des Handelskapitals in ein zusam-menhängendes Gefüge.

In der englischsprachigen Welt - zu dieser Zeit hätten die Zeitgenossen nicht einmal im Traum daran gedacht, die nordamerikanischen Exkolonien, die damals noch Kolonien waren, mit der damaligen britischen Weltmacht zu vergleichen, aber im Nachhinein ist man immer klüger - entwickelte sich eine spezifische räumliche Konstellation, in der die kapitalistische Klasse (die Besitzer der Produktionsmittel) auch die Orientierung des Staates bestimm-te. Dies nenne ich das Lockesche Kerngebiet in der globalen politischen Ökonomie. Das Kerngebiet schließt eine Anzahl von Staaten ein, die das Strukturmerkmal der Unterordnung des Staates unter die Gesellschaft teilen. Man könnte auch auf die Metapher zurückgreifen, die ursprünglich von dem britischen Geographen und Geopolitiker Haiford Mackinder (1861-1947) geprägt wurde, um der großen Furcht des englischsprachigen Westens einen Namen zu geben: eine eurasische, von Rußland dominierte Landmasse, das Herzland (vgl. van der Pijl 2006: 28, Fn. 11). Es ist ein sozio-geopolitischer Raum, in dem eine Sprache und Weltsicht teilende kapitalistische Klasse he-

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gemonial werden kann; in diesem Sinne gestattet er dem Kapital, zu materi-eller Souveränität aufzusteigen und die formellen Souveränitäten der Staaten zu transzendieren. Großbritannien war der Drehpunkt dieses Prozesses. Die Elemente des Handelskapitals und der Auslandsdarlehen (Braudels W e l t ) wurden schließlich in der industriellen Revolution mit einem Arbeitsmarkt zusammengebracht, während Nordamerika, Argentinien und später Austra-lien, Neuseeland und Südafrika die Rohstoffe für diesen Prozess lieferten. Dies ist der historische Kapitalismus, den Marx als eine Produktionsweise analysierte, welche den Platz ihrer Vorgänger einnahm.

Die Sezession der Vereinigten Staaten war unter diesem Gesichtspunkt nie eine soziale Revolution. Sie war ein Konflikt zwischen der Siedlerbour-geoisie und dem reaktionären Klassenblock im Mutterland, in dem genau jene Prinzipien, auf denen der Lockesche Staat errichtet worden war, für die nordamerikanischen Kolonien nochmals bekräftigt wurden. Daher wurde der Riss zwischen ihnen bald überwunden - spätestens mit der Verkündung der Monroe-Doktrin. Innerhalb dieses Kontextes des Herzlandes konnten die USA aufsteigen und im Laufe des 20. Jahrhunderts Großbritannien ohne einen Umverteilungskrieg in den Schatten stellen, so real und zuweilen er-bittert die Reibungen zwischen ihnen auch ausgetragen wurden. Dies alles macht das Herzland zu einem Beispiel für die kautskyanische Formation, für einen Ultra-Imperialismus, nicht aber für ein »Empire« im Sinne von Hardt und Negri, denn der Leninsche Aspekt der imperialistischen Rivali-täten, die nicht durch eine gemeinsame Zivilisation, Kapitalverflechtungen etc. gedämpft werden, blieb ebenfalls lebendig. Freilich geschah dies an der unmittelbaren Peripherie des "Westens mit jenen Staaten, die das Heartland herausforderten. Diese sehe ich als eine Folge von Herausfordererstaaten, die mit Frankreich begann. (In meiner Publikation von 1976 wurde dies als »Randstaaten« übersetzt, was zwar ihre politisch-geographische Position er-fasst, aber ihre Beziehung zum Westen unspezifiziert lässt.)

Deutschland, Italien und Japan gegen das zweite britische Empire und die Vereinigten Staaten; eine Sowjetunion, welche den weiteren Westen he-rausfordert; die Koalition der Dritte-Welt-Staaten, die um die Neue Ökono-mische Weltordnung eine gemeinsame Herausforderung formulierten ent-lang den Linien der Herausfordererstaaten; und endlich heute China - dies würden die hauptsächlichen Beispiele solcher Staaten sein, auch wenn eine ganze Anzahl »zweitrangiger Herausforderer «, buchstäblich Randstaaten (Brasilien, Mexiko, Türkei, Iran, Indien), ebenso berücksichtigt werden muss.

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Hier ist nun aber keineswegs ein metaphysischer, überhistorischer Me-chanismus am Werk. Die Herausfordererstaaten sind einfach solche Staa-ten, die zu stark sind, um vom Westen unterworfen zu werden, und die ihm gleichwohl nahestehen. Aber der Herausforderer muss zu einem Staat/Ge-sellschafts-Komplex Zuflucht nehmen, der sich von jenem des Lockeschen Westen radikal unterscheidet. Er kann nicht einfach die Form eines liberalen Staats annehmen, der seine Gesellschaft ihrer eigenen Arbeitsweise überlässt und sich darauf beschränkt, Eigentum und Vertrag im eigenen Land und in Ubersee zu schützen. Das wäre für jeden Herausfordererstaat tödlich, der versuchte, seine Ressourcen zu mobilisieren. Aufgrund des Anfangsvorteils des (expandierenden) englischsprachigen Westens steht jeder neue Heraus-forderer vor der Aufgabe, seine soziale Basis vor ökonomischer und ideolo-gischer Durchdringung abzuschotten, die Entwicklungsanstrengungen von oben zu vereinheitlichen und der Formierung von Klassen zuvorzukommen, indem die durch soziale Modernisierung und Differenzierung entstandenen sozialen Schichten an den Staat gebunden werden.

In einer solchen Gesellschaft verdankt die herrschende Klasse ihre Po-sition ihrer Kontrolle des Staates; anders als die kapitalistische Klasse im Westen, welche die bürgerliche Gesellschaft beherrscht und die Staatsmacht durch eine regierende Klasse ausübt, die sich aus einer anderen Schicht re-krutieren mag - die Aristokratie in Großbritannien oder, wie heute, eine Funktionärsschicht oder die cadres des Managements. Die Macht der Staats-klasse eines Herausforderers wiederum verpufft in dem Augenblick, in dem sie die Kontrolle des Staates verliert - es sei denn, sie springt rechtzeitig auf einen fahrenden Zug auf und privatisiert genau dann, wenn ihr Staat in den weiten Westen integriert wird und sie ebenso ihre Machtbasis »privatisieren« und ebenfalls zu einer kapitalistischen Klasse mutieren kann. Ein Heraus-fordererkapitalismus ist immer ein auf Entwicklung angelegter »Staatska-pitalismus«, wenn er nicht - wie im Falle der UdSSR - vollständig aus der heimischen Ökonomie ausgeklammert worden ist. Aber gleichwohl, alle Herausforderer sind bis zu einem gewissen Grad »Planwirtschaften«, wie ostentativ sie auch den Kapitalismus zu umarmen scheinen.

Das fasst in aller Kürze meine Position zu den Rivalitäten in der Gegen-wart zusammen: Es gibt einen relativ vereinten Westen, der von Nachzüglern herausgefordert wird, sie bändigt und in gewissem Umfang integriert und dann die Grenze der Rivalität weiter nach Osten verschiebt. Die Welt, wie wir sie heute in diesem Licht sehen können als System »einer reichen Totali-tät von vielen Bestimmungen und Beziehungen«, wie Marx in den Grundris-

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sen (1857/1953: 21) erläutert, als das Gedankenkonkretum, zu dem wir von einem abstrakten Ausgangspunkt auf dem Weg der schrittweisen erneuten Konkretisierung gelangen. In unserer Analyse ist dieser Ausgangspunkt die historische Konfrontation zwischen Großbritannien und Frankreich.

In England war ein von der Bourgeoisie kontrollierter Staat mitsamt seinen Kolonien jenseits des Atlantiks bereits dabei, den größeren Raum auszumessen, in dem sich das Kapital entwickeln konnte, als das größere und bevölkerungsreichere Frankreich noch immer damit befasst war, sein Territorium zu vereinheitlichen und sich zugleich bemühte, jeden Schritt nachzuahmen, der jenseits des Kanals getan wurde. Es tat dies mit dem Bau einer Flotte (wobei es aber keinen kontingenten Zusammenhang gab zwi-schen der privaten Handelsschifffahrt und dem Bestreben das Staates nach maritimer Überlegenheit); mit der Errichtung eines »Neuen Frankreichs« in Nordamerika (das war die Ambition Richelieus, aber es gab keine Flotte, die imstande gewesen wäre, die Atlantikrouten zu kontrollieren; noch gab es Siedler, die, wie im Falle Englands, von dem calvinistischen Eifer durchdrun-gen gewesen wären, »Neue Jerusalems« zu kreieren); mit der klaren Mar-kierung eines vereinheitlichten Territoriums (aber mit natürlichen Grenzen, die weit schwieriger zu verteidigen waren als die britischen Inseln) - und so weiter. Diese verschiedenen Nachteile konnten nur durch eine einheitliche Anstrengung überwunden werden (dasselbe galt für die unterschiedlichen Interessen der Provinzen, gesellschaftliche Differenzierungen und andere Besonderheiten der großen Landmasse, die Frankreich darstellte) und dies alles erforderte einen starken Staat. Die daraus entstehenden Spannungen ex-plodierten in der Revolution 1789; innerhalb nur eines Jahrzehnts nahm eine Revolution von oben die Politik der Herausforderung wieder auf. Insofern war Napoleon eine Reinkarnation von Louis XIV., sieht man davon ab, dass unter ihm die fette Schicht der konsumierenden Aristokratie aus der Staats-klasse vertrieben und ein hochgradig ausgeklügelter Staatsapparat geschaffen wurde, in dem alle Initiativen, Ressourcen und Kapazitäten zusammenliefen, die notwendig waren, um die von ihm kontrollierte Gesellschaft in Bewe-gung zu setzen. In diesem Sinne stellt Frankreich das historische Modell für den Herausfordererstaat dar, den man als »Hobbes-Staat« im Gegensatz zu dem »Locke-Staat« des englischsprachigen Westen bezeichnen könnte.

Für die Absicht dieser Analyse nun kann die Spaltung zwischen einem transnationalen und liberalen englischen Weg und einem nationalen und etatistischen französischen Weg als das angesehen werden, was Jürgen Rits-ert (1973) als eine Kernstruktur bezeichnet hat, von der ausgehend andere

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komplexere Konfigurationen beschrieben und verstanden werden können. Ritsert bezeichnet die »Ware« in Marx' Kapital als eine solche Struktur. Die Kernstruktur repräsentiert keine Rationalität, die sich in eine immanente To-talität im Hegeischen Sinn »entfaltet«; auf die ursprüngliche Konfiguration wirken ebenso äußere Mutationen ein, wie derartige Wandlungen von dieser in vielfältigen Verzweigungen erst ausgehen. Freilich leiten die Wechselbe-ziehungen zwischen Ereignissen in einem sich ausweitenden Feld ihre Trans-parenz und logische Kohärenz aus ihrer Verbindung mit der Kernstruktur her, sodass in einer empirisch vorfindlichen Referenzstruktur alle Ereignisse bedeutungsvoll miteinander verbunden werden können - allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Wie Ritsert vermerkt, kann eine Theorie so lange »orthodox« bleiben, so lange es der Dogmatismus der wirklichen Verhält-nisse erlaubt (1973: 38). Wenn sich die Dinge grundsätzlich ändern, werden wir auch eine andere Kernstruktur finden müssen, aber nach meiner An-sicht kann nicht erwartet werden, dass das Kapital in einem anderen geopo-litischen Kontext als dem der atlantischen politischen Ökonomie, aus der die kapitalistische Formation entstand, eine Heimat finden wird, um den gesamten Prozess erneut zu beginnen. Daher kann ein Niedergang des Wes-tens nur als ein paralleler Niedergang des Kapitals als Disziplinmacht über die Weltökonomie vorgestellt werden, aus welcher der Raum entstehen kann für substantielle Fortschritte bei der Revision der Priorität der Ökonomie über die Gesellschaft.

Versucht man die Entwicklung der globalen politischen Ökonomie wäh-rend der letzten zwei Jahrhunderte zusammenzufassen, können wir eine Ausweitung des Raums sehen, in dem die USA, Großbritannien und die an-deren englischsprachigen Länder aktiv sind; dieser Raum ist das freizügige Universum, das idealerweise für das Kapital reserviert ist und in dem das Kapital der Souverän ist. Rivalität mit anderen Staaten entlang der Bruch-linie zwischen Kerngebiet/Herausforderer nimmt Formen an von Druck, ideologischer Beeinflussung, wirtschaftlicher Kriegsführung, verdeckter Aktivitäten wie die Finanzierung politischer Parteien und Organisationen, Formen von Gewalt und, am Ende, von Krieg, um die Staatsklasse als solche zu enteignen und die Kontrolle des Staates über seine Wirtschaft zu beenden. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob eine Staatsklasse als »kapitalistisch« erscheint, weil sie zu Auslandsinvestitionen einlädt (wie es heute bei China der Fall ist); sie wird solche Investitionen immer auf solche Formen redu-zieren, bei denen sie zugunsten ihrer Kontrolle des Staates Teile des Kapitals appropriieren kann; ebenso wie sie die Möglichkeiten des Kapitals, Profite

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in sein Heimatland zu transferieren, einschränken wird; ebenso wie sie seine Möglichkeiten, in bestimmte strategische Sektoren einzudringen, begrenzen wird und ebenso wie sie es zwingen wird, Standards und Regeln jenseits der Konkurrenz einzuhalten. Mit anderen Worten: In solchen Situationen mag das Kapital präsent sein, es ist aber nicht souverän. Das ist der einfache Grund, warum die Enteignung einer Staatsklasse die Form der gewaltsamen Aktion annehmen muss, wenn sie sich nicht freiwillig ergibt - das ist die Differenz zwischen Jugoslawien und, sagen wir, Ungarn.

Der liberale Westen als eine geopolitische Konstellation, in der eine gege-bene rechtliche Ordnung und ein spezifischer Staat/Gesellschaft-Komplex geteilt wird, ist die Heimatbasis des Kapitals. Als eine solche ist sie mit einer ganzen Folge von Herausfordererstaaten konfrontiert, welche untereinander keinen vergleichbaren inneren Zusammenhalt besitzen und im Prozess der Herausbildung immer komplexerer Konfigurationen vom Westen ständig gegeneinander ausgespielt werden. Wenn neue Herausforderer aufsteigen, werden ihre Vorläufer in den expandierenden Westen integriert, oft nach einem Enteignungskrieg, der die Souveränität des Kapitals etablieren soll. Diese Integration ist dabei zumeist durchaus unvollständig und bleibt eine Quelle der Spaltung und des Bruchs. Frankreich, der erste Herausforderer, macht heute noch mühevolle Anpassungen an die Souveränität des Kapitals durch, also auch an den liberalen Staat, der alle Formen des Widerstands gegen seine Machtergreifung zu suspendieren sucht. Auf der anderen Seite ist Großbritannien das letztliche Ziel einer Machtergreifung und dennoch regiert seine herrschende Klasse wie nie zuvor.

Die komplexere Kräftekonfiguration, die sich aus der anglo-französischen Kernstruktur entwickelt hat, ist natürlich nicht unbemerkt geblieben und die Beschreibungen zeitgenössischer Beobachter tragen zu ihrem Verständ-nis weiter bei, ohne dass hierbei unbedingt das historische Argument über-nommen werden muss. So kommentiert Hannish McRae (2006) in einem Zeitungsartikel die Übernahme der Londoner Börse durch die New Yor-ker Nasdaq und erklärt die Bereitschaft Großbritanniens zur Übernahme seiner Börse damit, dass »das >Zu-Verkaufen<-Schild so lange über England gehangen habe, dass wir ausländische Angebote für britische Trophäen ge-radezu als Routinevorgang« betrachteten. In dieser Hinsicht benähmen sich die USA schon etwas störrischer, da sie erst später als liberale Formation entstanden und verschiedenen inneren Beschränkungen unterworfen waren. So würden im hypothetischen Fall einer Übernahme der Nasdaq durch die Londoner Börse administrative Festlegungen entgegenstehen. Aber, wie der

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Autor vermerkt: »Sogar wenn es eine Asymmetrie zwischen unserer Art und Weise des Umgehens mit ausländischen Angeboten und jener des Aus-lands mit den unsrigen gebe . . . , so bleibt doch der Tatbestand, dass England weitaus mehr aus seinen Anlagen im Ausland herauszieht als es durch aus-ländische Besitztümer hierzulande verliert.« Anders gesagt: Der historische Vorteil des Erstgeborenen wirkt immer noch, ebenso wie im Falle der Verei-nigten Staaten, obwohl diese durch ihr exorbitantes Konsumniveau und die globale Polizistenrolle für den Westen mittlerweile zu einem Schuldnerland geworden sind. Was freilich die Gewinne aus ihren auswärtigen Übernah-men angeht, so haben sie vor allem hinsichtlich der Vermögenseinkommen aus Wertpapieranlagen ihr Einkommen aus dem Rest der Welt gesteigert (Dumenil/Levy 2004: 33f.).

Wir sollten hier auch nicht vergessen, dass eine zentrale Einkommens-quelle des englischsprachigen Westens die ganzen Aktivitäten sind, die mit dem Einbau früherer Herausfordererstaaten in den globalen Liberalismus zusammenhängen - mitsamt den Privatisierungen, Fusionen und Übernah-men, die sich dabei im Laufe der Zeit ergeben. Die Buchhalter, Management-berater und Investmentbanker aus den USA und England ziehen dabei Me-gagehälter ab (die in aller Regel aus den Ausschlachtungen und Entlassungen stammen, die sie empfehlen). Wo sie nicht wil lkommen sind, wird mit ein wenig Druck nachgeholfen, und wie ich in Global Rivalries gezeigt habe, geht dieser zuweilen über bloß freundlichen Rat hinaus.

Zugleich bleibt sogar innerhalb des heutigen Weiten Westens der histo-rische Riss zwischen dem Lockeschen Kerngebiet und den Herausforderer-staaten wirksam. Ein Beispiel ist der Versuch der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, alleine die direkte Kontrolle über das Ol des Mittleren Ostens zu erlangen und wie sie dabei die historisch unterschiedliche Tra-dition und Erbschaft der mittlerweile integrierten Herausfordererstaaten (Frankreich, Deutschland, Rußland. . . ) vergaßen. Hier spielt ein zweiter Gesichtspunkt eine Rolle: Das Kapital ist nicht identisch mit den Macht-strukturen des englischsprachigen Westens. Der »Westen« stellt eher einen Vorzugsraum zur Verfügung, eine besondere »innere Exterritorialität«, in der das Kapital seine Souveränität unter den günstigsten Bedingungen reali-sieren kann und wo daher die Kapitalistenklasse imstande ist, disfunktionale Entwicklungen viel direkter zu korrigieren. Als etwa die Vereinigten Staaten aufgrund der neuen Regulierungen nach der Enron-Affäre, der neuen Xe-nophobie und anderer Behinderungen im Zeichen des »Krieges gegen den Terror« einen Rückgang von zehn Prozent an Geschäftsbesuchen gegenüber

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dem Jahr 2000 verzeichnen mussten (und das in einer Zeit hektischer Wirt-schaftsaktivitäten), forderten der jüngst direkt von der weltweit wichtigsten Investmentbank Goldman Sachs ins Finanzministerium übergewechselte Hank Paulson, der Chief Executive Officer der New Yorker Börse John Thain und andere eine dringliche Überarbeitung der gegenwärtigen Re-gulierungen, um eine »Wiederausbalancierung des US-amerikanischen ju-ristischen und administrativen Regelwerks« zu erreichen (zit. nach McRae 2006). Dass auch die Vereinigten Staaten darauf achten müssen, die Opera-tionen des transnationalen Kapitals nicht einzuschränken, ist ein Beleg für die wirkliche Souveränität des Kapitals und die funktionelle Einbeziehung der Staatsmacht in seine Operationen. »Politiker müssen immer noch ihre Wählerschaft beherzigen, aber sie müssen auch die Reaktion der globalen Wirtschaftselite berücksichtigen. Das betrifft jedes Land, auch die USA, die fast ein Drittel der Weltökonomie verantwortet.« Jede Regierung, so stellt McRae fest, »muss anerkennen, dass ihre Handlungsfreiheit in Fragen der Besteuerung und Regulierung der Wirtschaft heute weit mehr eingeschränkt ist also noch vor einem Jahrzehnt.« Dies mag die Demokratie und die Sou-veränität gewählter Regierungen begrenzen, aber gleichwohl »beruhigt es, zu sehen, dass sogar die Regierungsmacht der USA die Präferenzen globaler Akteure berücksichtigen muss.«

Wahlen spielen hier ebenfalls eine Rolle. Eine Veränderung in der Stim-mung der Öffentlichkeit kann effektiv eine Politik blockieren, wie im Falle des erdrutschartigen Sieges der Demokraten bei den Zwischenwahlen in den USA im November 2006, auch wenn die Souveränitätsposition des Kapi-tals zugleich sicherstellen mag, dass eine politische Alternative bestimmte Grenzen nicht überschreiten wird. Eine Staat/Gesellschaft-Konfiguration, wie sie für Herausfordererstaaten typisch ist, hat diese spezifische Flexibili-tät nicht. Verschiebungen durch Wahlen sind eher vorübergehend, aber der Staat und seine Beziehungen zur Wirtschaft sind rigider. Wichtige Vermö-genswerte sind oft Teil von Gruppierungen, die sich um Großbanken orga-nisieren, Hilferdings Finanzkapital, das seinerseits privilegierten Zugang zu den Inhabern der Staatsmacht hat. Raymond Vernon (1973: 209) vergleicht US-Investitionen im gastfreundlichen und familiären Umfeld Großbritan-nien und dem hochgradig problematischen, »überregulierten« Frankreich. Freilich ist, um zu McRaes Artikel zurückzukommen, »diese Asymmetrie nicht nur für entwickelte Länder ein Problem. In dem Maße, wie China und Indien im internationalen Investitionsgeschehen eine wachsende Rolle spie-len, werden wir die unterschiedliche Behandlung ausländischer Interessen

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zunehmend als Belastung empfinden.« Hier kommen wir zu dem, was ich als den Kernwiderspruch der gegenwärtigen Ära ansehe. Man kann ihn auf die englisch-französische Kernstruktur zurückführen. In diesem Sinne schreibt der Kommentator der New York Times Thomas Friedman in einem Artikel »Mit China fertig werden«: »Wenn die Geschichte der (gegenwärtigen) Ära geschrieben wird, dann wird der Trend, den die Historiker als wichtigsten zitieren werden, nicht 9/11 oder die Invasionen der USA in Afghanistan oder im Irak sein. Es wird der Aufstieg von China und Indien sein. Wie sich die Welt an diese aufsteigenden Mächte anpassen wird und wie Amerika die sich daraus ergebenden ökonomischen Chancen und Herausforderungen managen wird, ist immer noch der wichtigste globale Trend, der beobachtet werden muss.« (Friedman 2006: 2)

Die Demokraten werden daher nach ihrem Wahlsieg wahrscheinlich den Kurs im Mittleren Osten nicht ändern, denn dort scheint es angesichts des Sumpfes, den die angloamerikanische Invasion geschaffen hat, wenige Mög-lichkeiten zu geben. Aber sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach den Kurs gegenüber China ändern. Da der amerikanische Fertigungssektor verfällt, ohne dass das Kapital des Westens im Ausgleich chinesische Arbeitskräfte ausbeuten kann, wird sich die zu erwartende politische Linie der USA zu ei-ner Strategie flüchten, die in der Außenpolitik der Demokratischen Partei eine lange Tradition hat: die Unzufriedenheit im Innern umzusetzen in eine Politik der Öffnung für neue Investitionschancen, wofür eine Politik der »Menschen-rechte« in der Gegenwart das naheliegendste Instrument ist. Durch eine solche Politik, hinter der sich ein weitaus tiefergehender Versuch verbirgt, die Bezie-hungen zwischen Staat und Gesellschaft in einem Herausfordererstaat in eine liberale Struktur umzubauen und seine Staatsklasse zu enteignen, würde der Westen erreichen, was er schon so oft zuvor erreicht hat: die Bemühungen des Herausforderers zu stoppen - auch wenn (in diesem Fall wie in den meisten anderen Fällen) dies keineswegs von selbst die Spaltungen und Rivalitäten be-enden, sondern nur ihre Natur verändern würde.

Die Konflikte in der globalen politischen Ökonomie von heute sind keineswegs bloß Rivalitäten peripherer Natur, sondern in ihrem Zentrum stehen die Kämpfe darum, welche Beziehungen zwischen Staat und Gesell-schaft herrschen, ob der Staat in seinem eigenen Territorium souverän ist oder ob dieses Territorium Teil eines weiteren Raums ist, in dem das Ka-pital der Souverän ist. Die Öffnung des Restes der Welt für das Kapital ist daher der offensichtliche strategische Imperativ und genau hier öffnen sich heute die Verwerfungen in der globalen Ordnung - zwischen dem Westen

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und einem wieder aufsteigenden Rußland, das reich an Rohstoffen ist; um die Kontrolle des Öls im Nahen Osten; um die Beziehung mit China als dem gegenwärtigen Herausforderer. Und da nun das historische Proletariat in Form seiner revolutionären sozialistischen Parteien nicht mehr existiert - wer springt nun in die Bresche?

Hier nun kommt die Funktionärsschicht, die neue Mittelklasse der kapita-listischen Managergesellschaft ins Spiel.

Eine Revolte der Kader?

»Die Vergesellschaftung der Arbeit durch die kapitalistische Produktion«, schrieb Lenin (1894) in einem seiner frühen Artikel, »besteht durchaus nicht darin, daß die Menschen in ein und derselben Räumlichkeit arbeiten (das ist nur ein kleiner Teil des Prozesses), sondern darin, daß die Konzentration der Kapitalien von der Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit, von einer Ver-ringerung der Anzahl der Kapitalisten in jedem gegebenen Industriezweig und einer Vergrößerung der Anzahl der speziellen Industriezweige begleitet ist; sie besteht darin, dass viele zersplitterte Produktionsprozesse zu einem einzigen gesellschaftlichen Produktionsprozeß verschmelzen.« (Lenin 1894/1971: 169) In dem Maße, wie sich der Prozess entwickelt und ökonomische Aktivitäten kontinuierlich zerlegt und wieder integriert werden, entsteht eine Reihe von Integrationsfunktionen. Die Kader oder Funktionärsschicht, wie ich anderswo argumentiert habe (van der Pijl 1998: Kap. 5), sind die Vergesellschaftungsklas-se; sie verkörpern einen speziellen Strang, auf den sich »die Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit« bezieht. Nicht anders als die Bourgeoisie in einer früheren Ära formt sich die moderne Managermittelklasse im Kontext einer Produktionsweise, in der sie kein Teil der ursprünglichen Klassendichotomie ist (im Sinne von Herr-Knecht, Gutsherr-Bauer, Kapitalist-Arbeiter in der je-weiligen Produktionsweise). Ebenso wie die Bourgeoisie in einem imperialen Kontext als städtisches Phänomen entstand, so sind die Kader eine Zwischen-schicht, die in einer Gesellschaft entsteht, die bereits das Neue in sich trägt. Typischerweise bringt dies mit sich, dass eine solche zunächst vergängliche Klasse die herrschende Weltanschauung der Gesellschaft, aus der sie entsteht, teilt, bevor sie beginnt, eine eigene Sicht zu entwickeln und eine wirkliche Klasse in Beziehung zu anderen zu werden.

Ich vermute, dass die als Berater und Konsultanten in Unternehmen, Staatsapparaten, formellen internationalen Organisationen und NGO's tä-

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tigen Kader im gegenwärtigen globalen Kontext in einem Ausmaß mit den strapaziösen Effekten der kapitalistischen Disziplinierung konfrontiert werden, dass ihre Bereitschaft, den neoliberalen Vorschriften weiter blind zu folgen, wirklich infrage gestellt wird. Vor allem wenn sie mit engagier-tem Widerstand gegen die kapitalistische Ausbeutung konfrontiert wer-den, besteht die Möglichkeit, dass sie tatsächlich überlaufen und sich auf andere Weltbilder umorientieren. Von besonderer Bedeutung ist hier, dass der Westen aktiv Strukturen globaler Governance geschaffen hat, um (falls nötig mit Gewalt) weltweit kapitalistische Disziplin und demokratische Wahlen durchzusetzen; ein solches Vorgehen transzendiert die Beziehungen der Gleichheit zwischen souveränen Staaten. Eine solche Überschreitung könnte möglicherweise zu einer dialektischen Transformation führen, so-bald die neuen Strukturen globaler Governance sich auch auf die Staaten des Herzlandes erstrecken würden, die sie einst selbst vorgeschlagen hatten - vom Völkerbund und den Vereinten Nationen bis zu Bretton Woods, der WTO, dem Internationalen Gerichtshof etc.

Marx hat uns im dritten Band des Kapital (MEW, Bd. 25: 400-402, 456-457, 620-621) ein tentatives Szenario für eine Transformation hinterlassen und Bedingungen formuliert, unter denen eine Produktionsweise der »As-soziation«, aufbauend auf bestimmten inhärenten Tendenzen des Kapitalis-mus, in Reichweite kommen könnte. Dies würde einschließen

(a) die Wiederaneignung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses durch einen seiner selbst bewussten »Gesamtarbeiter«, den verschiedenen Frak-tionen also, in welche die Arbeitskraft im letzten Jahrhundert zerfallen ist, also den Technikern, Designern, Handarbeitern jeder Art, Managern, Trans-port- und Infrastrukturarbeitern und so weiter und so fort. Wie neuere Forschungen zur Frage der Organisation transnationaler Produktketten zu zeigen versucht haben (Merk 2004), gibt es ansatzweise Anzeichen, dass sich ein solcher Prozess auf globalem Niveau entfaltet. Eine solche Emanzipation der Produktion von der kapitalistischen Disziplin könnte sodann

(b) die Form einer politischen Aktion annehmen, deren Ziel die Wieder-aneignung der Kontrolle über die Finanzwelt wäre, die im reifen Kapita-lismus in spekulative Operationen und ausgemachten Schwindeleien dege-neriert ist. Um die wirkliche Produktion sichern zu können, müssten nach Ansicht von Marx private finanzielle Transaktionen ab einem bestimmten Punkt eingeschränkt oder vollständig unterdrückt werden. Solche Maßnah-men gegen die Finanzspekulation, die Keynes empfohlen hatte, waren na-türlich schon in den 1930er Jahren in den USA und in einer Anzahl weiterer

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Länder eingeführt worden; in den 1970er Jahren jedoch waren sie rückgängig gemacht worden. Mittlerweile sind die Feinheiten der globalen Finanzflüsse weitaus komplexer geworden und schwieriger zu kontrollieren und die Un-gleichgewichte, die durch sie geschaffen worden sind, weitaus instabiler und potenziell weitreichender, sogar wenn der Zweite Weltkrieg unser Maßstab ist; dieses Mal nämlich geht es um das Überleben der menschlichen Spezi-es. Zu dieser doppelten Struktur revolutionärer Umwälzung, die hier in der Begrifflichkeit von Produktionsweisen (des Übergangs vom Kapitalismus zur Produktion der »Assoziation«) gefasst wird, würde ich ein drittes und viertes Moment potenzieller Transformation hinzufügen, das vor allem aus den gegenwärtigen Rivalitätsstrukturen herkommt. Dies wäre

(c) die Notwendigkeit, die Nukleararsenale der aggressivsten atomar be-waffneten Staaten des Westens zu neutralisieren und friedlich zu beseitigen: - jene der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Israels. Dies müsste in erster Linie das Ergebnis eines demokratischen Wiederaufschwungs in diesen Ländern sein; es gibt keine Möglichkeit, dieses Ziel von außen zu erreichen. Der sowjetische »Kult des Gleichgewichts« steht auf traurigste Weise für die zerstörerischen sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die auch nur der Versuch hatte, dem Westen im Wettrüsten pari zu bieten. Gleichwohl haben die Spaltungen, die im Falle des Irak an der Bruchstelle zwischen Kerngebiet und Herausforderern deutlich geworden sind, Spielräume für solche Kräfte wie die Friedensbewegung (CND in England, Peace Now in Israel und ihre eher disparateren Gegenstücke in den USA) geschaffen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

(d) Das letzte Element einer globalen Transformation würde die Schaf-fung von Strukturen globaler Governance betreffen, die imstande sind, die drei genannten Übergangsmomente zu fassen und zugleich die Weltgesell-schaft in Richtung auf eine nachhaltige Produktionsweise zu orientieren im Rahmen der Notwendigkeit, die Biosphäre zu erhalten.

Es geht hier nicht darum, ein abstraktes Zukunftsszenario einer »Revolte der Kader« zu entwerfen; aber auf jeder der vier genannten Ebenen würden sie eine herausragende Rolle spielen. Erstens als die Organisatoren des kol-lektiven Arbeiters, als Segment der lohnabhängigen Schicht mit Anleitungs-funktionen, die entstand auf der Basis der Ausbeutung der Qualifikationen und anderer Aspekte des selbständigen Handelns der Arbeiter. Zweitens als die Klasse, die eine zweite Euthanasie des Rentiers beaufsichtigt, die Keynes vorausgesehen hat und die er als eine Klasse von Menschen identifiziert hat, die den Platz eines »funktionslosen Investors« (1936: 376-377) übernehmen

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würden. Drittens sind die Anhängerschaft der Friedensbewegungen nicht gerade typisch für die Mittelklasse; die »Neuen Sozialen Bewegungen« ho-ben dies als ihr spezifisches Charakteristikum gegenüber den »alten« Orga-nisationen der Arbeiterklasse hervor. Aber die Kader in den Organisationen gegen Weiterverbreitung von Atomwaffen oder in den NGOs , die auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle einschließlich der Kampagnen gegen Land-minen und Kleinwaffen agieren, spielen eine ganz spezielle Rolle, durchaus ähnlich wie die Organisatoren der UN und andere. Endlich sind die neuen Strukturen der globalen Governance, die zur Durchsetzung der neoliberalen kapitalistischen Disziplin und Unterwerfung geschaffen wurden, selbst in einem Wandel. Ich möchte mit einigen kurzen Bemerkungen schließen, die auf den Perspektivwechsel in diesen verschiedenen Organisationen aufmerk-sam machen.

Die Aktivisten, die sich mit den Verlagerungen befassen, die durch die neoliberale Globalisierung produziert werden, bleiben nie weit hinter den aktuellen Prozessen der Transnationalisierung des Kapitals zurück. Die Um-weltzerstörung, der Gebrauch von Pestiziden im globalen Süden oder die Arbeitsbedingungen in Orten wie China, wo die Kleider produziert werden, die von modischen Marken im Westen verkauft werden, sind alle zur Quelle eigener kleiner Aktivitätsknoten geworden. Das Internet der 1990er Jahre schuf neue Wege, um mit Menschen in weit entfernten Orten in Kontakt zu kommen. Der antikapitalistische Aktivismus konvergierte in der Kam-pagne gegen das Multilateral Agreement on Investment (MAI) in eine mehr oder weniger zusammenhängende Bewegung. Das MAI wäre das genaue Gegenteil der Neuen Weltwirtschaftsordnung geworden, die in den 1970ern gefordert worden war. Während in der damals geforderten Neuen Weltwirt-schaftsordnung sich die Unternehmen genauen Prüfungen durch Staaten und die Institutionen der Vereinten Nationen hätten unterwerfen müssen, entwarf das MAI kühn eine globale Souveränität des Kapitals, von der kein Staat ausgenommen worden wäre.

1996 begannen die Altermondialistes sich mit Gruppen aus anderen Län-dern zu vernetzen, die angesichts der MAI-Pläne in Bewegung gekommen waren. Im Oktober 1997 fand eine erste Beratung zwischen NGO's und der OECD über das Thema eines globalen neoliberalen Investitionsregimes statt, das letztlich die Wende zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft ausschlie-ßen würde, die nach dem Urteil von Rio notwendig wäre. Die Gesprächsbe-reitschaft der OECD zeigte, wie sehr mittlerweile die anschwellende Welle des globalisierungskritischen Aktivismus Ernst genommen wurde. Ein Jahr

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darauf war über die Frage des MAI eine veritable Massenbewegung entstan-den, die in Resolutionen des Europaparlaments und zahlreicher lokaler Re-gierungseinrichtungen ihr Echo fand (Mabey 1999: 60-61). Als dann mehr als 40.000 Demonstranten auf dem Treffen der W T O in Seattle 1999 zusam-menkamen, ging eine Schockwelle durch die Welt, die einen Manistreamjo-runalisten schlussfolgern ließ, dass die Idee, wirtschaftliche Fragen könnten isoliert von politischen und sozialen Aspekten verhandelt werden, »einen Schlag versetzt bekommen hat, von dem sie sich nicht mehr erholen wird« (William Pfaff, zit. nach Rupert 2000: 151).

»Seattle« wurde der Höhepunkt der Bewegung. Von dort aus entwickelte sich das Phänomen des »Gipfel-Hoppings«, das sich für einen kurzen Zeit-raum als eine Unruhe stiftende Kraft zu etablieren schien, die jedes Tref-fen der multilateralen und supranationalen Organisationen störte, welche die regulatorische Infrastruktur des globalen Kapitalismus bilden. Mit dem Weltsozialforum in Porto Alegre entstand ein zentraler organisatorischer Knoten, der zunächst große öffentliche Resonanz erreichte, etwa mit der weithin publizierten Telefondebatte mit dem neoliberalen World Economic Forum in Davos. Nineleven und die folgende antiislamistische Gegenreak-tion versetzte der spielerischen Gegenkultur der antikapitalistischen Gip-fel-Hopper einen massiven Rückschlag. Die »Anti«-Globalisierungsbewe-gung hat nachgelassen, ihre hauptsächlichen Aktionsformen wurden durch verbesserte Kontrolltechniken eingegrenzt und die Gipfel wurden an Orte verlegt, die schwer zu erreichen waren.

Das soll nicht bedeuten, dass deshalb die Anstrengungen vergeblich wa-ren. Die Welle des Aktivismus machte nicht nur die planetaren Überlebenst-hemen und die mörderischen Resultate der Weltbank- und IMF-Rezepte publik, welche diese den Staaten überall auf der Welt oktroyierten; sie hoben auch deutlich das Bewusstsein an über die Art und Weise, wie die Weltwirt-schaft Menschen in unvereinbaren Situationen verkoppelt, die von der Lu-xuskonsumption bis zur modernen Sklaverei reichen. Dies war das erste Mal, dass sich eine linke Bewegung nicht zuerst als nationale und dann erst als internationalistische konstituierte, sondern dass sie unmittelbar als eine glo-bale Bewegung entstand. Und schließlich und durchaus vergleichbar mit der Absorption der Aktivisten des Mai '68 in die traditionellen linksgerichteten Parteien und die expandierenden Staatsapparate wurden viele aus der 1990er Generation des Antiglobalismus vom expandierenden Sektor der NGO's re-krutiert. Bei all seiner Unterschiedlichkeit ist der NGO-Sektor zu einer weit-hin sichtbaren Route geworden, über welche, was einst Entwicklungshilfe

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war, nun neu platziert wird als Notstandshilfe für Katastrophengebiete, als Überwachungsinstrumentarium für Menschenrechte und für eine Reihe an-derer Felder, auf denen die Folgen der neoliberalen Globalisierung zu spüren sind. Tatsächlich sind sie ein wachsendes Medium für die Einbeziehung der Kader in die Funktionsmechanismen der globalen politischen Ökonomie. Ihre helfende und exekutierende Rolle wurde erst dadurch ermöglicht, dass Staaten des Westens NGO's gründeten und finanzierten (nur so können wir die Personen, die dort arbeiten, als Kader definieren). Zunehmend besteht ihre Rolle darin, die Prozesse abzumildern, durch welche Gesellschaften Teil der sich globalisierenden Ökonomie werden. Aber gerade aufgrund dieser Mischung aus Aktivismus und funktionaler Einbeziehung hat der NGO-Sektor das Potenzial, in einer Weise zur Verbesserung der Arbeitsbedin-gungen beizutragen, wie es lokale Gewerkschaftsakteure eben nicht können; und er kann zugleich als ein Kanal fungieren, über den Betroffenheit über solche Bedingungen und andere destruktive Einflüsse der globalisierenden kapitalistischen Disziplin transportiert werden kann - sozusagen entlang der Produktionskette hin zu den Krisenpunkten. Wer an den bot spots präsent ist, wo die neoliberalen best practices angewandt werden, kann zugleich auch ganz unmittelbar mitbekommen, wie diese Praktiken trouble spots schaffen.

Die Anliegen, die von der alternativen »Anti«-Globalisierungsbewegung publiziert und praktisch an NGO's adressiert wurden, haben auch poten-zielle Spaltungen in anderen Zentren der Kader aktiviert. Die Umweltabtei-lung der Weltbank beherbergt Häretiker, die ILO und - in gewissem Um-fang - die EU und das OECD-Direktorat, das sich mit Humanressourcen und Arbeit befasst, die UNICEF, die UNDP und der Europarat - sie alle arbeiten auf die eine oder andere Weise daran, die krassesten Anwendungen neoliberaler Politiken abzudämpfen und die Kader, die dort in einem solchen Sinne tätig sind, müssen als potenzielle Verbündete der Kräfte angesehen werden, die versuchen, solchen Politiken Widerstand zu leisten. Ein leiten-der Offizieller der Weltbank hat sich sogar dafür eingesetzt, Ratingagenturen zu schaffen, welche das Verhalten von Staaten und Unternehmen danach be-urteilen, ob sie Regeln einhalten, die für das Überleben der Menschheit vital sind (Rischard 2002).

Es kann wohl sein, dass in dem Maße, wie der Börsenglanz des globali-sierenden Kapitalismus weiter schwindet und die Realitäten der unbarmher-zigen Ausbeutung sichtbarer werden, Gruppen aus der Welt der Kader in einen Block überwechseln, der offen den Notwendigkeiten des Überlebens der Menschheit und der Bewahrung der Biosphäre erste Priorität geben. Es

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gibt keinen Grund, diese Klasse als Erretter der Menschheit zu glorifizie-ren oder sie als eine quasi-bolschewistische Avantgarde zu romantisieren. Aber im spezifischen Kontext einer drohenden Katastrophe, die durch den Verschleiß der Gesellschaft und Natur durch die kapitalistische Marktdis-ziplin gekennzeichnet ist, kann ihre Vorliebe für das Management ihr ideolo-gisches Engagement für den Neoliberalismus übertreffen. Es wird dann von der Stärke des allgemeinen Widerstands in allen seinen Formen und von der Qualität der intellektuellen Reflektion dessen, was sich vor unseren Augen abspielt, abhängen, ob sich ein Übergang zu einer assoziierten Produktions-weise entfalten wird, der zugleich als ein Prozess der Vertiefung der Demo-kratie zu gestalten ist.

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Rainer Rill ing Imperialität

1. Aufstieg und Niedergang

Die lange stillgestellte Bezeichnung »Empire« wurde Mitte der 1990er wie-der gefunden und breitete sich zunächst langsam in einigen aufgestiegenen rechten fringe groups der herrschenden politischen Klasse der USA und ihres Anhangs aus. Nach dem 9/11-Anschlag explodierte dann förmlich die Rede vom Imperium, wanderte in den Mainstream der Politik und Wissenschaft ein und hielt sich dort als legitimer und akzeptierter (jedoch nicht domi-nierender) Begriff erstaunlich lange, bis dieser dann um 2006 seine Glaub-würdigkeit und Wirksamkeit langsam verlor. In dieser Zeit thematisierten in den zentralen Medien und den Studienwelten der Wissenschaft wohl ein paar zehntausend Beiträge die komplizierte Frage, wie man empirisch und begrifflich eine Supermacht fasst, die mehr ist als eine Supermacht. Eine tonangebende Antwort gab die New York Times am 2. April 2002: »Today, America is no mere superpower or hegemon but a full-blown empire in the Roman and British sense.« Ein »Gorilla unter den geopolitischen Bezeich-nungen« (so der Guardian am 18.9.2002) wurde gebraucht und gefunden: eben das Imperium. Die Linke übrigens hat sich kaum auf das Neuland der plötzlichen Rede vom Empire gewagt, sieht man von der ungeliebten Aus-nahme des spektakulären Entwurfs von Michael Hardt und Antonio Negri ab.1 Sie hat es dabei belassen, seit geraumer Zeit an einem neuen, tragfähigen Verständnis einer ihr seit einem Jahrhundert vertrauten Theorie und Begriff-lichkeit (der des Imperialismus) zu arbeiten, und konzentrierte sich dabei - ebenso solide wie nicht selten sehr behäbig - in aller Regel auf die poli-tische Ökonomie und die Frage nach der Bestimmung der postfordistischen Situation.2

1 Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Cambridge 2000 (dt. Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2002).

2 Eine seltene Ausnahme ist das pfadtheoretische Herangehen in: Dieter Klein (Hrsg.): Leben statt gelebt zu werden. Selbstbestimmung und soziale Sicherheit. Zukunftsbericht der Rosa Luxemburg Stiftung, Manuskripte 38, Berlin 2003.

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54 Rainer Rilling

2. Absagen

Von einem Empire (Imperium, Reich) zu sprechen, blieb bis Anfang der 1990er Jahre in neuerer Zeit Historikern überlassen, die sich mit den Im-perien des Landeigentums mit starkem Staat (Rom, China), des Handels (arabische Reiche, Venedig, Holland, Spanien) und des imperialistischen Ka-pitalismus (britisches Imperium, französisches Kolonialimperium oder das »Kontinentalreich« des deutschen Faschismus) befassten. Ellen Meiksins Wood hat gegen die übliche Gleichsetzung des römischen und der britischen bzw. US-amerikanischen Imperien darauf beharrt, nach Maßgabe der Ei-gentumsverfassung an solchen grundlegend voneinander unterschiedenen Typen von Imperien festzuhalten.3 Wer heute von Imperien spricht, muss auch nach ihrer kapitalistischen Spezifik und nach den Spezifika des Ka-pitalistischen fragen, die sich in ihnen zusammenfassen. Jenseits dieser Ba-sisdifferenz der politischen Ökonomie von Imperialität spielt aber in den historischen Zugriffen auf das Reich seit jeher das Merkmal der Ausdehnung zunächst in erster Linie direkter politisch-militärischer und rechtlich-forma-lisierter, dann vor allem auch ökonomischer Herrschaft im Raum die allein ausschlaggebende Rolle dafür, dass von einem Imperium gesprochen wurde. Von Imperien zu reden und vom Raum zu schweigen, macht tatsächlich kei-nen Sinn. Unter einem Imperium wurden daher lange Zeit Kolonial- und Territorialreiche verstanden, die einen hohen Anteil direkter und zudem gewaltförmiger Herrschaftsausübung (»Zwang«) aufwiesen. Mit dem Ver-schwinden solch evidenter wie expliziter Kolonialimperien und der Praxen territorialdiktatorischer Okkupation ist für viele das Zeitalter der Imperien endgültig zu Ende gegangen. Sie schließen daher auch aus, dass komplexere Einflussordnungen, die ihre Herrschaft im Raum (zeitgemäßer formuliert: in kapitalistischen Großräumen) auch oder vorrangig informell und indi-rekt ausüben bzw. das Mittel der Gewaltausübung weitgehend zurückhalten zugunsten der Mobilisierung von Zustimmung (Konsens), noch als Empire bezeichnet werden können, und betonen, dass hierfür der Hegemoniebegriff adäquater sei. Vor allem die USA gelten als Streitfall. Häufig wurde daher von ihrer Hegemonie oder Dominanz im internationalen System gespro-chen.

3 Ellen Meiksins Wood: Empire of Capital, London/New York 2003.

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3. American Empire

Tatsächlich aber haben gerade die USA das Muster indirekter Einflussnahme und informeller Durchdringung anderer Staaten und Mächte zum zentralen Merkmal einer modernen imperialen Ordnung entwickelt. Ihre Geschich-te kann auch geschrieben werden als Geschichte einer Expansion, die vier große Konstellationen durchlief.

Im Zentrum der ersten Konstellation stand die Zeit der inneren Landnah-me des amerikanischen Kontinents, welche politische Mission (»Freiheit«), geopolitische Aspiration (kontinentale - nicht koloniale! - Expansion) und land grabbing eng verknüpfte. Es entstanden eine kontinentale Ökonomie und der größte Binnenmarkt der Welt, der territoriale Aneignungen jen-seits Nordamerikas völlig unnötig machte - die USA waren in diesem Sinne schon ein Territorialimperium. Von Imperium wurde daher damals nicht sonderlich gesprochen - aber in der Geschichte der USA waren die Bildung der Nation und die Bildung eines Empires eng miteinander verknüpft.4 Die USA wurden auf der Grundlage dieser massiven geographischen Machtba-sis und der Demobilisierung der anderen Klassen um die Jahrhundertwende eine große Macht »more or less without a formal empire.«5 Sie waren auf dem Spielfeld globaler Akteure angekommen, aber noch weit davon ent-fernt, es dominieren zu können. Territorialpolitisch entwickelte sich jedoch Ende des vorletzten Jahrhunderts mit der Schließung der kontinentalen wie globalen Grenzen für die herrschende Klasse in den USA eine grundsätz-liche Problemsituation. Die innere Landnahme war beendet, eine äußere Landnahme jedoch riskant, wenn nicht unmöglich. Wie also eine kapita-listische Ausdehnung fortsetzen, die nicht bloß ökonomisch geboten war, sondern auch stark ideenpolitisch begleitet wurde durch die Idee der sich unaufhörlich ausdehnenden Grenze und den Gedanken des gottgegebenen amerikanischen Exzeptionalismus? Die Expansion des amerikanischen Ka-pitalismus erforderte daher eine neue geopolitische und -geoökonomische Strategie. Eine eigene US-amerikanische Konstellation der ökonomischen Ausdehnung jenseits des dominierenden europäischen territorial- und kolo-nialimperialen Modells musste entwickelt und damit das alte Verhältnis von Geopolitik und Geoökonomie revidiert werden. Diese neue Geographie des

4 Amy Kaplan: The Anarchy of Empire in the Making of US Culture, Cambridge 2002

5 Simon Bromley: Rin: Historical Materialism, 11(3), Leiden 2003, S. 19.

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Imperialismus wurde das zentrale Thema der nun entstehenden auswärtigen Politik der USA.

An die Stelle unmittelbarer territorialer Einverleibung, direkter Kolonie-konstruktion und formaler, zumeist mit rassischen oder ethnographischen Referenzen operierender Herrschaft (»Eingeborenenpolit ik«) trat ein an-derer strategischer Ansatz, dessen Schlüsselidee die Politik der Open Door war, also die Öffnung der ökonomischen und juristischen Ordnungen und damit der Zugang zu den Märkten und Rohmaterialien der Welt für das ame-rikanische Kapital und die Möglichkeit, der genuin ideologischen Mission der Verbreitung einer spezifisch amerikanischen Variante des Liberalismus nachzukommen.6 Im Mittelpunkt eines von den USA kontrollierten »Groß-raums«7 stand der Gedanke der Raumhoheit, der an die Stelle der Vorstellung einverleibender Besetzung trat. Eine ganze Skala von Praxen aufschließender indirekter Kontrolle entstand im Zeichen dieses Konzepts, ging es hier doch nun darum, Länder und Territorien zugänglich und durchlässig zu machen für private Macht und die Macht des Privaten und damit für das private Ei-gentum an den Mitteln der Produktion. Die Welt musste nicht amerikanisch sein, aber offen für amerikanische Produkte, Investitionen und Ideologien. Offenheit war die Gewährleistung für die Ausbildung der Tradition konti-nuierlicher Machtsteigerung. Grenzen in dieser Welt waren dazu da, über-wunden zu werden - zu Recht ist das Thema der ständig neuen Grenzüber-schreitung (»next frontier«) als Kern der amerikanischen politischen Kultur der Expansion charakterisiert worden. Der spezifische Modus der Open-Door-Politik war also nicht die Eroberung und direkte Kontrolle von Ter-ritorien, sondern der Aufbau einer Ordnung informeller, nicht-territorialer Herrschaft, ermöglicht durch access - eine klare Differenz zum dominanten Modus der klassischen europäischen Kolonialimperien. Werden die USA also seitdem als Empire gedacht, dann müssen sie als »nonterritorial empi-re«8 gedacht werden. Nichtterritoriale Imperien wie die USA haben das Ziel der Kontrolle des Raums und eben nicht der Annexion von Territorien (im

6 Die klassische Studie zur Frage der Open Door und des American Way of Expan-sionism ist William Appleman Williams: The Tragedy of American Diplomacy, New York 1962.

7 S. Neil Smith: The Endgame of Globalization, New York/London 2005. Zum »amerikanischen Lebensraum« s. ders., American Empire: Roosevelt's Geographer and the Prelude to Globalization, California 2003 sowie Peter Gowan: American Leben-sraum, in: New Left Review, 30 (2004), S. 155-164.

8 Bruce Cumings: Is America an Imperial Power, in: Current History, Nov. 2003.

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Sinne von Einverleibung) und der Überwältigung territorial basierter Souve-ränität (im Sinne der Okkupation). Die USA waren, nach der Bildung ihrer kontinentalen Form, nie ein Territorialimperium, auch wenn sie einige Terri-torien besetzt halten, um ihr nicht-territoriales Empire zu sichern. Zugleich aber waren die kontinentalen Grenzen des Nationalstaates USA nicht die Grenzen des Imperialstaats USA.9 Um territoriale Grenzziehungen, die für klassische Landimperien eine zentrale Rolle spielten, ging es dann nicht mehr. Es ging um Grenzen, die ein Glacis gegen Feinde umrissen; es ging um Zo-nen der Aneignung, in denen Nachbarn Tribute entrichteten und Strukturen ökonomischer Ungleichheit und damit Ausbeutung reproduziert wurden; es ging um jene Grenzfronten, die ausgreifend Machtkonkurrenten (oder de-ren Entstehung) konterkarierten. Zum imperialen Rand des amerikanischen Machtprojekts gehörte das ganze Vokabular dieser postterritorialen Gren-zen der Einflussnahme, Kontrolle, Machtprojektion und fluiden Präsenz. Diese grundsätzliche Dimension der Konfrontation reflektiert nicht nur die strukturelle Instabilität imperialer Grenzprojekte, sondern auch die andere ständige Begleiterin der Imperien: die Unruhe und den Widerstand in ihrem Inneren. In der Geschichte des American Empire entstanden häufig solche Kontrollhybride und Zwischenformen: nicht-inkorporierte Territorien oder protektoratsähnliche Arrangements wie das »Platt-Amendment«, das dem Modell der britischen Herrschaft über Ägypten entnommen war und sei-nerseits als Modell für Haiti, die Dominikanische Republik und Nikaragua diente. Expansion und Reproduktion von Imperialität realisieren sich dabei über eine instabile Dialektik von Inklusion und Exklusion.

Die Typen der territorialen und nichtterritorialen Imperialität existier-ten historisch nebeneinander, gingen ineinander über oder bildeten hybri-de Formen - und es gab keine »Gesetzmäßigkeit«, wonach die eine Form auf die andere folgt, und alle großen kapitalistischen Staaten praktizierten in ihrer Geschichte diese Formen, oftmals zeitgleich. Neben der Sowjetu-nion als »the world's first post-imperial State«10 war es diese amerikanische

9 Die Ausdehnung des Imder Grenzen des Nationalstaates USA mit sich. Heute etwa entsteht eine digitale Fes-tung USA, die jeden Flug- und Schifftransfer von Menschen in die USA noch weit von ihren Grenzen entfernt identifiziert, kontrolliert und im Zweifel verhindert. 2006 setzten sie diese neue Grenzziehung im transatlantischen Flugverkehr gegen den Willen europäischer Staaten durch.

10 Terry Martin: The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939, Ithaca 2001, S. 19.

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Form der nichtterritorialen Imperialität, welche als die nachhaltigen aus-greifenden Ordnungsformen des letzten Jahrhunderts gelten können. Die wesentliche Form der Imperialität in der Gegenwart ist die nichtterritoriale des informellen Empire, bei der die Kapitallogik über die Territoriallogik triumphiert.

Kräftepolitisch erhielt dieser zweite expansionspolitische Ansatz seinen stärksten Schub durch das Zerbrechen der dominanten Rolle Englands im Ergebnis des Ersten Weltkriegs. Es verlor seine Fähigkeit, das Zentrum des Weltkapitalismus zu sein, und es verlor seine Kraft, die Kräfteverhältnisse im politisch zentralen Kontinent Europa hegemonial zu regulieren, sukzessive an die USA. Unmittelbar nach Kriegsende war die Pariser Friedenskonfe-renz 1918 der Schauplatz für die Inszenierung der neuen, nunmehr deut-lich über den nord- und südamerikanischen Kontinent hinausgreifenden Ambition der USA durch ihren Präsidenten Woodrow Wilson, der für eine »post-territoriale« Alternative (Smith) optierte. Er dachte nicht mehr in der Vision einer USA als Kolonialmacht. Sein Ziel war der Übergang von ei-ner geopolitisch (territorial) zu einer geoökonomisch ansetzenden Politik und Ordnung. Die profitable Eroberung von Märkten und Aneignung von Ressourcen sollten möglich sein ohne riskante und kostspielige Invasionen und Okkupationen. Es ging nicht um Kolonien, sondern um Märkte; »Ko-lonisierung« sollte nicht territorial durch militärische Intervention, sondern ökonomisch durch marktvermittelte Regulation geschehen; die ursprünglich auf Asien abzielende »Open-Door-Politik« sollte dem amerikanischen Ka-pital die ganze Welt erschließen; die auf die westliche Hemisphäre zielende, also regionale Monroe-Doktrin sollte nun »as the doctrine of the world« globalisiert werden und die USA sollten »the leadership of the world« (Wil-son) beanspruchen." Der »liberale Internationalismus« Wilsons war die er-ste präsidiale Vision eines globalen Amerikanismus.

Die zweite Konstellation einer politischen Innovation setzte also zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, hatte ihren ersten expliziten Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg und wurde dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von einer dritten Konstellation abgelöst, die bis 1989/91 dauerte. Die Zeit der 1930er Jahre und dann des Zweiten Weltkrieges war auch eine Phase eines reflexiven Moments bei der Erfindung des neuen Hegemons des 20. Jahrhunderts. Der neue Typus von Imperialität unterschied sich immer

11 Zitiert nach Smith, Endgame..., a.a.O., S. 73. Smith formuliert: »Wilson wanted the world, and he wanted it made in America.« (S. 75)

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deutlicher von einem Modus der kolonial-territorial orientierten Expansion, wie er für den klassischen formellen Imperialismus und auch für das milita-ristisch-terroristische Projekt des faschistischen »Reichs« dieser Zeit typisch war - einer Zeit, in der gleichsam darüber entschieden wurde, welches im-periale Projekt die folgenden Jahrzehnte dominieren sollte. Insofern ist die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts auch von einem neuen »dreißigjährigen Krieg« zwischen den USA und Deutschland um die Nachfolge Englands als dominierende Macht gekennzeichnet gewesen, den die USA gewonnen haben. Dabei muss gesehen werden, dass mittlerweile mit der Sowjetunion ein anderes Projekt großräumlicher Neugestaltung aufgestiegen war, das den Gedanken des Imperialen keineswegs ignorierte, sondern sich explizit als postimperial und daher antiimperial(istisch) verstand und etikettierte - dabei aber zugleich (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) als zentralistisches, informelles Empire agierte. In der Zeit zwischen der Oktoberrevolution 1917 bis 1942/43, als sich der Ausgang des Zweiten Weltkriegs entschied, konkurrierten somit drei imperiale Projekte mit globalem Anspruch. Knapp ein halbes Jahrhundert später war diese Konkurrenz entschieden. Für die USA ging es in dieser Zeit um die Durchsetzung des » a m e r i c a n Century« (Henry Luce) und die Sicherung der »pax americana«}1 Sie akzentuierten sich dabei nach Kriegsende als ein neuer Typus von Imperialität,

• der nicht mehr dominiert wurde von einem formellen sondern von einem informellen Empire,

• der nicht nur eine tiefe Differenz zwischen einem neuen »Zentrum« und einer neuen »Peripherie« aufgriff oder schuf, reproduzierte, vertiefte oder minderte, also zu einem global ansetzenden Grenzmanagement neuer Art imstande war, das im Kern auf der außerordentlichen militärischen Macht der Vereinigten Staaten gründete, sondern

• der dann auch eine neue Hierarchie im Staatensystem des »Kerns« durch-setzte (»If the United States is an empire, it is largely an informal one. The segments of the American imperium are sovereign states, and the scope of American political control is much less than that of the great histori-cal empires.«)13 und einen von ihr dominierten multilateralen »pervasiven Uberbau« (Gowan) schuf, der diese »Segmente« arrangierte und kont-rollierte. Das wirkliche American Empire umfasst danach das nördliche

12 Susan Strange: Pax Americana, in: International Affairs, 4/1950, S. 534f. 13 Daniel Nexon/Thomas Wright: Taking American Empire Seriously, Papier für die

5. Pan-Europäische Konferenz, Den Haag 2004, S. 42.

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Zentrum der kapitalistischen Industriestaaten (Europa, USA, Canada, Japan sowie Australien/Neuseeland als »Kern«) und seine »Sicherheitsge-meinschaft« als eine Zone des »imperialen Friedens«14 oder des »protec-tive imperialism«,15 demgegenüber, wie Peter Gowan aus linker Sicht zu Recht feststellt, die Beziehungen zur Peripherie »were of small significane in comparison with the enormous, unprecedented significance of the pro-tectorate empire over the core«;16

• und der endlich nicht mehr einfach nur die Interessen einer Großmacht repräsentierte, sondern auf die Produktion von Weltordnung aus war, für deren Gestaltung die USA ein eigenes Entwicklungsprojekt entwickelte.

Es war der Beginn der Grundlegung einer neuen amerikanischen Weltord-nung, eines Projekts also, das erstmals auf die Durchsetzung und Sicherung eines Akkumulationsprozesses im Maßstab eines neu globalisierten (aber nicht planetaren) Globalkapitalismus abzielte und in dem das amerikanische Kapital seine Interesse auch definierte als Repräsentanz dieses Kapitalismus (gegen den neuen sowjetischen Staatenblock bzw. zunehmend auch gegen widerständige oder nur schwer integrierbare Länder der Peripherie). In grundlegender Sicht war dies ein Versuch, den tiefgehenden Widerspruch von politisch-ökonomischer Fragmentierung und Weltmarktinterpenetra-tion dadurch zu bearbeiten, dass diese Verbindungen und Austauschbe-ziehungen zwischen den Kapitalismen unter amerikanischem Vorzeichen verstärkt und innere politische Widersprüche im Zeichen des neuen Wider-spruchs zum entstehenden realsozialistischen Block »gemanagt« wurden. Gelöst wird dieser Widerspruch zwischen transnationaler Integration und politischer Fragmentierung dadurch nicht.

Die USA dehnten in der Nachkriegszeit die räumliche Dimension ihrer Interessen ins Globale aus; sie erschütterten die Finanzmacht der City of London und arbeiteten dem Zerfall des Kolonialsystems der altimperialen europäischen Mächte zu, um es im Zeichen der »Entwicklung« für die Ak-tivität ihres eigenen Kapitals zugänglich zu machen - William Appleman Williams sprach folgerichtig vom »imperialen Antikolonialismus«, der die

14 Tarak Barkawi/Mark Laffey: Retrieving the Imperial: Empire and International Relations, in: Millenium, 1/2002, S. 109-127.

15 Samuel Flagg Bemis: The Latin American Policy of the United States: An Histori-cal Interpretation, New York 1943, S. 202-226.

16 Peter Gowaauch die sehr weitgehende Formulierung: »The entire advanced capitalist world was turned into the single sphere of influence of the USA.«

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soziale und räumlich ungleiche Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in miteinander verknüpften Diskursen und Praxen der Berechtigung und Kontrolle bearbeitete; sie schufen eine internationale Ordnung, die ihren Interessen förderlich war; die Entwicklung und Durchsetzung ihres fordis-tischen Empire of Production (Maier)17 intensivierte sich: sie kontrollierten das ökonomische, militärisch-politische, technische und vor allem das finan-zielle System; das US-Schatzamt und das Außenministerium arbeiteten das Grunddesign der Schlüsselinstitutionen des fordistischen Nachkriegskapi-talismus (Weltbank, IMF, GATT [WTO] und UN) aus und entwickelten die Blaupause einer neuen Staatsstruktur, welche zahlreiche Umbauten der Staaten selbst einschloss und eine handhabbare Ordnung der Eigentums-rechte garantierte; sie bauten eine bis heute unbestrittene Hegemonie über die Wissensproduktion auf; sie schufen eine Ordnung regionaler Bündnisse und bestimmten deren geopolitische Orientierung; ihre Bündnispartner waren von ihnen abhängig und erhielten im Tausch eine sozioökonomische und liberale Entwicklungsperspektive, die spektakulär war - schließlich wuchs im Zeichen der US-Dominanz der Welthandel zwischen 1947 und 2000 um das 20fache an und das Weltbruttosozialprodukt nahm um 700% zu.18 Die Stärkung dieser Länder war verknüpft mit kontinuierlicher osmo-tischer Einbindung in die US-basierte Kapitalordnung, deren Akteure ihre ökonomische, soziale wie politische Machtbasis in den verbündeten kapi-talistischen Allianzstaaten ausweiteten. Dies war die machtpolitische Vor-aussetzung dafür, dass die Kapitaleliten dieser Allianzstaaten (in erster Li-nie im Rahmen der NATO) diese globale Perspektive als äußerst nützliches Element der Sicherung ihrer eigenen Reproduktionsinteressen reflektierten und zugleich akzeptierten, dass dies einen Wechsel zu einem nichtkapitalis-tischen, sich auf die UdSSR orientierenden System ausschloss - dies war die absolute Schranke des geopolitischen Arrangements; und eigene imperiale Projekte waren aussichtslos und stießen auf harten Widerstand der USA. Daher überdauerte diese letztlich unipolare und asymmetrische »Nabe-Spei-che-Struktur« (Gowan) auch den Zusammenbruch des Warschauer Paktes. Die USA bauten eine Nuklear-, Luft- und Schiffsmacht auf, die sie weltweit militärisch interventionsfähig machte und eingekleidet war in fast 100 größe-re Militärverträge und Sicherheitsabkommen; Hiroshima war der »big bang

17 Charles S. Maier: Among Empires. American Ascendancy and Its Predecessors, Cambridge 2006.

18 Siehe Financial Times v. 23.4.2003.

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of American Empire« (Maier); sie operierten multilateral in Europa, bilateral in Asien und unilateral, wo es notwendig und möglich schien; Westeuro-pa und Lateinamerika, Ostasien und das südliche Asien, der Nahe Osten und Afrika transformierten zur »Freien Welt« - also zur Sicherheitszone des amerikanisch dominierten Kapitalismus; wenn die USA im Sicherheitsrat der UN nach militärischer Aktion riefen, dann wurde dem Ruf bis 2003 gefolgt - und wenn sie ihr widersprachen, dann gab es sie nicht; nicht mehr wie einst »Zivilisierung«, sondern »Entwicklung« und »Modernisierung« waren nun die Leitbegriffe ihrer Weltpolitik und -Strategie gegenüber der Dritten Welt (und bei Gefährdung ging es um »Zerstörung«); sie schufen sich eine mul-tilaterale Ordnung und Kultur des Zugangs zunächst in Europa und in den 1980er und 1990er Jahren dann auch in Asien (Japan, Südkorea, dann Chi-na); sie propagierten ein Set von Werten mit universellem Geltungsanspruch und agierten erfinderisch auf den Feldern ideologischer und religiöser Kon-frontation; nachdem sie zunächst noch unter Roosevelt gleichsam direkt das Projekt der »Einen Welt« ( » o n e - w o r l d i s m « ) verfolgt hatten, konzentrierten sie im Zeichen des »free-worldism« ihre Ressourcen darauf, den nach 1945 in noch größerer Macht entstandenen globalen Rivalen Sowjetunion zu be-seitigen, zumal die UN kaum, wie ursprünglich geplant, indirekt als globaler Arm der US-Außenpolit ik funktionierte. Diese grundlegende Orientierung war somit keine Reaktion und kein defensiver Reflex, sondern zugleich Aus-druck genuin eigener offensiver Zielformulierung. Der Kalte Krieg, wie er sich in der Regierungsdirektive NSC-68 von 1950 niederschlug, welche eine Verdreifachung des US-Militärbudgets ankündigte, war - in den Worten des Autors der NSC-68 Paul Nitze - eben zugleich der Versuch der »creation of some form of world order compatible with our continued development as the kind of nation we are.«19

Diese dritte Konstellation war also anders. Die Situation der Konkurrenz großer kapitalistischer Mächte, die Einflusszonen gegeneinander aufstellten, war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorüber. Amerika dominierte und veränderte sich selbst dabei. Das neue Amerika bestand keineswegs mehr nur aus einem Kontinentalkapitalismus, sondern aus einem expansiven Gefüge ökonomischer, politischer und kultureller Bastionen in der Außen-

19 Paul Nitze: Coalition Policy and the Concept of World Order, in: Arnold Wolfers (Hrsg.): Alliance Policy in the Cold War, Baltimore 1959. Gowan erinnert an die Studie von Melvyn Leffler: A Preponderance of Power. National Security, the Truman Ad-ministration, and the Cold War, Standford 1992, wonach kein amerikanischer Führer daran glaubte, dass die UdSSR einen Angriff auf den Westen plante.

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weit auf das sich sukzessive die Reproduktionsstruktur des amerikanischen Kapitalismus verlagerte. Es gab, wie Charles Bright und Michael Meyer in ihrer Debatte der Frage »Where in the World is America?« vermerkten, daher nicht nur die USA als das territorial fixierte Amerika, sondern auch das Amerika des Americanism, in dessen Kern die »amerikanische Partei« (Arrighi) stand und steht: »The postwar American sovereign, built on ter-ritories of production, had created vectors along which elements of the U.S. State and American civil society could move off into the world and benefit from the permanent projections of American power overseas... The tools of control - military (the alliance systems and volence), economic (dollar aid and investments), political (the leverage and sanctions of a superpower), and ideological (the image of the United States as leader of the free world) - were tremendously powerful, and the ideological imaginery of the territo-ries of production, with its emphasis on material progress and democracy, proved extraordinarily attractive.«20 Amerikanismus löschte keineswegs die Spezifik der einzelnen Nationalstaaten aus, aber er drang in sie ein, transfor-mierte sie und setzte ihnen neue Grenzen, ohne dass er sie in bloß passive Agenten und Spiegelbilder seiner selbst verwandelte oder ihre relative Au-tonomie aufhob, die auf das eigenständige Wirken, Konfligieren und Aus-tarieren der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb dieser Staaten reflektierte. Damit hatte der Anreiz zum Replikat des Amerikanismus seine Quellen und aufwändigen Bedingungen - aber er war wirksam. Diese Struktur reflektiert die Schlüsselrolle, welche die USA nach 1945 einnahm: Erstmals konnte ein einzelner bürgerlicher Nationalstaat in großem Rahmen die alte zwischen-imperialistische Konkurrenz eindämmen und eine koordinierende Funktion übernehmen, was zugleich bedeutete, dass die politisch-institutionellen Au-ßenbeziehungen der kapitalistischen Kernstaaten, die sich bislang auf ihre Kolonien und von ihnen regional abhängige Staatenbünde richteten, nun auf die USA umorientiert wurden und die USA selbst dazu beitrugen, dass po-tenzielle oder sogar reale Weltmarktkonkurrenten wie Japan oder Deutsch-land gestärkt wurden - ein Vorgang, der jenseits des Horizonts der alten Imperialismustheorie war, die letztlich militärische Konflikte zwischen den konkurrierenden Kapitalismen als unvermeidlich ansah. Hier ging es auch

20 Charles Bright/Michael Meyer: Where in the World Is America? The History of the United States in the Global Age, in: Thomas Bender (Hrsg.): Rethinking Ameri-can History in a Global Age, Berkeley 2002, zit. nach Simon Bromley: Reflections on Empire, Imperialism and United States Hegemony, in: Historical Materialism, 11(3), Leiden 2003, S. 21.

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ökonomisch um die »Konstruktion« der kapitalistischen Akkumulation, ihres Raums und politischen Regimes und nicht um die »Extraktion« der kriegsgeschwächten Konkurrenten. Das alte Muster der harten interimperi-alistischen Rivalität brach zusammen. Kooperation zwischen den kapitalisti-schen Ländern des Nordens geschah vorweg durch Verhandlung und Koor-dination, nicht durch Zwang oder Gewalt; Koordination geschah durch den Anreiz zum Replikat des Amerikanismus, der die avancierteste und verallge-meinerungsfähigste Form der kapitalistischen Produktion, Kultur und Ide-ologie präsentierte und als globaler Pol der Attraktion wirkte und wirkt : ein »Empire by invitatio»«,21 dann ein »Empire of Production« oder ein »Empi-re of the consumption« (Maier), das als »Empire of the fun« (Reinhold Wagn-leitner) funktionierte. Ein Integrations- und Attraktionspol im Übrigen, der sich in der Amerikanisierung Amerikas ständig selbst umbaute.

Die USA waren also nach 1945 nicht nur einfach die größte Macht un-ter den großen Mächten: sie dominierten zumindest den Kern des kapitalis-tischen Weltsystems. Durch Verhandlung, Attraktion und Integration ent-stand eine internationale Ordnung, in deren Zentrum eine transatlantische All ianz zwischen den USA und Europa stand - und in der Amerika zu einer europäischen Macht wurde.22 Die Ordnung der internationalen Politik au-ßerhalb des sowjetischen Blocks wurde sternförmig neu konfiguriert. Ihr souveränes nationalstaatliches Zentrum waren nun die USA, die ein »in-formal American Empire« errichteten, das - abgesehen von den staatsso-zialistischen Ländern - faktisch globalen Charakter hatte und dessen poli-tisch-ökonomisches Zentrum das Kerngefüge entwickelter kapitalistischer Staaten war.23 Peter Bender beschreibt die Kontur dieser neuen Ordnung, wie sie sich dann sukzessive herausgebildet hatte: »Es umfasst Europa, so-weit die Nato jeweils reichte und reicht, dann die Türkei und Israel, ferner

21 Geir Lundestadt: The United States and Europe Since 1945. From »Empire by Invitation« to Transatlantic Drift, Oxford 2003.

22 S. John Peterson: America as a European power: the end of empire by Integrati-on?, in: International Affairs, 4 /2004, S. 613-629.

23 »Only the American state could arrogate to itself the right to intervene against the sovereignty of other states (which it repeatedly did around the world) and only the American State reserved for itself the >sovereign< right to reject international rules and norms when necessary. It is in this sense that only the American state was actively >imperialist<.« Leo Panitch/Sam Gindin: Global Capitalism and American Empire, in: Leo Panitch/Colin Leys (Hrsg.), The New Imperial Challenge, Socialist Register 2004, London 2003 (dt. Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium, Hamburg 2004). Gemeint ist hier offensichtlich imperial.

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Japan, Südkorea, Taiwan und die Philippinen, nicht zuletzt die Erbschaft des britischen Weltreiches, vor allem Kanada, Australien und Neuseeland. Das American Empire ist, was früher >der Western hieß... Während Rom nur sein Imperium beherrschte, reicht Amerikas Macht weit über sein Empire, den >Westen< hinaus. Sie erstreckt sich auf die Länder Lateinamerikas in sehr un-terschiedlichem Maß, die Skala reicht von halbkolonialer Herrschaft in der Karibik und Mittelamerika bis zu mehr oder minder dominantem Einfluss im Südteil des Kontinents. Feste Positionen haben die Vereinigten Staaten im Vorderen Orient, in Jordanien, Ägypten, den Golfstaaten und wohl immer noch in Saudi-Arabien, neuerdings Stellungen in Zentralasien und Besat-zungsaufgaben in Afghanistan und im Irak. Ihre Flotte ist Herr aller Welt-meere, die zu Highways wurden, über die amerikanische Streitkräfte auf alle Erdteile gelangen können. In 130 Ländern unterhalten die USA rund 750 militärische Niederlassungen.«24 Bender unterscheidet dabei zwischen einem American Empire im engeren und in einem weiteren Sinne: den Ländern des »Westens« (sinnvoll wäre es, von den Kernstaaten (core) der kapitalistischen Ordnung zu sprechen) »garantiert Amerika ihre Sicherheit und erhält dafür ihre feste Loyalität. Fast alle sind ihm als überzeugte, bewährte Demokratien verbunden und bilden, was man das American Empire nennen kann: eine von Washington geführte und dominierte Gemeinschaft, die von amerika-nischer Übermacht, von Sicherheitsinteressen und einem gleichen politisch-wirtschaftlichen >System< zusammengehalten wird. In einem weiteren Sinne umfasst American Empire viele Staaten auf fast allen Erdteilen...Dieser äußere Kreis wird nicht durch Überzeugungen, sondern durch Interessen zusammengehalten. Seine Mitglieder sind größtenteils wirtschaftlich und technisch mehr oder minder auf Amerika angewiesen; viele verkauften mili-tärische Stützpunkte, manche brauchen Rückhalt gegen ihre Nachbarn und Feinde. Während der innere Kreis des Empire von festen Bindungen lebt, sind diese Interessen meist flüchtig und können sich schnell ändern.«25 Zur letztgenannten Kategorie gehörten etwa die zentralasiatischen Länder, wo

24 Peter Bender: Vom Nutzen und Nachteil des Imperiums. Über römische und amerikanische Weltherrschaft, in: Merkur, 6/2004, S. 486, 487f. Fast gleichlautend in Peter Bender: Imperium als Mission. Rom und Amerika im Vergleich, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2005, S. 854f., wo er noch die südostasiatischen Länder Thailand, Malaysia und Singapur nennt. Odom und Dujarric haben 41 Länder gezählt, die zum American Empire gehörten, s. William E. Odom/Robert Dujarric: America" s Inadvertent Empire, New Haven 2004.

25 Peter Bender: Imperium als Mission..., a.a.O., S. 854f.

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die USA nach 1989/91 bzw. 9/11 gleichsam binnen weniger Monate »eine informelle Quasi-Hegemonie«26 errichteten. Handliche Anhaltspunkte für die geopolitische Figur eines American Empire geben schließlich die mili-tärischen Netzwerke: die USA besaßen 2003/04 formelle Militärabkommen mit fast 50 Staaten, darunter die meisten Staaten Lateinamerikas und Euro-pas, Kanada, Südkorea, Japan, Thailand, die Philippinen, Australien, Liberia und einige kleinere Staaten in der pazifischen Region; andere Länder, die mit einer »Sicherheitsgarantie« der USA rechnen könnten, sind u.a. Bahrain, Ägypten, Israel, Jordanien und Neuseeland, weiterhin Kuwait, Quatar oder Taiwan sowie Pakistan und Saudi-Arabien. Das Einflussfeld ist noch weiter gespannt - nach 9/11 sicherten 136 Staaten den USA militärische Unterstüt-zung zu, rund 90 waren in gemeinsame Aktivitäten im »Krieg gegen den Terror« engagiert, 27 waren am Krieg in Afghanistan beteiligt. Im Falle des Irak-Krieges gaben 16 militärische Hilfe.27

Dieser Politik und ihrem Handlungsraum waren aber auch veritable Grenzen gezogen: »The Truman administration could not prevent revolu-tion in China; John Foster Dulles could not wean the so-called Third World from neutralism; Kennedy could not overthrow the Cuban revolution; Lyn-don Johnson could not defeat the Viet Cong; Pax Americana had far-flung, but real, frontiers.«28 Doch sukzessiv und mit langem Atem dämmten die Vereinigten Staaten Rivalitäten ein und beseitigen sie schließlich: zunächst in der Dritten Welt, dann in Osteuropa, endlich im »Herzland des Feindes« selbst (Cox). Es ging darum, global die »preponderant power« (Paul Nitze) zu werden.29

Als das staatssozialistische Bündnis zusammenbrach, war dieses Ziel end-gültig erreicht und der lange Aufstieg der USA zur dominanten Macht des 20. Jahrhunderts war abgeschlossen, ohne dass ihre Macht desintegrierte oder imperial überdehnte. Zugleich endete die lange Ära der äußeren Ex-pansion des Kapitalismus, die mit der Welle der Kolonialisierungen Ende des vorletzten Jahrhunderts eingesetzt hatte. Der Kapitalismus wandelte sich in

26 Victor Mauer: Die geostrategischen Konsequenzen nach dem 11. September 2001, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3-4/2004.

27 Bruno Tertrais: The Changing Nature of Military Alliances, in: The Washington Quarterly, 2/2004, S. 135-150. Chalmers Johnson hat diesen Aspekt des militärischen Imperiums detailliert behandelt.

28 Maier, Among Empires..., a.a.O., S. 149. 29 Zitiert nach Melvyn P. Leffler: A Preponderance of Power: National Security, the

Truman Administration, and the Cold War, Stanford 1992, S. 19.

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Globalkapitalismus. Was jedoch nicht endete, war die US-amerikanische Politik der Expansion und die ihr zugrunde liegende globale Ambition der Ausweitung ihres »imperial Space« (Maier). Seit 1990 setzen die USA ihre Geopolitik der Expansion ihres »empire of civil society« (Rosenberg)30 kon-tinuierlich fort: Export rechtlicher Regularien bis hin zur kooperativen Im-plementierung einer neoliberalen Verfassungs- und Rechtskultur vor allem in den postsowjetischen Transformationsstaaten mit dem zentralen Ziel der dauerhaften Konstruktion privater Eigentumsverhältnisse; Ausfaltung ihres seit den 1970er Jahren entstehenden, informationstechnisch breit gestütz-ten Empire of Consumption (Maier); Befestigung und Ausbau der US-kont-rollierten finanzmarktkapitalistischen Institutionen; rapide Ausdehnung ihrer militärstrategischen Präsenz in Bereichen, in denen sie bislang noch nie Fuß fassen konnten - Balkan, Osteuropa, Zentralasien, Mittlerer Os-ten, wobei sie mehrere größere Kriege im Balkan und im Persischen Golf führten und in mehr militärische Konflikte verwickelt waren als in der Zeit des Kalten Krieges; sie versuchten, endgültig die strategische Kontrolle über den zentralen Rohstoff Erdöl zu erreichen, auf den potenzielle Hegemo-nialkonkurrenten zunehmend angewiesen sein werden; und sie praktizierten eine Politik der erzwingenden Diplomatie bzw. der ökonomischen Sank-tion und beanspruchen ein Recht auf präventive Intervention im globalen Maßstab.3' Internationale und multilaterale Institutionen, die sie geschaffen hatten, wurden nun mit einer Politik der Abwertung und Schwächung durch die USA konfrontiert. »America's twentieth Century«, resümiert der liberale Historiker Charles Maier, »brought a continuing process of acquisition«.32

Der Grundansatz der amerikanischen grand strategy änderte sich also nach 1989/90 nicht, weil er über die Zeit der Systemkonfrontation mit der UdSSR und ihren Bündnisstaaten hinausging. Am Ende des Jahrhunderts war das Ziel erreicht: die Etablierung der USA nicht nur als einzige große und alle Konkurrenten überragende Macht, sondern auch als einziger wirklich global handlungsfähiger Akteur. Die neue Globalität des Kapitalismus realisierte sich als hegemoniale Globalisierung mit US-amerikanischer Handschrift. Neil Smith sieht hier »the architecture of an extraordinary geo-economic

30 Justin Rosenberg: The Empire of Civil Society, London 1994. 31 In den 1990er Jahren bedrohten die USA 35 Länder mit ökonomischen Sankti-

onen oder setzten sie durch - diese Länder repräsentierten 40% der Weltbevölkerung. S. Charles Williams Maynes: Two Blasts Against Unilateralism, in: Glyn Prins (Hrsg.): Understanding Unilaterialism in American Foreign Relations, London 2000, S. 46.

32 Maier, Among Empires..., a.a.O., S. 157.

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world empire centered on the United States.«33 Das praktische Funktionieren eines solchen informellen globalen »American Empire« kann nur »durch« und vermittels real existierender nichtamerikanischer Nationalstaaten und Ökonomien realisiert werden, die zu »penetrated systems« (James N. Rose-nau) werden. Die auswärtigen Beziehungen der USA ähnelten den inneren Beziehungen eines Imperiums, was natürlich nicht bedeutet, dass die inter-mediären Akteure in diesem Feld der Macht so einfach überspielt werden konnten: verbündete, oftmals über Jahrzehnte hinweg aufgebaute Eliten oder Regierungen konnten nicht einfach entmachtet werden, wenn sie sich dieser oder jener Politik widersetzten. Nur in krassen Ausnahmefällen wer-den Territorien okkupiert oder Statthalterregime unmittelbar eingesetzt. Der Fall Irak steht dafür - und er steht in dieser Größenordnung zweifelsfrei für eine Ausnahmepraxis der amerikanischen Politik nach 1945. Auf jeden Fall waren die Vereinigten Staaten seit 1989/91 unbestritten und eindeutig die einzige Großmacht im internationalen System - ob sie allerdings aufgrund dieser unipolaren Position alle anderen Staaten oder auch nur Elemente dieses globalen Systems dominieren, hegemonial führen oder imperial be-herrschen, ist eine ganz andere Frage.

4. Optionen und Richtungen

Zweifellos bedeutete der Zusammenbruch des Staatssozialismus einen tief-greifenden Bruch. Und er setzte die Frage nach dem »Empire« wieder und neu auf die politische und wissenschaftliche Tagesordnung, denn parallel zur weltweiten ökonomischen Transformation der staatssozialistischen Wirt-schaft in eine kapitalistische Ökonomie (»Globalisierung«) rückte die Frage nach der Neugestaltung des internationalen Systems und damit der Politik in den Vordergrund. Es entstand eine Situation, die sich der Begriffswelt des Kalten Krieges (»Hegemonie«) nicht mehr fügte. Eine globalisierte ka-pitalistische Ordnung wirft, ob man will oder nicht, die Frage nach einem planetaren Arrangement der politischen Gestalt dieser Ordnung auf. Glo-balisierung meint ja nicht einfach bloß Austausch von Materialien, Waren oder Arbeit(skraft) oder Interaktion und Akteursvernetzung, sondern Glo-balisierung der Waren-, Geld- und Kapitalmärkte, des Kapitalverhältnisses (zwischen Eigentümern und Nicht-Eigentümern an Produktionsmitteln)

33 Smith, Endgame..., a.a.O., S. 147.

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und der Konkurrenz also, die diese Tauschprozesse und Interaktionen zu vermitteln vermag und hierzu eine global wirksame rechtliche und politische Form benötigt, in der sich zugleich staatliche und private Herrschaftsver-hältnisse und eine entsprechende Positionierung ihrer Repräsentanten im globalen Machtraum der Politik ausdrücken. Seit den frühen 1990er Jahren stand somit zur Frage, • ob sich in dieser geschichtlich neuartigen Situation des Globalkapitalis-

mus ein neues planetares politisches Subjekt (z.B. eine »transnationale Bourgeoisie«) und eine neuartige globale politische Ordnung (»Empire«) etablieren können,

• ob es zur Neubildung eines »anarchisch-konkurrenzförmigen«, wenn-gleich durchaus hierarchisch geordneten und mehr oder weniger koor-dinierten Systems kommen werde, in dem ein Akteur (etwa China) oder eine Allianz (der transatlantische oder gar planetare »Norden« oder eine neue »asiatische Allianz«) eine dominierende oder hegemoniale Rolle spielen würde -

• oder ob schließlich ein einzelner traditioneller Akteur aufgrund seiner he-gemonialen Position (»Hypermacht«) im historisch gewachsenen Macht-feld diese globale Rolle (»American Empire«) zu übernehmen vermag und die USA imstande wären, ihr imperiales Projekt neu - eben global - zu initiieren (»neuimperial«) und aufgrund der unipolaren Position, in die sie versetzt worden waren, durch eine primär unilaterale Politik ein Projekt der Ordnung der Welt nach eigenem Maß durchzusetzen.

Diese vierte Konstellation des Andauerns der Auseinandersetzung um diese Optionen prägt die gegenwärtige Weltordnung.34

Der Außenpolitik der USA liegt, wie gezeigt, nicht das Konzept der Ge-genhegemonie, sondern in erster Linie der Grundgedanke der informellen, dabei durchaus offensiven geoökonomischen wie geopolitischen Expansion und aktiven Machtsteigerung zugrunde. Dieser Grundgedanke war spätes-tens seit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg durch das doppelte politische Ziel charakterisiert,

34 S. dazu etwa Jan Nederveen Pieterse: Globalization or Empire? New York/Lon-don 2004; William I. Robinson: A Theory of Global Capitalism, Baltimore 2004; Mi-chael Cox: Still the American Empire, in: Political Studies Review, 1/2007, S. 1-10 oder Bernard Porter: Empire and Superempire, New Haven/London 2006.

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• »to make world safe for capitalism« - sodass die USA als »power of last resort for keeping the world, and particularly the world economy, from spinning out of control«35 fungieren konnten und

• »to ensure American primacy within world capitalism.«36

Nachdem mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus die erste Aufgabe auf absehbare Zeit hin gelöst und damit auch ihr Tauschwert im Machtpoker der Staaten rapide entwertet wurde (und es war die wichtigste Münze im Kal-ten Krieg und bei der Durchsetzung der zweiten Aufgabenstellung), rückte die zweite Zielsetzung in den Vordergrund. Im Kern müssen hierzu zwei Aufgaben gelöst werden: es geht um die besondere Dominanz in der jewei-ligen Konkurrenzbeziehung zwischen den zentralen kapitalistischen Staaten (dem »Kern«) ebenso wie um die allgemeine Dominanz der USA im interna-tionalen System. In der unipolar gewordenen Situation nach 1989 geht es für die USA nicht mehr nur um »Abschreckung« eines Konkurrenten, Gegners oder Feindes, sondern darum, durch Blockade, Inklusion oder präventive Intervention bereits im Ansatz die Entstehung einer Situation der Konkur-renz selbst zu verhindern. Dies ist die erste qualitativ neue Problemstellung, auf welche das seit den 1970er Jahren sich formierende neuimperiale Projekt des neoliberal empire zu reagieren versuchte und die mit einer Politik der Präemption beantwortet wurde. Wo es keine real existierenden konkurrie-rende Hegemonen mehr gibt, geht es darum, durch den Aufbau von inter-ventionsfähigen geopolitischen Konstellationen und militärischen Ressour-cen bereits eine mögliche Entstehung solcher mit den USA konkurrierenden Hegemonen zu verhindern. »Enter-tainment« nannte Peter Gowan diese Verbindung von Eindämmung und Eingriff. Weiter muss in Zonen, in de-nen der neue global werdende Kapitalismus noch »unsicher« und unstabil ist und die kapitalistische Ordnung wie die Hegemonie der USA zwar nicht ge-fährdet, aber doch gestört und irritiert werden können, Sicherheit exportiert werden. Und wo Terrorismus zu einem globalen Phänomen wird, das auf neue Weise unmittelbar die USA als kapitalistische Primärmacht bedroht, ist ein neuer wesentlicher Grund für eine globale Projektion militärischer Macht entstanden. Dies alles summiert sich zu dem, was Colin S. Gray eine »grand strategy of preventive action« 37 genannt hat.

35 Bruce Cumings: Is America an Imperial Power, in: Current History, Nov. 2003. 36 Perry Anderson: Force and Consent, in: New Left Review, 17, Sept/Oct 2002, S.

5ff. 37 Colin S. Gray: The Sheriff. America's Defense of the New World Order, Lexing-

ton 2004, S. 25.

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Sicherung des amerikanischen Primats bedeutet aber zum anderen noch weit darüber hinausgehend, das spezielle Tauschgut der USA im globalen Big Deal - die »Sicherung der Welt für den Kapitalismus« - so zu gestalten, dass sie zugleich dieses Primat befördert, indem sie das internationale po-litische und ökonomische System offenhält (open door, free trade, access) und Schließungen, Merkantil ismus oder Autarkiepolitiken verhindert. Es geht nun tatsächlich erstmals um die unmittelbare Produktion von Weltord-nung. Dies ist die zweite qualitativ neue Problemstellung, auf welche nun das neuimperiale Projekt in der Zeit des neoliberalen Kapitalismus zu rea-gieren versucht. Und dies allerdings ist zumindest in mittlerer Sicht das allei-nige amerikanische Projekt der Gegenwart. Dass die Welt interventionsoffen gehalten bzw. gemacht und damit durch eine unipolar positionierte und vor allem unilateral handlungsfähige und -bereite USA transformationsfähig ge-halten werden könne und müsse, ist nach 1989 der herrschende Konsens unter den US-Eliten gewesen. Sie sahen als das substantielle Signum der neuen postsowjetischen Gegenwart die qualitativ neue globale Disparität der Macht. Tony Judt beschrieb sie in der New York Review of Books als eine neue globale Ungleichheit: »Unsere Welt ist in vielfacher Weise geteilt: Zwischen arm und reich, Nord und Süd, westlich/nichtwestlich. Aber mehr und mehr ist die Spaltung, die zählt jene, welche Amerika von allem anderen trennt.«38 Es gibt aber nicht nur eine neue Qualität des Unterschieds zwi-schen den USA und dem »Rest der Welt« - dieser Unterschied könne und müsse auch auf Dauer gesetzt werden. Um die Position des Unterschieds und Abstandes zu allen anderen Mächten der Erde zu sichern, ist nach 1989 eine neue, große, global ansetzende Doktrin entwickelt, unter der zweiten Regierung Bush dann auch im innenpolitisch legitimierenden Windschatten des »Kampfes gegen den Terror« schrittweise und hörbar expliziert, legiti-miert und schließlich in der Form der Sicherheitsdirektive im Herbst 2002 offizialisiert worden. Der Gedanke ist, dass erstmals seit Entstehung der bür-gerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung das Ungleichgewicht der Mächte auf Dauer gestellt werden kann. Imaginiert wird ein Empire, das dauert. Die strategische Idee der 2002 publizierten Nationalen Sicherheitsdi-rektive (NSS) operierte dementsprechend im großen historischen Bezug: sie konstatiert den Ausgangspunkt einer neuartigen qualitativen Machtdifferenz zwischen den USA und dem Rest der Welt (»american empire«), formuliert

38 Tony Judt: Review Its Own Worst Enemy, in: The New York Review of Books v. 15.8.2002.

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ein außerordentliches Ziel, diese global auf Dauer zu stellen (»pax america-na«), und hebt auch mit neuem Gewicht die Methodik einer aktivistischen Politik hierzu hervor (»mil itary superiority beyond challenge«, »war against terror«, »prevention«, »global democratic revolution« [Bush]), die sie mit der neuen geopolitischen Großerzählung des Krieges gegen den Terrorismus legitimiert.

Imperialität ist, was die politischen Eliten und Strömungen der USA an-geht, eine unstrittige, richtungsübergreifende Zielsetzung. Der oft hervorge-hobene Dissens über die Kosten des Uni- oder Multilaterialismus zwischen den auf unilaterale oder multilaterale Handlungsstrategien orientierten Gruppen verdeckt, dass es hier zwar um grundsätzliche taktische wie stra-tegische Differenzen ging, alle Beteiligten aber die Selbstbeschreibung der USA als prägnant imperialer Macht teilten.39 Unipolarismus war ein weit-hin geteiltes ideologisch-politisches Credo des Weltverständnisses von Re-alisten, Demokraten, Republikanern und Neokonservativen gleichermaßen geworden.

Die neue Dynamik, Trägerschaft und Legitimation des Projekts und vor allem ihr interventionistischer Unilateralismus aber sind dem Domi-nanzwechsel im politischen Richtungsgefüge geschuldet, für den der Rea-ganismus der 1980er Jahre und dann vor allem der Bushismus des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts stehen. Historisch war das Projekt des infor-mellen American Empire das Projekt des hegemonialen Liberalimperialis-mus. Als »liberaler Hegemon« operierte das informelle Empire USA dabei durch ein Set multilateraler Institutionen, das insbesondere seine militärische Dominanz vermittelte, legitimierte und zugleich verhüllte und damit seinem Primat eine Legitimation verschaffte: auch hierin zeigte sich die indirekte und informelle Natur des American Empire.40 Erst mit der in den 1960er

39 Ein Beispiel ist der Aufruf des damaligen Direktors für politische Planung Co-lin Powell und späteren Präsidenten des Council on Foreign Relations Richard Haass an die Amerikaner im Jahr 2000, »ihre globale Rolle neu zu beschreiben als imperiale Macht und nicht mehr als traditionellen Nationalstaat.« Zit. nach Andrew J. Bacevi-ch: American Empire: The Realities and Consequences of U.S. Diplomacy, Cambridge 2002, S. 219. S. auch Karl K. Schonberg: Paradigm Regained. The New Consensus in US Foreign Policy, in: Security Dialogue, 4/2001.

40 John Gerald Ruggie: Multilateralism: The Anatomy of an Institution, in: ders. (Hrsg.), Multilateralism Matters: The Theory and Practice of an Institutional Form, New York 1993, S. 11, charakterisiert Multilaterialismus als »an institutional form that coordinates relations among three or more states on the basis of generalized principles of conduct.«

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Jahren entstehenden und in den 1980er Jahren dann regierenden Strömung einer neuen Rechten entstand zugleich erstmals eine mächtige rechtsimpe-riale Richtung, die gleichsam das Moment der starken Politik in der neuen Zeit des Neoliberalismus repräsentierte. Während auf der einen Seite die 1970er Jahre den Durchbruch des neoliberalen Marktfundamentalismus und seiner antipolitischen Apologie des radikal freien Marktes und der ökono-mischen Deregulierung, also der konsequenten Liberalisierung der Waren-, Finanz- und Kapitalmärkte brachte,41 bildete sich zugleich eine neue Linie der starken militaristischen Politik mit einer eigenen ideologischen Agenda, die gegen die politisch herrschende, hegemoniale Richtung des Liberalimpe-rialismus antrat, der mit Vietnam und Iran sein erstes Waterloo erlebt hatte. Für die Repräsentanten dieser Linie galt der Satz von Karl Polanyi: »Macht hatte Vorrang vor Profit. Wie sehr die beiden Bereiche einander durchdrin-gen mochten, letztlich war es der Krieg, der dem Geschäft das Gesetz auf-zwang.«42 Die Generation der Hohen Priester des marktradikalen Neoli-beralismus in WTO, IMF und Weltbank ist dieselbe Generation wie diese political warriors des Kriegskabinetts Bush. Die politische Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts könnte geschrieben werden als Geschichte des Aufstiegs der rechtsimperialen Richtung und ihres Kampfes gegen die libe-ralimperiale Richtung, wobei beide Richtungen zugleich immer mehr von der veränderten Grundkonstellation des sich neoliberal transformierenden Kapitalismus durchdrungen wurden. Dass sich diese Auseinandersetzung zugleich als wechselseitige Funktionalität, Nützlichkeit und Voraussetzung vollzog, ist evident.

Die heterogene Konfiguration der neuimperialen politischen Rechten in den USA um die Jahrhundertwende war eine auf den ersten Blick geradezu beispiellose politische Innovation, in der sich zusammenband, was bislang in gar keiner Weise zusammenzugehen schien. Die Bildung eines gemein-samen Machtkörpers aus neokonservativen Warriors und reaganistischen Militärs, nationalistischen und theokratischen, fundamentalistischen Chris-ten, marktradikalen Neoliberalen, der altrepublikanischen und oft säkularen

41 Es waren der Dixie Capitalism des Südens, das Wall Street-Dollar-Regime des Nordens, die staatsverwobene Militärökonomie und Kriegerkultur des Cold War und die Ideologen aus der Mont-Pelerin-Society oder der Chicago School und ihrer Vorläu-fer mit ihrer marktenthusiastischen Zielkultur, die den global werdenden Neoliberalis-mus der 1980er und 1990er als ein neues politisches Projekt konfigurierten.

42 Karl Polanyi: The Great Tranformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M 1978, S. 31.

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prolife und profamily ausgerichteten Mainstreamrechten und den militant antietatistischen »small-government«-Konservativen aus anti-tax-Kreuz-züglern, den Waffenenthusiasten um die National Rifle Association und Ei-gentumspropagandisten (die Front gegen das Staatseigentum etwa an Land machten oder wie das libertäre Constitution in Exile movement versuchten, durch eine Neuinterpretation der Verfassung den »sozialistischen« Wohl-fahrtsstaat abzuschaffen),43 endlich am Rande weithin einflusslos oszillie-rend die militant rassistische und nazistische Rechte vom Ku Klux Klan bis hin zu terroristischen Gruppen vom Zuschnitt des Oklahoma City Bom-bers Timothy McVeigh - diese lockere Verbindung von sieben Gruppen und Richtungen war also kein klassisches Bündnis zwischen konservativen Strömungen, sondern eine Kopplung von Richtungen ganz ungewöhnlicher Diversität. Die »republikanische Revolution« (1994) und der »Krieg gegen den Terror« (2002) banden sie ideologisch-kulturell und politisch zusam-men. Erst mit der Niederlage der Republikaner bei den Zwischenwahlen 2006 sind die Kraft und Dynamik der rechtsimperialen Richtung stark ge-schwächt worden und es bildet sich ein neues Bündnis an der Macht heraus, dessen Profil und innere Kräfteverteilung noch unklar ist, in dem aber die mittlerweile relativ heterogene, insgesamt aber stark nach rechts gewendete »realistische« liberalimperiale Richtung dominieren wird.44

5. W a s ist ein Empire?

Die Wandlung mancher kapitalistischer Gesellschaften in imperialistische Ordnungen hat immer wieder auch imperiale Projekte hervorgebracht. Doch ebenso wie es viele kapitalistische Staaten gab, die kaum imperialistisch genannt werden konnten oder solche Qualitäten nur schwach ausgebildet hatten, gilt dies für den Zusammenhang von »Imperialismus« und »Impe-rialität«. Und nicht nur dass imperiale Projekte und Ordnungen sehr diffe-

43 S. Jeffrey Rosen: The Unregulated Offensive, in: The New York Times v. 17.4.2005.

44 S. Rainer Rilling: Option für eine weniger scharfe Politik. Zu den US-Zwischen-wahlen 2006, in: Sozialismus, 12/2006, S. 49-54; Mike Davis: The Democrats After No-vember, in: New Left Review, 53 (2007), S. 5-31. Die Rechtswendung gilt nicht für ihr kulturelles Profil, weshalb sie für die stark politischen Milliardäre von Silicon Valley und Hollywood unvergleichlich attraktiver sind. Diese Fraktion ist aber global weiter aufsteigend, s. Forbes v. 26.3.2007 »The World's Richest People«.

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renziert sind und ihren Charakter im Verlauf der Geschichte oft variierten. Es ist auch durchaus fraglich, sie einfach als Reflex der »Erfindung« und des »Aufstiegs« veränderter kapitalistischer Betriebs- und Regulationsweisen zu sehen und Imperialität daher nur dort zu vermuten, wo solche entstehen. Der Fordismus etwa brachte keine eigene Form der Imperialität hervor, sondern fand die liberalimperialistische wie die rechtsimperiale (dann faschistische) Richtungsoption gleichsam als passende historische Bewegungsform vor. Imperiale Projekte reflektieren nicht in erster Linie alternative varieties of capitalism, sondern grundlegende, untereinander konkurrierende politische Richtungen, die sich in Optionen für unterschiedliche Entwicklungspfade kristallisieren. Zur anhaltenden neoliberalen Transformation des fordisti-schen Kapitalismus gehören daher unterschiedliche imperiale Projekte, die sich nun seit Jahrzehnten in der Auseinandersetzung zwischen liberal- und rechtsimperialen Richtungen verdichten, wobei die Auseinandersetzung sich auf jenes Land fokussiert, das als Einziges gegenwärtig ein »realistisches« imperiales Projekt verfolgt. Zu den notwendigen Merkmalen eines solchen Projekts gehören die folgenden Aspekte:

• Imperien müssen eine territoriale Basis haben, die sich (im Unterschied etwa zu den einstigen Handelsimperien Holland oder Spanien) durch Größe auszeichnet. Für »kleine« politische Subjekte ist kein ausreichender Zugriff auf Ressourcen gegeben;

• Die Bewegung des Raumes, nicht nur als Ausprägung einer Zentrum-Pe-ripherie-Beziehung, sondern als Expansion ist ein substantielles Merkmal von Imperialität. Expansivität im einfachen Sinne von Ausweitung und zugleich Vertiefung gehört zum Wesen des imperialen Projekts. Sie ist die Wurzel ihrer Prekarität und Spannung. Schrumpfende Imperien verlieren recht rasch und auf jeden Fall ihren Namen.

• Es hängt vor allem vom Charakter der Arena ab, ob ein Spieler imperialen Zuschnitt bekommt: Imperien haben hiernach im Unterschied zu ande-ren Akteuren immer einen Bezug zu »Welt«. Es geht um Weltordnung: »Empires are in the business of producing world order."45 »Welt« selbst nun ist natürlich ein historisches Konstrukt und fällt erst seit dem letzten Jahrhundert mit der Realdimension des »Planeten« zusammen. Zur Be-stimmung des Imperialen gehört also nicht nur eine economics of scale der Ressourcenmobilisierung, sondern auch die Absicht und die wirkliche Fähigkeit zur Welt-Ordnung, also ein Transformationsanspruch, der auf

45 Charles Maier: An American Empire?, in: Harvard-Magazine, 2/2002.

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eine neue Geographie des Globalen zielt. Daher also die besondere Ge-genwartsqualität des American Empire: »this is the first truly world-wide empire.«46 Da Imperien seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch eine globale Reichweite (»reach«) und daher durch die Fähigkeit zur globalen Projektion von Macht ausgezeichnet sind, wird »grenzen-lose« (Hannah Arendt) Expansion von Macht und Eigentum, also Geo-politik das zwingende Thema aller imperialen Projekte. Imperien besitzen die Fähigkeit zur »Verdichtung« und Zonierung des Raums vom Zentrum aus und zur Reproduktion der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Aktivitäten im Raum; das Problem des »Overstretch« - der »Überdeh-nung der Macht« ist daher ein genuin imperiales Problem und die Fä-higkeit und Ambition, Weltordnung zu bilden, die Potenz, welche Im-perien von anderen Ordnungen unterscheidet. Gegenwärtig aber sind es die USA allein, die in diesem Sinne ein imperiales, also auf Weltordnung zielendes Projekt verfolgen.

• Imperien kombinieren die Einheit des Imperialen mit innerer Vielfalt (als Opposition der Vielfalt der Peripherie (Kolonien, Protektorate, koloniale Mandate, Departments, föderale Gemeinwesen usw.) gegenüber der Ho-mogenität des oftmals bürokratischen Zentrums oder als inneres Bezie-hungsgefüge eines multiethnischen oder multinationalen Staatsvolks).47

Die Zentren oder der Kern der Imperien sind also äußerst komplexe und extensiv gebaute Regierungs- und Machteinrichtungen; ihre Fähigkeit, eben auch krass heterogene Elemente zu integrieren, zeichnen sie aus. Sie können Diversity Management. Dabei verläuft die imperiale Struktur nicht zwischen Staaten, sondern zwischen den Zentralakteuren imperialer Macht, intermediären Akteuren und ihren Gefolgschaften. Solche inter-mediären Akteure sind dabei kaum noch als Kompradoren, externalisierte Teile einer imperialen Bürokratie oder inthronisierte Machthaber zu den-

46 Pierre Hassner: The United States: the empire of force or the force of empire? Chaillot Papers, Nr. 54, Paris September 2002.

47 Vgl. etwa die Bestimmungen des Empire durch Jack Donnelly: Sovereign Ine-qualities and Hierarchiy in Anarchy: American Power and International Society, in: European Journal of International Relations, 2/2006: »...an extensive polity incorpo-rating diverse, previously independent Units, ruled by a dominant central polity«; von Dominic Lieven: »rule without consent over many, culturally alien peoples is part of empire's definition« (Dominic Lieven: Empire's Place in International Relations, Kon-ferenzpapier Genf 2003, S. 2) oder von John Agnew: Hegemony: The New Shape of Global Power, Philadelphia 2005, S. 21, der schreibt: »It is he unification of multiple peoples under a single ruler that is the main distinguishing feature of empires.«

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ken - solchen Figuren fehlt vertrauenschaffende Autonomie. Gefragt sind vielmehr Broker und Mediatoren, welche die Klingen imperialer Macht verborgen halten.

• Der analytische Ausgangspunkt einer verallgemeinernden Sicht auf das Problem des Imperiums ist eine doppelte Unterscheidung zwischen »Zentrum« und »Peripherie«, »Kern« und »Rand«, »Mitte« und »Ex-treme«, »Metropole« und »Land« - aber auch zwischen »Empire« und »Nicht-Empire«, zwischen »Innen« und »Außen« u.ä. Gedacht wird ein Imperium zunächst als etwas, das sich durch eine spezifische Struktur-eigenschaft auszeichnet; es geht um die Struktur einer Ordnung und sie wird verstanden als Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie, also als eine Beziehung zwischen ungleichen Positionen, Ressourcen, Möglich-keiten etc. Imperien zeichnen sich daher gegenüber ihrer »inneren« wie ihrer »äußeren« Peripherie (Umwelt) durch starke Vorteile an Verfügung über Ressourcen (Kapital/Reichtum, Recht, Kultur, Gewalt) und daraus kommender Fähigkeit zur Aneignung (Einfluss) aus, der ihre Souveräni-tät sowie lokale Wirksamkeit begründet und ein Verlassen des imperialen Raums (exit) verhindert. Ungleichheit durch Aneignung ist das zentra-le Merkmal dieser Beziehung (z.B. durch Zonierung, Segregation, At-traktion, Grenzmanagement etc.). Mit den Mitteln außerökonomischen Zwangs (z.B. Krieg) erstellen und sichern Imperien die Bedingungen und den Prozess der Aneignung (im Kern: den asymmetrischen Prozess der Kapitalakkumulation - aktuell mit dem Gewicht auf Akkumulat ion durch Enteignung) und finanzieren sich übrigens auch darüber (»Tri-but«), Zu dieser Frage nach der Qualität der Beziehung gehört auch eine Aussage darüber, auf welche Felder, Gebiete oder Bereiche der Politik sie sich erstreckt. Damit zusammen hängt die Frage, welche Eindringtiefe imperiale Politik hat (Intrusion), ein Problem, das im letzten Jahrhun-dert mit dem Konzept des Totalitären verbunden wurde. Oft findet sich die Unterscheidung zwischen imperial (Intervention in eine andere poli-tische Einheit ohne sie tatsächlich strategisch oder operativ zu regieren), hegemonial (Setzen der Regeln) und kolonial (wirkliches Regieren der inneren Angelegenheiten eines untergeordneten politischen Gemeinwe-sens).48 Die heutige imperiale Peripherie allerdings unterscheidet sich von jener des klassischen Imperialismus: Imperiale Formationen produzieren,

48 S. Frederick Cooper: Modernizing Colonialism and the Limits of Empire, in: Items & Issues, 4/2005, S. 2.

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arrangieren und managen im Raum disparate Zonen abgestufter Souve-ränität und unbestimmter Rechte der Menschen, die sich fluid verdich-ten, wieder auflösen und neu bilden und deren elastisches Wirkungsfeld keineswegs in staatliche Grenzziehungen eingespannt ist. Ihre Plastizität wird gesichert durch die kontinuierliche Praxis der Ausnahme. Bei dieser dunklen Seite des amerikanischen Exzeptionalismus geht es nicht nur um den rhetorischen und diskursiven Apparat der Imperialität - es geht um die aktive Produktion wirklicher Ausnahmen und Ausschlüsse.49

• Das schließt nicht jene Situationen direkter imperialer Unterwerfung durch die USA aus, wie sie im Irak, Afghanistan, Bosnien, Kosovo und in einigen anderen Ländern praktiziert werden und die scharfe Ausnah-meseite eines neuimperialen Projekts präsentieren, die zeigt, was möglich ist: Herrschaft durch direkte, nachhaltige, grausame Gewalt, die kontroll-bildend ist und deshalb eine attraktive politische Option darstellt. For-mell aber macht sie vor jener annektierenden, kolonialistischen Praxis halt, welche die Bürger zu eigenen Untertanen macht und das Land auch formell annektiert, und ihre militärischen Basen und politischen Institu-tionen der Macht sind auf keiner eigenen, exklusiven Territorialsouverä-nität begründet. Dies ist eine gewichtige Differenz, denn sie zeigt, dass es nicht um die Aneignung eines Territoriums, sondern um die autoritative politische Ordnung des Raumes geht - also um eine politische Praxis, die auf das zielt, was einst Carl Schmitt die »Großraumordnung« genannt hatte und in deren Mittelpunkt für ihn die »Raumhoheit« steht, welche die einst völkerrechtlich unstrittig fixierte »Gebietshoheit« abgelöst hat.

• Ein Empire ist imstande, nicht nur die Außenpolitik, sondern auch Be-reiche der inneren Beziehungen anderer Staaten oder politischer Sub-jekte zu kontrollieren, eine hierarchisierte zwischenstaatliche Ordnung zu schaffen bzw. zu kontrollieren und auch nichtstaatliche Grenzen zu konstruieren und zu managen. Es kann dazu im politischen Raum sehr unterschiedliche Machtressourcen mobilisieren und direkte/formelle als auch indirekte/informelle (»Penetration«) Mittel in der Regel »cäsaris-tisch« (undemokratisch) und mit einem signifikanten Einsatz von Zwang einsetzen. Im Übrigen setzen Imperien immer deutliche moralpolitische (und dabei oft auch angesichts ihrer Selbstverortung in der Zeit als lang-

49 Vgl. Ann Laura Stoler/David Bond: Refractions Off Empire: Untimely Compari-sons in Harsh Times, in: Radical History Review, 95 (2005), S. 93-107 sowie dies., On Degrees of Imperial Sovereignty, in: Public Culture, 1/2006, S. 117-139.

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fristige Projekte manichäistische) Unterscheidungen: sie sind »gute« (»be-nign«) Unternehmungen und legen deshalb deutlich fest, wo Grenzen zu ziehen sind: gegenüber dem »Außen« oder dem »Bösen«, dessen Ent-stehung oder Entwicklung (z.B. zum Hegemonialkonkurrenten) es ggf. auch durch massive Intervention zu verhindern gelte. Dabei machen sie auf der Basis ökonomischer Asymmetrie und politisch-sozialer Ungleich-heit eine Kultur der eigenen Superiorität, der Aberkennungspolitiken und der Respektversagung stark, bieten aber zugleich als eigene Leistung das Management der globalen Akkumulation, Zugang zu ihr und deren po-litisch-militärische Sicherung, zu stabilen Zukunftsperspektiven, endlich auch zu einer bestimmten zivilisatorischen Moral und einer zumeist dif-ferenzierten Kultur.

Imperiale und imperialistische Ordnungen dauerten einst Jahrhunderte. Sie sind eine grundlegende Institution der politischen Moderne wie des postmo-dernen Kapitalismus. Zwar scheinen die USA gegenwärtig zu schwach, um eine Ordnung stabil zu institutionalisieren, die ihr ein dauerhaftes Primat sichert, das nicht herausgefordert werden kann. Doch andererseits sind sie zu stark, um konzedieren zu müssen, dass andere große Staaten und kapi-talistische Zentren gemeinsam mit ihnen nach den Maßstäben eines kollegi-alen Managements des Globalkapitalismus kooperieren. Aber die USA sind nicht nur das, was man auf der Karte sieht, ein Land mit physikalisch iden-tifizierbaren Grenzen, sondern sie sind ein Land, das in der Welt arrangiert wird,50 ein Amerika des Americanism und seiner Vektoren global projizierter Macht, in der Zugehörigkeiten und Ausschlüsse und Ausnahmen, Teilsouve-ränitäten und Territorialansprüche, Präsenz und Verschwinden, Rechte und Ansprüche, Ausbeutung und Reichtum, Aneignung und Ungleichheit im Raum und in der Zeit platziert werden. Wie lange diese labile Situation an-dauert, zu der ein ständiges Schwanken in die eine oder andere Herrschafts-struktur gehört, ist sicher offen, doch eine rasche Eindeutigkeit wäre eine Überraschung. Der Begriff des Empire ist daher keineswegs überholt - doch wer nach dem letzten »amerikanischen Jahrhundert« nunmehr sein Subjekt und Formgeber sein wird, ist nicht entschieden. Der imperiale Jahrhundert-weg der Vereinigten Staaten von Amerika ist noch nicht zu Ende. Imperien freilich, gleich welchen Zuschnitts - sie nützen nie den Eingeborenen.

50 So im März 2004 Donald Rumsfeld in CNN: »how our country is arranged around the world«, zit. nach Aruif Dirlik: American Studies in the time of Empire, in: Comparative American Studies, 3/2004, S. 288.

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Andreas Boes/Tobias Kämpf Lohnarbeit reloaded Arbei t und Informatis ierung im modernen Kapital ismus

I .Einlei tung

Nach dem »kurzen zwanzigsten Jahrhundert« (Hobsbawm) erleben wir derzeit neuerlich eine Phase zugespitzter gesellschaftlicher Veränderung. Insbesondere vor dem Hintergrund der Krise des Fordismus und der da-mit verbundenen Erosion von (scheinbarer) Stabilität werden die Umbrüche im Kapitalismus manifest. Nachdem sich weder die Verheißungen der New Economy noch die düsteren Untergangsszenarien mancher Linker (exempla-risch Kurz 2001) bewahrheitet haben, bleiben aktuelle Zeitdiagnosen jedoch häufig eigentümlich unbestimmt. Neben einem flexiblen »as well as« (Polt) bestimmen »Ambivalenz«, »Heterogenität« und »Unübersichtlichkeit« die Diskurse - um nur drei Varianten aktueller »Sprachlosigkeit« aufzuführen. Auch innerhalb vieler sozialer und politischer Bewegungen besteht oftmals Unklarheit darüber, wohin sich der zeitgenössische Kapitalismus bewegt und wie sich dabei die zentralen Konfliktlinien sozialer Auseinanderset-zungen verschieben.

Während traditionelle Linke oftmals die Reichweite und das Ausmaß der Veränderung unterschätzen, schießen andere wiederum »über das Ziel hinaus«. Man überschätzt Veränderungspotenziale und übersieht die Konti-nuität der widersprüchlichen Prinzipien des Kapitalismus, welche die gesell-schaftliche Dynamik nach wie vor strukturieren (exemplarisch Hardt/Negri 2002).

Nur mit Blick auf die Entwicklungen im Feld der Arbeit lässt sich der gegenwärtige Umbruch präzise fassen und verstehen. Arbeit bildet immer noch ein zentrales Gravitationszentrum gesellschaftlichen Wandels (Boes/ Hackett 2006). Gerade hier werden gegenwärtig Momente einer neuen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung greifbar. Zentrale Merkmale sind hierbei neue Möglichkeiten der Steuerung international verteilter Produktionspro-zesse, neue Kontrollstrategien im Arbeitsprozess und die Ausweitung der Bereiche reell subsumierter Lohnarbeit.

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2. Eine neue Quali tät der Informatisierung

Die Grundlage für die gegenwärtigen Veränderungen innerhalb des Kapi-talismus bildet eine neue Stufe der Produktivkraftentwicklung. Eine neue Qualität der Informatisierung im Allgemeinen und der Informatisierung von Arbeit im Besonderen bildet die Basis für neue Formen der Organisation von Produktionsprozessen, welche ihrerseits die »Betriebsweise« (Marx) des modernen Kapitalismus nachhaltig beeinflussen und zu veränderten Formen der Vergesellschaftung führen.

Informatisierung Eine Analyse der Informatisierung, verstanden als wesentliches Moment der Produktivkraftentwicklung, wurde in der kritischen Sozialwissenschaft lange vernachlässigt (Ausnahme z.B. Braverman 1977; aktuell Haug 2003; Candeias 2004a). Hintergrund hierfür ist nicht nur ein einseitiger Blickwin-kel, der lediglich die maschinell-mechanische Seite des Produktionsprozesses in den Blick nimmt, sondern auch eine vereinfachende Gleichsetzung von Informatisierung mit Computer & Co. Um den Stellenwert und die genaue Bedeutung von Informatisierung in der Entwicklung von Lohnarbeit zu ver-stehen, greift es u.E. jedoch zu kurz, Informatisierung lediglich als den Auf-stieg der vielzitierten I&K-Technologien zu begreifen. Damit wird man dem Stellenwert der Entwicklung kaum gerecht. Gleichzeitig zeigen die Diskurse zum Thema »Wissensgesellschaft« und »Informationsgesellschaft« (vgl. z. B. Stehr 1994; kritisch Egloff 1996), dass solche Ansätze oftmals zu mecha-nistisch-deterministischen Verengungen neigen. Gesellschaftliche Verände-rungen werden dann schnell zu einem bloßen »Anhängsel« technologischer Innovation. Auch die unkritische und wenig reflektierte Diskussion um das Internet während des New-Economy-Hypes zeigt die Naivität dieses Vor-gehens (z.B. Deckstein/Felixberger 2000; Rifkin 2000; Hardt/Negri 2002). Ubersehen wird, dass die Durchsetzung neuer Technologien als sozialer Prozess eingebettet ist in gesellschaftliche Verhältnisse, Strukturen und Handlungsmuster. Die damit verbundene widersprüchliche gesellschaftliche Überformung der Nutzung von Technik gerät so aus dem analytischen Fo-kus (Boes/Kämpf 2006).

Informatisierung sollte u.E. deshalb vielmehr aus einer grundlegenderen, gesellschafts-theoretischen Perspektive verstanden werden. Sie ist dann zu begreifen als ein historisch-gesellschaftlicher Prozess des bewussten, syste-matischen Umgangs mit Informationen, der insbesondere die Erzeugung und

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Nutzung von Informationen und Informationssystemen beinhaltet (Baukro-witz u.a. 2001). Ziel ist dabei immer Wissen, das an konkrete Menschen und deren Praxis gebunden ist, unabhängig vom jeweiligen Subjekt verwendbar zu machen. Dazu müssen Informationen aus ihrer geistigen, ideellen Form in eine materielle Form überführt werden. Kurzum: Informatisierung ist zu verstehen als die Materialisierung des Informationsgebrauchs (Boes 2005a).

Informatisierung und Kapitalismus Informatisierung wird hier als ein Prozess verstanden, der lange vor dem Aufstieg von I&K-Technologien wie etwa PC und Internet begonnen hat. Vielmehr ist er ein allgemeines Moment geschichtlichen Fortschritts. Besonders eng verbunden ist die Informatisierung mit der Entwicklung menschlicher Arbeit. Wesentlicher bzw. charakteristischer Bestandteil des menschlichen Arbeitsprozesses ist immer der Umgang mit Information und Wissen. Die Organisation und Steuerung von menschlicher Kooperation im »Stoffwechsel mit der Natur« (Marx), die Reproduktion arbeitsteiliger Gesellschaften und die Weiterentwicklung von Produktivkräften sind ohne eine systematische Erzeugung, Nutzung und Weitergabe von Informationen nicht denkbar. Insbesondere die historische Durchsetzung des Kapitalismus geht einher mit einer beschleunigten Informatisierung. Gerade in der waren-produzierenden Gesellschaft, in der Arbeit zur Lohnarbeit und Tausch zur dominierenden Interaktionsform wird, muss der systematischen Umgang mit Information zu einer zentralen Grundlage der Vergesellschaftung wer-den. Kritische Gesellschaftstheorie muss deshalb immer die Entwicklung der Informatisierung und ihre Rolle für die Entwicklung des Kapitalismus in den Blick nehmen.

Eine besondere Dynamik im Prozess der Informatisierung entfaltet sich insbesondere im Zuge der Herausbildung des »organisierten Kapitalismus« am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Rationalisierung des Informationsge-brauchs in den Großunternehmen wird nun zum wichtigen Moment, um di-ese »rationell« zu »steuern«. Der Umgang mit Informationen wird vor allem in zweierlei Hinsicht effektiviert. Einerseits wird mittels bürokratischer Me-thoden auf die »Verschriftlichung« der Kommunikation gedrungen, was das verstärkte Entstehen eigenständiger Schreibarbeit mit entsprechenden Ab-teilungen und die »Bürokratisierung« der betrieblichen Kommunikations-prozesse beinhaltet (vgl. Kocka 1969; Weber 1964/1920). Andererseits führt der organisierte Umgang mit Informationen in den Unternehmen zu zuneh-mend komplexeren Informationssystemen (vgl. Braverman 1977; Beninger

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1986). Diese basieren auf hoch formalisierten Informationen, die in Formu-laren erfasst und über diese weiterverarbeitet werden. So entsteht aufbauend auf dem basalen Informationssystem des kapitalistischen Unternehmens, der Buchhaltung, ein »papierner Apparat« (Jeidels 1907), über den zunehmend komplexere Informationen zur Steuerung und Kontrolle der Unternehmen gesammelt werden können (Boes 2006). Besonders mit Blick auf die Ratio-nalisierung der Produktion erlaubt erst die doppelte Buchführung dem Ein-zelkapital sich strategisch als »verwertender Wert« zu verhalten, da nun erst eine informatorische Grundlage geschaffen wird, in welchen Bereichen wie viel und vor allem mit welcher Rendite Wert geschaffen wird.

Information wird so zum zentralen Bezugssystem der Steuerung und Kon-trolle von immer komplexeren Produktionsprozessen. Deutlich zeigt sich hier die Verschränkung von Kapitalismus, Industrialisierung und Informatisie-rung: Die entstehenden Informationssysteme werden nämlich insbesondere zu einem Medium der Steuerung von Arbeit - die das »Kapital-Verhältnis« bestimmende Kontrolle über Produktionsmittel wird zunehmend auf Basis von Information ausgeübt. In diesem Sinne ermöglicht die Informatisierung im 20. Jahrhundert schließlich eine »strukturelle Dopplung« (Schmiede 1992) von stofflichen Arbeitsprozessen. Damit entsteht eine neue informatorische Ebene, die vermittelt als »Realabstraktion« den konkret-stofflichen Arbeits-prozess zunächst abbildet, ihn der Kontrolle und Steuerung zugänglich macht, um so wieder auf die stoffliche Ebene zurückzuwirken. Die Nutzung von In-formationen ersetzt dabei nicht den »Stoffwechsel mit der Natur« - vielmehr findet dieser nun zunehmend vermittelt durch Informationssysteme statt.

Der »papierene Apparat« wird schließlich abgelöst durch die zunehmende »Computerisierung«. Nachdem sich Ende der 1970er Jahre der PC allmäh-lich gegenüber dem Paradigma der Großrechnertechnologie durchsetzt, kommt es im Anschluss zu einer Einbindung des PCs in neuartige Netzkon-zepte. Die nun entstehenden komplex-vernetzten computer-gestützten In-formationssysteme bilden nun den Ausgangspunkt für die Etablierung eines neuen Rationalisierungstypus: Im Sinne »systemischer Rationalisierung« (Altmann u.a. 1986; Baethge/Oberbeck 1986) sind nun nicht mehr einzel-ne Segmente des Produktionsprozesses Gegenstand von Rationalisierung, sondern der Prozess als solcher wird Gegenstand von permanenter Verände-rung, Restrukturierung und der Neuzusammensetzung von Teilprozessen. Grundlage hierfür bildet die Anschlussfähigkeit von Informationen in nun immer öfter durchgängigen Informationssystemen (vgl. Boes 2005a). Die Flexibilität solcher systemischer Produktionsstrukturen wird gewährleistet

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durch die Veränderbarkeit und zunehmende wechselseitige Kommensurabi-lität von Informationssystemen (Baukrowitz 1996).

Das Internet als »weltweiter Informationsraum« - eine neue Qualität der Informatisierung Mit Blick auf die heutige Verbreitung globaler Informationsnetze bildet die »Computerisierung« jedoch nur die Ouvertüre eines tiefgreifenden Wan-dels des Informatisierungsprozesses. Vor allem der Aufstieg des Internets von einem militärisch genutzten, eng begrenzten Informationssystem hin zu einem auf nicht-proprietären Standards basierenden, weltweit zugänglichen offenen Netzwerk markiert hier eine neue Qualität (vgl. hierzu auch Rilling 2001). Analytisch betrachtet resultiert diese zunächst daraus, dass mit dem Internet ein weltumspannendes Medium etabliert wird, das die Kommunika-tionsmöglichkeiten und den Austausch von Informationen grundlegend ver-ändert. Bis dahin bestanden Informationssysteme aus unzähligen kleinen »In-seln«, welche unter dem Zugriff von Unternehmen oder Behörden entstanden waren. Diese waren jedoch bislang nur unzureichend miteinander verknüpft bzw. voneinander abgeschottet. Diese organisationsspezifischen Informations-systeme erhalten nun mit dem Internet eine gemeinsame Bezugsebene mit in-ternationalen Dimensionen, über die sie wechselseitig anschlussfähig werden. Es entsteht ein »weltweiter Informationsraum«, in dem die unterschiedlichs-ten Formen des Informationsgebrauchs (z.B. Wirtschaft und Lebenswelt) in einem aufeinander bezogen werden können (Boes 2005a/b).

Was sich auf den ersten Blick zunächst wenig spektakulär anhört, ist in der Folge mit tiefgreifenden Konsequenzen verbunden. Die rasant steigende Bedeutung des Internets führt seit Mitte der 1990er Jahre zu einer enormen Beschleunigung und Vertiefung der Informatisierung in der Gesellschaft. Nicht nur der Bereich der Wirtschaft, sondern auch lebensweltliche Bereiche werden nun in zunehmendem Maße informatorisch durchdrungen. Die In-formatisierung wird in der Folge zu einem zentralen »Transmissionsriemen« der Ökonomisierung der Gesellschaft (Boes 2005a; Boes 2006). Alles, was informatorisch erfasst wird, kann »rechenbar« gemacht und in ein warenför-miges Verhältnis gebracht werden. Sphären der Gesellschaft und der Natur, welche bisher nicht kommodifizierbar waren, werden nun in neuer Qualität warenförmig erschlossen. Die Kommodifizierung der Lebenswelt findet so in einer beschleunigten Informatisierung ihre materielle Basis. Die neue Stu-fe der Informatisierung führt gleichzeitig jedoch vor allem zu einer enormen Veränderungdynamik innerhalb der Arbeitswelt. Auf der einen Seite kann

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insbesondere im Bereich der »Kopfarbeit« von einer neuen Qualität der in-formatorischen Durchdringung von Arbeitsprozessen ausgegangen werden. Auf der anderen Seite führen neue unternehmensübergreifende, standardi-sierte Informationssysteme zu einer Flexibilisierung und permanenten Re-strukturierung von Wertschöpfungsketten. So entstehen umfassende neue Möglichkeiten der Organisation, Steuerung und Kontrolle von Produkti-onsprozessen. Bei ihrer Analyse gilt es, die Perspektive der Informatisierung stärker als bisher zu berücksichtigen. Insbesondere für eine Abschätzung der Folgen für Lohnarbeit ist dieser Blickwinkel wertvoll - erst durch die Berücksichtigung der Informatisierung als Teil der Produktivkraftentwick-lung und als materielle Basis einer »Arbeitswelt im Umbruch«, wird die Tragweite dieser Entwicklung sichtbar.

3. Globalisierung und Standortkonkurrenz: Internationale Produktions-strukturen und die neue Flexibilität von Wertschöpfungsketten

Als zentrales Moment einer veränderten Arbeitswelt wird gemeinhin die Glo-balisierung verstanden (einen Überblick über die Diskussion geben Trinczek 1999; Teusch 2004). Weniger die Ausweitung des Welthandels ist dabei be-merkenswert, sondern neben der Internationalisierung der Finanzmärkte (vgl. Huffschmid 2002) vor allem die internationale Restrukturierung von Produkti-onsprozessen und die globale Fragmentierung von Wertschöpfungsprozessen.

Internationalisierung und Offshoring -Reorganisation von Produktionsprozessen und Unternehmensstrukturen Die Globalisierung geht auf der Ebene des Betriebs zunächst mit einer sich seit Mitte der 1970er Jahre abzeichnenden umfassenden Reorganisation von Unternehmensstrukturen einher. Zum einen verliert das Leitbild des vertikal integrierten Unternehmens (Chandler 1977) an Prägekraft. Im Rahmen von vertikalen Desintegrations-Prozessen (vgl. Sablowski 2003; Jürgens u.a. 2003) kommt es zu einer Relativierung vormals starrer Unternehmensgrenzen und zur Etablierung netzwerk-artiger Unternehmenskonzepte (vgl. hierzu u.a. Döhl u.a. 2001; Sydow 1992; Schmierl/Pfeiffer 2005).1 Zum anderen setzen

Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass diese Entwicklung keinen Zerfall von Großunternehmen bedeutet. Vielmehr muss von einem »Nebeneinander von Zentrali-sierung und Dezentralisierung« (Baukrowitz u.a. 2001) ausgegangen werden.

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sich zunehmend am Kapitalmarkt orientierte Unternehmenskonzepte durch (vgl. Sablowski 2003). Im »neuen Marktregime« (vgl. dazu Dörre/Röttger 2003) werden die Kurse der internationalen Börsen zur zentralen »Meßlatte« für Unternehmen, die vor allem dem Ziel einer Erhöhung des »shareholder value« verpflichtet sind. Das Bezugssystem der entstehenden multinatio-nalen Konzerne ist nun jedoch nicht mehr ein einzelner Nationalstaat. Vor dem Hintergrund international gültiger Produktions- und Tauschnormen (Aglietta 1979; Röttger 2003) agiert man nun als »global player« auf einem globalen »Spielfeld« - nicht nur hinsichtlich des Verkaufs der produzierten Waren und Dienstleistungen, sondern auch hinsichtlich der Produktion.

Wertschöpfungsprozesse werden nun oftmals nicht mehr innerhalb eines Nationalstaates bzw. einer räumlich-integrierten Einheit (Fabrik, Betrieb) organisiert. Vielmehr werden diese verstärkt in abgrenzbare, aber zueinan-der anschlussfähige Teilprozesse gegliedert und segmentiert. Die Interna-tionalisierung von Produktionsstrukturen erfolgt in einer Art und Weise, dass die Verrichtung einzelner Teilschritte eines Arbeitsprozesses nicht mehr unmittelbar örtlich aneinander gebunden ist. Diese Modularisierung und Fragmentierung von Wertschöpfungsketten schafft den Unternehmen neue Möglichkeiten, Unternehmensteile auszulagern und international verteilte Arbeitsprozesse zu organisieren. Schon 1977 wird diese Tendenz der »zu-nehmenden Aufspaltung von Fertigungsprozessen in verschiedene Teilfer-tigungen an verschiedenen Standorten weltweit« von Folker Fröbel u.a. als »neue internationale Arbeitsteilung« (1977: 62; 1986) verstanden.

Vor dem Hintergrund verschärfter globaler Konkurrenz werden die Wertschöpfungsketten dahingehend optimiert, für jedes Segment des Ar-beitsprozesses die jeweils günstigsten Anlagebedingungen zu suchen und zu realisieren. Da auch die Erschließung von Märkten ein zentrales Motiv von multinationalen Konzernen bleibt, konzentrieren sich deren internationa-le Aktivitäten oftmals weiterhin auf die Triade (Nordamerika, Europa und Asien). Dennoch ist es gerade ein zentrales Moment dieser »neuen internati-onalen Arbeitsteilung«, dass insbesondere auch aufstrebende Schwellenlän-der als potenzielle Unternehmens-Standorte eine neue Bedeutung bekom-men (Boes/Kämpf 2006).

Zunächst beschränkt sich dieser Prozess auf klassische Industriesektoren. Im Zentrum von Verlagerungen und Internationalisierungsprozessen stan-den z.B. die Textil- oder die Elektroindustrie. Hier deutet sich heute jedoch ein Wandel an: auch der Bereich der Dienstleistungen wird heute Gegen-stand einer beschleunigten Internationalisierung (Boes u.a. 2005; UNCTAD

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2004; WTO 2005). Unter dem Label »Offshoring« bzw. »Nearshoring« ge-raten nun auch jene Sektoren unter den Druck der Globalisierung, die lange als weitgehend verlagerungsresistent galten. Zum einen ist dies der Bereich unterstützender Dienstleistungen (z.B. Call-Center, Buchhaltung, Kunden-dienst etc.). Durch den Einsatz moderner I&K-Technologien sind diese im Rahmen von »Business-Process-Outsourcing« geradezu prädestiniert für Verlagerungen in Billiglohnländer. Zum anderen werden aber auch zuneh-mend hochqualifizierte und wissensintensive Tätigkeitsbereiche zum Ge-genstand von Verlagerungsaktivitäten.

Im Zentrum dieser Entwicklung stehen die Bereiche IT-Dienstleistungen und Software-Entwicklung. Diese Branche wird gewissermaßen zum »Pi-onier« einer Entwicklung, in deren Folge auch die Arbeit moderner »Sym-bolanalytiker« (Reich 1992) internationaler Arbeitsteilung zugänglich wird. Komplexe und wissensintensive Teilarbeitsprozesse (z.B. Entwicklung und Design von Software) werden nun immer häufiger in Off- und Nearshore-Standorten wie Indien oder auch Osteuropa erbracht (vgl. dazu Boes 2004, 2005b; Aspray u.a. 2006; Flecker/Huws 2003). Vorraussetzung dafür ist ein riesiges Reservoir hochqualifizierter IT-Arbeitskräfte, das in den Offshore-Regionen bereitsteht - insbesondere in Süd-Ost-Asien und Mittel-Osteur-opa. Wurde dieser »Weltmarkt für Arbeitskraft« (Potts 1988) zunächst über den Umweg der Migration erschlossen - Stichwort: »Green-Card« -, steht heute die Reorganisation der gesamten Wertschöpfungskette auf der Agen-da der IT-Unternehmen: es gilt auch in diesem Bereich internationale Pro-duktionsstrukturen zu etablieren und Offshore- Standorte in nun globale Entwicklungsnetzwerke zu integrieren (Boes 2004, 2005b; Flecker/Huws 2003).

Informatisierung und Internationalisierung Die Rolle der Informatisierung kann für den Prozess der Internationalisie-rung kaum überschätzt werden. Die Bedeutung liegt nicht nur darin begrün-det, dass eine »zeitlose« Übertragung von Informationen über große räum-liche Entfernungen möglich wird. Vielmehr bildet das Internet einerseits ein informationelles Rückgrat von räumlich verteilten Produktionsprozessen (vgl. Baukrowitz/Boes 1996), andererseits wird es zum neuen »Ort« der glo-balen Produktion von Dienstleistungen (Boes 2004).

Die Herausbildung der für die Globalisierung charakteristischen Formen räumlich und organisatorisch differenzierter Produktionsnetzwerke, die sich in Konzepten wie »Wintelism« und »contract manufacturing« verkör-

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pern (Borrus/Zysman 1997; Lüthje u.a. 2002), ist ohne die Durchsetzung des Internets kaum vorstellbar. So führte der Siegeszug des Internets nicht nur zu einem weltweiten Auf- und Ausbau der Telekommunikationsinfra-strukturen, sondern erst der entstehende gemeinsame Informationsraum erlaubt eine Integration der verschiedenen Produktionsmodule in einen Gesamtprozess. Auf der einen Seite wird so ein organisations-übergreifen-der, durchgängiger Informationsfluss im gesamten Netzwerk möglich. Der Transfer von Information zwischen den verschiedenen Akteuren der Wert-schöpfungskette kann nun ohne informatorischen Bruch mittels eines ge-meinsamen Mediums stattfinden. Auf der anderen Seite werden durch die sich etablierenden gemeinsamen Standards die Schnittstellen zwischen den Unternehmen kompatibel und handhabbar. Verschiedene Segmente von Wertschöpfungsketten können so auf Basis einheitlicher »interfaces« flexibel miteinander verknüpft, getrennt und wieder neu zusammengesetzt werden (Baukrowitz/Boes 1996; Schmierl/Pfeiffer 2005).

Informationssysteme fungieren so als »strukturelle Doppelung« syste-misch-organisierter Produktion. Modularisierte Produktionsstrukturen auf der stofflichen Ebene finden nun eine Entsprechung auf einer gewisserma-ßen »darüber liegenden« Informationsebene. Diese reproduziert nun aber nicht mehr die ursprüngliche Trennung der voneinander getrennten Teil-prozesse, sondern integriert diese vielmehr zu einer prozessualen Einheit. Komplexe netzwerk-artige Produktionsstrukturen können so »zusammen-gehalten« werden. Die »organisatorische Ausdifferenzierung der Produkti-onsprozesse stützt .. . sich ... auf die Integrationswirkung einer durchgän-gigen, unternehmensübergreifenden Informationsebene« (Baukrowitz u.a. 2001). Die Steuerung und Kontrolle der Produktions-Prozesse unabhängig von deren geographischer Verortung wird so ermöglicht. Das Internet wird damit zu einem informationellen Rückgrat von vernetzten und räumlich ver-teilten Produktionsstrukturen. Erst auf dieser technologischen Basis werden moderne Unternehmens- und Fertigungskonzepte wie »lean production«, »just-in-time-production« etc. möglich (Boes/Kämpf 2006).

Neben dieser zentralen Funktion spielt das Internet jedoch auch eine wei-tere, zunehmend wichtiger werdende Rolle in Internationalisierungsprozes-sen: wenn die zu erbringenden Güter und Leistungen digitalisierbar sind, wird der Informationsraum zu einem neuen »Ort« der Produktion (Boes 2004, 2005b). Aufgrund ihrer Beschaffenheit können solche Güter dann näm-lich leichter bzw. organischer als stoffliche Güter im »Netz« bearbeitet wer-den. Die Arbeit findet nun gewissermaßen im Informationsraum selbst statt.

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Ohne die Bedeutung einer sozialen Einbettung von Arbeit in Abrede zu stel-len (dazu Flecker 2000), gilt für bestimmte Arbeitsprozesse, dass geografische Entfernungen in Zukunft so in neuer Qualität »überwunden« werden können. Die Bereiche IT-Dienstleistungen und Software-Entwicklung sind dabei ge-radezu »übliche Verdächtige«. Die Entwicklung wird jedoch kaum auf dieses Feld beschränkt bleiben: Beispiele wie die Digitalisierung von Röntgenbildern und die nachfolgend mögliche Verlagerung der Diagnose werfen ein erstes Schlaglicht auf das enorme Potenzial dieser Entwicklung.

Folgen für die Lohnarbeit I: Standortkonkurrenz und verschobene Kräfteverhältnisse Die öffentliche, aber auch die kritische sozialwissenschaftliche Diskussion war lange Zeit von einer deutlichen Skepsis bzgl. des Ausmaßes und der Tragweite der Globalisierung geprägt. Nicht zuletzt von gewerkschaftlichen Akteuren wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die Globalisierung und die damit einhergehende Standortkonkurrenz letztlich nur künstlich von den Arbeitgebern inszeniert würde, um von Beschäftigten Zugeständ-nisse zu erpressen - und in der Tat war in der Vergangenheit das Argument der »globalen Wettbewerbsfähigkeit« in vielen Auseinandersetzungen der entscheidende Trumpf, um Forderungen der Arbeitgeber durchsetzen zu können. Dennoch unterschätzt man Globalisierungsprozesse, wenn man sie in erster Linie als bloßen ideologischen »Trick« versteht, der keine materi-elle Grundlage hat. Gerade aus der Perspektive der Informatisierung wird schließlich die tatsächliche und konkrete Qualität der neuen Möglichkeiten räumlich desintegrierter Produktionsprozesse greifbar.

Die Folgen spüren Beschäftigte in ihrer Arbeit täglich. Immer öfter be-finden sich die Belegschaften eines Standortes in einem Wettbewerb mit an-deren Standorten auf der ganzen Welt. Angesichts der hohen Rentabilität und der geringeren Kosten in »Niedriglohnländern« müssen Kostensen-kungen und Effizienzsteigerungen geradezu als »Sachzwänge« erscheinen - die Offshore-Produktivität wird gewissermaßen zum allgegenwärtigen globalen »Benchmark«, an dem sich auch die »Hochlohnstandorte« orien-tieren müssen. Ob diese Kosten-Standards in der Folge realisiert werden, ist zunächst nicht entscheidend. Gleichzeitig sind Verlagerungen keineswegs zwangsläufig. Vielmehr geht es darum, dass die entsprechenden Standorte in einen andauernden Rechtfertigungszwang geraten und permanent auf For-derungen nach Kostensenkung reagieren müssen. Diese neue Standortkon-kurrenz ist Ausdruck eines neuen »stark gewandelten Möglichkeitsraums der

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Weltwirtschaft« (Dörre u.a. 1997: 44). Auf Basis der Informatisierung können Unternehmen heute Standortentscheidungen treffen, wo es früher nichts zu entscheiden gab - Globalisierung wird für sie zu einer realen »Option« (ebd.). Damit haben sich die Handlungsoptionen der Unternehmen gegenüber ihren Belegschaften, die weit weniger mobil und flexibel sind, grundlegend verän-dert (vgl. Schwemmle 2005). Alleine die »Wirklichkeit der Möglichkeit« (Beck 1998) führt zu einer deutlich gestiegenen Verhandlungsmacht der Arbeitgeber. Solange Beschäftigte ihre Interessen weiterhin vorrangig national organisieren (vgl. dazu auch Riexinger/Sauerborn 2004), wird die allgegenwärtige »Exit-Option« ein zunehmend dominierender Faktor in der Entwicklung von Ar-beitsbeziehungen bleiben.

Insgesamt führt so die Internationalisierung von Produktionsprozessen zu einer systematischen Verschiebung betrieblicher und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber. Die grassierende Standortde-batte erscheint in neuem Licht: Sie wird zweifelsohne »inszeniert« - aber dieser Inszenierung liegen auf Informatisierung bestehende neue, reale Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen und gewandelte Kräfteverhält-nisse zugrunde.

4. Steuerung und Kontrolle von »Kopfarbeit«: von der verantwortl ichen Autonomie zur wirk l ichen Lohnarbeit

Neue Möglichkeiten der Internationalisierung und der räumlichen Frag-mentierung von Produktionsprozessen sind jedoch nur ein Moment ei-ner auf Grundlage der Informatisierung deutlich veränderten Arbeitswelt. Gleichzeitig wandeln sich auch der Arbeitsprozess als solcher und die je-weiligen Arbeitsinhalte grundlegend. Auch wenn davon grundsätzlich alle Arbeitsbereiche betroffen sind, so sind die Veränderungen im Bereich der »Kopfarbeit« besonders hervorzuheben. So sind nicht nur der Umgang mit Information und ihre Bearbeitung in Informationssystemen der wesentliche Inhalt der Arbeit eines wachsenden Anteils der Erwerbstätigen. Vielmehr entstehen auf dieser Grundlage auch neue Möglichkeiten der Kontrolle und Steuerung von »Kopfarbeit«.

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Informatisierung und ihr Verhältnis zu Informationsarbeit und »Kopfarbeit« Schon bei Marx ist jedwede menschliche Arbeit immer gleichermaßen »Hand- wie Kopfarbeit«. Wesentlich für die kapitalistische Produktionswei-se ist dabei, dass im Streben nach fortwährender Rationalisierung der Arbeit einerseits sowie nach Kontrolle und Herrschaft andererseits eine Trennung von Planung und Ausführung bzw. »Handarbeit« und »Kopfarbeit« voll-zogen wird, die systematisch in entsprechende Formen der Arbeitsteilung überführt wird. Die Informatisierung von Arbeit beinhaltet nun eine sys-tematische Weiterentwicklung dieses Verhältnisses. Mittels der Erzeugung und Nutzung von Informationen schafft sich zunächst die »Kopfarbeit« ein wirkungsvolles Instrumentarium, um Arbeit fortwährend rationalisieren zu können. Informationen bilden dabei letztlich die entscheidende Grundla-ge zur Kontrolle der Arbeit jenseits der unmittelbaren Anschauung (Boes 2006).

Der Ausbau und die Integration der Informationssysteme machen nach und nach zentrale Momente des Unternehmens einer Steuerung und Kon-trolle über die Informationsebene zugänglich (Schmiede 1996; Baukrowitz/ Boes 1996). Diese wiederum bildet den Ort, an dem die Verwissenschaftli-chung der Arbeitsprozesse vorangetrieben wird (Bravermann 1977; Hack/ Hack 1985), um deren Steuerung und Kontrolle von hieraus mit zuneh-mender Effizienz bewerkstelligen zu können. So werden Informationen für eine zunehmende Anzahl von Beschäftigten zum eigentlichen Gegenstand ihrer Arbeit. Der schnelle Anstieg der Büroberufe und Angestelltenzahlen erklärt sich in hohem Maße aus dem verstärkten Bestreben zur Informati-sierung der Unternehmen (vgl. bereits Pirker 1962; Braverman 1977). Ein Großteil des Strukturwandels, der mit den unspezifischen Begriffen der »Tertiarisierung«, der »Dienstleistungs-« oder der »Wissensgesellschaft« be-legt wird, hat in der Informatisierung der Arbeit seine Basis (vgl. Braverman 1977; Dostal 1995; Baukrowitz u.a. 1998).

Insbesondere der Computer bleibt in der Folge nicht das Arbeitsmittel einer weitgehend organisatorisch getrennten Gruppe von Spezialisten im »Rechenzentrum«, sondern wird nun insbesondere in den informationsin-tensiven Branchen (Banken, Versicherungen etc.) zum wesentlichen Arbeits-mittel im normalen Arbeitsprozess (vgl. Baethge/Oberbeck 1986). Fachliche Aufgaben im Bürobereich werden zunehmend über den Computer bewäl-tigt und die Fertigungsarbeit erhält mit der numerischen Programmsteue-rung eine neue Bezugsebene (Hirsch-Kreinsen 1993). Dazu trägt bei, dass die computergestützte Informationsverarbeitung nunmehr auch in Bereiche

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eindringt, die bisher als nicht-computerisierbar galten. Dies gilt insbeson-dere für das weite Feld der Textverarbeitung sowie für bestimmte Bereiche hochqualifizierter Angestelltentätigkeit wie beispielsweise die Ingenieurtä-tigkeiten in der Konstruktion und der Fertigungsplanung.

Damit bietet die Informatisierung die entscheidende Basis dafür, die »Kopfarbeit« selbst unter den Kontrollzugriff des kapitalistischen Pro-duktionsprozesses zu bringen (Boes 2006). Erst indem geistige Tätigkeit in eine weitgehend subjektunspezifische Informationsarbeit überführt und in betriebliche Informationssysteme integriert wird, kann sie nicht nur for-mell, sondern auch reell zu einer Form kapitalistischer Lohnarbeit werden. Insbesondere im Bereich Software-Entwickung und IT-Dienstleistungen vollzieht sich diese Entwicklung in beschleunigter Form. Gerade in dieser Branche, die in den Diskursen zur »Zukunft der Arbeit in der Wissensge-sellschaft« immer wieder als Idealtypus neuer selbstbestimmter, kreativer und emanzipativer Arbeitsformen herhalten musste, verabschiedet man sich heute vom Leitbild des kreativen »Künstlers« (Janßen 2005). Nicht mehr die »Genialität« des einzelnen Entwicklers gilt hier heute als Garant für Rendite und erfolgreiche Produkte, sondern der optimierte »Prozess«. Ziel ist es hier, Produkte und Prozesse zu standardisieren und zu industrialisieren.

Dies darf nicht als Rückgriff auf ein altes tayloristisches Rationalisie-rungsparadigma missverstanden werden. Vielmehr geht es um eine »Indus-trialisierung neuen Typs« (Boes 2004, 2005a/b), deren Kern eine bestimmte Form der Standardisierung ist. Dabei ist nicht die einzelne Tätigkeit des individuellen Beschäftigten der Ansatzpunkt der Rationalisierung, sondern im Sinne »systemischer Rationalisierung« (Altmann u.a. 1986) geht es um die Organisation und Gestaltung des Gesamtprozesses. Es gilt einheitlich definierte Prozesse, Strukturen, Schnittstellen und Arbeitsabläufe in homo-genisierter Form in der gesamten Organisation zur Anwendung zu bringen. Wo im Bereich der industriellen Handarbeit das Maschinensystem den Aus-gangspunkt bildet, um lebendige Arbeit in eine »technologisch handhabbare Größe« zu verwandeln (Schmiede 1989: 26), basiert die Rationalisierung moderner Informationsarbeit letztlich auf den zu Grunde liegenden Infor-mationssystemen. Erst durch sie gelingt es, auch in diesen Bereichen Arbeit zeitlich und hinsichtlich des Ressourcenaufwands transparent und planbar zu machen.

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Neue marktzentrierte Formen der Kontrolle von »Kopfarbeit« Ein zentrales Moment dieser Entwicklung sind neue Formen der Kontrol-le hochqualifizierter Informations- und »Kopfarbeit«. Während Braverman hier noch eine Taylorisierung solcher Arbeiten vermutete (1977), ist heute von einer grundsätzlich anderen Entwicklung auszugehen. Ausgehend von Unternehmen der IT-Industrie beginnt sich ein Modus »marktzentrierter Kontrolle« in den hochqualifizierten Bereichen durchzusetzen (Boes 2002; Dörre 2003) und den vormaligen Modus der »verantwortlichen Autonomie« abzulösen.

Ausgangspunkt ist hierbei das Transformationsproblem und die grund-sätzliche Unbestimmtheit des kapitalistischen Arbeitsvertrags. Gekauft wird nur ein abstraktes Quantum an Arbeitskraft, die konkrete Arbeitsleistung bleibt jedoch unbestimmt (Deutschmann 2002). Zentrale Aufgabe des Ma-nagements ist es deshalb, Arbeitsprozesse dahin gehend zu kontrollieren, dass die tatsächliche Arbeitsleistung der Beschäftigten möglichst hoch ist. Im Fordismus war dabei der Taylorismus das bestimmende Paradigma im Bereich klassischer Industriearbeit. Da sich »Kopfarbeit« diesem Kontrollm-odus notwendigerweise entzog, entwickelte sich für hochqualifizierte Be-schäftigte analog das Modell der »verantwortlichen Autonomie« (Friedman 1977; 1987). Eine hohe Leistungsverausgabung der hochqualifizierten Be-schäftigten wurde dabei durch ein spezifisches Arrangement gewährleistet: hohe Freiheitsgrade in der Arbeit, Verantwortung und ein überdurchschnitt-liches Gehalt korrespondieren hier mit einer besonderen Identifikation der Hochqualifizierten mit dem Unternehmen und einer überdurchschnittlichen Leistungsbereitschaft. Diesem Vertrauensverhältnis liegt ein »psycholo-gischer Vertrag« zugrunde, in dem Sicherheit und eine stabile Karrierepers-pektive gegen eine besondere Loyalität »getauscht« werden (Rousseau 1995; Kotthoff 1997; Raeder/Grote 2001).

Kennzeichnend für den neuen Kontrollmodus ist nun, dass diese Sicher-heiten und vergleichsweise privilegierte Arbeitsbedingungen für Hochqua-lifizierte aus der Perspektive der Unternehmen nicht mehr länger funkti-onal und notwendig sind. Umgekehrt werden vielmehr nun die vielfach beschworene Flexibilität (kritisch bereits Sennett 1998) und Unsicherheit zur Grundlage neuer Kontrollformen. Im Zentrum stehen dabei der Markt und die damit verbundenen Instabilitäten. Dieser wird in den Unternehmen systematisch zur Handlungsgrundlage erhoben. Nicht mehr nur die strate-gischen Stäbe des Managements, sondern nahezu alle Beschäftigtengruppen müssen sich nun an den Anforderungen des Marktes orientieren. Zentrale

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Referenz sind dabei nicht zuletzt die Kunden, die von den internationalen Finanzmärkten vorgegebenen Renditeerwartungen der shareholder und die »Erfolgszahlen« der Konkurrenz. Der »Fetisch« Markt erlaubt, dass Be-schäftigte in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Marktes zu einer selbsttätigen Steigerung der Leistungsverausgabung gebracht wer-den können (Boes/Trinks 2006). Der eigene Wille der Arbeitskräfte muss nun nicht mehr gebrochen werden, sondern wird vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Marktes für das Unternehmen instrumentalisiert. Unter dem Schlagwort der »Selbstorganisation« macht man sich so die Eigenin-itiative der Beschäftigten zu Nutze (Glissmann/Peters 2001; Peters/Sauer 2005). Im Sinne einer Kontextsteuerung werden den Beschäftigten lediglich die Ziele (also das »was«) , nicht aber das genaue Vorgehen (also das »wie« ) vorgegeben. Die zu erreichenden Ziele erscheinen jedoch nicht mehr als wil l-kürliche Anweisungen des Managements, sondern werden mit dem Verweis auf die Erfordernisse des Marktes zum »Naturgesetz«, das nicht hinterfragt werden kann. Der Rhythmus und die Intensität der Arbeit werden gewisser-maßen vom Markt bestimmt, objektiviert und naturalisiert. Auf diese Weise ist lebendige Arbeit nun nicht mehr das »bloße Anhängsel« (Marx) eines Maschinensystems, sondern die geistige Tätigkeit wird zum Anhängsel des Marktes.

Damit der Markt jedoch wirklich handlungsleitend für die einzelnen Be-schäftigten werden kann, muss der Wettbewerb systematisch in die Organi-sation integriert werden (Sauer 2005). Während früher das Unternehmen sei-ne internen Abläufe weitgehend der Dynamik des Marktes entzog, vollzieht sich heute eine umgekehrte Entwicklung: im Sinne einer »Vermarktlichung« gilt es nun die Organisation gegenüber dem Markt zu öffnen (ebd.). Die einzelnen Beschäftigten und Abteilungen müssen dazu in eine systemati-sche Beziehung zum Markt gebracht und an dessen Dynamik angeschlossen werden. Gleichzeitig wird zwischen den verschiedenen Einheiten desselben Unternehmens eine Situation permanenter innerbetrieblicher Konkurrenz inszeniert. Abteilungen werden dazu »gerankt« und »gebenchmarkt«. Wer im Vergleich zu anderen Unternehmensbereichen weniger profitabel ist und dem allgemeinen »Benchmark« nicht entspricht, gerät unter enormen Recht-fertigungsdruck. Man ist nun gezwungen, das jeweilige Geschäftsergebnis signifikant zu steigern, da sonst Budgetkürzungen, Outsourcing oder gar die Schließung schnell auf der Agenda stehen können.

Die Grundlage für diese permanenten Vergleichsprozesse bilden Kenn-zahlensysteme und fortgeschrittene Formen des Controlling. Ziel ist es, im-

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mer genauere Informationen in möglichst differenzierter Form über alle Un-ternehmenseinheiten zu generieren. Letztendlich ist man bestrebt, selbst den Wertbeitrag einzelner Beschäftigter abbilden und nachvollziehen zu können. Hier wird deutlich, dass diese vermarktlichten Unternehmensstrukturen auf Informatisierung und ausgereiften Informationssystemen beruhen. Erst die-se erlauben es, die Organisation und ihre Einheiten informatorisch zu durch-dringen, Informationen zu erzeugen und in einer Form zu aggregieren, dass sie als Handlungsgrundlage dienen können. Nur so gelingt es schließlich, den Markt als Organisationsprinzip innerhalb des Unternehmens glaubwür-dig zu verankern und zum zentralen Kontext bzw. Entscheidungshorizont der Beschäftigten zu konstruieren.

Folgen für die Lohnarbeit II: Veränderte Arbeitsbeziehungen und Prekarisierung Die Folgen dieser Entwicklung sind gravierend. So verändern sich für die betroffenen Beschäftigten die Arbeits- und Leistungsbedingungen und nicht zuletzt oftmals auch die Art ihrer Tätigkeit. Besonders hervorzuheben sind allerdings die Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen. Vormalig genossen die Hochqualifizierten eine privilegierte Stellung innerhalb der Unterneh-men. Charakteristisch waren dabei vor allem enge Vertrauensbeziehungen zum Management, sichere Arbeitsverhältnisse und planbare Karrierewege. Heute hingegen deutet sich hier ein manifester Wandel an. Gerade die bisher privilegierten Beschäftigtengruppen werden nun zu einem zentralen Gegen-stand betrieblicher Rationalisierungsstrategien, ihre Privilegien und Ver-günstigungen stehen mehr und mehr zur Disposition. Dabei entwickelt sich insbesondere das obere Management von einem zentralen, gewissermaßen naturwüchsigen Verbündeten zu einem latenten Gegner der Hochqualifi-zierten in betrieblichen Auseinandersetzungen (Kämpf 2006).

Exemplarisch vollzieht sich diese Entwicklung in der IT-Industrie. Hier erleben die Beschäftigten nach dem Zusammenbruch der New Economy eine »Zeitenwende«, die insbesondere einen veränderten strategischen Um-gang des Managements mit den Hochqualifizierten beinhaltet. Hier heißt es nun nicht mehr »der Mensch steht im Mittelpunkt«, sondern »die Zeit der Stammplatzgarantien ist vorbei« (Boes/Trinks 2006). Nicht nur in dieser Branche wird für die Hochqualifizierten die Erfahrung von Ersetzbarkeit und die Angst vor Arbeitslosigkeit zu einem maßgeblichen Faktor ihrer Arbeit-sidentität (vgl. dazu auch Ehrenreich 2006). Angesichts von Globalisierung und Offshoring werden dann selbst beste Qualifikationen und überdurch-schnittliches Engagement auch in erfolgreichen Unternehmen keineswegs

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mehr als zuverlässiger Garant für Beschäftigungssicherheit erlebt. Gerade ältere Beschäftigte spüren hier zudem die rasante technologische Entwick-lung und die immer kürzer werdende Halbwertszeit ihres Wissens und ih-rer Qualifikation. Damit werden auch für die Hochqualifizierten und die modernen Informationsarbeiter die Bedingungen »normaler« Lohnarbeit immer mehr zur greifbaren Realität und Handlungsgrundlage. Arbeit wird dann zum einen weniger als »kreative Selbstverwirklichung« - wie noch zu Zeiten der New Economy suggeriert (vgl. dazu Boes u.a. 2006) - erlebt, son-dern in erster Linie als Sicherung der materiellen Existenz. Zum anderen wird es kaum noch als Selbstverständlichkeit erfahren, einen Arbeitsplatz zu haben. Arbeit erscheint auch diesen Beschäftigtengruppen immer mehr als ein »bedrohtes und zerbrechliches Privileg« (Bourdieu 1998) oder - im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Ausdrucks prekär - als »Gnade, durch Bitten erlangt«.

Aus dieser Perspektive erscheint auch die Diskussion zum Thema Pre-karisierung (Castel 2000, 2005; Brinkmann u.a. 2005; Dörre 2005; Candeias 2004b) in neuem Licht. Weniger die Entstehung verschiedener Zonen von prekärer und nicht-prekärer Beschäftigung bestimmt dann die Entwicklung, sondern vielmehr die neue Allgegenwärtigkeit von Unsicherheit, der sich selbst hochqualifizierte Beschäftigte nicht mehr entziehen können (vgl. auch Bultemeier u.a. 2006).

5. Perspektiven sozialer Auseinandersetzungen

Die hier skizzierten Entwicklungen zeigen die gravierenden Folgen der In-formatisierung von Arbeit und die daraus resultierenden Konturen einer Arbeitsgesellschaft »im Übergang« (Sauer 2005). Dabei erleben wir keines-wegs ein »Ende der Arbeit«, sondern vielmehr eine Ausweitung der Sphä-ren »normaler« kapitalistisch verfasster Lohnarbeit. Gleichzeitig werden dabei, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Globalisierung, Unsicherheit und Konkurrenz zur dominierenden Erfahrung abhängig Beschäftigter. Dies betrifft insbesondere die Arbeitssituation von Hochqualifizierten. Damit er-öffnen sich neue Widerspruchskonstellationen und Konfliktlinien. Beispiels-weise haben die Veränderungen in der IT-Industrie zur Folge, dass von den Beschäftigten Interessengegensätze in neuer Qualität wahrgenommen und reflektiert werden. Die Haltung, sich als »Arbeitnehmer« zu begreifen und darauf aufbauend eine eigenständige, vom Unternehmen unabhängige In-

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teressenperspektive zu vertreten, hat selbst in dieser Branche, deren Kultur Konflikte lange Zeit tabuisierte, mittlerweile ihren vormaligen Exotenstatus verloren (Boes/Trinks 2006).

Dennoch wäre es grob vereinfachend und zu kurz gegriffen, alte lineare Proletarisierungsthesen wieder neu aufzuwärmen. Zu groß bleiben »auf der Oberfläche« zunächst die Unterschiede in Arbeits- und Lebensbedingungen (z.B. zwischen einer prekär Beschäftigten und einem Software-Entwickler), zu unterschiedlich sind auch die jeweiligen Kulturen verschiedener Seg-mente der Lohnabhängigen. Gleichzeitig basieren die neuen vermarktlich-ten Kontrollstrukturen auch auf einer tendenziellen Fragmentierung der Belegschaften und einer permanenten Konkurrenz zwischen den Lohnar-beiterinnen. Vor diesem Hintergrund ist von einer komplexen Dynamik und Entwicklungslogik künftiger sozialer Konflikte auszugehen.

Die Entstehung wechselseitiger Solidarität ist dabei allerdings keineswegs a priori ausgeschlossen. Mögliche Szenarien bewegen sich zwischen den Polen »inklusiver Solidarität« und »exklusiver Solidarität« (Kurz-Scherf/ Zeuner 2001). Ein Modell exklusiver Solidarität würde darauf abzielen, Pri-vilegien der eigenen Gruppe gegenüber anderen Lohnabhängigen zu »ver-teidigen«. Folgerichtig wäre dann von einer weiteren Fragmentierung von Erwerbstätigen und einem Aufleben »ständischer« Formen der Interessen-vertretung auszugehen. Mit Blick auf Globalisierung drohen dann zudem eine Ethnisierung von Konflikten und eine Beschleunigung einer weltweiten Standortkonkurrenz.

Demgegenüber würde ein Modell inklusiver Solidarität die allgemeine und übergreifende Erfahrung von Unsicherheit aufgreifen und darauf auf-bauend die Gemeinsamkeit von Interessen - trotz aller Differenzen - beto-nen. Sicherlich wird man auf zahlreiche Hindernisse und Barrieren stoßen, eine solche Einheit in der Praxis zu konstruieren - gleichzeitig haben freilich unlängst die Massenproteste in Frankreich gegen das CPE das Potenzial und die Dynamik einer solchen zeitgemäßen Form von Solidarität vor Augen geführt.

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Stefanie Hürtgen Globalisierungskritik statt Modellanalyse Das Beispiel der Elektronik-Kontraktfert igung in M i t te l - und Osteuropa

Globalisierung statt Model l

Der Kongress »Kapitalismus reloaded« hatte zwischenzeitlich den Arbeits-titel »After Globalization«. Die »Globalisierung« wurde dann wieder ent-fernt, zugunsten des »wiederaufgeladenen Kapitalismus«. Das ist schade, denn zwar gilt die Globalisierungsproblematik in der Wissenschaftsdiskus-sion mittlerweile als veraltet, doch muss man dieser kurzlebigen Wissen-schaftsmode, Begriffe hin und herzuwenden und dann zu verabschieden, keineswegs folgen; zumal dann nicht, wenn sich politische Ansprüche an wissenschaftliches Forschen stellen. Das gilt auch für die Fragestellung, ob man von einem neuen Modell von Kapitalismus sprechen könne.

Modellierungen sind sicherlich sinnvoll, um die gesellschaftlichen Ver-änderungen auf den Begriff zu bringen. Anregend erscheinen sie mir vor allem dort, wo nicht eine unternehmerische Organisationsform ins Zentrum gestellt wird (»Netzwerkkapitalismus«), sondern der soziale Zusammen-hang des Kapitalverhältnisses auch und gerade in der Lohnarbeit zu einem zentralen Bezugspunkt wird. Klaus Dörre bspw. spricht von einem neuen »flexibel-marktgesteuerten Produktionsregime« (Dörre 2002) und markiert darin die flexible Arbeitsweise als einen zentralen Bestandteil. Die Macht-spiele und Spielregeln im ökonomischen Feld, so Dörre (2003), gerieten unter die Regie eines qualitativ neuen, marktzentrierten Kontrollmodus; woanders wird dies als »indirekte Steuerung« oder auch »Vermarktlichung« von Produktion und Arbeit bezeichnet (Sauer 2005). Das Ergebnis, so eine von vielen geteilte Beobachtung, sei, dass Arbeitskräfte in den Betrieben zum Puffer der steigenden Flexibilitätsanforderungen würden, denen sich die Unternehmen, nicht zuletzt durch Finanzinvestoren und Shareholder gegenübersähen.

Solche Befunde sind anregend, sie in einem »Modell« begrifflich zusam-menzufassen dient der gedanklichen Präzisierung und Selbstvergewisserung

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und damit der theoretischen Debatte.1 Doch die theoretisch-gedankliche Fi-xierung veränderter Arbeitsbedingungen in einem Modell, das zudem noch häufig als nationales gedacht wird (Rheinischer Kapitalismus etc.), gerät in Konflikt mit dem, was mir das zentrale Kennzeichnen des gegenwärtigen Kapitalismus zu sein scheint: dass nämlich insbesondere im Bereich Arbeit eine Stabilität von Reproduktion systematisch immer weniger gegeben ist. Das wesentlich Neue am postfordistischen Kapitalismus scheint mir die ständige Umwälzung der Grundlagen der Produktion zu sein, in einem Ausmaß, das die ständige, nationale wie länderübergreifende Neuorganisie-rung von Lohnabhängigen bedeutet. Im Resultat entsteht eine prinzipielle Unsicherheit in der sozialen Existenz von Arbeitskräften sowie eine quali-tativ neue, allerdings destruktive Beziehung zwischen ihnen: internationale Konkurrenz.

Ich schlage also vor, aus dem theoretischen Werkzeugkasten die »Globa-lisierung« wieder hervorzuholen. Sicher auch kein optimaler Begriff, aber im Gegensatz zum »Modell« legt sie den Schwerpunkt auf einen Prozess, der immer schon international gedacht ist. Präziser schlage ich vor, den zugegebenermaßen sperrigen Begriff der Globalisierung als »permanenter Restrukturierung von Wertschöpfungsketten auf internationalem Niveau« wieder in die Debatte zu holen (z.B. Haipeter 1999). Er beschreibt meines Erachtens sehr treffend, was wir aktuell, und zwar eben länderübergreifend, erleben: nicht einfach Modernisierung von Technologie, internationale Re-strukturierung von Wertschöpfung und Intensivierung von Arbeit - sondern gleichzeitig die ständige Infragestellung der eben noch verfolgten Strategien, der vor kurzem noch getätigten Produktionsansiedlungen, der jüngst noch vorgenommenen Investitionen. Die so verstandene Globalisierung als per-manente Restrukturierung soll am Beispiel einer spezifischen Zuliefererin-dustrie illustriert werden, der Kontraktfertigung, um an ihrem Beispiel gene-relle gewerkschaftspolitische Überlegungen zu diskutieren.

1 In diese Richtung geht auch die Einschätzung von Frieder Otto Wolf (2006).

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106 Stefanie Hürtgen

Kontraktfertigung in Europa2

Kontraktfertigung ist als internationale Produktion vergleichsweise jung. Ende der 1980er Jahre waren Kontraktfertiger noch kleine Firmen in den USA, im berüchtigten Silicon Valley (Lüthje 2001), heute ist dieses Produk-tionssegment von internationalen »Weltmarktfabriken« mit mehreren zehn-tausend Beschäftigten dominiert.

Kontraktfertigung gilt als spezifische Form einer Zulieferer-Industrie, weil sie Produktion als Dienstleistung organisiert und dabei weit über üb-liche Teile-Zulieferung hinausgeht. Die Großunternehmen bieten keine Produkte bzw. Waren an, sondern Kapazitäten: sowohl Maschinen, Anlagen und Know how zur Produktion von Plastikgehäusen (bspw. für Drucker oder Handys), zur Bestückung von Leiterplatten, zur Endkonfiguration der Produkte (Bespielen mit Software, Verpackung etc.), aber auch Kapazitäten des Managens ausgedehnter globaler Produktionsketten oder logistische Leistungen in einzelnen Fertigungsregionen, bspw. die nach just-in-time or-ganisierte Lagerhaltung oder von Logistikcentern zur punktgenauen Auslie-ferung der Markenwaren an Warenhäuser oder Auslieferungszentren. Wel-che der Dienstleistungen von den Kunden, d.h. den Markenherstellern, in Anspruch genommen wird, variiert; zum Herzstück gehört typischerweise die Leiterplattenbestückung, denn gerade hier erreichen die Kontraktfertiger einen Kostenvorteil durch Konzentration der Aufträge von mehreren Kun-den: die Bestückung ist in der Art der Herstellung ein recht unspezifischer Produktionsschritt, egal, ob es sich um Leiterplatten für Industriecomputer oder für Minikameras handelt. Doch die Dienstleistung umfasst längstens viele »immaterielle« Bereiche, bis hin zur Eruierung der günstigsten Zollbe-stimmungen bei der Einfuhr von Geräten oder Vorprodukten aus Fernost.

Obwohl diese Kontraktfertiger einen großen Anteil an der Elektronik-produktion haben (im Schnitt spricht man von 30%) und seit Beginn der 1990er Jahre auch in Westeuropa tätig sind, sind sie der hiesigen Öffent-

2 Die folgenden empirischen Daten basieren auf umfangreichen Interviews mit Ma-nagern und Gewerkschaftern und mehreren Diskussionsrunden mit Gewerkschaftern in Ost- und Westeuropa sowie eigenen Recherchen, durchgeführt im Rahmen meiner Mitarbeit in einem von DFG geförderten Projekt. Zum Projekt gehörten Boy Lüth-je, Peter Pawlicki, Wilhelm Schumm und Martina Sproll. Die Projektergebnisse sind veröffentlicht in: Stefanie Hürtgen/Boy Lüthje/Wilhelm Schumm/Martina Sproll, Von Silicon Valley nach Shenzhen. Globale Produktion und Arbeitsteilung in der IT-Indus-trie, Frankfurt/New York 2007.

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lichkeit auch dem Namen nach, sie heißen bspw. Flextronics, Celestica oder Solectron, wenig bekannt. Im Unterschied nämlich zu Marken-Zulieferern im Automobilbereich wie Bosch legen die Kontraktfertiger bzw. ihre Kun-den besonderen Wert darauf, dass die Zusammenarbeit möglichst wenig be-kannt wird. Das Zulieferprodukt soll im Markenartikel verschwinden, der Endkunde, also der Konsument, soll nicht wissen, dass es zu - sagen wir - 50-80% aus Zulieferungen besteht, die mit den Namen Hewlett Packard, Siemens oder Philips nichts zu tun haben.

Anfang der 1990er Jahre begannen die meist US-amerikanischen Kon-traktfertiger, Produktionsstätten in Westeuropa zu übernehmen: das IBM-Leiterplattenwerk in Bordeaux (Frankreich) oder die Siemens-Produkti-onsanlage in Paderborn (BRD). Von Anfang an hatten die Kontraktfertiger auch Niedrigkostenregionen im Blick. Zu Beginn der 1990er Jahre hießen die aber noch Nordengland und Irland. Erst ab 1997 begann der Ausbau von Produktionsstätten in Osteuropa. Dieses Jahr markiert den beginnenden Boom der »New Economy«. Die Nachfrage nach Computern, Spielkonso-len, vor allem aber Handys, wuchs enorm. Die Markenhersteller bemühten sich nun, sich im ausdehnenden Markt nachhaltig zu platzieren, zum einen über Preiskonkurrenz, zum anderen über die immer schnellere Abfolge von »Produktgenerationen«. Letzteres bedeutet, dass wer ein neues, »besseres« Produkt erfolgreich auf den Markt bringt, auch in der Lage sein muss, Pro-duktion extrem kurzfristig hochzufahren, um Extraprofite zu realisieren.

Kontraktfertiger versprachen in dieser Situation einer scharfen Konkur-renz im Wachstumsmarkt vor allem drei Dinge: erstens eine Verbilligung der Produktion, zweitens ein hohes Maß an Flexibilität, was die Volumina der Zulieferung betrifft, und drittens eine Entlastung, die es den Marken-herstellern erlauben sollte, sich besser auf die Entwicklung neuer Produkte und Technologie-Standards zu konzentrieren. Und in der Tat war der Boom der New Economy auch ein Boom der Kontraktfertigung in Europa. Auch bis dahin noch in Sachen Auslagerung zurückhaltende Unternehmen verga-ben nun Produktionen: Alcatel an Flextronics, Motorola an Flextronics und Solectron, Nokia an den einzigen großen europäischen Kontraktfertiger, El-coteq.

Für die Kontraktfertiger wiederum erhöhte sich nicht nur die Anzahl der Produktionsstätten, die sie von den Markenherstellern in Westeuropa übernahmen, sondern nun erschien auch Osteuropa auf der Bühne der Un-ternehmensstrategien; als hervorragender Standort und explizit als Alter-native zu den bisherigen westeuropäischen Niedrigkostenregionen. Denn,

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so das Management in dieser Zeit fast unisono: Nordengland sei längst zu teuer, die wirklich billigen Löhne und Steuervorteile fände man in Osteuro-pa. Die bürokratische Abwicklung laufe namentlich in Ungarn schnell und unkompliziert, die Steuererlässe seien bis zu zehn Jahren und oft darüber hinaus enorm, Massenentlassungen kein Problem, die Leute gut ausgebildet und arbeitsam (wobei die Ungarn als arbeitsamer als die Polen dargestellt wurden und die Ukrainer dann später wiederum als fleißiger als die Un-garn - siehe unten). Ab 1997 entstehen in kurzer Zeit eine Reihe von Pro-duktionsstätten mit mehreren tausend Beschäftigten in Ungarn, Polen und Rumänien. In Ungarn wird Flextronics mit insgesamt 25.000 Beschäftigten bald zum größten Privatarbeitgeber; in Polen beschäftigt dasselbe Unterneh-men im Durchschnitt einige tausend Leute, mehr Menschen als im gesamten Umland; in Tallinn, der Hauptstadt von Estland, ist Elcoteq mit rund 5.000 Beschäftigten größter Arbeitgeber und größter Exporteur des Landes.

Warum ist Kontraktfertigung ein Beispiel für Globalisierung? Z w e i typische Argumente und eine eigene Antwort

Inwiefern lässt sich nun von Kontraktfertigung als einem Beispiel für Globa-lisierung von Produktion sprechen?

Diese Frage ließe sich verschieden beantworten. Neoklassische Argumen-tationen, die immer noch die Basis der uns seit Jahren verfolgenden Stand-ortdebatte darstellen, würden in dem Aufbau hochmoderner Produktions-stätten einen Ausdruck für eine Ausgleichsbewegung sehen, wonach die Produktion den günstigen Löhnen und Steuern folgt. Die Standortfaktoren, die Osteuropa anbieten kann, wirkten, so die Annahme, als Motor für Mo-dernisierung, in Richtung einer Angleichung der osteuropäischen Wirtschaf-ten an westliche ökonomische Effizienz und westlichen Wohlstand. Westeu-ropa stehe unter Kapital-Abwanderungsdruck, solange die Löhne im Osten niedriger seien.

Diese Version ist nicht gänzlich falsch. Die Kontraktfertiger kalkulierten mit Osteuropa klar als Niedrigkostenstandort, wobei nicht nur die Löhne, sondern vor allem die fast vollständigen Steuernachlässe, günstige Boden-preise, schnelle, unternehmensfreundliche Abwicklungen etc. gemeint sind. Richtig ist auch: Um die Dienstleistungswünsche ihrer Kunden befriedi-gen zu können, muss Kontraktfertigung stets als modernste Produktion, insbesondere im technologischen Sinn, organisiert sein. Das bedeutet, die

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Produktionsstätten von Elcoteq, Flextronics etc. haben wenig gemein mit dunklen Klitschen und veralteten Maschinenparks, wie sie verbreitet noch mit »Niedriglohnarbeit« in Verbindung gebracht werden. Im Gegenteil: Die zumeist neuen Gebäude sind hell, die Maschinen modern, was zum Beispiel heißt: sie sind leise und haben weitgehend gute Umweltvorrichtungen wie Abzugsvorrichtungen für Dämpfe. In der Tat sprechen Beschäftigte und Gewerkschafter dieser Länder davon, dass die Arbeitsbedingungen in die-ser Hinsicht vergleichsweise gut sind (s.u.). Richtig ist weiterhin: Nahezu alle untersuchten Produktionsstätten von Kontraktfertigung in Osteuropa (insgesamt 15) basieren auf Verlagerungen: Produktion von Schweden nach Polen, von Finnland nach Estland, von Spanien und England nach Ungarn.

Andererseits aber bedeuten die hochmodernen ausländischen Standorte in Osteuropa keineswegs die wirtschaftliche Modernisierung der Länder und Regionen, die stets im Munde geführt wird. Für das Gebiet der ehe-maligen DDR ist der Begriff der »Kathedralen in der Wüste« geprägt wor-den, er passt auch auf die untersuchten Fälle. Zwar werden mitunter Straßen gebaut, als Anfahrtswege zum Werk, oder es entstehen lose Kooperations-partnerschaften zu benachbarten Ingenieursschulen, mitunter werden sogar auch auf den eigenen Bedarf zugeschnittene Ausbildungszentren geschaf-fen. Doch es passiert genau das nicht, was sich nicht zuletzt lokale Politiker, Wirtschaftsstrategen und Leiter der Sonderwirtschaftszonen, in denen die Standorte oft angesiedelt sind, so sehr wünschen, und weswegen sie gera-de für die Ansiedlung der hochmodernen Elektronik-Multis werben: eine Vernetzung der High-Tech-Produktion mit heimischen Kapazitäten. Allen Wünschen regionaler Cluster-Bildung zum Trotz bleibt die Ausstrahlungs-kraft der Investitionen auf die Region (im Fachjargon: spill-over-effect) ge-ring.3 Der Anteil lokaler Zulieferer für die Produktion der Kontraktfertiger liegt bei mageren drei bis fünf Prozent; er umfasst zumeist wenig entwickelte Bereiche wie die Zulieferung von Papier zur Verpackung oder den Catering-Service bzw. die Kantine.

In der Tat sind die Standorte der Kontraktfertiger in Osteuropa (wie an-derswo auch) nicht lokal eingebunden, sondern international. Bauteile und Leiterplatten werden aus Asien geliefert, zumeist mit dem Flugzeug, über zentrale Flughäfen (z.B. Schipohl bei Amsterdam) an die einzelnen Werke

3 Das bedeutet nicht, dass ausländische Elektronikhersteller nicht längstens For-schungs- und Software-Entwicklungszentren in Osteuropa, z.B. Polen, geschaffen hät-ten: Intel in Gdansk, Motorola in Krakow etc. Deren abermals nicht sehr weitreichende regionale Auswirkung wäre hier ein anderes Thema.

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verteilt, dort weiterverarbeitet, verpackt und entweder direkt an die End-kunden (Großmarktketten, Warenhäuser) oder ins zentrale Auslieferungs-zentrum (häufig ebenfalls in Osteuropa) transportiert. Die Auslieferung über LKW erfolgt durch westliche Speditionsfirmen wie Kühne&Nagel (in Rumänien können einige kleinere Speditionsfirmen noch über sehr geringe Löhne, hohe Flexibilität und nur gemietete LKWs konkurrieren). Auch die Produkte selbst haben wenig mit heimischen Märkten zu tun: der Ex-portanteil der Kontraktfertigungsstandorte in Osteuropa liegt zumeist bei 95% oder darüber; man produziert hauptsächlich für den westeuropäischen Markt. Handys zum Beispiel sind für die meisten Beschäftigten, die sie pro-duzieren, bei weitem nicht erschwinglich, was betriebsorganisatorisch ei-nigen Aufwand zur Überwachung bedeutet, um Diebstahl zu verhindern. Sind Zulieferer und Auslieferungsbeziehungen in erster Linie überregional, so sind es auch die unternehmensinternen Kommunikationen und Koope-rationen: Um die Produktion reibungslos zu gewährleisten, besteht häufig ein ständiger Kontakt zu westeuropäischen Werken, aber auch innerhalb Osteuropas; hier werden innerhalb eines Unternehmens Produktionsvolu-mina hin und hergeschoben (zum Beispiel zwischen Estland und Ungarn oder zwischen Ungarn und Polen), Maschinen, aber auch Arbeitskräfte ver-liehen. Der Kontakt zum Kunden erfolgt in einem kurzfristigen oder auch permanenten Austausch in internationalen Teams oder »Boards«. Kurz: die Kontraktfertiger sind nicht national oder lokal, sondern international einge-bunden; die ökonomischen und sozialen Modernisierungseffekte, von der grundsätzlichen Problematik dieses Begriffs einmal abgesehen, sind gering.

Diese Darstellung einer internationalen, und nicht lokalen Einbindung der Standorte geht in eine zweite Richtung, die gern als das Neue des gegenwär-tigen Kapitalismus bzw. von Globalisierung angesehen wird: Globalisierung bedeute heute die Entstehung von weltweiten, hochflexiblen Unternehmens-netzwerken. Dieser Darstellung kann zugestimmt werden, wenn man damit eine weitverzweigte, zugleich eng und höchstflexibel zusammenarbeitende Unternehmensorganisation meint. Doch die Metapher des Netzwerkes steht für mehr, nämlich für die Ablösung alter Hierarchien zugunsten »flacher« Entscheidungsstrukturen, mehr noch: sie steht häufig für ein Abwerfen des Ballastes der Produktion hin zum virtuellen, vornehmlich auf Information und Kommunikation beruhenden »leichten« Netzwerk. Das Phänomen der Auslagerung von Produktion wird quasi verallgemeinert hin zu einer Über-bewertung des Virtuellen, des Internets, der weltweiten Kommunikation, die heute den wichtigsten »Rohstoff« darstelle. Dem widerspricht schon

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einmal der hier betrachtete Gegenstand: Kontraktfertiger sind ja genau der »Bodensatz an Produktion«, das Pendant zu Auslagerung; Kontraktfertiger produzieren, handfest und in hoher Stückzahl, nämlich als Massenfertigung. Für die Arbeitenden heißt das rigide Bandarbeit, gewürzt mit institutiona-lisierter Stimulation der corporate identitiy (Schautafeln über die Kunden-zufriedenheit, Gruppenarbeit, die in hoher Konkurrenz untereinander steht, sehr hohe Anteile von gewinn- und motivationsabhängigem Leistungslohn). Doch nicht nur die Produktion, auch »das Netz« bleibt - trotz hoher Flexi-bilität - ein hierarchisches: zwischen Kunden und Kontraktfertigern besteht eine klare Abhängigkeit. Die Kunden machen nicht nur rigide Vorgaben hin-sichtlich der Herstellung eines gewünschten Produktes oder einer Leistung, sie haben nicht nur weitreichende Möglichkeiten, den Produktionsprozess der Kontraktfertiger bis ins Detail zu kontrollieren, sondern sie binden mitunter auch die Auftragsvergabe an Standortentscheidungen, geben also vor, wo Kontraktfertiger (künftig) produzieren sollen. Wie handfest dieses hierarchische Moment an Produktionsaufträge und ihre Bezahlung gebun-den ist, wird nicht zuletzt deutlich in der Krise der Elektronik-Branche, die ab 2001 einsetzte: Ein großer Streitpunkt zwischen Markenherstellern und Kontraktfertigern war im Herbst 2001, als die Absatzzahlen plötzlich ein-brachen, wer nun auf den zigtausenden Handys, Druckern, Kameras, Fern-seh- und Videospielgeräten sitzen bleiben soll (den Markenherstellern gelang es dann weitgehend, diese Kosten auf ihrer Kontraktfertiger abzuwälzen). Hier wurde besonders deutlich: die Kontraktfertiger fungieren als Produkti-onspuffer einer von den Markenherstellern selbst schlecht zu kalkulierenden Marktentwicklung.

Doch auch aus Sicht der auslagernden Markenhersteller ist das Bild eines produktionslosen, leichten Netzwerkes eher eine Vision denn Realität. Zwar erzählten uns Manager in den Interviews immer wieder, die Kernkompetenz heute sei das »industrial design«, also Farbe, Formgebung etc. zum Beispiel eines Telefons - der »Rest« müsse ausgelagert werden; auch gibt es Unter-nehmen wie den Computer-Hersteller Dell, der kaum ein Teil selbst produ-ziert. Doch im Durchschnitt liegt der Anteil von zumeist auf Kontraktfer-tiger ausgelagerter Produktion bei »nur« 30% und trotz vieler frohlockender Prognosen gibt es auch den Trend der Rückverlagerung: Motorola z.B. holte eine kleinere Fertigungsserie aus Polen zurück an den deutschen Standort in Flensburg (allerdings um sie alsbald nach China zu verlagern, s.u.). Zudem gibt es Unternehmen, die bislang vergleichsweise »auslagerungsresistent« und trotzdem erfolgreich sind, wie viele ostasiatische Hersteller. Das Modell

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Kontraktfertigung ist also nur eine - wenn auch sehr verbreitete - unterneh-merische Organisationsform, mit der versucht wird, sich gegen die Konkur-renz zu behaupten, und auch sie ist mittlerweile durch ein neues Modell der Auslagerung infragegestellt (s.u.). Man sollte also nicht dem Fehler verfallen, der Management-Literatur zu folgen, die alle Jahre eine neue optimale Un-ternehmensstruktur (best practice) zum neuen, der Globalisierung angemes-senen Modell der Unternehmensführung erklärt.4

Was kann nun als neue Qualität der gegenwärtigen kapitalistischen Ent-wicklung angesehen werden? Meines Erachtens ist dies die Tatsache, dass Produktion nicht einfach umverteilt wird, z.B. indem sie sich »ausdehnt« (internationalisiert) oder indem sie »ausgelagert« wird auf Zulieferer wie Kontraktfertiger. Vielmehr besteht das Neue in einer Umorganisation von Produktion, einer Restrukturierung, die international ist - und von der kein Ende auch nur absehbar ist.

Deutlich wird dies schon bei der Ansiedlung der Kontraktfertigungs-standorte in Osteuropa.

In der Situation eines außerordentlichen weltweiten Wachstums bekamen die MOE-Standorte (Mittel- und Osteuropa) die Funktion eines besonders flexiblen und zugleich besonders kostengünstigen Massenproduktions-standortes, wo auch großvolumige Produktion kurzfristig und kostengüns-tig hoch- und runterzufahren war und der zugleich in räumlicher Nähe zum europäischen Markt lag. Besonders gut sichtbar wird die Realisierung dieser Funktionalität in großen Endkonfigurations- und Auslieferungszentren, die z.B. in Ungarn entstanden. Der Handy-Hersteller Sony-Ericsson hatte bis vor nicht langer Zeit in der ungarischen Stadt Sarvar sein weltweites Aus-lieferungszentrum, eines der besten der Welt, wie der Manager versichert; die Produktion bestand hier in der Konfiguration und Software-Bespielung der aus Asien eingeflogenen, noch operationsunfähigen »dummen Handys« (dummies) ihren Test, teilweise der Verkleidung mit Plastik, dann der Ver-packung und Auslieferung in alle Welt. Hewlett Packard hatte ebenfalls in Ungarn das Auslieferungszentrum für bestimmte Drucker für den Raum »HP Europe«, also Europa und einige arabische Staaten sowie Israel. Mit anderen Worten: Auslandsstandorte sind nicht einfach Dependencen der Heimatfirmen, die den Produktions- und Handelsbereich erweitern. Sie sind vielmehr mit spezifischer Funktionalität ausgestattete Bestandteile ei-

4 Hier wird vielmehr »der rasche Verschleiß immer neuer >bester Praktiken< selbst zum Programm« (Dörre 2002: 399).

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ner weltweiten Unternehmenskonfiguration, die sich schnell umorganisie-ren können muss, wenn sich die Anforderungen für die Unternehmen än-dern, in diesem Fall der Bedarf nach kostengünstiger Produktion aus lokaler Nähe zur Belieferung vor allem von Westeuropa. Dann müssen vorherige Beziehungen gekappt, Kapital neu konzentriert, die internationalen Abläufe umorganisiert werden etc.

Die Crux ist nun, dass dieser Vorgang in keine stabilen Produktionsbe-ziehungen mündet, nicht weltweit, nicht europäisch und nicht national. Dies wird schon in der Zeit des Booms, 1997 bis 2001 deutlich. Die Vorstellungen, in Osteuropa nur einfache Massenproduktion zu konzentrieren, während in Westeuropa die höherwertige Produktion und vor allem Produkteinfüh-rung angesiedelt ist, wurde faktisch revidiert: die osteuropäischen Standorte wurden nach kurzer Zeit stark aufgewertet, ihre Kapazitäten erweitert. Das »musste« gewissermaßen geschehen, wenn von hier aus auch die zentrale Auslieferung reibungslos funktionieren sollte. Die MOE-Standorte waren also keine »verlängerten Werkbänke« bzw. sie blieben es nicht: zu den ur-sprünglich aufgestellten Produktionshallen mit ihren langen Montage-Bän-dern oder Pressmaschinen gesellten sich mehr und mehr Funktionen des Tests, der Wartung, der Produkteinführung und vor allem logistische Kom-petenzen hinzu (die wiederum aus westeuropäischen Standorten abgezogen wurden). Auch die »Führung« der Betriebe, anfänglich noch von Westeuropa aus gesteuert, findet nun eigenständig vor Ort statt. Im Resultat entstanden in Osteuropa logistisch und operativ eigenständige Standorte5 (wohlgemerkt: Eigenständigkeit im Rahmen einer internationalen Unternehmenshierarchie, die bspw. die eigenständige Auswahl von Zulieferern quasi ausschließt).

Vor allem aber: Nach dem Platzen der »New Economy-Blase« im Herbst 2001 zerrann den in Osteuropa tätigen Managern (selbst häufig aus Schott-land, Österreich oder Deutschland kommend) die Idee von Osteuropa als dem Herz einer flexiblen Massenproduktionsstätte unter den Fingern. Der Absatzmarkt der Markenhersteller brach ein - und die Kontraktfertiger verloren fast alle Großkunden bzw. deren Großaufträge. Im Resultat wa-ren die meisten Standorte in einer Dauerkrise. Während in Westeuropa aus diesem Grund viele Standorte der Kontraktfertigung geschlossen wurden (in Frankreich gibt es innerhalb von drei Jahren von sechs Großstandorten der

5 Dieses Bild wiederholt sich innerhalb Osteuropas, wo ältere Standorte für eine ge-wisse Zeit die »Führung« der neueren, weiter östlich (zum Beispiel in Sankt Petersburg, Russland) übernehmen, solange bis diese wiederum »eigenständig« sind.

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Firma Solectron nur noch einen, mit prekärem Status und einigen hundert Beschäftigten), konnten die meisten osteuropäischen Standorte überleben. Massenentlassungen fanden zwar auch hier statt, aber Osteuropa profitierte weiter von Verlagerungen aus Westeuropa. Allerdings: bei weitem nicht in dem erhofften Ausmaß! Denn in den letzten Jahren war eine neue Konkur-renzregion äußerst attraktiv geworden: China. Ein Großteil der aus Westeu-ropa abgezogenen Produktion wurde dorthin verlagert. Osteuropa erhielt vor allem Kleinserien, die kaum ausreichten, die Kapazitäten auszulasten. Hatte ein Auftrag bis dato mehrere hundert Menschen beschäftigt, so waren das nun ein bis zwei Dutzend. Die Standorte wurden logistisch und techno-logisch damit weiter anspruchsvoller, auch wenn sie in einer andauernden Krisensituation steckten.

Zudem tritt aus Asien ein neues Modell der Zulieferung auf die Bühne und macht den Kontraktfertigern enorme Konkurrenz: das ODM (Original Designed Manufacturing). Im Unterschied zu den Kontraktfertigern bieten ODM-Unternehmen eigene Design-Produkte unter eigenem Namen an. Vor allem aber treiben sie das Prinzip der Verbilligung durch Masse auf bislang unvorstellbare Höhen, wenn sie in China Fabriken mit vielen zehntausend und Ingenieursabteilungen mit mehreren tausend Beschäftigten betreiben. Foxconn ist ein solches ODM-Unternehmen. Wie der Manager eines Com-puterunternehmens aus England sagte »Es gibt nichts, was Foxconn nicht macht! Und es gibt keinen Preis, den sie nicht unterbieten würden - es wäre verrückt, sie nicht zu nehmen«. Ein anderes solches ODM-Unternehmen ist BenQ, mittlerweile durch den Kauf der Siemens-Handy-Sparte bekannt, (BenQ hatte bereits zuvor Handys für Tchibo, Motorola und Nokia produ-ziert). Kurz: die weltweite Konkurrenz um Absatz und Marktführerschaft übersetzt sich hier in konkurrierende Modelle der (weltweiten) Zuliefe-rung.

Auf den Druck durch zusammenbrechende Märkte bzw. abgezogene Aufträge und die neue Konkurrenz aus Fernost reagierten die in Osteuropa tätigen Manager mit dem Versuch, die Kostenspirale innerhalb Osteuropas nach unten zu drehen. Der Trend nach der Krise 2001 hieß: Verlagerung in den Osten des Ostens. Bereits zuvor war die Verschiebung der Produktion zwischen Standorten in einem Land oder länderübergreifend gang und gäbe, nun wurde die strategische Nutzung der Billigländer innerhalb Osteuropas zur zentralen strategischen Option. Durch Ausrichtung auf angrenzende Länder wie Rumänien oder die Ukraine gelang es mitunter, den Preisvor-stellungen der Markenhersteller noch einige Zeit zu genügen, bevor man den

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Auftrag abgeben musste - entweder an einen Standort des gleichen Unter-nehmens in Fernost oder an einen ganz anderen Zulieferer dort. Dies ist der Fall bei den schon oben angeführten HP-Druckern, deren Produktion in nur zwei Jahren innerhalb des Kontraktfertigers Flextronics zunächst von West- nach Ostungarn und dann weiter in einen neuen Zulieferer-Park in der angrenzenden Ukraine verlagert worden war - bis der Auftrag schließ-lich nach China, an einen neuen Zulieferer, ging. Solche, wenn auch zeitbe-grenzten Erfolge beflügeln die Managementstrategien; gezielt werden neue Standorte in Rumänien, der Ukraine und Russland aufgebaut. Man wolle sich der Konkurrenz aus Asien stellen, so das Management, und diese Län-der bewusst als Alternative zu Fernost platzieren. Gerade für Europa sei die räumliche und auch kulturelle Nähe ein entscheidender Standortvorteil. Davon müsse auch der Kunde überzeugt werden, das sei mittlerweile das Schwerste. Erfolge dieser Strategie sind bislang nicht spektakulär, aber es gibt sie: Rückverlagerungen von China nach Osteuropa.

Das Erzähl-Karussell soll an dieser Stelle angehalten werden. Man könnte jetzt noch von neuem Verlagerungsdruck (aus Vietnam, dem inneren China oder Nordkorea) sprechen, doch das wäre - wenn auch mit Indizien ange-reicherte - Spekulation. Wichtig ist festzuhalten: In der Weltmarktkonkur-renz entsteht kein Modell einer fixierbaren Arbeitsteilung.

Natürlich müssen zu einem gegebenen Moment die über den Globus in verschiedenen Standorten verstreuten arbeitsteiligen Funktionen zueinander passen - sonst stockt der Produktionsprozess (was in der Praxis häufig ge-nug passiert). Nur bildet diese Momentaufnahme, und mir scheint, das ist Globalisierung, keine auch nur mittelfristige Perspektive, auf die sich bspw. gewerkschaftliches Handeln für eine Zeitlang einstellen kann.

Arbeitsverhältnisse in Osteuropa in der Konkurrenz

Was die Situation der Belegschaften in Osteuropa vor allem kennzeichnet, ist eine umfassende Konkurrenz, denn die permanente Unsicherheit der Auftragslage übersetzt sich für sie in permanente Unsicherheit der eigenen Arbeitssituation. Dies galt schon zu Zeiten des Booms, wo ein Großteil der Beschäftigten nur befristet eingestellt war, um bei Auftragsstornierungen kurzfristig entlassen werden zu können, oder wo ungarische Arbeitskräfte ihre Anstellung verloren, weil die Produktion auf estnische Standorte ver-schoben wurde. Große Konkurrenz besteht auch innerhalb eines Landes,

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schon bei der Frage, wo sich die Kontraktfertiger überhaupt ansiedeln (in Polen bewarben sich drei Sonderwirtschaftszonen um das Unternehmen Flextronics) und wie viel von ihren Bauplänen dann realisiert wird. (Flextro-nics versprach, in Polen 10.000 Menschen einzustellen, lange Zeit waren es nur knapp 2.000, heute arbeiten dort etwa 3.000 Menschen.)

Die Konkurrenzsituation verschärft sich in der Krise eklatant. Einerseits gelingt es Osteuropa, weiter an - wenn auch viel kleinere - Aufträge zu kommen, die zuvor in Westeuropa erledigt wurden. Die Beschäftigten von Sanmina SCI in Schottland oder von Solectron in Schottland und Frank-reich erlebten einen rasanten Arbeitsplatzabbau, mit zumeist letztendlicher Schließung der Werke, und ein Teil der Produktion findet sich in Ungarn und Rumänien wieder. Andererseits aber erhöht sich für die MOE-Stand-orte selbst der Konkurrenzdruck untereinander, denn Überkapazitäten und Konkurrenz aus Fernost sind allgegenwärtig. Zu Tausenden wurden Beschäftigte in Ungarn und Polen entlassen, ganze Hallen stehen leer, La-gerräume wurden »umsonst« gebaut; es gab auch einige Werksschließungen (in Polen und Tschechien) und trotz einer - wie es heißt - wieder erholten Konjunktur ist die Zukunft eines Großteils der Standorte der Kontraktfer-tiger ungewiss. Die Einführung der 40-Stunden-Woche und der Verzicht auf Weihnachtsgeld und anderes im westdeutschen Standort Kamp Lintfort, da-mals noch Siemens, und die daraufhin erfolgte Stornierung von Aufträgen für Flextronics führten in Ungarn zu mindestens 1.000 Entlassungen und einer nachhaltigen Gefährdung des Standortes, wo man gehofft hatte, mit den Siemens-Aufträgen aus der Krise zu kommen. Nur relativ besser geht es den weiter östlicher gelegenen Werken in Ostungarn, Rumänien und der Ukraine. Zwar liegt hier die Anzahl der Beschäftigten höher, doch kurzfris-tige Produktionsvergabe nach China steht ebenfalls auf der Tagesordnung.

Kurz: Es entsteht gerade seit der Krise 2001 und dem Auftreten neuer Konkurrenz aus Fernost eine enorme Konkurrenz um Produktion und also Beschäftigung innerhalb der MOE-Standorte. Mit dem Resultat, dass es Be-legschaften und Gewerkschaften schwer haben, Forderungen aufzustellen und durchzusetzen. Auf einem europäischen Treffen berichtet eine unga-rische Gewerkschafterin, dass sie Schwierigkeiten hätten, höhere Löhne zu fordern (s.u.), da das Management mit Verlagerung in eine nur 200 km süd-licher gelegene Stadt gedroht hätte, wo die Löhne bislang in der Tat niedriger sind als im stärker entwickelten Westungarn. Man hätte da wenig machen können, denn der eigene Standort stehe schon seit einiger Zeit ständig kurz vor dem Aus. Polnische Gewerkschafter aus dem untersuchten Betrieb ar-

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gumentieren, dass sie sich in Zurückhaltung üben müssten, bis der Standort über den Berg sei; estnische Gewerkschafter versuchen, Lohnforderungen aufzustellen, die die Situation der Arbeiter verbessern, ohne den Standort zu gefährden.

Umfassende Unsicherheit in Ost und West

Westdeutschen Gewerkschaftern und Belegschaften dürften solche Problem-lagen bekannt vorkommen. Allerdings gibt es bis heute eine weitreichende Abwehr dagegen, sich »in einem Boot« mit osteuropäischen Lohnabhän-gigen zu sehen. Stattdessen hört man in den Betrieben der Bundesrepublik viel, dass man »denen« in Polen oder Ungarn erst mal beibringen müsse, »ordentlich zu arbeiten«, denn dort laufe vieles noch unproduktiv und tradi-tionell. Insbesondere deutsche Betriebsräte und Gewerkschafter sehen sich nach wie vor auf einem besonderen Platz in der Weltökonomie und in Euro-pa: Spitzentechnologie, Exportweltmeister, traditionsreiche Qualitätsarbeit. Gerade gegenüber osteuropäischen Lohnabhängigen wird eine Andersar-tigkeit konstruiert, die es bundesdeutschen Beschäftigten und Betriebsräten wenigstens gedanklich erlaubt, die Konkurrenz von dort abzuwehren.6 Ne-ben Solidarisierungsbekenntnissen gerät z.B. der DGB-Vorsitzende Micha-el Sommer immer wieder in die Verteidigungsrhetorik »Wir dürfen nicht zulassen, dass die polnischen oder slowakischen Arbeitsbedingungen ganz legal zum Standard in Darmstadt, Jena oder Kassel werden« (Sommer 2005). Solche Worte sind kritikwürdig, denn sie schaffen nationale Abgrenzungen. Vor allem sind sie falsch! Um im Bild zu bleiben: »Wir« haben längst pol-nische Arbeitsverhältnisse, und deutsche Arbeitsverhältnisse finden sich in Polen und der Slowakei.

Dieses Bild bedeutet nicht, dass es zwischen Ost- und Westeuropa keine Unterschiede mehr gäbe; es ist schon richtig: Osteuropa ist aus westlicher Sicht eine Niedriglohnregion. Beim Kontraktfertiger Flextronics liegt der Basislohn für Arbeiter in den Niederlanden bei 1.400 Euro, in den genann-ten Ländern zwischen 200 und 300 Euro, jeweils brutto (beide Male kom-men Zuschläge etc. hinzu). Vor allem die Löhne, die teilweise sogar noch

6 Eine gute Studie darüber, wie Konkurrenz gedanklich abgewehrt wird, indem man den Konkurrenten als minderwertig darstellt, lieferte Rainer Zoll Anfang der 1980er Jahre in Bezug auf die Arbeitslosen (Zoll 1984).

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unter den regional üblichen liegen, sorgen in Osteuropa - im Gegensatz zu Klischees von dem für jeden Arbeitsplatz dankbaren Osteuropäer - verbrei-tet für Unmut, denn mit ihnen lässt sich angesichts der sich dem Westen annähernden Lebenshaltungskosten schwer leben. Richtig ist auch, dass die Zahl der unregelmäßigen Arbeitsformen sehr groß ist. Mit befristeter Be-schäftigung zum Beispiel versuchen die Kontraktfertiger, Auftragsschwan-kungen abzufangen. Der Anteil der Befristung in Osteuropa ist hoch, er reicht in den untersuchten Standorten von 30% bis zu 75% der Beschäf-tigten. Hinzu kommt ein umfangreiches Segment von Leiharbeit in den Be-trieben, das seit der Legalisierung von Leiharbeit in vielen MOE-Ländern im Jahr 2002 enorm anwächst. Der Anteil von Leiharbeit im Betrieb liegt verbreitet bei einem Drittel der Beschäftigten und erreicht in einem Betrieb sogar 2.000 von 3.000 Beschäftigten. Wir finden Bereitschaftsdienste und eine kaum zu überblickende Zahl von hochflexiblen, ständig wechselnden Arbeitszeitmodellen; wir finden Diskussionen zur Wiedereinführung des 12-Stunden-Tages, kurz: Kontraktfertigung in Osteuropa ist in diesem Sinne hochflexible, moderne Niedriglohnarbeit. Nur: Was ist jetzt hier »typisch osteuropäisch«? Die Zahl der Leiharbeitnehmer erreichen auch in den west-europäischen Kontraktfertigern, und auch bei Markenherstellern wie Nokia oder Motorola in der Bundesrepublik, 50% und mehr der Belegschaft. Auch in höhergestellten Ingenieursbereichen ist Leiharbeit kein Tabu mehr. Ein-stellungen erfolgen in nahezu allen Betrieben und Bereichen fast nur noch befristet. Hochflexible und zugleich unsichere Beschäftigung kennzeichnen die Situation in den meisten Betrieben, über Betriebsvereinbarungen wer-den Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen beschlossen, in Kamp Lintfort (damals noch ein Siemens-Standort) diskutierte man die teilweise Wiedereinführung der 12-Stunden-Schicht. Entlassungen konnten trotzdem nicht verhindert werden und über allem liegt, hier wie in Osteuropa, die andauernde Frage, wie lange die Standorte überhaupt noch existieren. Alca-tel, der französische Elektronik-Konzern, war auch in der Bundesrepublik bis vor nicht langer Zeit ein wichtiges Produktionsunternehmen mit 11.000 Beschäftigten und 15 Standorten; heute gibt es noch vier Standorte mit etwa 5.000 Beschäftigten, die letzte Produktion wurde im Juni 2005 eingestellt, sie wurde auf die Kontraktfertiger, zum Beispiel Flextronics, verlagert. Doch die Unsicherheit an den deutschen Standorten geht weiter: Wird die Ent-wicklungstätigkeit in Asien neu konzentriert? Soll Berlin bestehen bleiben oder die Tätigkeiten in die Nähe von Erfurt verlagert werden? Als prinzi-pieller Unterschied zwischen Ost und West bleiben die Löhne. Nur: die sind

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auch in der Bundesrepublik schon lange nicht mehr durchgängig so hoch, wie gemeinhin angenommen. In einem namhaften deutschen Markenher-steller bekommt eine angelernte, seit vielen Jahren hier beschäftigte Frau mit zwei Kindern, allen Schichten und Zuschlägen inklusive, 1.300 Euro netto pro Monat. In Ostdeutschland liegen die Löhne in vergleichbaren Fällen bei ca. 1.000 Euro.

Noch einmal: Hier geht es nicht darum, Verschiedenheiten wegzureden und alles »gleichzumachen«. 1.000 Euro netto wären für polnische Arbeiter schon eine große Erleichterung. Nur rechtfertigen diese und andere Diffe-renzen nicht, die bundesdeutschen Arbeitsverhältnisse als Vorbild für Euro-pa zu konzipieren, das nun aus Osteuropa heraus angegriffen wird und also verteidigt werden muss. Auch deshalb nicht, weil - was viele Betriebsräte, Gewerkschaftsfunktionäre etc. bislang nur ungern wahrhaben wollen - die Bundesrepublik längst selbst als Lohndrücker in Europa auf den Plan tritt. Nicht nur gegenüber französischen Standorten, wo dortige Gewerkschaf-ter unter Druck geraten, weil ihnen das Management die hierzulande über Betriebsvereinbarungen üblich gewordene Wiedereinführung der 40-Stun-den-Woche vorhält. Auch gegenüber osteuropäischen Standorten bewirken bundesdeutsche Vereinbarungen »Druck«: Der Widerstand ungarischer Gewerkschafter gegen eine Einführung des Samstags als Normalarbeitstag ging verloren, ohne dass es seitens der bundesdeutschen Betriebsräte auch nur eine größere Kommunikation darüber gegeben hätte - Samstagsarbeit ist hier längst normal.7

Gegen die Vorstellungen von »Osteuropa« als einer Niedrigkostenregion wehren sich dortige Gewerkschafter und Beschäftigte vehement.8 Sie seien osteuropäisches Hochlohnland, stellen polnische Gesprächspartner klar, ebenso wie ungarische und estnische. Tagtäglich bekommen sie zu hören,

7 Die Rolle der Bundesrepublik als diejenige, die Sozialdumping betreibt, gerät in jüngster Zeit in den Fokus gewerkschaftlicher Statements. So rankte sich ein Vortrag des ver.di Vorsitzenden Frank Bsirkse am 20. Juni 2006 an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main um dieses Thema und Detlef Hensche schreibt: »Hinsichtlich der Lohn- und Gehaltserhöhungen sind die deutschen Gewerkschaften bekanntlich Schlusslicht in Europa; wenn von Lohndumping - übrigens auch von Steuerdumping - in Europa die Rede ist, müssten sämtliche Finger anklagend auf die Bundesrepublik weisen« (Hensche 2006: 197).

8 Eine systematische Auseinandersetzung mit Vorstellungen und Forderungen sei-tens der Gewerkschaftsaktivisten und Betriebsräte in den untersuchten Werken soll hier nicht erfolgen. Diese findet sich in einem anderen, auch im Internet zugänglichen Artikel (Hürtgen 2003).

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dass - wenn hohe Löhne gefordert würden - die Investitionen leider wei-ter nach Osten wandern müssten. Die Konkurrenz zu Rumänien, Russland etc. ist groß. Schon heute fungieren ausländische Beschäftigte aus weiter öst-lichen Ländern massiv als Lohndrücker, ebenso wie Polen etc. bei uns. In Nordungarn werden jeden Morgen slowakische Leiharbeiter in die Elektro-nik-Betriebe von Komárom gebracht, in Ostungarn sind regelmäßig viele ukrainische Arbeiter zum »Anlernen« vor Ort, im Süden Ungarns wird die neue Zusammenarbeit mit ausländischen Leiharbeitsfirmen erprobt, denn die serbischen Arbeitskräfte seien billiger als die ungarischen. In Estland ist es die russische Minderheit, die den Gewerkschaftern Sorgen macht, denn diese sei im Betrieb zu wenig integriert und lasse sich zu viel gefallen. Lohn-druck gebe es prinzipiell, wenn auch nicht im untersuchten Kontraktfertiger, von Seiten der Ukraine.

Kurz: Die Instabilität in der betrieblichen Beschäftigung wird zu groß-en Teilen wahrgenommen als Bedrohung »aus dem Ausland« - auch das ist hier, in der Bundesrepublik, nicht anders als in den benachbarten MOE-Ländern. Auch hier stellt sich das Problem, dass gewerkschaftliche Politik ad hoc als Verteidigung von nationalen Errungenschaften konzipiert wird. Die Konkurrenten werden als andersartige beschrieben, um sie wenigstens gedanklich noch von sich selbst fernzuhalten. Um den Preis allerdings, dass hüben wie drüben die Frage nach den Gemeinsamkeiten in den aktuellen Ausbeutungsverhältnissen nicht systematisch gestellt werden kann.

Doch gibt es gegen die Figur der Andersartigkeit eine zentrale Gemein-samkeit zwischen den Ländern und den sozialen Gruppen: Diese besteht meines Erachtens, das sollten die vielen einzelnen Schilderungen verdeut-lichen, in einer enormen Unsicherheit der sozialen Existenz von Lohnab-hängigen. Es ist ungewiss, ob ein Investor in die Region kommen wird, ob dort eine Anstellung gefunden wird (zum Beispiel, ob man die vorgelagerten Tests etc. besteht), es ist ungewiss, ob nach der Befristung von drei oder sechs Monaten die Anstellung verlängert wird oder nicht, oder wie lange der gesamte Standort oder auch nur einige Produktions- und Tätigkeitsbereiche weiter hier angesiedelt bleiben. Auch auf die einmal vereinbarte Lohnhöhe ist kein Verlass, sie soll und wird häufig nach unten »gedrückt«. Im Resultat entsteht eine umfassende Unsicherheit, das heißt Unplanbarkeit der materi-ellen und damit sozialen Existenz.

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Fazit: Konkurrenz thematisieren und Anspruchslogiken entwickeln

Die hier skizzierten Überlegungen sind prinzipieller Natur. Sie betreffen die Frage, auf welcher gedanklichen Basis gewerkschaftliche Forderungen und ihre Durchsetzung überhaupt beruhen. Bislang fragt der ganz überwiegende Teil von Aktivisten, auch der Gewerkschaftslinken danach, welche Akteurs-gruppen aus ihrer Stellung im Produktionsprozess als der »starke Kern« der Ökonomie angesehen werden, um darauf Durchsetzungsfähigkeiten der ei-genen Forderungen abzuleiten.

Diese Grundkonstruktion findet sich in der oben angesprochenen Vorstel-lung einer besonderen, nämlich hochproduktiven, qualitativ hochwertigen Produktion in Deutschland, die ihrerseits entsprechend hohe Löhne und Sozialleistungen rechtfertige. Doch auch die Fragestellung nach den neuen Kernsegmenten in der Industrie und den auf diese Weise zu entdeckenden neuen Vorreitern in der Gewerkschaft basiert auf der Idee einer besonderen Position im Produktionsprozess, aus der eine besondere Handlungsfähig-keit folge. Natürlich, zu einem gegebenen Zeitpunkt ist die Gegenseite von bestimmten sozialen Gruppen vielleicht verwundbarer als von anderen. Nur kann man doch angesichts einer allumfassenden und längst breit diskutier-ten Schwächung der betrieblichen Kernbelegschaften (x-fach manifestiert in Entlassungen, Lohnkürzungen etc.) nicht wieder abermals auf die Suche ge-hen nach einem vielleicht doch prinzipiell sicheren gewerkschaftspolitischen Akteur. Nach den »neuen Angestellten«, die gerade in den letzten Jahren zu Tausenden entlassen worden sind, hat auch der letzte Versuch in dieser Rich-tung arge Dämpfer erlitten: Die Hoffnungen auf eine neue Arbeiteravant-garde bei den »Wissensarbeitern« oder »High-Tech-Arbeitern« in der IT-Industrie gerieten zusammen mit dem Platzen der New-Economy-Blase ins Trudeln. Kurz: Angesichts einer permanenten Umstrukturierung von Pro-duktion kann kein halbwegs stabiles soziales Modell der Ausbeutung kons-truiert werden, wo dem arbeiteraristokratischen Kyberiat ein in unsicherer Existenz gehaltenes Prekariat gegenübersteht - egal ob der Unterschied zwi-schen beiden in der sozialen Produktionshierarchie (Wissensarbeiter hier, austauschbare manuelle Arbeiter dort) oder regional (deutsch - polnisch) festgemacht wird. Dies bedeutet nicht, dass nicht bestimmte (neu entstehen-de) Berufsgruppen für eine Zeit eine für sie vorteilhaftere Arbeitsmarktsitu-ation innehaben können, aus der heraus sie Forderungen durchsetzen kön-nen. Nur ist die Halbwertzeit solcher »neuen Märkte« vermutlich abermals gering, solange sich jede Menge verfügbares Kapital darauf stürzen kann,

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um so auch hier wieder nach kurzer Zeit eine Situation der Überkapazität zu schaffen (zur Debatte um den Finanzmarktkapitalismus vgl. Windolf 2005).

Vor allem aber: Die Konstruktion von »fest« oder »normal« Beschäftigten hier und prekär Beschäftigten und Arbeitslosen dort muss immer als nach-rangig betrachten, was doch der zentrale Motor wachsender Unsicherheiten auch in den vermeintlichen »Kernen« der Produktion ist: die Konkurrenz zwischen Arbeitskräften - um Anstellung, um Lohnhöhen, Arbeitsbedin-gungen und Sicherheiten.9 Diese Konkurrenz ist allgegenwärtig, aus betrieb-licher Sicht als Standortkonkurrenz ausgetragen, und die Frage nach dem neuen kämpferischen Arbeitnehmersubjekt tut so, als gäbe es einen qua Pro-duktionsorganisation halbwegs geschützten Bereich. Das aber ist die Frage nach dem richtigen Subjekt im falschen Leben, als wäre mit einer möglichst umfassenden Denunziation der Standortideologie der faktische Konkur-renzzusammenhang aus dem Weg. Dabei erfolgte nicht einmal der spontane und wütende Streik bei Opel in Bochum im Herbst 2004 jenseits der Stand-ortlogik. Wie auch, wenn von der Erwerbstätigkeit die eigene Lebenspla-nung abhängt.

Kurz: Vor dem Hintergrund einer Beobachtung von Globalisierung als einer »permanenten Restrukturierung« erweist es sich als kontraproduktiv, gewerkschaftspolitische Forderungen im weitesten Sinne aus der Zugehö-rigkeit bzw. der Stellung in einem bestimmten ökonomischen System heraus abzuleiten, denn diese ist immer auch systematisch gefährdet. Stattdessen ginge es darum, die Begründungsmuster gewerkschaftlicher Ansprüche neu anzugehen. Anstatt auf die eigene Leistung im Wirtschaftssystem zu verwei-

9 Prekarität wurde in der Bundesrepublik lange Zeit als wachsendes Randgruppen-phänomen diskutiert. Bezeichnenderweise war der Begriff zum Beispiel in Polen in Gewerkschaftskreisen noch bis vor kurzem weitgehend unbekannt, obwohl die Ar-beitsverhältnisse durchaus als prekär bezeichnet werden können. Diese Unkenntnis verweist darauf, dass »Prekarisierung« gedanklich konzipiert ist als Abweichung von einem - immer auch idealisierten und verallgemeinerten - Normalarbeitsverhältnis (das zum Beispiel in Polen so nicht bestand). Prekarisierung wurde so zu einem so-ziologischen Phänomen derjenigen, die keine »normale« Anstellung fanden: Illegale, Leiharbeiter, Teilzeitkräfte, Leichtlohngruppen, Befristete. Das Problem dieser sozi-ologisch ausgerichteten Debatte war immer, dass eine mehr oder minder willkürliche Einkommensgrenze die Grenzlinie zwischen »sicher« und »unsicher« darstellte. Mir scheint, dass solche soziologischen Versuche der Einkastelung heute nicht mehr zeit-gemäß sind. Angemessen wäre in Zeiten von Globalisierung vielmehr ein polit-ökono-mischer Begriff von Prekarität: zur Bezeichnung der systematischen Unsicherheit in der Existenz als Lohnabhängiger. Zur Debatte um Prekarisierung siehe die Beiträge auf www.labournet.de.

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sen, sollte anerkannt werden, dass der Status der Leistungserbringung selbst prinzipiell prekär geworden ist und also als Legitimationsfolie nicht mehr taugt. Anstatt auf die vermeintlich geringere Leistungskraft ausländischer Beschäftigter, Leiharbeiter oder sonstiger »andersartiger« Lohnabhängi-ger zu verweisen, sollte eine Verständigung darüber beginnen, welche An-spruchshaltungen die jeweils »Anderen« für sich entwickelt haben - und ob diese Anspruchshaltungen Anknüpfungspunkte für die eigenen enthalten. In einem Interview mokierte sich ein westdeutscher Betriebsrat lang und breit darüber, dass in einem ungarischen Elektronik-Werk (wohin große Teile der zuvor bei ihm im Werk getätigten Produktion hinverlagert worden war) die Arbeitskräfte-Fluktuation so hoch sei. Auf diese Weise könne die Qualität nicht stimmen. Vor allem im Sommer würde »fast die ganze Beleg-schaft« an den Balaton fahren (ein großer See und beliebtes Urlaubsziel), um dort als Kellner zu arbeiten, das ergäbe einen deutlich höheren Verdienst. Anstatt sich hier in der Vision einer unzuverlässigen osteuropäischen Arbei-terschaft bestätigt zu sehen, hätte der Betriebsrat die auf diese Weise indirekt zum Ausdruck gebrachten Lohnforderungen der ungarischen Beschäftigten wahrnehmen, vielleicht verbreiten können. Das hätte aber zweierlei bedeu-tet: die massive Konkurrenzsituation, die zwischen der ungarischen und deutschen Belegschaft entstanden war, überhaupt beim Namen zu nennen, anstatt sie in Klischees von den unzuverlässigen Ungarn wegzuretuschieren. Es hätte zweitens bedeutet, soziale Forderungen in Hinblick auf die eigene Lebensqualität als Lohnabhängiger anzuerkennen, unabhängig davon, wie groß der Beitrag zum Wohlergehen der kapitalistischen Wirtschaft oder auch nur des Standortes gewesen ist. Es hätte mit anderen Worten ein eigenstän-diges Begründungsmuster der sozialen Anliegen bedeutet,10 das die Qualität des eigenen Lebens in den Vordergrund stellt.

Die Loslösung einer Legitimation von sozialen Anliegen von Leistung und Erwerbsarbeit mündet in Begründungsmustern, die Forderungen nach einem »guten Leben« zum nicht weiter herzuleitenden Ausgangspunkt er-

10 Klaus Dörre schreibt, dass die wirtschaftsdemokratischen Ambitionen der Ge-werkschaften, ohnehin in die Programmatik verbannt, »die Konturen eines organi-sierten Kapitalismus widerspiegeln] , der so nicht mehr existiert. Eine neue, auf die Realitäten des flexiblen Kapitalismus bezogene Konzeption ist bislang nicht gefunden. Soll der Gedanke vom »Bürgerstatus« in Betrieben und Unternehmen nicht zur bloßen Phrase gerinnen, bedarf er jedoch einer eigenständigen Begründung außerhalb der wirt-schaftlicher Effizienzkalküle.« Für die innerbetriebliche Mitbestimmung setzt Dörre dann perspektivisch auf eine »Politik der Teilhaberechte« (Dörre 2002: 408).

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klären. Solche Forderungen und Diskussionen gibt es, auch wenn sie bislang gerade hierzulande äußerst minoritär blieben. Volker Koehnen greift ein Menschenbild an, nach dem eine menschenwürdige Existenz erst »verdient« werden muss und schlägt ein politisches Netzwerk entlang der Frage »Wie wollen wir leben?« vor (Koehnen 2005). Andere Diskutanten versuchen, Maßstäbe einer »menschengerechten Arbeitsgestaltung als gewerkschaft-liche Querschnittsaufgabe zu verankern« (Pickshaus 2006: 173). Im gewerk-schaftlichen Jugendbereich heißt eine gern auf Demonstrationen getragene Parole: »Her mit dem schönen Leben!« Und in »linksradikalen« Kreisen gibt es Kampagnen wie die »Berlin umsonst«.

Solche Ansätze haben gemein, dass sie die Suche nach einem ökono-mischen Modell, auf das Gewerkschaftspolitik bauen kann, weitgehend auf-gegeben haben. Anders gesagt: Stabilität in einem sozialen Sinne, entlang von Lebensgestaltung, scheint es auf absehbare Zeit nicht mehr zu geben - egal, ob man diesen Zustand als ein neues Kapitalismusmodell identifiziert oder nicht. Soziale Stabilität muss insofern selbst erstritten werden, ohne Rekurs auf eine Wachstumsstabilität, die von ihrer eigenen sozialen und ökolo-gischen Basis weniger denn je wissen will.

Modelle sind als heuristische Konstruktionen zum Verständnis und zur Verständigung über den aktuellen Kapitalismus sinnvoll. Sie geraten aber an ihre Grenze, sobald aus ihnen gewerkschaftliche Handlungsstrategien ent-wickelt werden sollen, denn gerade die gedankliche Stabilität, die einem Mo-dell zugrunde liegt, findet sich in den sich ständig ändernden, hinterfragten Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen immer weniger. Anstatt auf schmel-zende oder unsicher Kernbereiche des Arbeitslebens zu orientieren (seien dies regionale, wie die Bundesrepublik, oder soziale, wie die »Wissensarbei-ter«) scheint es mir politisch sinnvoller, endlich den konkurrenziellen Zusam-menhang dieser verschiedenen örtlich und sozial segmentierten Kategorien von Lohnabhängigen in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Betrachtung zu stellen. Das bedeutet nicht, von heute auf morgen eine »solidarische«, stand-ortideologiefreie Argumentation entwickeln zu können - die enorme soziale Konkurrenz zur Kenntnis zu nehmen heißt auch, ihre reale Wirksamkeit zur Kenntnis zu nehmen. Es könnte aber bedeuten, die Entwicklung einer eige-nen Logik von Lebensansprüchen überhaupt in Angriff zu nehmen.

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Literatur Dörre, Klaus (2002): Kampf um Beteiligung. Arbeit, Partizipation und industrielle

Beziehungen im flexiblen Kapitalismus, Wiesbaden Dörre, Klaus (2003): Das flexibel-marktzentrierte Produktionsmodell - Gravi-

tationszentrum eines »neuen Kapitalismus«?, in: Klaus Dörre/Bernd Röttger (Hrsg.), Das neue Marktregime. Konturen eines nachfordistischen Produkti-onsmodells, Hamburg

Haipeter, Thomas (1999): Zum Formwandel der Internationalisierung bei VW in den 80er und 90er Jahren, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissen-schaft, Heft 114, Nr. 1/1999, S. 145-171

Hensche, Detlef (2006): Anmerkungen zum »Epochenbruch«, in: Dieter Scholz u.a., Turnaround? Strategien für eine neue Politik der Arbeit. Herausforde-rungen an Gewerkschaften und Wissenschaft, Münster

Hürtgen, Stefanie (2003): Der ganz normale Weltmarkt. Kontraktfertigung als »Unterseite« der New Economy und Formen gewerkschaftlicher Interessen-artikulation in Osteuropa, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, Heft 14, abrufbar unter: http://www.ifs.uni-frankfurt.de/people/huertgen/in-dex.htm

Koehnen, Volker (2005): Ende des Arbeitszwangs. Gefahr für Demokratie - ein gesellschaftliches Leitbild jenseits der Erwerbstätigkeit schafft Abhilfe, in: Frankfurter Rundschau vom 1.7.2005; zit. nach: http://www.archiv-grundein-kommen.de/koehnen/Koehnen2.pdf; download am 16.August 2006

Lüthje, Boy (2001): Silicon Valley. Ökonomie und Politik der vernetzten Massen-produktion, Frankfurt/New York

Pickshaus, Klaus (2006): Arbeitspolitik im Umbruch - gute Arbeit als neuer stra-tegischer Ansatz, in: Dieter Scholz u.a., Turnaraound? Strategein für eine neue Politik der Arbeit. Herausforderungen an Gewerkschaften und Wissenschaft, Münster

Sauer, Dieter (2005): Arbeit im Übergang. Zeitdiagnosen, Hamburg Sommer, Michael (2005): Den Fall der Löhne stoppen, in: Frankfurter Rundschau

vom 21.12.2005 Windolf, Paul (Hrsg.) (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel

von Produktionsregimen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-logie, Sonderheft Nr. 45/2005, Wiesbaden

Wolf, Frieder Otto (2006): Der »Epochenbruch« als historisches Periodisierungs-problem, in: Dieter Scholz u.a., Turnaraound? Strategein für eine neue Politik der Arbeit. Herausforderungen an Gewerkschaften und Wissenschaft, Mün-ster

Zoll, Rainer (Hrsg.) (1984): »Die Arbeitslosen, die könnt' ich alle erschießen!« Arbeiter in der Wirtschaftskrise, Köln

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Hans Jürgen Krysmanski Geldmacht Strukturen und Akteure des Reichtums

Reichtum und Geldmacht haben auch unter klassentheoretischen Gesichts-punkten eine neue historische Stufe erreicht. Selbst wenn nach unserer Auf-fassung die Postulierung einer globalen »herrschenden Klasse« verfrüht ist, ist die Frage nach einem solchen neuen Souverän sinnvoll. Wir werden zunächst einmal versuchen, die Akteure und Profiteure des gegenwärtigen, teils noch »kapitalistischen«, teils aber schon »transkapitalistischen« Globa-lisierungsprozesses als ein komplexes Netzwerk teils kooperierender, teils konkurrierender Eliten darzustellen.1 Zu diesem Zweck verwenden wir ei-nen neuen Begriff: Geldmachtapparat.

In diesem »Geldmachtapparat« genannten Netzwerk beginnen sich ver-schiedene, per se höchst interessante Gruppen heimisch zu machen: teils in Gestalt eines über Generationen vererbten Reichtums, teils in Gestalt alten oder neuen europäischen Adels, teils in Gestalt eines mithilfe technischer, finanzpolitischer oder marketingmäßiger Innovationen zusammengerafften Neureichtums, teils in Gestalt eines durch korrupte Privatisierungspraktiken erzeugten Oligarchentums, teils in Gestalt von Mafia-Milliardären.

In einem zunächst einzig durch Geldreichtum definierten Netzwerk von Personen und Gruppen können vielfältigste gegensätzliche Interessen, Kon-flikte und Widersprüche aufbrechen. Doch haben die derzeit beobachtbaren Akkumulationsprozesse - eine seltsame Mischung aus klassischer Kapital-verwertung und »Akkumulation durch Enteignung«2 - auch soziale und kulturelle Integrationseffekte. Eine neue Oberschicht mit eigenen Macht-und Herrschaftsperspektiven entsteht, deren vereinheitlichendes Vorbild die US-amerikanische Plutokratie sein dürfte.

1 Vgl. H.J. Krysmanski, Herrschende Klassen, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von W.F. Haug, Bd. 6/1, Berlin 2004; Mattei Dogan, »Is there a Ruling Class in France?«, in: Comparative Sociology, Vol. 2, Issue 1, 2003

2 David Harveys Begriff der »accumulation by dispossession« (Akkumulation durch Enteignung) umschreibt den heutigen Kern von »Privatisierung«, vgl. D. Harvey, The New Imperialism, Oxford 2003 (dt. Der neue Imperialismus, Hamburg 2005)

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Geldmacht - Strukturen und Akteure des Reichtums 127

Über diese Schicht des amerikanischen Superreichtums schrieb Ferdinand Lundberg einst: »Der Superreichtum weist bestimmte Charakteristika auf: Zunächst einmal verfügt er über eine oder mehrere Großbanken. Ferner übt er einen absoluten oder zumindest doch beherrschenden Einfluss auf einen, zwei, drei oder mehr große Industriekonzerne aus. Ferner kontrolliert die jeweilige Familie eine oder auch mehrere von ihr errichtete Stiftungen. Zu ihren Vermögenswerten gehören einerseits handfeste Aktienpakete, die eine Kontrolle über riesige industrielle Bereiche sichern. Zum anderen aber sol-len sie gesellschaftspolitischen Einfluss auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens ermöglichen und eine Vielzahl ideeller Ziele fördern. Diese stein-reichen Familien haben außerdem eine oder mehrere Universitäten oder Technische Hochschulen gegründet - zumindest unterstützen sie solche Institute in großem Ausmaß. Darüber hinaus treten sie als politische Geld-geber auf - meistens zum Nutzen der Republikanischen Partei, die so etwas wie das Spiegelbild der Reichen im Lande ist. Diese Familien haben große Vermögenswerte im Ausland angelegt, so dass sie an der Außen- und der Verteidigungspolitik der Regierung, aber auch an ihrem allgemeinen poli-tischen Kurs besonders stark interessiert sind. Zugleich üben sie direkten Einfluss auf die Massenmedien aus, da ihre Konzerne den Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehstationen riesige Beiträge für die Wer-bung zahlen.«3

Es handelt sich also um die Elite der privaten Anteilseigner, um die Kon-zentration von riesigen, aus vielen unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen gefilterten Geldvermögen in den Händen einiger weniger Personen und Fa-milien. Hinzu kommen die Verschiebung öffentlichen Eigentums (des Staa-tes, der Kommunen) und gesellschaftlichen Eigentums (Wasser, Natur usw.) in eben diese Sphäre privaten shareholder-Eigentums. Und angesichts des Zusammenbruchs der Steuerungsinstanzen der bürgerlich-kapitalistischen Welt4 werden die in den bisherigen, »alten« Systemen erworbenen Positi-onsvorteile, Klassenprivilegien usw. zur immer rücksichtsloseren Akkumu-lation von Geld, bis hin zu systemischer Korruption, eingesetzt. Das ist ein neuartiges Regime.

3 F. Lundberg, Die Reichen und die Superreichen. Macht und Allmacht des Geldes, Hamburg 1969, S. 116

4 Vgl. Jürgen Roth, Der Deutschland-Clan, Frankfurt/M 2006; Thomas Leif, Bera-ten und verkauft, München 2006; Albrecht Müller, Machtwahn, München 2006; Jean Ziegler, Das Imperium der Schande, München 2005

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128 Hans Jürgen Krysmanski

Es hat allerdings alte Wurzeln, die beispielsweise etwas mit den histo-rischen Phänomenen der ursprünglichen Akkumulation und mit der Rolle des (absolutistischen) Staates zu tun haben: »Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeu-gungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne dass es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühe und Gefahr auszusetzen.«5 Dieses Schuldenmachen ist ja keineswegs ein schicksalhaftes Verhängnis, sondern gehört zu den Kernprojekten des Neoliberalismus und ermöglicht heute ja erst die Anhäufung jener gewal-tigen Privatvermögen, die den Geldmachtapparat tragen.

Nach Michel Chossudovsky ist so ein Teufelskreis in Gang gekommen. Von Geldpolitik als einem Mittel staatlicher Intervention kann keine Rede mehr sein: »Geldpolitik ist weitgehend eine Sache der Privatbanken, und Geldschöpfung - zu der ganz wesentlich die Verfügungsgewalt über reale Ressourcen gehört - findet innerhalb eines inneren Kreises des internationa-len Bankensystems statt und dient allein der Anhäufung privaten Reichtums. Mächtige Finanzakteure haben nicht nur die Fähigkeit, Geld zu schöpfen und ohne Behinderung frei zu bewegen, sondern können auch die Zinssätze manipulieren und den Niedergang großer Währungen beschleunigen ... Das bedeutet in der Praxis, dass die Zentralbanken nicht mehr in der Lage sind, die Geldschöpfung im Allgemeininteresse der Gesellschaft zu regulieren, um etwa Produktionsanreize zu schaffen oder die Beschäftigung zu fördern.«6

Mit riesigem Propagandaaufwand wird das ideologische Projekt einer Ownership Society vorangetrieben: »So wie wir Konservativen unsere Werte von Generation zu Generation weiterreichen, so möchte ich auch den Reich-tum zwischen den Generationen weiterfließen sehen. Wir wollen nicht, dass jede Generation von vorne anfangen muss, abgeschnitten von der Vergan-genheit und ungewiss ob der Zukunft.«7 Und das Cato Institute setzt noch eins drauf: »Individuen gewinnen Verfügungsmacht, wenn sie sich von den Almosen des Staates unabhängig machen und stattdessen ihr eigenes Leben und Schicksal kontrollieren. In der ownership society kontrollieren Patienten ihre eigene Gesundheitsversorgung, Eltern die Ausbildung ihrer Kinder, Ar-

5 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, MEW 23, S. 787 6 M. Chossudovsky, Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg,

Frankfurt/M 2002, S. 306ff. 7 John Major, ehem. brit. Premier, 1991 in einer Rede, http://en.wikipedia.org/wiki/

Ownership_society

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beiter ihre Rücklagen für den Lebensabend.«8 Es ist die perfekte Nebelwand, hinter der sich die Interessen einer kleinen, superreichen Oberschicht zu einem Geldmachtapparat formieren können.

Laut Merrill Lynch World Wealth Report 2006 stieg das Vermögen der so genannten High Net Worth Individuais (HNWIs) - mit einem Netto-Geldvermögen (ohne Erstwohnsitz und Konsumvermögen) von mindes-tens 1 Mio. US-$ - im Jahre 2005 auf 33,3 Bill. US-$ an, ein 8,5prozentiger Zuwachs gegenüber 2004. Oder anders gesagt, die Zahl der HNWIs wuchs gegenüber 2004 um 6,5% auf 8,7 Millionen Personen weltweit. Und die Zahl der Ultra-HNWIs, die über mehr als 30 Mio. US-$ verfügen, wuchs 2005 auf 85.400 Personen weltweit. Trotz einer gewissen Verlangsamung stellten dabei die USA noch immer die meisten HNWIs mit dem weltweit größten Anteil an akkumuliertem Reichtum. Für die Reichtumsakkumulation am in-teressantesten erwiesen sich die asiatisch-pazifische Region, ebenso Latein-amerika und der Mittlere Osten. In Südkorea stieg die Anzahl der HNWIs um 21%, in Indien um 19%, in Russland um 17% und in Südafrika um 15%. Dabei lässt sich, so Merrill Lynch, beobachten, dass eine zunehmende Zahl von HNWIs die Strategien der Ultra-HNWIs kopiert und ihre Portefeuilles auf internationale Investitionen umorientiert, um am Aufschwung jener neuen Märkte, insbesondere in Asien, teilzuhaben und der Unsicherheit des Dollars entgegenzuwirken. Auch die HNWIs würden also »aggressiver« und skeptischer gegen Investitionen in Nordamerika, auch wenn dies die für Investitionen populärste Region bliebe. Obgleich die asiatisch-pazifische Region Europa im Jahre 2005 an Dynamik übertraf, blieb Europas Anteil an den globalen Nettovermögenswerten konstant bei 22%. Die gute Perfor-mance der »reifen« europäischen Kapitalmärkte und die Dynamik der neuen europäischen Märkte veranlasste die regionalen HNWIs, 48% ihrer Investi-tionen in Europa zu tätigen - verglichen mit 40% im Jahre 2004. Gleichwohl wird erwartet, dass auch die Europäer künftig weniger in den USA und in Europa selbst investieren werden, zugunsten der asiatisch-pazifischen und lateinamerikanischen Märkte.9

Für Karl Marx ist der bürgerliche Reichtum »eine ungeheure Warensamm-lung«,10 die nicht durch ihre Gebrauchseigenschaften, sondern allein durch

8 Homepage des Cato Institute: »Ownership Society Philosspecial/ownership_society/

9 Capgemini Consulting, Press Release, June 20, 2006, wwwworldwealthreport06/wwr_pressrelease.asp?ID=565

10 Vgl. Karl Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/1858, MEW 42, S. 322

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ihr Wertdasein und ihre Verwertung bestimmt ist. Diese Bestimmung des Vermögens als Kapital findet schließlich im abstrakten Medium des Geldes seine fertige Gestalt. Geld verkörpert damit in unseren Gesellschaften die »stets schlagfähige, absolut gesellschaftliche Form des Reichtums«.11 An-dererseits umfasst die Vermögensrechnung der privaten Haushalte noch weitere Werte: Grund- und Immobilienvermögen; Betriebsvermögen als unmittelbares Eigentum an Unternehmen; Gebrauchs- oder Konsumver-mögen; Geldvermögen (Bargeld, Guthaben, Geldanlagen, Rentenwerte, Aktien u.ä.); Humanvermögen; Sozialvermögen (Renten- und Versorgungs-ansprüche); private Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen, Lizenzen, Patenten usw.12

Die Frage, auf welche Weise diese Multimillionäre zu ihrem Reichtum gekommen sind, wird immer wieder zu dem Phänomen führen, dass hier ein Geldmachtapparat entstanden ist, welcher unternehmerische Eigentums-operationen, die Generierung von Einkommen aus allen möglichen Quellen (insbesondere den Finanzmärkten), die Vererbung und auch den Raub in einen abgestimmten und vermachteten, netzwerkartigen Zusammenhang bringt. In ihm wird vor allem auch das klassische Betriebsvermögen, in Ge-stalt von kleinen und großen Unternehmen, immer »flexibler« gehandhabt, hin und her geschoben, kurzfristig veräußert, zusammengelegt, »filetiert« usw., sodass es in erster Linie solche Geschäfte mit verflüssigtem Betriebs-vermögen (und nicht Geschäfte auf der Basis von Betriebsvermögen) sind, welche die großen Revenuen erbringen.

Neben Geldvermögen und verflüssigtem Betriebsvermögen wächst heute für die Schicht der Superreichen die Bedeutung des Gebrauchsvermögens im Luxussegment. Luxuskonsum dient der Sicherung des sozio-kulturellen Status und ist damit eine herrschaftsnützliche Form der Kapitalvernichtung. In diesem Sinne waren und sind beispielsweise die Wohnsitze der Vermö-genden ein zentraler Raum für conspicuous c o n s u m p t i o n , 1 3 vom Feudalismus bis heute. Auch Mobilität war schon immer ein Feld demonstrativen Kon-sums - von Kutschen zu Rolls Royces, Privatjets usw. Und auch der Kunst-

11 Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW 23, S. 145 12 Ulrich Busch, »Der Reichtum wächst, aber nicht für alle«, in: Utopie kreativ,

April 2003, S. 320 Thorstein Vehlen, The Theory of the Leisure Class, 1899 (dt. Theorie der feinen

Leute, Frankfurt/M 1997)

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markt spielt eine besondere - und besonders subtile - Rolle im Bereich des demonstrativen Konsums.14

Auch kulturelles Kapital im Sinne Pierre Bourdieus, vor allem Bildungs-privilegien und -titel, wird zunehmend monetarisiert. Eliteuniversitäten bleiben den Kindern der Reichen vorbehalten - und den sorgfältig ausgele-senen Best and Brightest aus den übrigen Schichten, welche eines der dünn gesäten Stipendien ergattern und später gehobene Dienstleistungspositionen einnehmen dürfen. Die übrigen Bildungswilligen müssen sich verschulden. Amerikanische Hochschulabsolventen verlassen inzwischen ihre Univer-sität mit einem durchschnittlichen Schuldenberg von 19.000 Dollar. Und in Großbritannien äußern Politiker die Sorge, »dass das Schuldengespenst die jungen Leute veranlassen könnte, höhere Bildung als ein Luxusgut zu betrachten und aufzugeben - mit negativen Folgen für die Wettbewerbsfä-higkeit ihres Landes.«15 Letztlich aber drückt sich für die Geldelite die Be-deutung und Funktion kulturellen Kapitals nicht in individuellen Bildungs-karrieren usw. aus. Denn wirklich großer Reichtum schafft sich Netzwerke der Kultur und Bildung, welche bereits wieder an die höfische Gesellschaft erinnern. Kulturelles Kapital erscheint hier in Gestalt von Entouragen ge-bildeter, kultivierter, wissenschaftlich spezialisierter Berater, Hofschranzen usw. Formelle und informelle Bildungsgüter werden letztlich erst vermö-genswirksam, wenn sie zur Kultivierung des Geldmachtapparats insgesamt führen, zu einer »Vermögenskultur«, die sich in Stiftungen, Think Tanks u. dgl. institutionalisiert hat.

Ähnliches gilt für das soziale Kapital der Geldeliten. Zweifellos spielt der in familialen und transfamilialen Milieus erworbene individuelle Habitus bei der Selbstorganisation der Geldelite eine wichtige Rolle, ebenso bei der Re-krutierung des engsten Hilfspersonals. »Für die Besetzung von Führungs-positionen in der deutschen Wirtschaft ist nicht, wie von ihren Repräsen-

14 Wenn, wie jüngst geschehen, ein unscheinbarer, bislang in diesen Kreisen nie ge-sehener Privatmann (Beobachter vermuteten: ein Russe) auf einer Sotheby-Auktion en passant Picassos »Dora Maar mit Katze« für 95,2 Mio. Dollar, einen Monet für 5 Mio. und noch schnell einen Chagall für 2,5 Mio. Dollar ersteigert und wenn derarti-ges immer häufiger in den großen Auktionshäusern geschieht, so steckt dahinter eine »Vermögenskultur« im Umfeld des Geldmachtapparats, die noch kaum erforscht ist, vgl. Carol Vogel, »Enthusiastic bidder at rear walks away with the big prize«, in: IHT, May 5, 2006.

15 Holly Hubbard Preston, »Higher education: Priced out of reach?«, in: IHT, June 30, 2006, vgl. Washington Public Interest Research Group (PIRG), http://studentdebt-alert.org

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tanten immer wieder betont wird, die Leistung ausschlaggebend, sondern der klassenspezifische Habitus der Kandidaten ... Es handelt sich dabei um jene Selbstverständlichkeit im Auftreten, die für >Eingeweihte< den entschei-denden Unterschied zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nur dazugehören wollen, markiert.«16 Andererseits aber muss »Sozialkompe-tenz« nicht unbedingt direkt in einer Person oder Familie konzentriert sein. Wer sich »Sozialtrainer«, Imageberater oder auch nur Bodyguards leisten kann, verfügt über viel soziales Kapital, selbst wenn er ein stotternder Autist ist.

Privatisierung als ein höchst komplexer Eroberungsfeldzug ist die wich-tigste Form der Stabilisierung von Reichtumsstrukturen, die einerseits an uralte, tradierte Formen der Organisierung von Habgier anknüpft, die aber andererseits in der Gegenwart - in einer Wissens- und Informationsgesell-schaft - diesen historischen Fundus an Bereicherungserfahrungen mit allen kommunikativen und medialen Mitteln ausschöpft. Je mehr privatisiert wird, desto weniger Privatleute, das heißt, Leute, die über sich selbst verfügen, gibt es. Die wenigen Privatleute, die übrig bleiben, werden, indem sie immer rei-cher werden, immer »privater«. Und allmählich glauben sie, gerade in ihren philanthropischen Bemühungen, dass ihnen die ganze Welt gehört. Nicht zuletzt deshalb haben sie auch damit begonnen, das staatliche Gewaltmono-pol zu unterlaufen und die innere und äußere Sicherheit zu privatisieren.17

Global nomadisierende Finanzinvestoren, mit einem Zeithorizont von wenigen Jahren, schwimmen im Geld und kaufen auf Teufel komm raus nicht an der Börse notierte Firmen oder saftige Aktienpakete, wo immer sie sich anbieten. Das alles ist verbunden mit Verteilungsoperationen im parlamenta-rischen und staatlichen Raum im Sinne des Geldmachtapparats. Ein dichtes Beeinflussungsgeflecht zwischen Wirtschaft und Politik ist entstanden, vom Lobbyismus bis zur Korruption. Die Gestaltung des rechtlichen Rahmens für Verteilungsoperationen mündet in Steuergesetzgebungen, die überall auf der Welt, unter der Fahne der »Reform«, die wildesten Verteilungsblü-ten treiben. Alle Vorgänge innerhalb des gesamten Geldmachtapparats und selbstverständlich auch innerhalb eines einzelnen Unternehmens zu jedem

16 Michael Hartmann, »Macht muss gelernt sein. Die Rekrutierung der deutschen Wirtschaftselite ist keine Frage der Leistung«, in: junge Welt, 19.9.03

17 Volker Eick, »Policing for Profit. Der kleine Krieg vor der Haustür«, in: D.Azzelini/B.Kanzleiter, Das Unternehmen Krieg. Paramilitärs, Warlords und Priva-tarmeen als Akteure der Neuen Kriegsordnung, Berlin/Hamburg/Göttingen 2003, S. 201-215

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beliebigen Zeitpunkt minutiös überwachen zu können: das jedenfalls ist eine neue Qualität ökonomischer Macht (und Herrschaft). Außerdem haben die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Grundlagen des Geldmachtapparats zutiefst verändert. Richard Sennett: »Ich erinnere mich an den Besuch bei einem Freund, der eine große Investmentfirma in New York leitet. Er zeigte mir auf einem großen Computerschirm unzählige Zah-lenkolonnen und erklärte: >Wir verwalten Milliarden von Dollar und wissen ganz genau, wo jeder einzelne Cent im Augenblick steckt. Wir verlassen uns nicht mehr auf irgendwelche Berichte, wir können es jetzt mit eigenen Au-gen sehen, und zwar in Echtzeit.<«18

Andererseits haben diese Informatisierungsprozesse eine erhebliche Bri-sanz. Ein Indiz dafür war beispielsweise die Bespitzelung der Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication (SWIFT) durch die US-Regierung im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus. Die in Belgien an-gesiedelte Kooperative des internationalen Finanzkapitals bewegt täglich in 11 Millionen Transaktionen 6 Billionen Dollar zwischen 7.800 Banken, Bör-sen, Investmentfirmen und anderen Finanzinstitutionen weltweit. SWIFT ist damit die Dienstleistungszentrale des globalen Finanzmarkts. Und nun wurde durch die Amerikaner demonstriert, dass auch der Reichtum Europas nicht mehr Europas Reichen gehört. Denn niemand wird so naiv sein zu glauben, dass im »Krieg« gegen den Terrorismus nicht auch andere Inte-ressen des amerikanischen Finanzkapitals gegenüber dem islamischen, ara-bischen, asiatischen und eben auch dem europäischen Finanzkapital verfolgt würden. Solche High-Tech-Spionageaktionen haben die Eigenschaft, immer sehr viel mehr »Verwertbares« zu liefern als ursprünglich erfragt wurde. Insofern deutet der amerikanische Spionageangriff auf SWIFT an, dass die Dienstleistungszentralen globaler Geldmachtapparate auch »Kriegsschau-plätze« sind, in denen das Personal - Geldeliten, Managereliten, politische Eliten und Wissenseliten - durchaus disponiert ist, einander bis aufs Messer zu bekämpfen.

Die Geldelite verkörpert im gegenwärtigen Zyklus finanzieller Expansi-on nichts so sehr wie die Befreiung großer Geldmengen aus der Warenform und deren Umwandlung in die Machtform. Nicht nur also wird Macht mo-netarisiert, sondern durch die Geldelite werden umgekehrt Geldwerte auch vermachtet. Das ist im Grunde ein uralter Prozess auf der Grundlage der Tatsache, dass man mit Geld nicht nur mehr Geld, sondern »alles« machen

18 Richard Sennett, »Das Diktat der Politmanager«, in: Freitag, 32, 12.8.2005, S. 3

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kann. Insofern entsteht mit dem Superreichtum eine »völlig losgelöste und zu allem fähige« soziale Schicht, welcher die Wissens- und Informationsge-sellschaft alle Mittel in die Hände legt, um sich als eine neue gesellschaftliche Mitte zu etablieren. Ihre Machtbasis ist der Geldmachtapparat. Um diese neue gesellschaftliche Mitte lassen sich dann in einem Ringmodell weitere Gruppen und Schichten anordnen, welche der Geldmacht zuarbeiten bzw. von ihr abhängen.

Der Geldelite am nächsten operieren sicherlich die Konzern- und Finanz-eliten, die Chief Executive Officers der verschiedenen Wirtschaftsbereiche. Diese Gruppen fungieren als Spezialisten der Kapitalverwertung bzw. der Absicherung und Expansion von Akkumulationsmöglichkeiten. Manche von ihnen - aber erstaunlicherweise gar nicht so viele - steigen selbst in die eigentliche Geldelite auf. Von ihren Vermögensverhältnissen her gehören sie auf jeden Fall zu den HNWIs oder auch UHNWIs. Ihr Dienstklassenstatus drückt sich im Wesentlichen darin aus, dass sie, im Gegensatz zur Geldelite, entlassen werden oder »stürzen« können. Je nach Loyalität gegenüber ihren jeweiligen Herren (den großen Investoren und Anteilseignern) kooperieren oder konkurrieren sie untereinander, haben also zunächst einmal nicht un-

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bedingt ein einheitliches strategisches Bewusstsein (wie man es traditionel-lerweise etwa der »Kapitalistenklasse« zuschrieb). Was sie verbindet, ist die Maxime der Gewinnsteigerung.

Den nächsten Funktionsring bilden die Spezialisten der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die politischen Eliten. Alle Parlamente, alle Regierungen haben aus der Sicht des Geldmachtapparats die Funktion der Verteilung des Reichtums von »unten« nach »oben«. Folglich wirkt er durch Lobbyismus und Korruption in dieses Feld der politischen Eliten hinein, das dadurch hochgradig differenziert und konfliktualisiert wird. Auch viele Politiker und vor allem Ex-Politiker können sich unter die HNWIs rechnen, Aufstiege in die Geldelite aber sind nahezu ausgeschlossen (Ausnahmen wie der Bush-Clan bestätigen die Regel).

Den Außenring schließlich bilden die bereits erwähnten, für die Entste-hung und Expansion des Geldmachtapparats unentbehrlichen Technokraten und Experten aller Art (analytisch, symbolisch, affektiv), kurz: die Wissense-liten. Entsprechend ihrem Ranking, das sich nach der Nützlichkeit für die ökonomischen, sozialen und kulturellen Interessen des Geldmachtapparats bemisst, können auch sie in die Ränge der HNWIs aufrücken, kaum aber höher (Ausnahmen wie die dot . com-Mil l iardäre bestätigen die Regel).

Für die gegenwärtige Elitenkonfiguration und das Netzwerk der Geld-macht sind einige weitere Fragen von Belang: Wie steht es um die Vererbung von Machtpositionen? Gibt es tatsächlich einen Eisernen Vorhang zwischen der Geldelite und den übrigen Eliten? Welche Rolle spielt das Ranking im Geldmachtapparat ?

Hinsichtlich der Vererbungsfrage kommen alle Untersuchungen19 zu dem Schluss, dass zwischen Geldmachtpositionen (Kapitaleigentum) einerseits und sonstigen Machtpositionen (Manager, Politiker, Technokraten, Kultur-eliten) andererseits scharf unterschieden werden muss. Erstere haben ein funktionierendes Regime der Vererbung ihrer Positionen, letztere nicht. In-nerhalb der Geldelite spielt dabei »das Phänomen der Verschwägerung eine große Rolle, während eine Verschwägerung zwischen der ökonomischen und der politischen Elite kaum vorkommt.«20 Diese Tendenz zur Endoga-mie oder Dynastienbildung nach aristokratischem Vorbild ist ein wesent-liches Merkmal des Superreichtums.21

19 Vgl. hier nur Wolfgang Zapf, Wandlungen der deutschen Elite, München 1966 20 Dogan, a.a.O., S. 28 21 Gegen diese Praxis sprach sich jüngst der zweitreichste Mann der USA, Warren

Buffet, aus (s.u.).

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Entscheidend für ein Verständnis der europäischen Machtelitenkonfigu-ration ist also vor allem die praktisch unüberbrückbare Mauer zwischen der Geldelite und den übrigen Eliten. Weder Spitzenmanager noch Spitzenbü-rokraten noch Spitzenpolitiker haben wirklich eine Chance, in diese Kreise integriert zu werden. Denn die Geldelite lebt auf einem anderen Planeten. »Unter den 100 reichsten Personen Frankreichs gab es 1987 keinen der Großkapitalisten, den eine politische Karriere in Versuchung geführt hätte und nur ganz wenige hatten familiale Bindungen zu Politikern. Unter den wichtigen Politikern der 1990er Jahre gibt es einige, die relativ wohlhabend sind, aber keiner gehört zu den 500 reichsten Personen in Frankreich. Und unter den 500 reichsten Unternehmern, die meist auch die reichsten Familien repräsentieren, gibt es nicht mehr als eine Handvoll Absolventen der Ecole Polytechnique. Aus dieser erbarmungslosen Statistik ergibt sich ein tekto-nischer Bruch, der die kapitalistische Elite von den anderen Elite-Katego-rien trennt.«22 Das bedeutet aber nicht, dass die »kapitalistische Elite«, wie Dogan sie noch nennt, nicht »herrscht«. Vielmehr: Der Geldadel verwaltet nicht, er treibt keine Politik und er produziert keine Kultur, aber er lässt verwalten, verteilen, erfinden und denken.

Wichtig ist auch die Rolle des Ranking innerhalb der verschiedenen Dienst-klassen. Zunächst einmal: Der Rang innerhalb der Elitenringe drückt sich aus in den jeweiligen Vermögens- und Einkommensverhältnissen. Bemessen aber wird der Rang nach den jeweiligen Funktionen für den Geldmachtap-parat. Das Denken in kurzen Fristen der Gewinnmaximierung ist kein neues Phänomen in der Konzernwelt, aber es ist unter dem Konkurrenzdruck der Globalisierung ein entscheidendes Systemmerkmal geworden. »Ein kompe-titiver Markt erzeugt hinsichtlich der p a y o f f s riesige Unterschiede zwischen >Gewinnern< und >Verlierern<, ein Winner Takes All-System entsteht. Wenn so hohe Einsätze vom nächsten Schritt abhängen, werden Unternehmen und Individuen sich schlichtweg auf den Sieg in der nächsten Runde kon-zentrieren, also kurzfristig denken, was immer an langfristigen Folgen für das Unternehmen dabei herauskommt.«23 Genau dieser Mechanismus aber bewirkt, dass diejenigen Individuen oder Gruppen, die erst einmal in die oberen Ränge gelangt sind, immer höhere p a y o f f s realisieren, während die übrigen unverhältnismäßig stark zurückfallen. So entstehen in allen Berei-

22 Dogan, a.a.O., S. 62f. 23 Eduard Garcia, »Corporate Short-Term Thinking and the Winner Takes All Mar-

ket«, www.westga.edu/~bquest/2004/thinking.htm

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chen der Gesellschaft die berühmten Ranking-Listen - und sie werden vom Geldmachtapparat sehr genau wahrgenommen, denn sie deuten auf jeden Fall auf das beste »Dienstpersonal« in Akkumulationsdingen, aus dem sich dann auch die jeweiligen Spitzengruppen in unserem Ringmodell rekrutie-ren. Das Bild ist einfach: »Man nehme die Filmindustrie als Beispiel. Zu je-dem Zeitpunkt wird es nur ganz wenige Schauspieler geben, die Millionen von Dollars für den Auftritt in einem Film verlangen können. Nur wenige haben einen weltweit bekannten Namen. Schon diejenigen auf dem zweiten Rang verdienen erheblich weniger, und der Rest dieses Berufsstandes findet sich beim Kellnern oder in billigen Werbespots wieder. Die Spannweite der Einkommen ist extrem, die Verteilung gleicht einer außerordentlichen Pyra-mide mit einer ganz kleinen Spitze und einer ganz breiten Basis.«24

Vollständige Willfährigkeit der Dienstklassen, der Wissenseliten und der politischen Klasse und natürlich auch der Managerelite ist dann erreicht, wenn sich auch in den politischen Strukturen das Ranking und die Winner Takes

All-Mentalität voll entfalten - wie das in den USA, etwa im Millionärskabi-nett von George Bush oder im von Millionären wimmelnden US-Senat, der Fall ist. Forbes Magazine hatte das längst begriffen, als es vor den Kongress-wahlen 2002 eine Liste der zehn reichsten Politiker der USA mit folgendem Kommentar veröffentlichte: »Viel zu lange ist Politik eine Spielwiese der Juristenklasse gewesen. Tatsächlich wärmen mehr Rechtsanwälte als Ange-hörige irgendeines anderen Berufs die Sessel der drei Zweige der Bundesre-gierung. Seit kurzem aber beginnen Wirtschaftsführer - die schließlich für die dynamischsten und wichtigsten Verbesserungen in unserer Gesellschaft verantwortlich sind - die Party der Politiker aufzumischen. Vor zwei Jahren wählte Amerika George W. Bush, den ersten Präsidenten mit dem Abschluss eines >Master of Business Administration«. Vor einem Jahr wählte die größte Stadt des Landes einen self made-Milliardär zum Bürgermeister und machte damit Michael R. Bloomberg zum eindrucksvollsten Neuankömmling auf der politischen Bühne New Yorks ... Und wer weiß? Vielleicht werden wir in nicht allzu ferner Zukunft einen Milliardär als Präsidenten haben.«25

Ganz offensichtlich sind die Dinge zunächst einmal anders gekommen, als man dachte. Im Prinzip aber haben die Wirtschaftseliten schon immer ge-glaubt, sie brauchten die politische Sphäre gar nicht, »Direktherrschaft« sei

24 Diane Coyle, »>Winner takes all< markets«, in: Prospect Magazine, 33, August 1998, S. 25

25 Davide Dukcevich, »America's Richest Politicians«, in: Forbes Magazine, Octo-ber 29, 2002

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möglich. So auch jetzt: »This is a time that urgently calls for global corporate statesmanship.«26

Für unsere Zwecke ist es wichtig, sich auf die obersten hundert oder zweihundert Personen auf den Rangskalen der Spitzenmanager zu konzen-trieren, die zusammen mit den Superreichen den magischen Zirkel der Cor-porate World bilden. Sie betreiben nicht nur den Monetarisierungsprozess und damit die Entwicklung des Geldmachtapparats, sie symbolisieren ihn durch ihre exorbitanten Belohnungen auch.

Hier tun sich in letzter Zeit beispielsweise in Europa interessante Dinge: »Jahrzehntelang haben sich die Europäer bei der Belohnung der Bosse viel mehr zurückgehalten als die Amerikaner. Doch jetzt geben die europäischen Manager ihre Zurückhaltung auf, verlangen eine Bezahlung nach amerika-nischem Vorbild - und bekommen sie oft auch. Aber während riesige Zahl-tage im amerikanischen Konzernleben etwas Normales sind, scheint dies in Europa von den Investoren weniger akzeptiert zu werden und in manchen Ländern regt sich Widerstand ... >In Frankreich ist Habgier jetzt legal,< sagte Pierre-Henri LeRoy, Chef der französischen Beratungsfirma Proxinvest. Kenner der Situation sagen, die Veränderungen seien enorm. >Zum ersten Mal in 30 Jahren sehe ich, wie diese Kluft sich schließt, und zwar ziemlich schnelh, meinte John Viney, Gründer von Zygos Partnership, einer Lon-doner Headhunter-Firma. >Wobei man bei weltweiten Vergleichen nur ein Land als Maßstab hat, die Vereinigten Staaten.<... In Deutschland stieg nach einer Studie der Zeitung >Die Welt< im Jahre 2005 das durchschnittliche Ge-halt von Aufsichtsratsmitgliedern der 30 >blue-chip<-Unternehmen im DAX Index um 11%.«27

Andererseits entfalten sich - vor einem geopolitischen Hintergrund - auch Konflikte zwischen den Konzerneliten und ihren »Herren«, den su-perreichen Investoren dieser Welt. Youssef M. Ibrahim, ein Sprecher und Berater reicher Investoren und Shareholder aus dem arabischen Raum, geht in diesem Sinne mit den westlichen Konzerneliten (den »Hausmeiern« seiner reichen Araber, wenn man so will) ins Gericht. Diese Manager würden sich hunderte von Millionen Dollar in die Taschen stecken, während der Wert

26 David de Pury/Jean-Pierre Lehmann, »Speak up for Globalization«, in: IHT, June 14, 2000; vgl. auch Markus Verbeet, »Der private Staat: Der Griff der Konzer-ne nach der Staatsmacht«, Spiegel Online, 21. August 2006, http://www.spiegel.de/ spiegel/0,1518,432615,00. html

27 Geraldine Fabrikant, »Fertile new fields for executive ambition«, in: The New York Times, June 16, 2006

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ihrer Konzerne durch Unehrlichkeit und Inkompetenz in den Keller sinke: »Diese Lenker gigantischer Konzerne sind Mitglieder eines winzigen Clubs, welcher die gewöhnlichen Investoren am ausgestreckten Arm verhungern lässt ... Schlimmer noch, die großen Banken und Investmentfirmen helfen jenen Bossen dabei, die Spuren zu verwischen. Sie fliegen Privatjets, bezahlt von den Shareholders, sie genehmigen sich Privatlogen bei großen Sporter-eignissen und Shows. Sie sind Freunde, die zusammen tafeln, während sie von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung ziehen. Ein fauler Gestank breitet sich aus in den Führungsetagen der größten Konzerne. Und am Hori-zont zeichnet sich eine gewaltige Revolte der Shareholder ab. Die Praktiken der Konzerneliten bedrohen die globale Ökonomie. Es ist an der Zeit für die Reichen, die, wie beispielsweise die Araber, hunderte von Milliarden ihres Vermögens in diese großen Konzerne investiert haben, ihren Bankiers ein paar harte Fragen zu stellen: Wo ist mein Geld und was macht ihr damit?«28

Im Übrigen spielt auch bei den Superreichen Ranking eine Rolle. Die empirisch-statistische Annäherung an die Geldelite ist schwierig. Die seri-öse oder Mainstream-Forschung - abhängig, wie sie von »Drittmitteln« ist - lässt die Finger davon, sodass es vor allem Journalisten, kleine Teams von »Privatforschern«29 oder besessene Einzelne sind, die Licht in diese Schicht zu bringen versuchen. Besonders einfallsreich und intensiv haben sich Re-chercheure der britischen Wochenzeitung Sunday Times bei der Erforschung der Reichen ihres Landes ins Zeug gelegt. Dabei sind eine Fülle von Ranglis-ten entstanden: The 20 fastest growing fortunes, The Sunday Times Giving Index, Top 30 political donors / Top 20 political lenders, The riebest women, Millionaires in film and TV, Music millionaires, Foothall millionaires, Online millionaires, Goldman Sachs millionaires usw.30

28 Youssef M. Ibrahim, »The Collapse of Capitalism as we know it«, in: IHT, March 9, 2004

29 Vgl. z.B. die Datenbank Namebase, www.namebase.org; das Projekt They Rule, www.theyrule.net; das Projekt Universite Tangente, http://utangente.free.fr/index2. html (s.u.); der Künstler Mark Lombardi, http://www.albany.edu/museum/wwwmu-seum/work/lombardi/; in Deutschland z.B. Bornpower, http://www.bornpower.de/in-dex.htm

30 The Sunday Times Rieh List, http://business.timesonline.co.uk/section/ 0„29049,00.html; Rules of Engagement, http://business.timesonline.co.uk/arti-cle/0,,20589-2132606,00.html

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Angesichts all dieser Aufstellungen und Rankinglisten, die auf enorme - und oft verborgene - Vermögen hindeuten, interessiert die Frage, wie diese auf Individuen und Gruppen zukommenden Geldflüsse nicht nur »ökono-misch«, sondern eben auch »sozial« (nicht unbedingt im Sinne von wohl-tätig), kulturell (nicht unbedingt im Sinne von kulturvoll) und politisch (nicht unbedingt im Sinne von demokratisch) reinvestiert werden. Die öko-nomischen, sozialen, kulturellen und politischen Einflussnahmen auf Geld-machtbasis und durch weitgehend informelle Netzwerke verlangen nach weiterer Forschung.

Die Melinda & Bill Gates Foundation mit einem Vermögen von 30 Mrd. US-$ kümmert sich um Krankheitsbekämpfung in armen Ländern, Entwick-lung von Impfstoffen und Bildungsinitiativen. Nun hat sich der zweitreichs-te Mann Amerikas, Warren Büffet, entschieden, den größten Teil seines Ver-mögens, 30 Mrd. US-$, ebenfalls in die Gates Stiftung einzubringen, um eine Wohltätigkeitsorganisation zu gründen, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat. Buffet wird in den Aufsichtsrat der Gates Stiftung gehen. »Was solche

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Titanen wie Büffet, Gates, Rockefeller und Carnegie vereint, ist eine Über-zeugung, die Carnegie 1899 in einem Essay, >Das Evangelium des Reich-tums*, formulierte: Die Superreichen sollten die >Treuhänder< ihrer großen Vermögen sein und sie zum Wohle der Gesellschaft verwalten. Jetzt ist die Fackel der Titanen weitergereicht worden ... Das Engagement der Bill & Me-linda Gates Foundation für die Bekämpfung von Krankheiten in der Dritten Welt wird Konfrontationen bringen mit Regierungen und Herrschern, die sich genauso wie zu Carnegies Zeiten nicht gerne sagen lassen, was sie tun sollen. Doch durch den Einsatz ihres enormen Stiftungsvermögens draußen in der Welt ist die Gates Stiftung längst zu einem wichtigen global player ge-worden ... Aber auch der kombinierte Reichtum von Gates und Büffet kann die Welt allein nicht verändern.«31

Die Dinge werden fragwürdig, wenn durch Philanthropie direkte Ein-griffe in Politik, Kultur und sogar Religion erfolgen. Dies aber geschieht in

31 H.D.S. Greenway, »Titans pass their torches«, in: The Boston Globe, July 4, 2006

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wachsendem Umfang. Slavoj Zizek schreibt, dass smarte Milliardäre wie Bill Gates so tun, als gäbe es keinen Widerspruch zwischen kapitalistischer Aus-beutung und mildtätiger Menschenliebe. Zizek nennt George Soros und dot. com-Milliardäre wie die Chefs von Google, IBM, Intel, Ebay usw. »liberale Kommunisten«. Sie seien letztlich nichts als »Vermittler einer strukturellen Gewalt, die die Bedingungen für den Ausbruch subjektiver Gewalt schafft. Derselbe Soros, der Millionen verschenkt, um Bildungsprojekte zu fördern, hat mit seinen Finanzspekulationen das Leben Tausender ruiniert und dabei die Bedingungen für jene Intoleranz geschaffen, die er geißelt.«32

Führt dieses Handlungsgefüge von Interessen, Einflussnahmen und künstlich erzeugten Ausnahmezuständen33 zu einer Refeudalisierung oder gar Schlimmerem? »In den letzten Jahrzehnten sind auf der Erde unglaub-liche Reichtümer entstanden, der Welthandel hat sich in den letzten 12 Jahren mehr als verdreifacht, das Welt-Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel be-siegt und die Utopie des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich. Und gerade jetzt findet eine brutale, massive Refeudalisierung statt. Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne - ich nenne sie Kosmokraten - eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese neue Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der Französischen Re-volution ... Die Legitimationstheorie der Konzerne ist der Konsensus von Washington. Danach muss weltweit eine vollständige Liberalisierung statt-finden: Alle Güter, alles Kapital und die Dienstleistungsströme in jedem Lebensbereich müssen vollständig privatisiert werden. Nach diesem Kon-sensus gibt es keine öffentlichen Güter wie Wasser. Auch die Gene der Men-schen, der Tiere und Pflanzen werden in Besitz genommen und patentiert. Alles wird dem Prinzip der Profitmaximierung unterworfen. Dabei setzen die Konzerne zwei Massenvernichtungswaffen ein, den Hunger und die Verschuldung. Das Resultat ist absolut fürchterlich ... Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet ... Diese kannibalische Weltordnung von heute ist das Ende sämtlicher Werte und Institutionen der Aufklärung, unter denen wir bisher gelebt haben, das Ende der Grundwerte, der Menschen-rechte. Entweder wird die strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen. Oder die Demokratie, diese Zivilisation, wie sie heute in den 111 Artikeln

32 Slavoj Zizek, »Der liberale Kommunist«, in: Cicero, 7/2006, S. 108f. 33 Vgl. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt/M 2004

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der UNO-Charta oder im Deutschen Grundgesetz fixiert ist, ist vorbei und der Dschungel kommt. Es ist eine Existenzfrage.«34

Richard Sennett hält den modernen Kapitalismus in seiner Grundtendenz für antidemokratisch. Er führe zu einer weichen Spielart des Faschismus ( s o f t fascism). In modern organisierten Unternehmen werde die Macht von einer immer kleiner werdenden Zahl von Spitzenmanagern ausgeübt, das gleiche gelte für die politische Sphäre, wo die Entscheidungsmacht einigen weni-gen Spitzenpolitikern vorbehalten sei. Diese Tendenz zur Zentralisierung von Macht und zur extremen Verkürzung der Zeithorizonte im Unterneh-mensmanagement sei die unmittelbare Folge der totalen Freisetzung riesiger Kräfte des Finanzkapitals nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Abkommens in den 1970er Jahren. Politische Macht sei abgewandert in die Finanzsphäre und in die Hände einer neuen Managerklasse, die sehr genau weiß, wie man mit den neuen Strukturen umgeht und sich in zumeist in-formellen Netzwerken organisiert. »Diese Netze geben Managern heute die Freiheit, Dinge zu tun, die innerhalb der offiziellen Strukturen eines Unter-nehmens völlig unmöglich wären. Macht entzieht sich in dieser Weise ganz einfach der Wahrnehmung und wird unsichtbar.« Wirkliche Macht hängt vom Platz ab, den man innerhalb eines weltweiten Netzwerkes einer immer kleiner werdenden Gruppe von Spitzenmanagern und Spitzenpolitikern ein-nimmt. Die Bürger »haben in der politischen Sphäre keinen Platz mehr. Nur eine äußerst schmale Schicht der Gesellschaft hat überhaupt noch Zugang zu ihr.«35 Das Problematische aber ist, dass die politische Sphäre selbst immer bedeutungsloser wird - und dass auch die Welt der Spitzenmanager für eben diese prekärer wird.

Die Geldeliten verselbständigen sich, beginnen im wahrsten Sinne des Wortes in dieser Winner Takes All-Gesellschaft auf eigene Faust zu ope-rieren. Die Dinge entwickeln sich dramatisch. Klimawandel und Ressour-cenprobleme deuten auf ein kommendes globales Szenario nackter Überle-benskämpfe. Und für eine solche R e t t e - s i c h - w e r - k a n n - W e l t glauben sich die Geldeliten - souveräne, wohlgeschützte Eigner des Besten, was diese Welt zu bieten hat - gut gerüstet. Doch die Historie wird auch dieses historisch kurzfristige Denken, diese an Dynastien gebundene Herrschaftspraxis ein-holen.

14 Aus einem Interview mit Jean Ziegler, Germanwatch-Zeitung, 4/2005; vgl. J. Zieg-ler, Das Imperium der Schande, a.a.O.

35 Richard Sennett, »Das Diktat der Politmanager«, in: Freitag, 32, 12.8.2005

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Peter Gowan Weltmarkt, Staatensystem und Weltordnungsfrage

Dass die internationalen Beziehungen sich in einem Zustand des Übergangs und der Unordnung befinden, ist ein weitverbreiteter Eindruck. Hiermit einher geht ein Durcheinander im Denken des Mainstreams über das, was die Haupttendenzen in der Weltordnung heute sind. Meine These ist, dass die unleugbare Weltunordnung ihre Wurzeln im Zusammenbruch der Welt-ordnung des Kalten Kriegs und der Schwierigkeit, eine neue kapitalistische Weltordnung zu begründen, besitzt.

Das Mainstream-Denken bringt die internationale Wirtschaft und die in-ternationale Politik zueinander in einen Gegensatz und ist darauf geeicht, Spannungen und Konflikte zwischen den vermeintlichen Logiken beider Ebenen auszumachen. Hierdurch tendiert das Mainstream-Denken zur falschen Wahrnehmung der Dynamiken beider Bereiche: Die Wirtschaft wird als eine sich selbst regulierende Sphäre des Austauschs bzw. Handels betrachtet, die aus sich selbst heraus ein Gleichgewicht und eine stabile Ord-nung hervorbringt. Im Hinblick auf die Politik spaltet sich das konventio-nelle Denken dann in eine Fraktion, die das Ideenelement der Politik als das ausschlaggebende Moment des Regierens ansieht, und eine andere Fraktion, die materielle Zwangselemente als politisch entscheidend betrachtet. Beide Schulen nehmen dann ihrerseits für sich in Anspruch, dass dem von ihnen favorisierten Element ein Mechanismus innewohnt, aus dem eine internatio-nale Ordnung entspringt: Entweder befriedet und leitet ein liberaler Werte-kanon die internationalen Beziehungen an oder es ist die Verteilung von mi-litärischer Macht, aus der als Funktion die Befriedung der Erde resultiert.

Beide akademischen Mainstream-Ansätze versuchen also seit den letzten 15 Jahren, uns davon zu überzeugen, dass sie den Schlüssel für den neuen Ordnungsmechanismus in der Welt gefunden haben. Die ökonomistische Perspektive preist die ökonomische Globalisierung, in der die individuellen Akteure in der Weltwirtschaft der Hegemonie des Weltmarkts und seiner Logik gegen das alte »westfälische« Staatensystem zum Durchbruch ver-helfen. Mit anderen Worten: Von Seiten der liberalen Idealisten werden uns

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Lockesche und Kantsche Werte als der Mechanismus, der für eine liberale kosmopolitische Befriedung der Welt sorgen soll, kredenzt. Und von denje-nigen, die den großen Hammer zu ihrem Fetisch erkoren haben, kommt der Vorschlag, dass die amerikanische Militärmaschine die Welt auf Vordermann bringen kann und soll.

1. Grundprobleme der Weltordnungskompromisse

Im Folgenden werde ich die These entwickeln, dass keiner dieser beiden vermeintlich ordnungsstiftenden Mechanismen funktioniert. Beide sind mit etlichen Fehlern behaftet und unlogisch, und beiden ist eine Blindheit hinsichtlich des Wesens der Tiere in dem Zoo gemein, in den Ordnung zu bringen ist, nämlich das dezentralisierte gesellschaftliche System der ver-schiedenen Kapitalismen. Ordnung in diesem System ist das Resultat von umfangreichen Aushandlungen zwischen den Hauptzentren in diesem Sys-tem, die sich sowohl auf die Ökonomie und die Politik nach innen und nach außen erstrecken. Diese Aushandlungen sind ihrem Wesen nach ad hoc und grundsätzlich prinzipienlose, machtbasierte Kompromisse, gleichwohl diese Kompromisse stets als ach so prinzipienfest und auf allgemeinen Normen wie Gerechtigkeit und Wohlfahrt basierend dargestellt werden. De facto befrieden Weltordnungskompromisse die kapitalistische Welt niemals in toto. Chaos und Krieg dauern an. Allerdings besteht die Aufgabe solcher Weltordnungskompromisse in der Hinausdrängung von Chaos und Krieg in den geographischen Raum außerhalb des kapitalistischen Zentrums. Die heutige Unordnung in der Welt ist als das Resultat derjenigen Probleme zu verstehen, mit denen sich die Hauptzentren bei der Aushandlung eines neu-en Kompromisses konfrontiert sehen, aus dem eine neue Ad-hoc-Totalität entstehen soll.

Die Einsichten der Orthodoxie und ihre Grenzen Der Kapitalismus ist bekanntlich und ganz ohne Zweifel von einer realen Zweigleisigkeit gekennzeichnet, was sein institutionelles Gefüge anbelangt: Auf der einen Seite gibt es da die »Privatisierung« der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion und -Verteilung, welche diese großteils von den In-stitutionen der öffentlichen Macht abschottet. Auf der anderen Seite haben wir es mit der Konzentration der politischen Entscheidungsprozesse und der gesellschaftlichen Gewalt in den Händen des Staatspersonals und eines

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staatlichen Verwaltungssystems zu tun, das von den Herren und Knechten der Produktion abgetrennt ist. Diese Zweigleisigkeit führt nun wiederum zu qualitativen Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen in einer ka-pitalistisch verfassten Welt. Existiert die öffentliche Macht in fragmentierter Form, d.h. als ein Netzwerk von Territorialstaaten, so »transnationalisiert« sich unter kapitalistischen Verhältnissen die Produktion. Dies ermöglicht es wiederum, dass die Organisierung der Produktion und Verteilung des gesell-schaftlich produzierten Reichtums in privaten Händen über mehrere Staats-jurisdiktionen hinweg stattfinden kann.

Dieses spezifische Gefüge sorgt nun für den Eindruck, als ob sich die in-ternationale ökonomische Tätigkeit in völliger Unabhängigkeit vom Staaten-system vollzieht. Dabei ist diese Unabhängigkeit im operativen Sinne real, denn jede Stunde an jedem x-beliebigen Tag werden Milliarden spezifische Gütereinheiten zu einem bestimmten Preis gegeneinander getauscht, ohne dass irgendwelche Staatsbeamten hierauf Einfluss nehmen könnten.

Und doch sind diese marktförmigen Tauschhandlungen in ein gesell-schaftlich-kapitalistisches Herrschaftssystem eingebettet und von diesem bestimmt, denn es sind kapitalistische Klassen, die diktieren, was produziert und getauscht wird. Die ökonomische Betätigung ist den Bedürfnissen ihrer gesellschaftlichen Machtstellung untergeordnet und bleibt ihrem Wesen nach ununterbrochen spannungs- und konfliktgeladen, da sie die Unterordnung, Organisierung und Integration der Arbeiterschaft durch Formen des Markt-austauschs voraussetzt. Mit anderen Worten: Diese Wirtschaft einfach als tau-schende Markthandlungen aufzufassen, ist schlicht und ergreifend so nützlich, wie wenn man die Machtpolitik als von der Logik der Gewehre angetrieben versteht; denn beides - Märkte und Gewehre - sind Werkzeuge gesellschaft-licher Kräfte.

Dabei beschränkt sich in der modernen Welt der Erfolg im kapitalistischen Wettbewerb immer weniger auf die Sphäre der Marktes und des Tausches von Werteinheiten zu bestimmten Preisen. In Anbetracht der heutigen ökonomi-schen Bedeutung von Skalen- und Verbundeffekten und Aspekten der lear-ning economy beruht Wettbewerbsfähigkeit heute auf staatlich-privaten Part-nerschaften, in denen die öffentlichen Ressourcen des Staates für die Schaffung von Märkten, Marktinfrastrukturen, Bildungssystemen und Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen zentral sind. Gleiches gilt für die Kapazitäten des Staates, die Klassenverhältnisse zu integrieren und zu stabilisieren und die ex-ternen politisch-ökonomischen Verhältnisse so zu strukturieren, dass sie der Expansion seines kapitalistischen Systems dienen.

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Wel tmark t , Staatensystem und Weltordnungsfrage 149

Einzig und allein indem sie diese klassenbasierten Sozialstrukturen der Kapitalakkumulation ignorieren, gelingt es den neoklassischen und Weber-schen Vorstellungen von der internationalen Wirtschaft, sich die Welt, in der wir leben, als einen Weltmarkt vorzustellen, der die Grenzen des Staaten-systems gesprengt hat. Der neoklassische Blick auf die Dinge ist von den Milliarden Tauschhandlungen pro Stunde wie hypnotisiert. Die Webersche Perspektive ist wie geblendet durch die scheinbar autonome Macht der gi-gantischen, rationalisierenden multinationalen Konzerne, deren Handlun-gen zwischen und über zahlreiche Rechtssysteme hinweg operieren. Was beide übersehen, ist der gesellschaftliche Klassenhintergrund, vor dessen einrahmendem Hintergrund sich Tauschhandlungen und Organisationen vollziehen und operieren.

Die traditionellen liberalen Idealisten heben zu Recht die Bedeutung der ideellen und kulturellen Faktoren in der Politik des Kapitalismus hervor. Märkte allein sind und wären nie in der Lage, integrierende Gesellschafts-systeme aus sich selbst heraus zu schaffen. Gesellschaftliche Ideensysteme und kollektive Identitäten sind der Kitt, ohne den gesellschaftlich-kapitali-stische Herrschaftssysteme nicht bestehen könnten. Dabei haben sich diese Verfechter der Vorstellung, mit Glaubenssystemen den zentralen und (welt-) ordnungsstiftenden Mechanismen entdeckt zu haben, noch mit der Marx-schen Hegelkritik von vor 150 Jahren auseinanderzusetzen. Hegels Versuch, im Namen der modernen Kant-Anhänger die These zu behaupten, dass die staatlichen Ordnungen des Kapitalismus die Verkörperungen der Vernunft im Sinne von universalistischen Menschheitswerten darstellen oder dies zu-mindest sein können, liegt der Fehler zugrunde, dass er nicht erkennt, dass die staatlichen Ordnungen im modernen Kapitalismus Minotauren und eben keine griechischen Gottheiten sind, nicht einmal potenziell. Die engelsglei-chen Werte, die sie sich auf ihre Fahnen geschrieben haben, dienen als Recht-fertigungsgrundlage für ein ganzes Arsenal von abscheulichen Verbrechen, die sie in der dann doch mehr irdischen Gegend begehen, wobei diese aller-dings (vorzugsweise) off-camera stattfinden, woran uns wieder die schlicht zu offensichtlichen Barbareien der Bush-Regierung erinnert haben. Der Kampf für eine humanere internationale Ordnung hätte also dieses Untier als Gegner ins Visier zu nehmen, anstatt ausgerechnet es selbst als das Mittel zur Herstellung einer Welt der Kantschen Gerechtigkeit auszuerkoren.

Demgegenüber können die Verfechter der anderen Auffassung, dass näm-lich die Machtpolitik zentral für die Schaffung von Weltordnung ist, zumin-dest zu ihrer Verteidigung vorbringen, dass sie einen Großteil der Geschieh-

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te des 20. Jahrhunderts auf ihrer Seite wissen. Die Bedeutung der Gewalt und der Machtpolitik für die Entwicklung des internationalen Kapitalismus ist bis heute endemisch. Und doch ist die militärische Macht nie jener deus ex machina gewesen, der aus dem sozialen Chaos des Kapitalismus eine Ordnung hätte schaffen können. Die militärische Macht muss parallel zum Entwicklungstrend der gesellschaftlichen Verhältnisse des internationalen Kapitalismus verlaufen, andernfalls wird sie die Unordnung und das Chaos im Gesamtsystem nur noch verstärken. Für den amerikanischen Militärap-parat bedeutet das, dass er als wirkungsvolles Instrument für die Stiftung von Weltordnung nur dann brauchbar ist, wenn er sich für Zwecke einsetzen lässt, die ihm in den realen sozialen Konflikten im internationalen Kapita-lismus vorausgesetzt sind und die nur durch Gewalt oder Gewaltandrohung zu lösen sind. Kann er diese Lösung nicht garantieren, dann wird er selbst zum Unruheherd und einem Hindernis für die amerikanischen Bemühun-gen, die kapitalistische Welt in ein neues Gleichgewicht zu bringen.

Die Hauptprobleme beim Aufbau kapitalistischer Weltordnungen als Ad-hoc-Totalitäten Das Problem der Schaffung kapitalistischer Weltordnungen erwies sich im 19. Jahrhundert noch als eine einigermaßen handhabbare Aufgabe, denn die Zentren des Weltkapitalismus befanden sich seinerzeit nicht nur in einer kla-ren Minderheitenposition, sondern waren von einer großen Anzahl nicht-kapitalistischer Länder umgeben. Hieraus erwuchs eine exogene Quelle der Einheit des kapitalistischen Zentrums. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert konnten sich die auf Europa konzentrierten Zentren des Kapitalismus ver-bünden und gemeinsam in die vorkapitalistische Welt expandieren. Später entstand die Einheit des Zentrums aus dem gemeinsamen Kampf gegen die alternativen Modernisierungsprojekte des Staatssozialismus und der radi-kalen nationalen Befreiungsbewegungen im Süden. In beiden Fällen wurden diese expansionistischen Bestrebungen von gemeinsamen Großidentitäten flankiert, die auf stark rassisch begründeten Konstrukten wie »die Weißen gegen den Rest« oder aber auch auf der gemeinsamen Vorstellung des Zen-trums beruhten, einem fortgeschritteneren Gesellschaftssystem anzugehö-ren, das dem Rest der Welt erst den Fortschritt bringe. Heute ist die Welt fast vollständig kapitalistisch geworden, weshalb exogene Quellen der Ge-schlossenheit unter den Klubmitgliedern des Zentrums kaum noch bestehen. Daran ändern auch die amerikanischen Führer nichts, die eine Quelle der äußeren Bedrohung herbeizaubern wollen, mit der sie ihrem gigantischen

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Apparat eine neue Aufgabe verschaffen können, das kapitalistische Zentrum zu schützen.

Im Rahmen der soeben skizzierten historischen Konfigurationen des 19. und 20. Jahrhunderts schufen die zentralen kapitalistischen Länder unter-schiedliche institutionelle Gefüge, die zentrumsübergreifend Ordnung stif-teten oder stiften sollten. Diese umfassten wirtschaftliche, politische und kulturell/ideologische Bausteine. Sie entstanden als Ad-hoc-Totalitäten, die eine Weile Bestand hatten, um schließlich zusammenzubrechen und in neue Anläufe zur Schaffung von Weltordnungsgefügen zu münden.

Die klassisch-marxistischen Debatten über diese frühen Weltordnungen versuchten vor allem mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums der Im-perialismustheorie dem Ad-hoc-Charakter dieser Totalitäten analytisch ge-recht zu werden. Die große Stärke des Imperialismusbegriffs besteht darin, dass er den Charakter dieser Weltordnungen als ad hoc, nicht-normativ und machtbasiert betont und dabei gleichzeitig diese Weltordnungen an ein Ver-ständnis des Wesens des Kapitalismus als soziales System knüpft. In dieser Hinsicht behält der Begriff des Imperialismus seine Erklärungsmacht.

Im Hinblick auf die heutigen Bedingungen problematisch wird der Impe-rialismusbegriff allerdings im gewandelten Kontext, in dem sich das kapita-listische Zentrum heute wiederfindet. Der nichtkapitalistische Kontext der früheren Imperialismen existiert heute nicht mehr. Dabei war es eben jener Kontext, der auch das imperiale Zentrum strukturierte.

Hinzu kommt, dass die klassische marxistische Imperialismusdiskussion sich nicht hinreichend mit der Beschaffenheit der hierarchischen Verhält-nisse zwischen den von der kapitalistischen Produktionsweise dominierten Zentren auseinandersetzte. Die zentrale Frage, mit der man sich im Hinblick auf die zwischenkapitalistischen Verhältnisse beschäftigte, bestand darin, zu welchen Teilen sie von Zusammenarbeit und von Konflikt geprägt, ob sie Konkurrenz- oder Kooperationsverhältnisse seien. In Wirklichkeit sind je-doch sowohl Kooperation als auch Konflikt endemische Bestandteile zwi-schenkapitalistischer Verhältnisse. Selbst inmitten von zwischenkapitalisti-schen Kriegen bestanden immer noch Momente der Zusammenarbeit. Die sich kriegerisch befehdenden Staaten haben bspw. zu keiner Zeit den Ver-such unternommen, die beherrschten Klassen in den Ländern des Kriegs-gegners zum Sturz der dortigen Kapitalisten aufzustacheln. Auch haben sie es sich nie zur Aufgabe gemacht, die anderen kapitalistischen Staaten des Zentrums durch Kriege auszuradieren. Stattdessen haben die von der Logik des Kapitalismus beseelten und getriebenen Siegerstaaten vielmehr versucht,

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ihre (einstigen) Feinde als kapitalistische Zentren wieder aufzupäppeln, sei es auch mit geänderten Wertesystemen und institutionellen Regimes, die darauf geeicht waren, den Siegermächten Vorteile zu sichern.

Was den Geschichten aller kapitalistischen Zentren gemeinsam ist, ist de-ren grundsätzlich expansionistische Tendenz, die zum einen aus dem inne-ren Wesen der kapitalistischen politischen Ökonomien resultiert, die aber schließlich auch mit dem Wesen ihrer innenpolitischen sozialpolitischen Systeme zusammenhängt. So ist das neuralgische Zentrum der kapitalisti-schen Gesellschaften die Erhaltung der innenpolitischen Klassenmacht, d.h. die Macht der einen Klasse über die andere, deren Rechtfertigung stets ein schweres Unterfangen bleibt, weil sie ihrem Wesen nach nur partikularistisch sein kann. Mächtige kapitalistische Zentren können ihre inneren gesellschaft-lichen Herrschaftsverhältnisse durch Expansionismus stärken - nicht nur im Sinne einer ökonomischen Stütze, sondern auch als ideeller Träger für ihre innenpolitische Machtstellung gegenüber der Bevölkerung. Die immense in-nenpolitische Macht der britischen Bourgeoisie, die sich aus ihrem Imperium ergab, ist - historisch betrachtet - nicht nur das Ergebnis materieller Vorteile für die Bevölkerung, sondern auch durch die innenpolitische Machtstellung als einem Nebeneffekt der imperialen Ausdehnung entstanden; und Gleiches gilt auch für die anderen kapitalistischen Hauptzentren.

Ergo haben alle kapitalistischen Zentren den Aufbau von Großräumen (im Original deutsch, A.d.Ü.) angestrebt, so wie dies die deutsche Elite in den 1930er Jahren nannte und was von den amerikanischen Strategen »grand areas« genannt worden ist, was aber schlichter auch einfach als Einfluss-sphäre bezeichnet werden kann. Dabei hat es sich um geographische Räu-me gehandelt, in denen die Schlüsselbausteine für ihre ausgeweiteten Ak-kumulationskreisläufe und politischen Einflussgebiete lagen. Mitunter sind diese Räume ökonomisch offen gewesen und haben zu ihrer ökonomischen Durchdringung durch die anderen kapitalistischen Zentren eingeladen. Ge-legentlich waren sie aber auch ökonomisch geschlossene Räume, die eine ökonomische Durchdringung zu verhindern suchten. Dabei hat sich die offene Durchdringung als brauchbar erwiesen, wenn sich das eindringende Zentrumsland stark genug fühlte, die Vorherrschaft auch im Kontext einer offenen Struktur aufrecht zu erhalten. Die Abschottung eines Raumes ist dahingegen ein Symptom gefühlter Schwäche.

Die Offenheit und Geschlossenheit von Räumen sind dabei zur gleichen Zeit durch den Charakter der kapitalistischen Zentren bedingt, der sich aus den wesentlichen Formen der internationalen kapitalistischen Konkurrenz

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ergibt. Während Tauschhandlungen in neoklassischen Vorstellungen von Märkten stets die verschwommene Form von Tauschwerten annehmen, ist der Weltmarkt dagegen dazu auch noch eine Hierarchie von Gebrauchswerten, in der einige Länder die Gipfel der internationalen industriellen Arbeitsteilung besetzt halten und andere geringwertige Konsumgüter für »Vollreife Märkte« produzieren. Was Schumpeter begriff, ist, dass die Konkurrenz zwischen ka-pitalistischen Zentren sich weniger um die Preise von Stabilwerten dreht, so wie in der neoklassischen Perspektive, sondern vielmehr um den Kampf um neue Wachstumsbranchen und für Skalenökonomien in Hochtechnologie-bereichen sowie um das händeringende Suchen nach und Kämpfen um neue Wachstumszentren. Diese konkurrenzgetriebenen Kämpfe resultieren aus den starken stagnativen Tendenzen in den Kernkapitalismen. Weit davon entfernt, das Ergebnis von unbarmherzig das Handeln der Hauptzentren diktierenden Marktlogiken zu sein, geht es bei den Konflikten und Aushandlungen in all diesen Bereichen ja eben genau um die zu entwickelnden Rahmenbedingun-gen, auf denen die Märkte dann selbst aufgebaut werden sollen.

Vor diesem Hintergrund haben die führenden Zentren das Ziel verfolgt, sich Vorteile vermittels des Aufbaus von ökonomischen und politischen Institutionen einer zentrumsübergreifenden Weltordnung zu verschaffen. Hieraus resultieren die Notwendigkeit von Abkommen über internationa-le Marktinstitutionen mit dem Ziel der Expansion des Kapitals sowie ver-einbarte Arrangements, welche Ungleichgewichte und makroökonomische Krisen beheben oder eindämmen sollen. Solche zentralen Einrichtungen sind diejenigen, welche die internationalen monetären Verhältnisse und Finanzhoheiten regeln. Insofern, als die Weltwirtschaft ein Aggregat poli-tisch eigenständiger Währungszonen und Finanzsysteme ist, erfordert ihr Funktionieren Einrichtungen, welche diese Zonen mit einer gemeinsamen Verrechnungseinheit und mit zwischenstaatlichen Zahlungsausgleichsme-thoden für die verschiedenen Staaten in der Weltwirtschaft verknüpfen so-wie Arrangements für die Finanzierung internationaler Transaktionen her-ausbilden. Brechen solche Einrichtungen zusammen, gerät die internationale Ökonomie in eine strukturelle Krise, aus der wie in den 1930er Jahren tiefge-hende politische Konflikte entstehen können. Gleichzeitig bedarf es für das Funktionieren stabiler monetärer und finanzieller Abkommen und Einrich-tungen umfangreicher and enger kollegialer Zusammenarbeit zwischen den Hauptzentren der Weltwirtschaft, so wie dies vor 1914 mit dem Goldstan-dardsystem oder unter der unipolaren Führung der ersten drei Jahrzehnte des Nachkriegssystems existierte.

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Solche spezifischen ökonomisch-institutionellen Arrangements existieren allerdings nur für begrenzte Zeiträume, da die Entwicklung der Weltwirt-schaft einem konstanten Wandel unterliegt. Aus diesem Grund besteht die wichtigste Aufgabe in der Schaffung politischer Mechanismen, die es erlau-ben, die monetären und Marktarrangements immer wieder neu auszuhan-deln; und in diesem Kontext ist es die Machtpolitik, die den Ausschlag gibt. So sind es die mächtigsten Zentren in der Weltwirtschaft, die im Grunde genommen wie ein exklusiver Privatklub Abkommen aushandeln und sich Vorteile verschaffen, mit denen jedes Klubmitglied leben kann, was aber in der Regel auf Kosten der zum Klub nicht Zugelassenen passiert. Gleichzeitig werden diese Deals dann als Arrangements dargestellt, welche das universel-le Wohlergehen der Menschheit als solche sichern.

In der Zeit vor 1914 war dieser exklusive Klub auf die europäischen Großmächte beschränkt, mit den Vereinigten Staaten und Japan in Rand-positionen. Die internen Mechanismen dieses Klubs beinhalteten allerdings Mängel, die sich verheerend auswirken sollten. Diese Mängel lagen weniger in den ökonomischen Institutionen selbst begründet, d.h. dem Goldstandard und der imperialen Expansion in den Süden bei gleichzeitig ziemlich flexib-len Handelsregeln zwischen den zentralen Kapitalismen, sondern wurzelten vielmehr in den politischen Mechanismen zur Behebung von Konflikten so-wie in dem potenziell explosiven Mix aus militaristischen, nationalistischen, darwinistischen, innenpolitischen Kulturen, ohne den die durch immense soziale Spannungen geprägten Gesellschaften nicht hätten integriert werden können.

Die Zwischenkriegszeit war dann von der absoluten Unfähigkeit der ka-pitalistischen Zentren geprägt, einen größere Belastungsproben aushalten-den Privatklub zu bilden. Diese Unfähigkeit hatte zahlreiche Zusammen-brüche auf allen Ebenen zur Folge: in der Politik, in der Wirtschaft und in der Ideologie.

Die Nachkriegsvereinbarungen waren danach das goldene Zeitalter der kapitalistischen Weltordnung: einem Staat - den USA - war ein solch über-wältigender Aufstieg über die zerstörten und finanziell ruinierten Kapitalis-men an beiden Enden Eurasiens beschieden, dass er diese unter seiner Füh-rung wiederaufbauen und für die Konfrontation mit dem Sowjetblock und dem Kommunismus organisieren durfte. Aus dieser Gemengelage resultierte schließlich jene politische Konfiguration, die diese Länder in Abhängigkeit von einem riesigen Militärapparat hielt, den die Vereinigten Staaten errich-teten. Gleichzeitig wurden dabei die eurasischen Kapitalismen für 30 Jahre

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zu den neuen Wachstumszentren des internationalen Kapitalismus, während die USA die neuen Wachstumsbranchen schufen: Massenkonsumindustrien, in denen ihre Arbeiterklassen sowohl Konsumenten als auch Produzenten wurden. In diesem System orientierten sich alle kapitalistischen Zentren zwecks ihrer ökonomischen und politischen Entwicklung nach innen, d.h. in die amerikanische Einflusssphäre bzw. den amerikanischen Großraum (im Original deutsch, A.d.Ü.). Und trotz der wachsenden Spannungen und ökonomischen Probleme in diesem Großraum überlebte dieses politische Rahmenwerk bis zum Zusammenbruch des Ostblocks.

2. Die Hauptprobleme der »Klubgründung« heute

In den Augen derer, die den Zustand der kapitalistischen Welt rein aus der Ökonomie ableiten, mag das System seit dem Zusammenbruch des Ost-blocks einen ziemlich rüstigen Eindruck gemacht haben. Die allgemeinen makroökonomischen Indikatoren (wie zweifelhaft auch immer ihre Berech-nungsmethoden vor allem bezüglich der Vereinigten Staaten sein mögen) legen nahe, dass die Weltwirtschaft alles in allem leidlich funktioniert; und selbst in den Regionen des Zentrums, in denen das Wachstum gering aus-fiel (wie in Westeuropa) oder wo die Wirtschaft stagnierte (Beispiel Japan), fallen momentan zumindest die Profitraten der Schlüsselkapitale sehr hoch aus. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Zerfall und die Demora-lisierung der internationalen Arbeiterbewegungen hat sich für die kapita-listischen Klassen jeden Landes als äußerst vorteilhaft erwiesen. In diesem Kontext wurde eine ziemlich dramatische Reichtumsumverteilung und ge-sellschaftliche Machtverschiebung zugunsten des Kapitals möglich, die sich im Zeichen des so genannten Neoliberalismus vollzieht. Auch der heftige politische Konflikt zwischen Japan und den USA aus den 1980er Jahren hat sich entschärft; und auch die transatlantischen Spannungen bezüglich des transatlantischen Handels haben sich gelegt. Beide wurden im Rahmen der Schaffung eines rechtlichen Rahmens für internationale Wirtschaftsaktivi-täten in der WTO behandelt. Zudem ist es den Vereinigten Staaten gelungen, eine neue Wachstumsbranche, die Kommunikations- und Informationstech-nologie, zu entwickeln, in der sie führend sind. Auch dies hat - zumindest fürs erste - dazu beigetragen, die Auseinandersetzungen in den Führungszirkeln der USA über die Frage nach dem Führungsverlust der USA in der internati-onalen industriellen Arbeitsteilung zu mildern. Diese positive Entwicklung

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für die USA wird noch ergänzt durch den Siegeszug einer weiteren extrem dynamischen neuen Wachstumsbranche, dem internationalen Finanzsektor, in dem die Führung der amerikanischen Finanzakteure genauso für jeder-mann ersichtlich ist. Kurzum, die Vereinigten Staaten bleiben offenkundig das Zentrum sowohl in der internationalen politischen Ökonomie als auch in der internationalen Politik.

Und doch sind diese positiven Merkmale der internationalen Lage heute - positiv zumindest aus der Sicht der kapitalistischen Stabilität und von der Warte der amerikanischen Führungsposition - allesamt temporär und weisen keine tiefgreifenden Wurzeln auf, die Dauerhaftigkeit garantieren könnten. Aus einer längerfristigen historischen Perspektive betrachtet ist das bemer-kenswerte Kennzeichen der heutigen Situation das absolute Fehlen eines ko-härenten Gefüges einer stabilen neuen Weltordnung, d.h. einer Weltordnung im Sinne der eingangs beschriebenen Ad-hoc-Totalität, basierend auf einer Übereinkunft zwischen den kapitalistischen Hauptzentren. Das Fehlen ei-nes solchen Gefüges ist die Haupttriebkraft hinter der internationalen Poli-tik der Gegenwart und ist eine große Gefahrenquelle für die Stabilität und Integrität der Weltwirtschaft.

Probleme in der internationalen politischen Ökonomie

Das Dollar-Wall-Street-Regime Dem kapitalistischen Zentrum mangelt es schon seit den 1970er Jahren an einem stabilen Vertragsgefüge, das sozusagen die Rolle der tragenden Säule jedweder internationalen kapitalistischen Wirtschaft sein muss: eine inter-nationale Währungs- und Finanzarchitektur. An ihrer Stelle haben wir et-was, das wir als ein imperiales Dollarsystem bezeichnen könnten und das sich auf die zentrale Bedeutung der Wall Street und der Londoner Börse im Finanzsektor stützt. In diesem System mangelt es den internationalen ka-pitalistischen Akteuren an einer stabilen internationalen Währungseinheit, welche die gesamte Weltwirtschaft umgreift. Stattdessen betreiben diese ihre Aktivitäten mit der Währung eines einzelnen kapitalistischen Staates, die ausschließlich den makroökonomischen Interessen ihres Ursprungslandes, den Vereinigten Staaten, »gehorcht«.

Dieses Arrangement sorgt für äußerst brisante und instabile Rahmenbe-dingungen bei der Durchführung internationaler kapitalistischer Aktivitä-ten, da der Wechselkurs des Dollars zu anderen Währungen wild hin- und herschwankt. Eine Konsequenz dieses Systems ist, dass die kapitalistischen

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Unternehmen dadurch gezwungen werden, sich bei all ihren internationa-len ökonomischen Operationen gegen Wechselkursschwankungen abzusi-chern, indem sie Derivatverträge über ausländische Währungen abschließen, mit Forderungsrechten besicherte, festverzinslich strukturierte Wertpapiere ausgeben, Bankdarlehen aufnehmen oder Kredit/Schulden-Arrangements aushandeln etc. Allerdings lösen solche Derivatverträge das Problem des in-ternationalen Handels nicht wirklich, da sie nur eine Laufzeit von sechs Mo-naten haben. Dies hat dann wiederum eine ganze Reihe von weiteren Verän-derungen im modus operandi der Weltwirtschaft zur Folge gehabt. Hierzu gehören u.a. die Notwendigkeit für Unternehmen, so genannte transplant Investments in anderen Zentren vorzunehmen, um die aus den Wechselkurs-schwankungen resultierenden Risiken zu mildern, oder auch die Notwen-digkeit von Transferpreissetzungen.

Dieses aus der Sicht der internationalen kapitalistischen Wirtschaft äu-ßerst dysfunktionale Währungssystem beruht nun auf dem Fortbestand ei-ner Reihe von Umständen und Begebenheiten, die - wie sich zeigen könnte - nicht auf Dauer am Leben erhalten werden können: (1.) die Zentralität der Wall Street und Londons als die Hauptzentren der Werteeinlagerung (value storage) und ihre Funktion als finanzielle Clearinghäuser der Weltwirtschaft; (2.) der Fortbestand der Zentralität des amerikanischen Gütermarktes für das ökonomische Wachstum in weiten Teilen des übrigen Teils der Weltwirt-schaft; (3.) die weiterbestehende Bereitschaft der hauptsächlichen Warenpro-duzenten - insbesondere der Ölwirtschaft -, ihren Handel mit diesen Waren in Dollars zu betreiben; und (4.) der fortbestehende Unwil le der eurasischen kapitalistischen Hauptzentren, ein eigenes internationales Währungs- und Finanzregime zu konstruieren, das die beiden Enden der eurasischen Land-masse unabhängig vom Dollar miteinander verknüpft.

Für den Augenblick besteht das Dollar-Wall-Street-Regime ohne einen unmittelbar erkennbaren Herausforderer fort. Gleichzeitig konnte man be-obachten, wie es in den letzten Jahren sehr deutlich unter Belastungspro-ben aller Art litt. Hierzu zählen die Bereitschaft der europäischen und japa-nischen Politikgestalter, den Aufbau eines eurasischen Währungsregimes ins Auge zu fassen, was ein Anzeichen für Spannungen ist. Ähnliches kann ge-sagt werden für (1.) die zwischen 2001 und 2003 artikulierten Andeutungen einiger Ölproduzenten, dem Dollar als Handelswährung den Rücken zu kehren; (2.) die Weigerung der ostasiatischen Finanzbehörden nach 2002, ein Absinken des Dollarkurses hinzunehmen; und (3.) die Auseinander-setzungen über die bestehenden enormen Zahlungsungleichgewichte und

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die hieraus resultierende Frage, ob die Kosten für die Abmilderung dieser Ungleichgewichte von den eurasischen Ökonomien durch Wechselkursbe-wegungen oder von der amerikanischen Ökonomie durch Hinnahme einer tiefen Rezession geschultert werden sollten. Schließlich zeichnet sich am Horizont ab, dass der amerikanische Absatzmarkt seine makroökonomische Bedeutung für andere Wirtschaften verlieren könnte. Dies gilt insbesondere für Asien, denn hier entsteht in der Folge des Aufstiegs von China ein neues Wachstumszentrum nicht bloß für Investitionen und billige Arbeitskräfte, sondern auch für Absatzmärkte.

Ein Zusammenbruch des Dollar-Wall-Street-Regimes würde sich auf die amerikanische Wirtschaft verheerend auswirken und käme einer ziemlichen Gefährdung der Integrität der US-zentrierten internationalen politischen Ökonomie gleich. Im Augenblick schützt das Dollar-Wall-Street-Regime allerdings noch jene unerschütterliche Säule ihrer langfristigen Robustheit, nämlich die politische Macht der Vereinigten Staaten und deren Fähigkeit, vermittels ihres politischen Einflusses sich die Unterstützung der Zentral-banken und Finanzministerien der anderen kapitalistischen Kernländer für dieses System zu sichern.

Amerikas Verlust der Führungsposition in Sachen industrieller Arbeitsteilung und der Versuch, sich über den industriellen Kapitalismus »zu erheben« Ungeachtet des Erfolgs des von den USA angeführten informations- und kommunikationstechnologischen Sektors ab den 1990er Jahren ist heute die industriell-technologische Führerschaft im Zentrum heute gestreut, wenn man die gegenwärtige Situation mit den 1950er Jahren vergleicht. Tatsächlich kann der Durchbruch in der Informations- und Kommunikationstechnolo-gie in vielerlei Hinsicht eher als die Ausnahme angesehen werden, welche die Regel des Zerfalls des Industriekapitalismus in den USA bestätigt. Denn der Durchbruch in dieser neuen Wachstumsbranche war zu großen Teilen das Ergebnis amerikanischer staatlicher Industriepolitik und war abhängig von umfangreichen staatlichen Subventionen für Forschung und Entwicklung und von der Ankurbelung der Wirtschaft durch Staatsaufträge. Tatsäch-lich ist das angestrebte Ziel, den industriellen Sektor in den USA dadurch wiederzubeleben, dass man seit den 1970er Jahren politisch auf eine Ver-mögens- und Einkommensumverteilung zugunsten der Unternehmerklasse und zuungunsten der Arbeiterklasse drängte, nicht Wirklichkeit geworden. Stattdessen hat es den Aufstieg eines neuen Typus von Rentierkapitalismus befördert, bei dem es im Kern darum geht, im Interesse des Geldkapitals

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kurzfristige Gewinne aus dem industriellen Sektor abzuschöpfen. In seinem Buch über die Geschichte des Industriekapitalismus in der atlantischen Welt sieht Alfred Chandler diesen Trend schon in den frühen 1960er Jahren ein-setzen.

Man kann diesen Trend unter anderem als die Entstehung eines freien Marktes für industrielle Unternehmen verstehen. In der Phase des indus-triekapitalistischen Aufstiegs in den Vereinigten Staaten, d.h. zwischen den 1930er und den 1970er Jahren, bestand eine bemerkenswerte Kontinuität in industriellen Firmen in den Vereinigten Staaten und der Markt für industri-elle Wertbestände war im Grunde genommen eine Restgröße mit bankrotten Firmen. Im Zuge der sich verschärfenden industriellen Konkurrenz durch japanische und europäische Unternehmen versuchten viele Unternehmens-führungen schließlich gar nicht erst, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Indus-trieunternehmen wiederherzustellen, sondern beschränkten sich darauf, unrentable Bereiche stillzulegen und industrielle Vermögenswerte zwecks der Erzielung kurzfristiger eigener Shareholdergewinne abzustoßen oder aufzukaufen. Dieser Trend beschleunigte sich in den 1980er Jahren, und zwar im Zuge des entstehenden Marktes für fremdkapitalfinanzierte Unter-nehmensübernahmen, und damit mit dem Eintreten der Wall-Street-Invest-mentbanken, der Hedge- und Privat-Equity-Fonds in diesen Bereich.

Ein augenfälliges Moment dieses Trends sind die Spannungen zwischen den unmittelbar aus den Fusionen oder Übernahmen entspringenden Aus-schüttungen an die Shareholder (um gar nicht erst von den Ausschüttungen an die bei diesen Operationen involvierten Finanzdienstleister zu sprechen) sowie den strategischen Aussichten der Industrieunternehmen, um die es da-bei geht: So haben es große Teile der neufusionierten Einheiten in der Folge versäumt, sich im industriellen Wettbewerb zu behaupten. Und doch hat diese Tatsache dem allgemeinen Trend keinen Abbruch getan. Ganz im Ge-genteil. Vielmehr haben die Vereinigten Staaten diesen neuen Rentierkapita-lismus auch in den kapitalistischen Zentren jenseits des Atlantiks und Pazi-fiks befördert und eine Umstrukturierung deren Kapitalismen nach ihrem eigenen Vorbild angestrebt.

Gleichzeitig haben sowohl der europäische (insbesondere der deutsche) und der japanische Kapitalismus weiter daran gearbeitet, die Wirtschafts-systeme in diesen Ländern so auszurichten, dass in ihnen industrielle Mo-dernisierung und die Eroberung der Weltexportmärkte funktionieren kön-nen. Im Falle Europas hat das europäische Binnenmarktregime ferner die Rahmenbedingungen für einen Markt von der Größenordnung der Verei-

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nigten Staaten geschaffen. Und während Japan vorerst zwar eine solche au-tonome Marktbasis vermissen lässt (was Japan für den äußerst wirksamen Wirtschaftskrieg der USA verwundbar macht, weil es vom amerikanischen Absatzmarkt abhängig ist), könnte die anhaltende dynamische Entwicklung des ostasiatischen Wirtschaftsraums (allen voran die der chinesischen Wirt-schaft) in absehbarer Zukunft Japan ein alternatives Umfeld für seine indus-trielle Expansion liefern.

Diese Trends verlaufen nun parallel zu den Konfigurationen der ma-kroökonomischen Wirtschaftssteuerung. Während die makroökonomische Politik der USA entlang des Wachstums in der nachfragegeleiteten Binnen-konsumwirtschaft orientiert war und dabei typischerweise ein Hauptaugen-merk auf den nicht gewerblichen Sektor und hierbei insbesondere den Im-mobilienmarkt richtete, hat sich die makroökonomische Politik Japans und Deutschlands weiterhin an der binnenökonomischen Maßgabe der Deflation und dem Außenwirtschaftsziel der Handelsüberschüsse und Exporterfolge orientiert. In diesem Sinne korrespondieren die amerikanischen Zahlungs-bilanzdefizite und die steigende internationale Verschuldung der USA mit diesen deutschen und japanischen Überschüssen.

Das angelsächsische Projekt eines neuen Rentier-Gesellschaftssystems Die Entstehung der neuen Kapitalismusform des Rentierkapitalismus hat in den 1990er Jahren den Aufstieg eines neuen angelsächsischen Projektes begünstigt, bei dem es darum geht, die kapitalistische Gesellschaft in toto entlang des Rentiermusters umzustrukturieren. Wir haben es hier mit einem Vorstoß zu tun, die Lohnabhängigen direkt von der Performance der Wert-papiermärkte abhängig zu machen - und zwar nicht allein hinsichtlich ihres Arbeitsplatzes, sondern auch im Hinblick auf Sozialleistungen, insbesonde-re die Rente, die Gesundheitsfürsorge und die Hochschulbildung. Ist dieses Projekt erfolgreich zu Ende geführt, dann wird sich die Arbeiterklasse in einer Position der viel totaleren Marktabhängigkeit wiederfinden, als sie es jemals zuvor war.

Im letzten Jahrzehnt hat dieses Projekt in der angelsächsischen Welt auf der makroökonomischen Ebene bedeutende Erfolge feiern können. Während die Wettbewerbsfähigkeit in angloamerikanischen Firmen mit steigender Tendenz in Richtung Kostenverringerung gezielt hat, ist das Wirtschafts-wachstum in zunehmendem Maße von einem Boom im nicht gewerblichen Sektor abhängig, d.h. von Industrien, welche die binnenökonomischen Konsumentenmärkte versorgen und nicht exportwirtschaftlich tätig sein

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können. Hieraus ist ein Widerspruch zwischen dem Drängen auf niedrigere Löhne, d.h. Kaufkrafteinschränkungen und der gleichzeitigen Abhängig-keit von einem Anstieg des Massenkonsums für das Wirtschaftswachstum entstanden. Die Quadratur des Kreises bewerkstelligte man, indem man die Sparquote der privaten Haushalte senkte und gleichzeitig Anreize für eine zunehmende Verschuldung dieser privaten Haushalte schuf. Dabei hat man sich die Rentieraspekte im Alltag breiter Teile der Arbeiterschaft in der an-gelsächsischen Welt zunutze gemacht, nämlich den hohen Grad an privatem Hauseigentum. So gelang es den angelsächsischen Kapitalismen, vermittels der Förderung eines Booms im Immobiliensektor und des gleichzeitigen umfangreichen Angebots von historisch niedrigverzinsten Krediten Finanz-mittel aus den Hausbesitzvermögen zu extrahieren, indem die Arbeiter ihre Häuser mit neuen Hypotheken belasten konnten, und diese Mittel dann in den konsumbasierten binnenökonomischen Boom zu kanalisieren. Eben ge-nau dieser Zusammenhang ist der Kern der wirtschaftlichen Aufschwünge in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Australien und Neuseeland im vergangenen Jahrzehnt.

Allerdings scheint sich dieses Projekt nicht aus eigenem Antrieb am Le-ben erhalten zu können. Die mit ihm so eng verknüpfte steigende Verschul-dung der Privathaushalte gerät allmählich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und Gleiches gilt für die Leistungsbilanzdefizite all jener Länder. Auf einer mehr strukturellen Ebene impliziert das Rentierprojekt, dass die Kosten für Renten, Gesundheit und Hochschulbildung den Privathaushalten aufgebür-det werden, die in Rentiersaktivitäten aktiv sind und die Fonds der Versi-cherungsindustrie auffüllen und dabei hoffen, dass solche Investitionen ihre Gesundheitsfürsorge und Renten für die Zukunft absichern.

Die Schlacht um die Marktstrukturen im kapitalistischen Zentrum Dieses angelsächsische Projekt und sein Ziel der Umstrukturierung des kern-kapitalistischen Gefüges ist in den anderen Hauptzentren des Kapitalismus, in Deutschland und in Japan, auf Widerstand gestoßen. Beide Zentren sind bis heute im Kern Industriekapitalismen geblieben mit dem Ziel des Industrie-exports und der Verteidigung ihrer Führungsposition in Sachen industrieller Wettbewerbsfähigkeit. Hierfür ist die Beibehaltung diversifizierter und inte-grierter Industriestrukturen und die Erhaltung der Kapazitäten für einen lang-fristig-strategischen Investitionsansatz im industriellen Sektor notwendig.

Uber einen Zeitraum von 20 Jahren haben die Vereinigten Staaten einen unbarmherzigen Vorstoß unternommen, den japanischen Kapitalismus um-

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zustrukturieren. Dieser Versuch wurde durch die lange Abhängigkeit der ja-panischen Wirtschaft vom amerikanischen Gütermarkt begünstigt. Im Falle Deutschlands ist diese Abhängigkeit dagegen deutlich geringer ausgeprägt, da die deutsche Wirtschaft einen großen Gütermarkt in der Europäischen Union besitzt. Die US-Kampagne gegen Japan in den 1980er und 1990er Jahren implizierte die Auferlegung regulierter Handels- und regulierter Produktionsbeziehungen für eine ganze Reihe von japanischen Industrie-branchen, das Drängen auf eine Zulassung amerikanischer Akteure im japa-nischen Finanzsektor, eine von Erfolg gekrönte und durch europäische Hilfe zustande gekommene Kampagne zur Benachteiligung japanischer Banken (vermittels des Baseler Bankenregimes) und einen ebenfalls erfolgreichen Versuch, die enge japanische Koordination von Regierungspolitik, Banken-und Industriestrategie sowie die Keiretsu-Verbindungen zwischen den In-dustrieunternehmen und den Banken zu beenden.

Und dennoch: Ungeachtet dieses nicht nachlassenden Drangs, den japa-nischen Kapitalismus umzustrukturieren, haben weder der japanische noch der deutsche Kapitalismus das angelsächsisch-rentierkapitalistische Modell übernommen. Trotz der erfolgreichen Angriffe Vodafones auf Mannesmann im Jahr 2000 und trotz des Vorstoßes US-amerikanischer Investmentbanken, in Japan eine feindliche Übernahmekultur zu etablieren, haben diese beiden Staaten der Entwicklung eines freien Marktes für Industrieunternehmen er-folgreich widerstanden und sich eine wirksame Binnenkontrolle über ihre Industriestrukturen erhalten. Auch der Weichenstellung in Richtung eines an die »Rentierisierung« der Arbeiterklasse gekoppelten konsumbasierten Booms haben sich Japan und Deutschland widersetzt.

Die hieraus resultierende Pattsituation ist nun wiederum keine rein öko-nomische Frage, bei der es sich um die Wettbewerbsbedingungen zwischen verschiedenen Kapitalen dreht. Es handelt sich dabei vielmehr um eine tief-greifend politische Frage, nämlich die Frage nach der Legitimität verschie-dener kapitalistischer Gesellschaftsmodelle und Staatstypen.

Der Mangel an einem kohärenten Klub Diese Probleme in der internationalen politischen Ökonomie des Gegen-wartskapitalismus wären einigermaßen leicht zu behandeln, wenn denn die Hauptzentren des Systems in einem stabilen und politisch kohärenten Klub zusammengeschlossen wären. Das ist aber nicht der Fall. Und es ist absolut nicht auszuschließen, dass es in absehbarer Zeit nicht zur Entstehung eines solchen Klubs kommt, der in der Lage wäre, alle Beteiligten in einer neuen

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Ad-hoc-Totalität zum Steuern des Systems zu organisieren. Im Folgenden werde ich kurz die Ursachen dieser Sackgasse behandeln.

Der abgeschwächte Schutzmachtstellenwert des amerikanischen Militärapparats für die US-amerikanische Führung des Zentrums Die Differenzen und realen oder potenziellen Spannungen in der internati-onalen politischen Ökonomie wären nicht zwangsläufig mit einer Krise der Weltordnung gleichzusetzen, wenn sie durch ein robustes internationales Rahmenwerk amerikanischer geopolitischer Kontrolle in Grenzen gehalten würden. Ein solches Rahmenwerk bestand zurzeit des Kalten Krieges, da die politische Gegnerschaft zur kommunistischen Welt die deutschen und japanischen Kapitalisten dazu zwang, ihre Akkumulationsraumstrategien nach innen in das amerikanisch kontrollierte Zentrum zu richten. Im selben Atemzug stellte die anhaltende militarisierte Konfrontation mit dem Ost-block sicher, dass die eurasischen kapitalistischen Kernländer auf die ame-rikanische Militärmaschine angewiesen blieben, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. In einem solchen Kontext konnten die Vereinigten Staa-ten das Dollar-Wall-Street-Regime aufbauen und sich zufrieden zurückleh-nen, in dem Bewusstsein, dass die zentrale Stellung der US-amerikanischen Wirtschaft für den Rest des Zentrums gesichert blieb. Und insofern, als das amerikanische Militär und ihre Geheimoperationsressourcen auch den Sü-den weltpolizeilich überwachten und dort antikapitalistische oder radika-le nationalistische Regimes und Bewegungen, welche die Investitionen des Zentrums dort gefährdeten, bekämpften, besaß die politische Vorherrschaft der USA über die Länder des Zentrums einen weiteren stabilisierenden Bau-stein.

Auf diese Weise spielte der gigantische Militärapparat der USA eine funk-tionale Rolle für die amerikanische Vormachtstellung in der kapitalistischen Weltordnung des Kalten Kriegs. Gleichzeitig verankerte sich die militari-sierte amerikanische politische Ökonomie mit tiefen Wurzeln in der Bin-nenstruktur der USA und sicherte sich so die innenpolitische Unterstützung für die expansionistische Tendenz des amerikanischen Kapitalismus. Dabei spielte der Wehretat der USA eine zunehmend wichtigere Rolle für die Er-neuerung der hochtechnologischen Führerschaft der Vereinigten Staaten, da er hierfür als Transmissionsriemen diente.

Diese innenpolitische Bedeutung der militarisierten politischen Ökono-mie hatte auch über das Ende des Kalten Krieges hinaus Bestand. So be-schäftigte das amerikanische Verteidigungsministerium 2006 unmittelbar

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2,143 Mio. Menschen. Hinzu kommen noch einmal 230.000 Beschäftigte der Veterans Administration. Weitere 3,6 Mio. Menschen waren im Dienst von Kontraktoren des US-Verteidigungsministeriums tätig. Alles in allem hat man es hier also mit einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 5,973 Mio. Men-schen zu tun. Das entspricht mehr als 4% der Summe aller Beschäftigten in den USA. Zählen wir hierzu noch die 25 Mio. Kriegsveteranen, die qua ihres Status Transferleistungsbezieher des Verteidigungsministeriums sind, und nehmen wir weiter an, dass jeder Amerikaner mit einer finanziellen An-bindung an das Verteidigungsministerium einem Haushalt mit durchschnitt-lich einer weiteren wahlberechtigten Person angehört, dann kommen wir auf eine Zahl von ungefähr 60 Mio. amerikanischen Wählern, die finanziell mit dem amerikanischen Militärestablishment verknüpft sind.

Gleichzeitig haben aus der Sicht der spezifisch kapitalistischen Machtin-teressen des amerikanischen Staates der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Verbündeten die politische Bedeutung des Mi-litärapparats untergraben. Die militärische Schutzmachtfunktion der USA in Europa ist im Grunde genommen in sich zusammengefallen und auch in Os-tasien ist ihre bleibende Wirksamkeit ambivalenter und spannungsgeladener geworden. Im Falle des südkoreanischen Kapitalismus ist die Legitimität des militärischen Schutzes durch die USA stark untergraben worden sowohl hin-sichtlich Nordkoreas als auch Chinas, denn der südkoreanische Kapitalismus hat seine Aktivitäten massiv in Richtung eines Handels mit China selbst ori-entiert. Und während die amerikanische militärische Schutzmachtfunktion für Japan weiterhin bedeutsam ist, haben sich in dem Maße, wie Japan sich zunehmend in Richtung China orientiert, auch hier neue und belastende Am-bivalenzen ergeben. Und was die Funktion der USA im Verhältnis zu Taiwan ist, werde ich für den Augenblick hintanstellen und weiter unten erörtern.

Freilich bleibt es dabei, dass die bis in die entlegendsten Regionen rei-chenden Investitionen des kapitalistischen Zentrums an ihren Investitions-standorten im Süden von nationalen Kräften bedroht werden können, und tatsächlich ist es denkbar, dass dies der Ansicht Auftrieb verleiht, dass der US-amerikanische Militärapparat seine Bedeutung als ein Apparat zur Un-terdrückung von antikapitalistischen Bewegungen und Regimes in dieser Region beibehält. Und doch ist es ein auffallendes Merkmal des heutigen US-militärischen Apparats, dass dies genau jene Funktion ist, für welche die amerikanische Militärmacht schlecht gerüstet ist. Die Vereinigten Staa-ten haben die militärische Kontrolle der Ozeane, des Weltalls und des Luft-raums oberhalb von 5.000 Metern praktisch monopolisiert, auch besitzen

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sie überwältigende Vorteile im Bereich des Bodenkriegs in offenen Zonen, wie z.B. Ebenen und Wüsten. Unterhalb der 5.000-Meter-Marke, bei krie-gerischen Auseinandersetzungen in Küstennähe und vor allem in Boden-kriegen in Urbanen Räumen oder Dschungel- und Bergregionen jedoch ist ihre uneingeschränkte Vorherrschaft keineswegs unangetastet. Dabei sind es exakt diese Räume, in denen kriegerische Auseinandersetzungen mit antika-pitalistischen oder radikalen nationalistischen Kräften aller Wahrscheinlich-keit nach stattfinden würden.

De facto sind wir heute im Besitz von zahlreichen Hinweisen auf diese maßgebliche Schwäche der politischen Funktionalität des gigantischen Mil i-tärapparats der Vereinigten Staaten. Radikale politische Kräfte, die ihre poli-tische Basis bei den städtischen Armen besitzen, scheinen sehr effektiv in der Lage zu sein, sich der amerikanischen Militärmacht erfolgreich zu widerset-zen. Das zeigt sich bei den Urbanen Aufständischen in den irakischen Städten und im militärischen Erfolg der Hisbollah in ihrem Widerstand gegen das israelische Militär, das in seiner Form der Gefechtsmacht mit der amerika-nischen Militärmaschine identisch ist. Und solche Städtekriege fordern den amerikanischen Bodentruppenkapazitäten einen unhaltbaren Blutzoll ab.

Paradoxerweise mangelt es dem gigantischen Militärapparat der USA in den Urbanen Zonen des Südens somit an Glaubwürdigkeit als eine wirksame Polizeimacht im Namen der übrigen Länder des kapitalistischen Zentrums. Viel besser ist der amerikanische Militärapparat dafür gerüstet, kapitalisti-sche Regimes mit ausgeprägten zivilen Infrastrukturen in die Knie zu zwin-gen. Hier kann die Macht seiner Luftstreitkräfte eingesetzt werden, verhee-rende Erschütterungen des Zivillebens und der ökonomischen Aktivitäten am Boden vor Ort zu verursachen. Allerdings reicht diese Kapazität beileibe nicht aus, das Vertrauen der anderen kapitalistischen Zentrumsstaaten zu gewinnen und die starke diplomatische Führungsrolle der Vereinigten Staa-ten gegenüber den anderen Zentrumsstaaten zu sichern. Die Annahme der Bush-Regierung, dass der unilaterale Einsatz ihrer Militärmacht gegen ein außerhalb des Zentrums liegendes und als Angriffsziel auserkorenes Land den Rest des kapitalistischen Zentrums hinter sich scharen würde, hat sich als irregeleitet erwiesen. Stattdessen hatte sie zum Ergebnis, dass das Miss-trauen gegenüber der amerikanischen außenpolitischen Strategie vergrößert und die diplomatische Machtstellung der Vereinigten Staaten geschwächt worden ist.

Wir befinden uns also in einer Situation, in der sich die weiterhin beste-hende massive Binnenlogik des riesigen Militärapparats in den Vereinigten

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Staaten nicht in die wirksame Waffe übersetzt hat, die qua amerikanischer Militärmacht die politische Kohäsion des Zentrums erzwingt. Das drama-tischste Anzeichen für dieses Problem war die mögliche Entstehung eines neuen Typs von Einflusssphäre und eines neuen Typs von internationaler Politik, den man in den 1990er Jahren in der europäischen Peripherie entwi-ckelte, unter der Vorherrschaft der westeuropäischen EU-Staaten. Die EU-Institutionen wurden genutzt, um in Zentral- und Osteuropa einen abhän-gigen Großraum (im Sinne des eingangs beschriebenen deutschen Begriffs) zu schaffen. Dabei war dies keine exklusive Sicherheitszone, sondern blieb im Rahmen der NATO rein formell unter der Kontrolle der USA, und doch entstand hier eine genuin politische Einflusssphäre. Uberhaupt ergriff die Europäische Union eine Reihe von weltpolitischen Maßnahmen, die den politischen Stellenwert der amerikanischen Militärmacht verringern oder eindämmen und die USA in die politische Defensive drängen sollten. Hier-für diente der EU ihre Fähigkeit, Initiativen ins Leben zu rufen, die bei den anderen kapitalistischen Zentren für Zuspruch sorgen, wie z.B. das Kyoto-Protokoll, die Internationale Handelskammer ( ICC) oder Rüstungskontrol-len. Zwar gelang es der Bush-Administration, de facto der EU vermittels ihres britischen Satellitenstaates Großbritannien und der mittelosteuropä-ischen Klientenstaaten (vor allem Polen) die Suppe zu versalzen und ihre politische Initiative zu paralysieren; doch bleibt die Tatsache bestehen, dass die Versuche der USA, die aus dem Kalten Krieg überlieferte Form der zen-trumsübergreifenden politischen Kohäsion aufrechtzuerhalten, auf wack-ligen Beinen stehen. So treibt auch die NATO in einem ziemlichen Kuddel-muddel ziellos dahin.

Bühne frei für die neuen Aspiranten des Eintritts ins Zentrum: Russland und China Angesichts der Tatsache, dass kapitalistische Weltordnungen die Form von Ad-hoc-Totalitäten annehmen, bei denen es auf Kompromisse zwischen In-sidern in einer ganzen Reihe von potenziell konfliktträchtigen Themen an-kommt, ist der Eintritt von neuen Mitgliedern in diesen Weltordnungsklub eine Quelle von sehr heftigen Spannungen. Die Entscheidung der Vereini-gten Staaten, Japan in den frühen 1960er Jahren die volle Klubmitgliedschaft zu garantieren, war seinerzeit eine Quelle verbitterter Proteste von Seiten der westeuropäischen Staaten. Und die Hinwendung Russlands und Chinas zum Kapitalismus erweist sich auch eine Quelle von ziemlich wahrschein-lich zunehmenden akuten Spannungen.

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In den 1990er Jahren richtete die Clinton-Administration große Aufmerk-samkeit darauf, zu gewährleisten, dass der neue russische Kapitalismus so strukturiert wurde, dass er in eine untergeordnete und von den USA abhän-gige Stellung geraten würde. Washington unterstützte in Russland mit groß-em Eifer die Entstehung einer Form von »Ganovenkapitalismus« und damit einhergehend die korrupte Privatisierung russischer Vermögenswerte in den Händen von Oligarchen mit engen Verbindungen zu angloamerikanischen Unternehmerinteressen. Das russische Wirtschaftsregime wurde in diesem Zuge auf breiter Front den westlichen Unternehmen und ihrem Erwerb von russischem Eigentum sowie für westliche Finanzakteure geöffnet. Im selben Atemzug wurde der russische Staat durch die rapide Auftürmung von Schul-den in eine abhängige Stellung zu den westlichen Finanzzentren gebracht. Damit waren schließlich die Weichen des russischen Kapitalismus so gestellt, dass dieser als eine seltsame Erscheinung mit quasi saudi-arabisch-rentierka-pitalistischen Zügen entstehen konnte, beherrscht von Oligarchen, die ihre gigantischen Einkommen aus den Eigentumswerten an insgesamt sinkenden Rohstoffressourcen schöpfen.

Dieser Vorstoß kam jedoch gegen Ende der 1990er Jahre zu einem Halt - zunächst mit der russischen Schuldenkrise von 1998 und dem damit zu-sammenhängenden Währungszusammenbruch und dann schließlich mit dem Machtantritt Putins 1999/2000 und der Bestimmtheit der neuen russischen Regierung, Russland als einen starken, integrierten und fortgeschrittenen Industriekapitalismus wiederaufzubauen. Der Versuch des Yukos-Konzern-chefs Chodorkowsky (dessen Vorstandsabteilung einige ehemalige Mitglieder der Clinton-Administration angehörten), eine politische Alternative zu Putin auf die Beine zu stellen, ging als Schuss nach hinten los und der Anstieg der Öl- und anderer Warenpreise erlaubten es Putin, Russlands Staatsschulden zu verringern, die Binnenökonomie wiederzubeleben und Russlands industrielle Struktur zu reorganisieren. Versuche von Seiten der USA, Russlands Nicht-Mitgliedschaft in der WTO als Hebel zur Gefügigmachung der russischen Regierung zu verwenden, ging ebenfalls als Schuss nach hinten los, indem die Nicht-Mitgliedschaft Putin erst freie Hand ließ, den russischen Kapita-lismus intern umzustrukturieren, ohne dabei auf WTO-Restriktionen achten zu müssen. All dies bedeutet für die Bestrebungen der Vereinigten Staaten, die kapitalistische Transformation Russlands so zu gestalten, dass Russland im Ergebnis in eine subalterne und abhängige Stellung gebracht würde, ge-waltige Rückschläge. Zudem hat diese Politik Washingtons große Spannungen innerhalb der EU verursacht, und zwar zwischen einem deutschen Kapitalis-

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mus, der die industrielle Stärke besitzt, mit Russland an seiner Entwicklung zu arbeiten, auf der einen Seite und anderen west- (und mitte leuropäischen Mitgliedsstaaten der EU auf der anderen Seite.

So würde ein sich dynamisch entwickelnder russischer Industriekapitalis-mus in einer anderen Liga spielen als die anderen europäischen Kapitalismen und gleichzeitig die ihn umgebenden Ökonomien, insbesondere diejenigen der ehemaligen Sowjetrepubliken, in Reichweite des deutschen Kapitalis-mus bringen. Der Charakter der langfristigen Herausforderung, die China darstellt, ist freilich noch gewaltiger als die russische Herausforderung. Die Aussicht auf ein anhaltendes Wachstum der chinesischen Wirtschaft in den kommenden 20 Jahren markiert eine fundamentale Herausforderung der ge-samten Struktur des Weltkapitalismus.

Der Hauptgrund hierfür liegt in der schieren Größe Chinas. Mit einem 20% überschreitenden Anteil an der Weltbevölkerung ist China zweimal so groß wie das kapitalistische Zentrum am Ende des 20. Jahrhunderts zusam-mengenommen. Allein die bis heute noch weitgehend staatskapitalistische Ökonomie entlang der chinesischen Küstenregion umfasst eine Bevölke-rung, die größer ist als die Bevölkerungszahl der mit Abstand größten ka-pitalistischen Ökonomie des 20. Jahrhunderts, der USA. Und wenn es dem chinesischen Staat gelingen sollte, die Bevölkerung im Inland auf eine stabi-le Weise in diese kapitalistische Entwicklung einzubinden, dann wird dies die gesamte Dynamik des internationalen Kapitalismus in allen seinen Be-reichen - der Politik, der Wirtschaft und der Kultur - dramatisch umschich-ten. Selbstverständlich bleibt hierbei die entscheidende Frage, ob die poli-tische Ökonomie Chinas ihre Verbindung mit der Welt als eine integrierte, unabhängige Kraft eingeht, oder ob sie dies als eine gebrochene, subalterne und innenpolitisch desintegrierte Zone zum Austoben der anderen Kapita-lismen tut. Und doch ist - den meisten Schätzungen zufolge - das Bruttoin-landsprodukt Chinas heute schon beinahe so groß wie das Deutschlands und gleichzeitig bleibt Chinas gesellschaftlich-politische Kohäsion erhalten.

Die Herausforderung, die China verkörpert, zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Bedeutung von Skalenökonomien und learning economies für die kapitalistisch-industrielle Entwicklung im Allgemeinen betrachtet. Diese belohnen sowohl den Grad der autonomen Marktbasis für Kapitale als auch den Grad der öffentlichen Ressourcen für die effektive Aus- und Weiterbil-dung des Gesamtarbeiters.

Vor diesem Hintergrund kann der Politikansatz der Vereinigten Staaten zur Russland- und Chinafrage nicht mehr die Kalte-Kriegs-Formel der Ein-

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dämmung sein. Während die Eindämmungspolitik als ein Mittel der Druck-ausübung durch die amerikanische Regierung über und zugleich zugunsten der traditionellen kapitalistischen Zentrumsstaaten von diesen selbst zum Schutz vor der Bedrohung durch Russland und China gewünscht werden könnte, wirken Russland und China gleichzeitig doch als gewaltige Ma-gneten, welche die Kapitalismen des Zentrums magisch anziehen: Russland ist ein Energielieferant und ein potenzielles neues Wachstumszentrum für die kapitalistische ökonomische Expansion und China ist das prinzipiell neue Wachstumszentrum der Weltwirtschaft als solcher.

Unter diesen Bedingungen lautete die amerikanische Formel bisher nicht »Con-tainment«, sondern »Enter-tainment«. Das beinhaltet erstens das Bestre-ben, Zugang zu den inneren gesellschaftlichen Systemen beider Länder zu er-langen und diese dann so umzustrukturieren, dass sie den Marktverbindungen entsprechen, welche das US-Kapital begünstigen. Zweitens zielt diese Politik darauf ab, Russland und China geopolitisch so einzuschachteln, dass sie nicht in der Lage sind, eigene autonome Einflusssphären und kapitalistische Expan-sionszonen in ihrer geographischen Umgebung zu errichten. Und schließlich haben die USA den Versuch unternommen, die politische Kontrolle über ei-nen Großteil der globalen Ölressourcen und Ölhandelsrouten zu erlangen, um damit in der Lage zu sein, wirksamen Druck auf den chinesischen Staat auszuüben, der in zunehmendem Maße von Energieimporten abhängig wird.

Die amerikanische Strategie scheint allerdings unwirksam und extrem wi-dersprüchlich zu sein. Die amerikanischen »Enter-tainment«-Bestrebungen gegenüber Russland sind - zumindest für den Augenblick - gescheitert. Im Verhältnis zu China läuft die Eindämmungspolitik innerhalb der amerika-nischen Strategie auf den Versuch hinaus, China in der Taiwanfrage offen zu konfrontieren. Dies allerdings führt eher zum gegenteiligen Effekt, nämlich zu einer Stärkung des national(istisch)en Zusammenhalts des Regimes. Gleich-zeitig besteht für die USA die Gefahr, dass die chinesische Taktik, die darin besteht, enge wirtschaftliche Verbindungen mit seinen Nachbarn aufzubauen, sich letzten Endes als trojanisches Pferd innerhalb der zahlreichen amerika-nischen Sicherheitsbündnisse in der Region erweisen könnte. Dieser Prozess zeigt sich heute schon mit besonderer Deutlichkeit im Fall von Südkorea.

China ist heute das mit Abstand bedeutendste neue Wachstumszentrum der Weltwirtschaft. Dabei sichert China seine makroökonomische Stabilität ab, indem es Kapitalkontrollen und eine effektive zentrale Kontrolle über sein Bankensystem behält, was bedeutet, dass China die ökonomische Ent-wicklungsrichturig durch Investitionsplanung beibehält. Wenn es hierbei

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bleibt und wenn es dem chinesischen Regime gelingt, seine innenpolitische Stabilität zu wahren, dann bedeutet das nichts weniger, als dass die absolut zentralste Frage, welche die zukünftige Bedeutung Amerikas und die Struk-tur einer möglichen neuen Weltordnung bestimmen wird, jenseits der Kon-trolle Washingtons beantwortet werden wird.

Die institutionelle Malaise Die Entstehung einer fast ausschließlich kapitalistischen Weltgesellschaft und der Aufstieg der ostasiatischen Kapitalismen hat für einen weitaus höheren Grad an Komplexität in der Politik und der Wirtschaft der Welt gesorgt, die deutlich mehr Systemsteuerung erfordert, als das noch vor 100 Jahren der Fall war. Dabei hat die Gewohnheit unipolarer Führerschaft, die sich in den letzten 50 Jahren in den USA zusammen mit der beschriebenen inne-ren Konfiguration, auf der diese Gewohnheit fußt, herausgebildet hat, ste-tig umtriebigere Versuche Washingtons, diesen neuen Kontext zu meistern, hervorgerufen. Das Resultat sowohl dieser US-amerikanischen Versuche als auch der hierauf erfolgenden Reaktionen von Seiten der anderen Zentren ist die schleichende institutionelle Auflösung: Keine Reform der Vereinten Nationen, keine Kohärenz in der NATO, eine Sackgasse und das steuerlose Herumtreiben in der Europäischen Union, die Auflösung von Abrüstungs-regimes, die Marginalisierung des IWF, die Blockaden innerhalb der W T O als Folgen der Versuche einzelner Zentrumsländer, sich Handelsvorteile ver-traglich zu sichern. Mögen die amerikanische High-Tech-Militärmaschine und die vermeintlichen handwerklichen Zauberkunststückchen der Derivat-marktakteure auch noch so schillernd glänzen, Anzeichen dafür, dass das steuerlose Dahintreiben des internationalen Kapitalismus in der näheren Zukunft ein Ende finden könnte, sind keine in Sicht.

Theoretisch besteht in diesem Kontext die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem stärker dezentralisierten, regionalisierten Großraum-System, das der Epoche vor 1914 ähneln könnte, dabei - zweifellos - mit besonderen Pri-vilegien für die USA bei gleichzeitigem Entstehen kohärenterer regionaler Zentren in Europa und in Ostasien. Praktisch jedoch ist der amerikanische Staat so konfiguriert, eben die Entstehung eines solchen denkbaren neuen Klubsystems zu verhindern. Eine neue Konfiguration ist vor diesem Hinter-grund somit gezwungen, einige krampfartige Erschütterungen und tiefgrei-fende Turbulenzen zu erwarten und zu erdulden, bis dann aus diesen eine neue und stabilere Konfiguration entspringen mag - oder auch nicht.

Aus dem Englischen von Ingar Solty, Toronto

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Frank Unger George W. Bush im historischen Kontext US-amerikanischer Außenpolitik

1. Das Deuten der Geschichte in langen Zeiträumen, wie es von den Vertretern der »Weltsystem-Theorie« gepflegt wird, ist eine Disziplin mit Fallstricken. Es ist die besondere Stärke dieses Ansatzes,1 dass die individuellen histo-rischen Akteure nur als Charaktermasken »des Systems« gesehen werden - was dem methodischen Ansatz in Marx' »Das Kapital« entspricht, von dem die meisten Weltsystem-Theoretiker auch inspiriert sind. Die Vogel-schau der »Weltsystem-Theorie« bietet die Möglichkeit, zeitgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen der neueren Geschichte in nüchterner, von den beschränkten Deutungsmustern der Zeitgenossen emanzipierter Form zu analysieren. Denn die handelnden Menschen finden stets Verhältnisse vor, die sie nicht selbst gewählt oder gestaltet haben. Durch die Vogelschau-Analysen der Weltsystem-Theoretiker gewinnt man Perspektiven, auf deren Grundlage man die Unübersichtlichkeiten unserer »postnationalen Konstel-lation«2 bis zur Kenntlichkeit verzerrt erkennen kann. Allerdings bleibt ein solcher Ansatz nur so lange fruchtbar, wie er um seine Grenzen weiß und sich für die Erkenntnis offenhält, dass geschichtsstiftende Politik, zumindest solche mit kurz- bis mittelfristigen Folgen, nach wie vor von handelnden Menschen in realen Machtpositionen und vor einem subjektiv durchaus be-grenzten Zeithorizont gemacht wird.

Weltsystem-Theoretiker sind der Tagespolitik entrückt. Dies wiederum schließt selbstverständlich nicht aus, dass auch sie bewusst Partei in den ta-gespolitischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit sind - was sie aber nur mit allen Historikern oder Sozialwissenschaftlern, die sich öffentlich äußern,

1 Führende zeitgenössische Vertreter dieser Richtung der Geschichtsbetrachtung auf der Basis der Kritik der Politischen Ökonomie sowie des Geschichtsmaterialis-mus Fernand Braudels sind Giovanni Arrighi, Christopher Chase-Dunn, Charles Tilly und vor allem Immanuel Wallerstein, dessen drei Bände über Das moderne Weltsystem (Wien 1986, 1998 und 2004) gewissermaßen den Kanon der neueren Welt-System-Theorie bilden.

2 Jürgen Habermas: Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998.

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teilen. Die allein relevanten Unterschiede zwischen Sozialwissenschaftlern bestehen im Grad der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und der theore-tischen Fruchtbarkeit. Auf diesen Gebieten gehören Weltsystem-Theoreti-ker auf die vorderen Ränge der Historiker und Sozialwissenschaftler, da sie bei ihren Interpretationen und Langzeit-Deutungen erstens von nachvoll-ziehbaren theoretischen Grundlagen ausgehen und zweitens die Leser stets zu einem Überdenken überkommener Ansichten nötigen. Was sie alle mit-einander verbindet und - in scheinbarem Kontrast zu ihrer stoisch-geolo-gischen Geschichtsauffassung - gleichzeitig ihren politischen Charakter be-stimmt, ist die konsequente Historisierung des Kapitalismus, der bei ihnen als Gesellschaftsformation mit einem Anfang, einer Mitte und (logischerwei-se) auch mit einem Ende gedacht wird: eine Provokation für die bürgerliche Geschichtswissenschaft, ja die bürgerlichen Sozialwissenschaften überhaupt, die eine historische »Relativierung« ihres Gegenstands, den die meisten von ihnen für die natürliche menschliche Gesellschaftsform halten, ablehnen.

Dies gilt heute umso mehr, nachdem ja - zumindest im westlichen Teil der Welt3 - der finale Sieg von Freiheit und »Demokratie« über den Kommunis-mus deklariert wurde. Dies geschah (und geschieht) in allen nur erdenklichen Formen, von schlichtem Triumphalismus bis zu geschichtsphilosophischer Gemessenheit. So hat z.B. ein - in der Folge immer wieder bewundernd zi-tierter - amerikanischer Autor schon 1989 schlankweg behauptet, gerade-wegs ans »Ende der Geschichte« gelangt zu sein. Damit meinte er den abseh-baren Untergang der sozialistischen Sowjetunion, des großen Gegenspielers der USA und des US-dominierten kapitalistischen Weltsystems. Das klang seinerzeit noch unerhört kühn, war aber im Grunde nur die aufgewärmte Variante eines uralten Gedankens: nämlich dass es sich bei der in den meis-ten Teilen der Welt herrschenden Gesellschaftsformation der bürgerlichen Gesellschaft, die sich nun vor allem dank des Einsatzes der USA auch im Kampf gegen den Kommunismus durchgesetzt habe, um die Vollendung der menschlichen Gattungsgeschichte handele. Diese Ansicht ist nicht erst im Amerika des späten 20. Jahrhunderts erfunden worden. Es war schließlich schon der praktische Hauptsinn von Marx' »Kritik der Politischen Öko-nomie«, den historischen Charakter der Wertform und damit der kapitalis-tischen Produktionsweise nachzuweisen und gegen eben die unhistorische

3 Mit »westlicher Teil der Welt« ist hier gemeint die Welt des entwickelten Kapita-lismus, also im Kern die G7-Länder, zu denen ja auch das durchaus »östliche« Japan gehört.

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bzw. eben »endzeitliche« Betrachtungsweise, der selbst die scharfsinnigsten bürgerlichen Ökonomen (Adam Smith und David Ricardo) anhingen, kri-tisch einzuwenden. Auch sie konnten sich keine andere Gesellschaftsform als die bürgerliche vorstellen. Aber sie sahen sich auch noch uneingeschränkt der Vernunft und der unbefangenen Wahrheitssuche verpflichtet, und Marx konnte sich in seiner »Kritik der Politischen Ökonomie« methodisch auf den Nachweis der Punkte konzentrieren, wo allein ihr (unhistorischer) bür-gerlicher Klassenstandpunkt einer vollständigen Erkenntnis ihres Gegen-stands - der Anatomie und Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft - im Wege stand.4

Die in die Neue Welt ausgewanderten und sich dann »revolutionär« ab-nabelnden Briten fügten dem säkularen Endzeitbewusstsein ihres bürger-lichen Mutterlandes dann noch eine subjektiv-politische Dimension hinzu, der in Europa nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil wird und mit der auch die Welt-Systemtheoretiker wenig anzufangen wissen: nämlich die bis zum heutigen Tag von großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung und sei-nen politisch handelnden Eliten geteilte religiöse Wahnvorstellung, dass »der Herr« auf Seiten Amerikas stehe und die Expansion der Vereinigten Staaten - zunächst politisch als Nationalstaat über die südliche Hälfte des ganzen nordamerikanischen Kontinents, dann »systemisch« über den Rest der Welt - eine Erfüllung biblischer Prophezeiungen und damit die Gestaltung der Welt nach dem strukturellen Vorbild Amerikas gewissermaßen ein göttlicher Auftrag sei.5 Wenn der US-Generalstaatsanwalt John Ashcroft im Jahre des

4 Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992. Das Buch ist die Auswalzung eines hochgejubelten Artikels, mit dem der Autor, ein langjäh-riger Mitarbeiter der RAND-Corporation, bereits im Sommer 1989 enthusiastisch auf die absehbare Metamorphose junger Kader der sowjetischen Nomenklatura zu einer neuen russischen »business class« von Privateigentümern reagiert hat. Die Achtung vor der wissenschaftlichen Qualität der großen Universalhistoriker von Hegel bis Toynbee und Paul Kennedy verbietet es, Fukuyamas Auslassungen als ernsthaften Beitrag zur Universalgeschichtsschreibung zu bezeichnen. Es ist vielmehr der eher zum Lächeln anregende Versuch, mit beschränkten historisch-philosophischen Kenntnissen und in kruder Anlehnung an Alexandre Kojève den historischen Materialismus oder was der Autor dafür hält, ein letztes Mal mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, indem er den historischen Entwicklungsgedanken aufnimmt, ihn dann aber im real existierenden Ka-pitalismus des späten 20. Jahrhunderts kulminieren lässt.

5 Siehe hierzu z.B.: Edward McNall Burns: The American Idea of Mission: Concepts of National Purpose and Destiny, New Brunswick 1957; Lloyd Gardner: Architects of Illusion: Men and Ideas in American Foreign Policy, 1941-49, New York 1970; Albert K. Weinberg: Manifest Destiny: A Study of Nationalist Expansionism in American His-tory, Gloucester 1958 (2. Aufl.).

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Herrn 2003 bemerkt, die Vereinigten Staaten »hätten keinen König, dafür aber Jesus«, dann halten die meisten Europäer dies für das hon mot eines populistischen Politikers. Da sie selber nicht an »Jesus« glauben, oder höch-stens in den verdünnten Formen europäischer Amtskirchenrhetorik, können sie einfach nicht nachvollziehen, dass es sich hier um eine todernst gemeinte politische Drohgebärde handelt.6

Im folgenden mache ich den Versuch, die genetisch-strukturelle Sicht-weise der Weltsystem-Theorie durch individualisierende und ideologiege-schichtliche Elemente zu ergänzen, um ein adäquates Verständnis von der konkreten Rolle der USA in der jüngeren Geschichte und im System der heutigen Welt zu erlangen.

2. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts übte Großbritannien praktisch die po-litischen und ökonomischen Funktionen einer Weltregierung aus. Seit etwa 1870 jedoch begannen die Briten, die politische Kontrolle zu verlieren: zu-nächst über das europäische Kräftegleichgewicht, bald darauf auch über den Rest der Welt. In beiden Fällen war der Aufstieg Deutschlands der entschei-dende Faktor.

Parallel dazu wurde die ökonomische Seite der Weltregierungsfunktion Großbritanniens, nämlich die, als »Sonne« im Planeten- und Satellitensys-tem der kapitalistischen Weltwirtschaft zu fungieren, dadurch unterminiert, dass eine neue kapitalistische Nation in die Geschichte eintrat, die erheblich größer war, unendlich mehr Rohstoffe besaß und potentiell um vieles reicher war als die kleine Insel Großbritannien. Dies waren die Vereinigten Staa-ten von Amerika, die sich in kurzer Zeit zu einer Art »schwarzem Loch« des Weltkapitalismus entwickelten, indem sie in kurzer Zeit eine unendliche Menge an Arbeitskräften, Kapital und unternehmerischem Talent an sich zo-gen. Damit konnte Großbritannien nicht mithalten, ganz zu schweigen von den kleineren und weniger wohlhabenden Staaten Europas. Die deutsche (politisch-militärische) und die amerikanische (ökonomische) Herausforde-rung schaukelten sich gewissermaßen gegenseitig hoch und profitierten in dem Maße voneinander, wie gleichzeitig die Macht der Briten zur Regulie-rung des internationalen Staatensystems geschwächt wurde. Am Ende führte das schließlich zu einer neuen, alles in allem 30 Jahre dauernden bewaffneten

6 Siehe hierzu Lewis H. Lapham: Notebook - Shock and Awe, in: Harper's, June 2003, S. 7.

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Auseinandersetzung um die Welt-Vorherrschaft, die unerbittlicher und blu-tiger war als jemals zuvor in der Geschichte.

Diese Auseinandersetzung durchlief einige, aber nicht alle der Phasen, die die Weltsystemtheoretiker für vorangegangene Konflikte um die Welt-Vorherrschaft herausgearbeitet haben. Die traditionelle Eingangsphase früherer Konflikte, in der ein mächtiger Flächenherrscher sich daran macht, die führende kommerzielle Macht in sein Territorium zu inkorporieren, fiel dieses Mal weg. Denn bei den diesmal konkurrierenden Mächten (USA, UK, Deutschland) waren die territoriale und die kommerzielle Machtlogik der-artig miteinander verwoben, dass es sich nachträglich gar nicht mehr sagen lässt, wo die kommerziellen und wo die territorialen Interessen lagen bzw. welche die kommerziellen und welche die territorialen Machtträger waren.7

Während des unmittelbaren Verlaufs des modernen 30-jährigen Krieges um die Weltvorherrschaft waren die Deutschen erkennbar stärker als ihre beiden Konkurrenten auf direkte territoriale Expansion aus. Dies aber nicht, weil sie prinzipiell landhungriger waren, sondern weil sie ihre historische »Verspätung« wettmachen wollten. Schließlich waren die Briten bei ihrem Aufstieg zur Weltmacht in den zwei Jahrhunderten zuvor nicht gerade zu-rückhaltend bei der Landnahme gewesen; im Gegenteil, die Existenz eines globalen Empire war ein konstituierendes Element ihrer globalen Vor-herrschaft, auch wenn sie sich vielfach mit einer informellen Kontrolle be-gnügten und lokale Führungsschichten als Partner kooptierten bzw. kauften. Und was die Vereinigten Staaten betraf, so lagen die Hauptursachen ihres enormen Magnetismus auf Arbeitskräfte, Kapital und Unternehmergeist in dem pan-kontinentalen Expansions-Charakter, den ihre Wirtschaft im 19. Jahrhundert angenommen hatte. So schreibt der britische Historiker Gareth Stedman Jones:

»Amerikanische Historiker, die gern selbstgerecht auf die Abwesenheit eines Annexions-Kolonialismus, wie er für die europäischen Kolonialmächte charakteristisch war, in der Geschichte Amerikas hinweisen, verdrängen bloß die Tatsache, dass die ganze interne Geschichte des amerikanischen Imperi-alismus eine einzige Orgie territorialer Landnahme gewesen ist. Die Abwe-senheit territorialer Landnahme >in Übersee< wurde kompensiert durch eine beispiellose Landnahme >zu Hause<.«8

7 Siehe hierzu Giovanni Arrighi: The Long Twentieth Century. Money, Power, and the Origins of Our Times, London 1994.

Gareth Stedman Jones: The History of US Imperialism, in: Robin Blackburn (Hrsg.): Ideology in Social Science, New York 1972, S. 216-217. (Übersetzung fremd-

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Die »innere« Expansion Amerikas war untrennbar verwoben mit einer kommerziellen Machtlogik. Im Fall Großbritannien hatten Kapitalismus/ Kommerzialismus und territoriale Landnahme sich gegenseitig befördert. Aber in den Vereinigten Staaten von Amerika waren sie mehr als bloß Part-ner: sie waren von Beginn der politischen Existenz Nordamerikas (bereits als britische Kronkolonien) identische Momente ein und desselben Prozesses. Wie Max Weber so bildhaft demonstriert hat, hatten die ersten englischen Kolonisten diese Identität gewissermaßen im Kopf, als sie an der nordameri-kanischen Ostküste ihre Siedlerquartiere aufschlugen, um sich dann sukzes-sive in »Amerikaner« zu verwandeln.

Weber hat in seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus überzeugend demonstriert, wie im Geburtsort Benjamin Frank-lins, des unbestrittenen Homo Americanicus, der kapitalistische Geist - bei Weber die Idee des Berufsmenschentums und der Zeitvergeudung als der ersten und prinzipiell schwersten aller Sünden - lebendig war, bevor von einer realen kapitalistischen Gesellschaft überhaupt die Rede sein konnte.9

Dazu zitiert er ausführlich aus einem Dokument, in dem Franklin in un-endlichen Varianten kontinuierlich die Tugend des Geldverdienens als ei-nen Zweck an sich propagierte. Was Weber in seiner Lektüre Franklins aber übersah, war die Tatsache, dass in dessen Denken der kapitalistische Geist in seiner »beinahe klassischen Reinheit« auch aufs engste verwoben war mit einer gleichermaßen prononcierten Begeisterung für territoriale Expansion. Denn lange bevor Jefferson (ein anderes Musterexemplar eines Homo Ame-ricanicus!) die »Entdecker« Lewis und Clark zur Vorbereitung der konti-nentalen Landnahme Richtung Pazifikküste losschickte, spricht Franklin in schwärmerischer Form von der territorialen Zukunft der amerikanischen Kolonien und

»sagte voraus, dass die Bevölkerung der nordamerikanischen Kolonien sich alle 25 Jahre verdoppeln würde und ermahnte die britische Regierung, für die zu erwartenden Neuankömmlinge zusätzlichen Lebensraum zu beschaffen, mit der Begründung, dass einem Herrscher, >der neue Gebiete b e s c h a f f t , die

sprachiger Zitate im folgenden von mir, F.U.) 9 In diesem Sinne kö

Anwendung, nicht als »Ergänzung« oder gar »Widerlegung« der materialistischen Ge-schichtsauffassung gesehen werden: Die puritanischen Siedler brachten in der Tat den Kapitalismus, den sie aus England kannten, nun im Kopf mit in die Neue Welt, und zwar mit der Militanz von Proselyten!

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unbewohnt sind, oder der die Eingeborenen vertreibt, um für sein eigenes Volk Raum zu schaffen<, der Dank der Nachwelt sicher sei,«10

Der Versuch der britischen Regierung, nach dem Sieg über die Franzosen im Siebenjährigen Krieg die Westexpansion ihrer nordamerikanischen Ko-lonien zurückzufahren, war neben ihren Plänen, die Siedler an den Gesamt-kosten des Empire stärker zu beteiligen, der Hauptgrund für die Rebellion der Siedler 1776.11 Und sowie nach der erfolgreichen Revolution die Hände der Kolonisten nicht mehr gebunden waren, gingen sie sogleich daran, so viel vom nordamerikanischen Territorium zu erobern und als strikt kapitalis-tischen Raum zu re-organisieren, wie sie nur konnten. Vor allem bedeutete das natürlich die Vertreibung der Eingeborenen, um Raum für eine ständig wachsende Einwanderung aus Übersee zu schaffen, ganz wie Franklin emp-fohlen hatte. Das Ergebnis davon war ein kompaktes »inländisches Reich« -Jefferson sprach in seiner Inaugurationsrede von einem »Empire of liberty« - was die Gründerväter Washington, Jefferson, Hamilton und Adams auch genau so im Sinne hatten, weshalb sie den Begriff »Empire« abwechselnd mit »Federal Union« gebrauchten, wenn sie von ihrem neuen Staatswesen sprachen.12 Im Unterschied zum alten britischen Empire war es vor allem gekennzeichnet durch erheblich geringere Unterhaltskosten.

3. Das britische und das amerikanische »Empire«, nicht etwa das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation, waren real die beiden »Reichs«-Vorbilder, die Teile der deutschen Bourgeoisie vor Augen hatten, als sie etwas verspä-tet, aber mit begeisterter Unterstützung ihres Monarchen, ihrerseits einen »Platz an der Sonne« anstrebten. Zunächst versuchten sie, es den Briten

10 George Lichtheim: Imperialism, Harmondsworth 1974, S. 64. 11 Siehe hierzu Immanuel Wallerstein: The Modern World System III. The Second

Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730-1840s, New York 1988, S. 202-03.

12 Siehe hierzu Richard W. van Alstyne: The Rising American Empire, New York 1960, S. 1-10. Der Vollender dieses Empire und damit wichtigster Wegbereiter für den späteren Aufstieg zur Weltmacht war Abraham Lincoln, der den Versuch, eine zweite legitime Macht auf dem Territorium der Vereinigten Staaten zu etablieren, mit äußer-ster Entschlossenheit niederschlug. Vgl. dazu: William Appleman Williams: Amerika - Die ermattete und nostalgische Kultur, in: Frank Unger: Amerikanische Mythen. Zur Inneren Verfassung der Vereinigten Staaten, Frankfurt/M 1988, S. 267-276. Zur Detail-geschichte der Westexpansion siehe Frederick Merk: History of the Westward Move-ment, New York 1978.

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nachzumachen, indem sie sich Kolonien in Übersee aneigneten und die bri-tische Seeherrschaft herausforderten. Aber nachdem das Ergebnis des Ers-ten Weltkriegs diese Strategie als hoffnungslos demonstriert hatte, gingen sie nun dazu über, dem territorialen Expansionsmodell der Amerikaner in den Weiten Osteuropas nachzueifern: in exterministischer Version in den Osteuropa-Plänen der Nazis,13 zuvor bereits in netterer Form als »liberale« Mitteleuropa-Visionen eines Friedrich Naumann und anderer Vertreter des deutschen Exportkapitals.14

Weder Deutschland noch die Vereinigten Staaten versuchten, den führen-den kapitalistischen Staat in ihren Herrschaftsbereich zu inkorporieren, wie das Frankreich und Spanien im 15. Jahrhundert und Frankreich und Eng-land im 17. Jahrhundert jeweils getan hatten. Die Weltmacht des führenden kapitalistischen Staats ihrer Zeit war im Vergleich zu der seiner historischen Vorgänger um so vieles größer, dass der Kampf um seine Nachfolge gewis-sermaßen mit dem, was früher die zweite Phase war, beginnen musste - d.h. die Phase, in der die Herausforderer darangehen, den relativen Macht- und Reichtumsvorteil der führenden Nation wettzumachen. Obwohl die infor-melle Kontrolle über den Welthandel und das Finanzsystem weiterhin eine wesentliche Rolle für die Position eines Landes im internationalen System spielte, gewannen im Laufe des 19. Jahrhunderts die relative Größe und das Wachstumspotential des inländischen Markts an Bedeutung. Je größer und dynamischer der inländische Markt, desto größer die Chance, Großbritan-nien von der Zentralposition der globalen Netzwerke von persönlichen Kli-entenbeziehungen, die den Weltmarkt konstituierten, zu verdrängen.

Von diesem Gesichtspunkt aus waren die Vereinigten Staaten in einer weitaus besseren Position als das Deutsche Reich. Ihre kontinentalen Di-mensionen, ihre Insellage sowie ihre extrem günstige Ausstattung mit Roh-stoffen, verbunden mit einer Politik des Protektionismus gegenüber aus-ländischen Waren bei gleichzeitiger Öffnung des Landes für ausländisches Kapital und ausländische Arbeiter, und nicht zuletzt die gemeinsame Spra-che und kulturelle Verbundenheit mit dem alten Hegemon machten sie zum

13 Siehe Franz Neumann: Behemoth: the Structure and Practice of National Socia-lism, London 1942, sowie George Lichtheim: Imperialism, Harmondsworth 1974, S. 74. Aus dieser imaginierten Analogie erklärt sich auch die menschenverachtend-genozidale Haltung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gegenüber den Osteuropäern: Sie waren für die Deutschen so etwas wie die »Indianer« des erträumten »Inland-Empire«.

14 Siehe hierzu Reinhard Opitz (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1994.

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Hauptnutznießer des britischen Freihandels-Imperialismus. Als der eigent-liche Kampf um die Vorherrschaft begann, war die US-Wirtschaft praktisch bereits im Begriff, das neue Gravitationszentrum des Weltwirtschaftssystems zu werden - allerdings ein Gravitationszentrum neuen Typs: nicht mehr als Mittelpunkt und Verteilerstation der Handelsströme, sondern als unwider-stehlicher Anziehungspunkt für Arbeitskräfte, Kapital und Unternehmerin-itiative. Wegen ihrer unvergleichlichen Produktionskraft und ihres Wachs-tumspotenzials waren die USA aber gleichzeitig auch daran interessiert, die internationalen Märkte für ihre Produkte und ausländische Anlagemöglich-keiten für ihr überschüssiges Kapital offenzuhalten, frei von kolonial-impe-rialen Abschottungen und »national-egoistisch« motivierten Protektionis-men. Ihre Parole für die Beziehungen zu den anderen Ländern dieser Welt lautete daher ganz unschuldig und scheinbar uneigennützig: Open Door! Nicht mehr, aber auch keinen Deut weniger!'5

Auf diesem Gebiet konnte Deutschland nicht mithalten. Seine Geschichte und geographische Lage brachten es mit sich, dass es eher seinen Tribut zol-len musste bei diesem allgemeinen Zug in die Neue Welt, auch wenn Preu-ßens bzw. Deutschlands lange Beteiligung am Kampf um die europäische Vorherrschaft einen machtvollen militärisch-industriellen Komplex hervor-gebracht hatte, mit dem kein anderer europäischer Staat sich messen konnte. Seit den 1840er Jahren hatten militärische und industrielle Innovationen sich wechselseitig vorangetrieben und für jenen spektakulären Industrialisie-rungsschub gesorgt, auf dessen Basis das Deutsche Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Status einer Weltmacht errungen hatte.16

Doch der absolute wie relative Anstieg militärischer Macht und indus-triellen Potenzials änderte grundsätzlich nichts an der tributären Position des Deutschen Reiches am Rande der reichtumheckenden und -abschöp-fenden Netzwerke der anglo-amerikanisch dominierten Weltwirtschaft. Zu den Tributen, die an die Briten als die Herren der internationalen Märkte zu entrichten waren, kamen die Verluste in Form ständigen Abflusses von Arbeitskräften, Kapital und unternehmerischen Kapazitäten in die Neue Welt. Die wachsende Besessenheit der deutschen Führungsschichten von

15 Siehe hierzu die ausgezeichneten, auch innenpolitische und kulturelle Faktoren einbeziehenden Darstellungen von William Appleman Williams: Americans in a Chan-ging World. A History of the United States in the Twentieth Century, New York 1978, S. 44-51, sowie The Contours of American History, Cleveland 1961.

16 Siehe hierzu u.a. Paul Kennedy: The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987, S. 210-211.

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»Lebensraum« kann leicht interpretiert werden als Ausdruck wachsender Frustration darüber, dass rapide wachsende industrielle Kapazitäten und kontinuierlich zunehmende militärische Stärke sich mitnichten automatisch in internationale Macht, sprich: entsprechende Teilhabe an der Verfügung über internationale Ressourcen übersetzen ließen.

Wie bereits gesagt, trieb diese Obsession die deutschen herrschenden Klassen dazu, in ihrem Bestreben nach territorialer Expansion zunächst den Briten nachzueifern, dann den Amerikanern. Ihre Versuche schufen be-trächtliche Unordnung im internationalen System in einer Reihe von zwi-schenstaatlichen Konflikten, in denen zwar die Fundamente der britischen Hegemonie unterminiert wurden, am Ende aber auch dem Status und der internationalen Macht Deutschlands selbst nachhaltiger Schaden zugefügt wurde. Der Staat, der am meisten von diesem Konflikt profitierte, waren wiederum die Vereinigten Staaten von Amerika, in erster Linie auch deshalb, weil sie direkt in Großbritanniens Rolle als insulares Verteilungszentrum der internationalen Handelsströme schlüpfen konnten.

»Was bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dem englischen Kanal als Ga-ranten einer geschützten Insellage schon abging, das hatte allemal noch der Atlantische Ozean. Die USA waren in bemerkenswerter Weise geschützt vor den Auswirkungen und Belastungen des Krieges um die Vorherrschaft in der Welt 1914-18. Und als die Weltwirtschaft sich weiter entwickelte und all jene technologischen Innovationen schuf mit denen die Nachteile großer Entfer-nungen überwunden werden konnten, waren sie bereits auf dem Weg, buch-stäblich alle Teile der Welt zu erfassen und einzubeziehen. Damit hob sich auch der relative kommerzielle Nachteil, den zunächst die entfernte Lage Amerikas von den europäischen Handelszentren hatte, tendenziell auf. Und als schließlich der pazifische Raum zum ernstzunehmenden Rivalen für den atlantischen Raum heranwuchs, rückten die USA in die zentrale Position: eine Insel von kontinentalem Ausmaß mit ungehindertem Zugang zu den beiden großen Ozeanen der Welt«.17

4. Ganz ähnlich wie im 17. und frühen 18. Jahrhundert die internationale Füh-rungsrolle eine Nummer zu groß für die Niederlande wurde, so wurde sie es im frühen 20. Jahrhundert für Großbritannien. Und in beiden Fällen fiel

17 Joshua Goldstein/David P. Rapkin: After Insularity. Hegemony and the Future World Order, in: Futures, 23, 1991, S. 935-959.

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die Führungsrolle an Staaten - Großbritannien bzw. die Vereinigten Staaten - die davor eine ganze Zeitlang eine beträchtliche »Schutzrente« genossen hatten: d.h. exklusive Kostenvorteile durch relative oder absolute Isolation von den Brennpunkten politischer Konflikte bei gleichzeitiger Nähe zu den großen Knotenpunkten der internationalen Handels- und Verkehrsströme.18

Aber diese Staaten waren gleichzeitig auch gewichtig genug innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft, um das Mächtegleichgewicht zwischen den Mitkonkurrenten jeweils nach eigenem Belieben und zu ihren Gunsten zu verschieben. Und da sich die kapitalistische Weltwirtschaft im 19. Jahrhun-dert beträchtlich ausgeweitet hatte, wurden die Voraussetzungen an Territo-rium und Ressourcen für die Führungsrolle entsprechend größer.19

Doch die Unterschiede in der Größe des eigenen Territoriums und der Menge an eigenen Ressourcen zwischen Großbritannien im 18. und den Ver-einigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert sind nicht das Einzige, was die Kämpfe um die Vorherrschaft in den beiden Epochen unterscheidet. Wie bereits bemerkt, im frühen 20. Jahrhundert gab es keine Versuche von kon-kurrierenden Territorialstaaten, sich die führenden kapitalistischen Staaten in ihren Einflussbereich einzuverleiben, so wie es Frankreich und England jeweils erfolglos im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert versucht hatten. Darüber hinaus brachte die Eskalation der zwischenstaatlichen Konflikte im frühen 20. Jahrhundert nicht neue Ordnung, sondern unmittelbar sys-temisches Chaos. Im vorausgegangenen Kampf zwischen Frankreich und Großbritannien brauchte es über ein Jahrhundert bewaffneter Auseinan-dersetzungen zwischen den Großmächten, bevor die Anarchie in den zwi-schenstaatlichen Beziehungen sich schließlich zum systemischen Chaos aus-wuchs, und zwar in Folge einer Welle von Volksaufständen und Drucks von unten. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte die offene Konfrontation in den äußeren, zwischenstaatlichen Beziehungen ohne Verzögerung ins sys-temische Chaos, d.h. zu massiven Herausforderungen der inneren Ordnung in den beteiligten Staaten.

18 Siehe hierzu: Ludwig Dehio: The Precarious Balance: Four Centuries of Euro-pean Power Struggle, New York 1962; Christopher Chase-Dunn: Global Formation. Structures of the World Economy, Oxford 1989, S. 114, 118; Frederic Lane: Profits from Power. Readings in Protection Rent and Violence-Controlling Enterprises, Albany 1979, S. 12-13.

19 William R. Thompson: Dehio, Long Cycles and the Geohistorical Context of Structural Transition, in: World Politics, 45, 1992, S. 127-152.

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Im britisch-dominierten System des 19. Jahrhunderts wurden die nicht-westlichen Völker weder von der Hegemonialmacht noch von deren Ver-bündeten und Klienten als satisfaktionsfähige nationale Gemeinschaften angesehen. Zuvor - unter holländischer Herrschaft - wurde die Welt bereits gleichsam offiziell unterteilt in »ein begünstigtes Europa und ein Restgebiet, in dem andere Regeln galten.«20 Während Europa sich etabliert hatte als eine Zone des »zivilisierten Verhaltens«, auch in Zeiten des Krieges, galt dies ganz und gar nicht für den Rest der Welt außerhalb Europas. Dort galten keine solchen Maßstäbe; Feinde und Widersacher konnten ohne viel Federlesens ausradiert werden, ohne dass man sich zu Hause viel zivilisierte Gedanken darüber machte. Der britische Freihandelsimperialismus ging in dieser Auf-teilung der Welt noch einen Schritt weiter. Während einerseits die Zone des zivilisierten Verhaltens erweitert wurde auf die neuen Siedlerkolonien in Amerika und Australien und das individuelle Bereicherungsrecht westlicher Bürger sogar über das Recht ihrer Regierungen gestellt wurde, sahen die nicht-westlichen Völker sich (theoretisch wie praktisch) ihrer elementaren Selbstbestimmungsrechte beraubt, zum einen durch despotische koloniale Herrschaft, zum anderen durch die Erfindung entsprechender Rechtferti-gungsideologien wie den Rassismus oder den »Orientalismus«. Zwischen den Bestrebungen nach Demokratie und Durchsetzung der Menschenrechte auf der einen, und den Ideologien des Rassismus oder Orientalismus auf der anderen Seite besteht ein intrinsischer Zusammenhang.21 Auch der deutsche Faschismus übertrug und erweiterte später in seinem Versuch der Nach-holung britisch-amerikanischer Expansionsstrategien das dual-rassistische

20 Peter Taylor: Territoriality and Hegemony, Spatiality and the Modern World-Sys-tem, Newcastle upon Tyne 1991. Siehe dazu auch die für das Verständnis des histori-schen Verhältnisses Westeuropas zum Rest der Welt unverzichtbare Meisterwerk von Eric R. Wolf: Europe and the People without History, Berkeley/Los Angeles 1982.

21 Siehe hierzu z.B. Edward W. Said: Orientalism, New York 1978. Der amerikani-sche Soziologe Pierre v.d.Berghe benutzt zur Charakterisierung dieser internen Macht-konstellationen den deutschen Begriff »Herrenvolkdemokratie«. Er schreibt: »Das Bestreben, sowohl die profitablen Formen der Diskriminierung und Ausbeutung zu erhalten als auch die demokratische Ideologie zu bewahren, machten es notwendig, den unterdrückten Gruppen den Status des Menschseins zu verweigern. Es ist nur dem Anschein nach paradox, dass das Los der Sklaven in aristokratischen Gesellschaften (wie im kolonialen Lateinamerika oder vielen afrikanischen Königreichen, in denen Sklaverei praktiziert wurde) typischerweise besser war als in Herrenvolk-Demokratien wie den Vereinigten Staaten.« Vgl. Pierre L. van den Berghe: Race and Racism. A Com-parative Perspective, New York 1967, S. 18.

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Menschenbild des westlichen Imperialismus auf die Opfer seiner konkreten Land- und Vermögensnahme: auf Osteuropäer und Juden.22

5. Bereits lange vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren machtvolle soziale Bewegungen im Entstehen. Diese Bewegungen verkörperten den Widerstand von zwei großen Gruppen gegen das internationale System des Freihandels-Imperialismus: zum einen den der nicht-westlichen Völker, zum anderen den der besitzlosen Massen in den Ländern des Westens selbst. Sie artikulierten und organisierten sich gegen ihre Ausbeutung bzw. gegen ihre kolonialistische Unterdrückung.

In dieser Konstellation entstand im Gefolge des Ersten Weltkriegs mit der Oktoberrevolution auf einem Sechstel der Erde ein Staat, der seinem Selbst-verständnis nach erstmalig die Lebensinteressen der besitzlosen Massen und dadurch auch die der nicht-westlichen Völker zu vertreten vorgab. Er stellte allein dadurch für die besitzenden Klassen der kapitalistischen Länder vom ersten Augenblick seines Bestehens an eine beträchtliche Gefahr da, wenn nicht machtpolitisch, so doch zumindest ideologisch und perspektivisch in den Alpträumen ihrer politischen Führer. Und der Verlauf des Krieges hatte eindeutig nur noch einen der drei Bewerber um die Führungsrolle im in-ternationalen kapitalistischen System übrig gelassen: die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich innerhalb von wenigen Jahren von einem der größ-ten Schuldnerstaaten der Welt (3,7 Milliarden $ Im Jahr 1914) in den mit Abstand größten Gläubigerstaat (3,8 Milliarden $ im Jahr 1918) verwandelt hatten.23 Ihr Präsident zu jener Zeit war Woodrow Wilson.

In seiner Botschaft an das amerikanische Volk 1917, in der er den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg begründete, proklamierte er das amerikanische Kriegsziel mit dem berühmten Slogan »to make the world safe for democracy«. Sein engster Berater Colonel House hatte ihm zuvor dringend abgeraten, ihn zu verwenden: Zu viele Menschen oder Völker könnten die Botschaft missverstehen und sich zu revolutionären Aktionen

22 Auf den Aspekt der »Akkumulation durch Enteignung« bei der Judenverfolgung wird im Unterschied zur Vernichtung interessanterweise in den meisten westlichen Darstellungen des Nationalsozialismus wenig systematischer Wert gelegt. Dabei war ihre finanzielle Bedeutung für das Deutsche Reich enorm. Vgl. dazu Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M 2005.

23 Walter LaFeber: The American Age. United States Foreign Policy at Home and Abroad since 1750, New York 1989, S. 273.

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ermutigt fühlen.24 Houses Befürchtungen sollten sich noch im gleichen Jahr bewahrheiten. In Russland übernahmen die Bolschewiki die Macht und ihr Führer Lenin wandte sich sofort mit einem Friedensappell an die kämp-fenden Armeen. Nicht ausschließlich veranlasst von, aber dem Timing und der Formulierung nach eindeutig in Reaktion auf Lenins Friedensaufruf präsentierte Wilson im Januar 1918 in einer Rede vor dem Kongress sein be-rühmtes 14-Punkte-Programm für den Frieden, das eine Menge »weicher« Vorschläge enthielt und zwei »harte«, die es aber in sich hatten. Denn letz-tere betonten noch einmal die Grundpfeiler der »Open Door«-Polit ik, die durch die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland sowie durch ähn-liche politische Entwicklungen in Mexiko in Frage gestellt schienen: »Frei-heit der Meere« und »Freiheit des Welthandels«.25 Darauf beruhte die Pax Britannica des 19. Jahrhunderts, und darauf sollte auch die Ordnung des 20. Jahrhunderts beruhen. In diesen beiden Punkten waren alle Kompromisse ausgeschlossen.

Sichergestellt und überwacht werden sollte die Nachkriegsordnung durch eine zu gründende internationale Organisation, die nach folgenden Prin-zipien funktionieren sollte: Erstens, alle Mitglieder waren gleich berechtigt, sich in der Vollversammlung an den Diskussionen der wichtigen Weltpro-bleme zu beteiligen, aber die führenden westlichen Länder (»metropolitan powers«) würden bei den schließlichen Entscheidungen durch ihre Rats-mitgliedschaft das letzte Wort haben. Zweitens sollte ein System der »kol-lektiven Sicherheit« geschaffen werden, nach dem bei jedem Angriff auf die territoriale Unversehrtheit eines Mitglieds der Aggressor durch kollektive, wenn nötig bewaffnete Aktionen aller anderen Mitglieder sanktioniert wer-den sollte.

Parallel zu diesen Bemühungen tat Wilson - unterstützt von Lansing und praktisch allen führenden US-Politikern seiner Zeit - alles, was er konnte, um die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland wieder rückgängig zu machen. Sie waren nicht das einzige, aber doch das am meisten alarmierende Anzeichen dafür, dass sich in verschiedenen Teilen der Welt, aber auch im Innern der kapitalistischen Staaten selbst Opposition gegen das System des westlichen, anglo-amerikanisch dominierten und multilateral organisierten Kapitalismus formierte, und Wilson war sich vollkommen bewusst darüber,

24 LaFeber: American Age..., a.a.O., S. 293. 25 Siehe hierzu Lloyd C. Gardner : Safe for Democracy: The Anglo-American Re-

sponse to Revolution, 1913-21, New York 1984.

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dass die Herausforderung der Bolschewiki und des radikalen Sozialismus zukünftig die größte Gefahr für die »Open-Door«-Ordnung darstellen würde. So versuchte er - wie schon in Mexiko fünf Jahre zuvor - die revolu-tionäre Entwicklung auch in Russland zweimal durch militärisches Eingrei-fen zu stoppen. In den sechs Monaten zwischen Januar und Juli 1918 wurde die Grundkonstellation für die bestimmende politische Konfrontation des »kurzen 20. Jahrhunderts« geschaffen: die zwischen »wilsonistischen« Li-beralen und »leninistischen« Sozialisten, oder noch allgemeiner gesagt: die zwischen globalistischer Marktwirtschaft und nationalen bzw. regionalen Zentralverwaltungswirtschaften, oder noch abstrakt-verdünnter: zwischen »Staat« und »Markt«, wobei beim »Markt« immer die US-amerikanische Hegemonie mitzudenken ist.26 Und welche neuen Namen auch immer auf-tauchten und welche Varianten praktischer Politik und ideologischer Rhe-torik auch immer vorübergehend angewandt werden mochten - das Wesen dieser Konfrontation blieb unverändert bis in die letzte Dekade des Jahr-hunderts.

6. In den USA selbst brauchte der Wilsonismus nach seiner Entstehung »an sich« noch gut zwei Jahrzehnte, bis er auch »für sich« - also als eine be-wusste Ideologie - im Diskurs der amerikanischen Machteliten verankert war. Wilsons »ultraimperialistischem«27 Völkerbundsplan wurde vom Zen-tralkomitee der herrschenden Klasse Amerikas, dem Kongress, zunächst die Zustimmung verweigert, und zwar von einer widersprüchlichen Koalition aus konservativen Nationalisten und Imperialisten (angeführt von Senator Henry Cabot Lodge) und progressiven Isolationisten (repräsentiert von den Senatoren Borah, LaFolette und Johnson).28 Die einen sahen in der Einbin-dung der USA in einen Völkerbund eine Beschneidung und Schwächung der nationalen Souveränität und damit der außenpolitischen Handlungsfreiheit, die anderen kritisierten die Kreuzzugsmentalität hinter dem Wilsonschen

26 Siehe hierzu Daniel Yergin/Joseph Stanislaw: The Commanding Heights, New York 1998, dt.: Staat oder Markt? Die Schlüsselfrage unserer Zeit, Frankfurt/M 1999.

27 Ich benutze hier den Begriff in dem von Kautsky ursprünglich eingeführten Sinn. Vgl. Karl Kautsky: Der Imperialismus, in: Neue Zeit,]%. 32, H. 2, 1914.

2S Die Tradition eines »linken Isolationismus« wurde in der Folge fortgeführt von den bekannten Historikern Charles Beard und (nach dem Zweiten Weltkrieg) von William Appleman Williams und seiner »revisionistischen« Schule. Ihr letzter großer

Überlebender ist der Schriftsteller und Historiker Gore Vidal.

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Ansatz und die - seine Selbstbestimmungsrhetorik Lügen strafenden - In-terventionen gegen die mexikanische und die russische Revolution sowie die unmittelbar nach dem Krieg einsetzenden Repressionsmaßnahmen gegen »Radikale« im Lande selbst. Nicht nur, aber zu einem großen Teil deshalb blieb das internationale System für weitere zwei Jahrzehnte in unreguliertem Chaos, in dem nach einer kurzen Scheinblüte in den 1920er Jahren auch die Binnenwirtschaft der mächtigen Vereinigten Staaten selbst an den Rand des totalen Zusammenbruchs geriet.

Erst der beinahe folgerichtige Ausbruch des zweiten großen Krieges nach dem Zusammenbruch der Pax Britannica und die sich daraus ergebenden Chancen für einen Akkumulationsanschub durch Staatstätigkeit brachten dann in den USA mit dem Keynesianismus zu Hause auch den Durchbruch des Wilsonismus in der Außenpolitik. Ein klassisches Indiz dafür war das Umschwenken eines der bis dato fanatischsten Wortführer der konserva-tiven »Isolationisten«, des einflussreichen Herausgebers der Zeitschriften TIME, LIFE und Fortune und langjährigen Anführers der »China-Lobby« , Henry Luce. Er kündigte 1941 in einem millionenfach in Sonderdrucken verbreiteten Leitartikel die Geburt des American Century29 an und verwies dabei ausdrücklich auf die weitsichtigen Pläne Woodrow Wilsons, für die 20 Jahre zuvor die amerikanische Öffentlichkeit, eingeschlossen er selbst, lei-der noch nicht reif genug gewesen sei. Damit meinte Luce die aktive, durch internationale Verträge und Bündnissysteme abgestützte Führungsrolle der Vereinigten Staaten im internationalen Wirtschaftssystem. Die politische Führung unter Präsident F.D. Roosevelt hatte sich mehrheitlich dieser Auf-fassung bereits angeschlossen.

Die entscheidende und wichtigste Maßnahme zur Implementierung des neuen Systems wurde dann im Sommer 1944 getroffen - zu einem Zeit-punkt, an dem das erklärte Hauptziel des amerikanischen Kriegseintritts, die Besiegung Deutschlands und Japans, nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden konnte -, zumal Roosevelt und der engste Kreis seiner Berater natürlich über die schnell vorangehende Arbeit an einer amerikanischen Atomwaffe informiert waren.30 Diese Maßnahme war das Abkommen von

29 Der Begriff weist wiederum auf den gedanklichen Bezug zur Pax Britannica, denn die dauerte formell genau 100 Jahre, nämlich von 1815 (Wiener Kongress) bis 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkriegs).

30 Der Bau der amerikanisch-britischen Atomwaffe ist übrigens das einzige Beispiel, bei dem das deutsche Jahrhundertverbrechen, der Völkermord an den europäischen Juden, zumindest indirekt eine Bedeutung für die Kriegführung der Alliierten gewann:

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Bretton Woods, in dem insgesamt 44 Staaten der Anti-Hitler-Koalition auf eine modifizierte Neuauflage des alten Goldstandards und ein internatio-nales Wirtschafts- und Finanzsystem der »Open Door« nach multilateralen Prinzipien31 verpflichtet wurden. Die größten Widerstände kamen nicht von armen Ländern, sondern von der alten imperialen Weltmacht Großbritan-nien, die sowohl ihr imperiales Präferenzsystem als auch unmittelbar nach Kriegsende - durch ihre frisch gewählte Labour-Regierung - eine stärkere Stellung der nationalen Regierungen vor allem bei der Regulierung des in-ternationalen Finanzverkehrs beibehalten wollte.

Nachdem wenig später die großen imperialistischen Rivalen Deutschland und Japan bedingungslos kapituliert hatten, konnten sie bald als Junior-partner in den Neuaufbau eines kapitalistischen, multilateralen Weltwirt-schaftssystems einbezogen werden, das endlich dort anknüpfen sollte, wo das Goldene Zeitalter der Pax Britannica 1914 geendet hatte. Genau so hatte es Woodrow Wilson gewollt: Die Vereinigten Staaten von Amerika überneh-men in der veränderten Umständen entsprechenden Form die Rolle, die das Vereinigte Königreich während der Pax Britannica gespielt hatte. Mit die-sem strategischen Ziel war (und ist!) folgende normative Vorstellung eines funktionierenden internationalen Systems verbunden: Die Weltwirtschaft funktioniere nur dann optimal, wenn sie aufgebaut sei nach dem Vorbild des Sonnensystems: Ein zentraler, wärme- und energiespendender Fixstern habe das Zentrum zu bilden, um das eine Reihe von mehr oder weniger große Planeten kreist, welche wiederum umschwärmt werden von einem Haufen Satelliten - alles auf der Basis eines einheitlichen, für alle verbindlichen und vergleichbaren Wertmaßes. Der heimische Markt des Fixsterns müsse gleich-zeitig das Zentrum der multilateralen Wirtschafts- und Finanzkreisläufe und buyer of last resort sein. Nur auf einer solchen Basis gewissermaßen kos-

Er geschah auf drängende Initiative jüdischer Naturwissenschaftler, die eine deutsche Atomwaffe fürchteten. Siehe dazu Richard Rhodes: The Making of the Atomic Bomb, New York 1988.

31 Der hier gebrauchte Begriff »Multilateralismus« bedeutet ein internationales Wirt-schaftsregime, in dem Waren und Kapital nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien von Angebot und Nachfrage beliebig nationale Grenzen überschreiten können, ohne dass mithilfe politischer Eingriffe die eine oder die andere Nation privilegiert wird. Er ist praktisch synonym mit »Open Door«. Siehe dazu Fred L. Block: The Origins of In-ternational Economic Disorder. A Study of United States International Monetary Policy from World War II to the Present, Berkeley 1977, S. 36f.

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misch veredelter Stabilität in der Bewegung könne das System zum Wohle aller funktionieren.32

Dieses normative Weltbild der außenpolitischen Eliten der USA ist na-türlich nicht rein substanzlose Propaganda. Wie alle einigermaßen erfolg-reichen Ideologien muss sie einen Realitätskern haben. Dieser Kern besteht darin, dass das internationale kapitalistische System in der Tat nicht allein auf der Basis von Angebot und Nachfrage und den anderen Regeln des Marktes funktioniert, sondern im weitesten Sinne sowohl einer Organisation als auch einer polizeilichen Absicherung bedarf. In der realen Welt ist das ein mäch-tiger Nationalstaat. Dieser Nationalstaat muss aber, wenn seine Hegemonie von Dauer sein soll, die Interessen und Bedürfnisse des internationalen Ka-pitals in allen ihren Formen kompromisslos vertreten und, wenn nötig, mit Gewalt durchsetzen. Er muss also bei der Verfolgung seines strategischen Ziels bzw. bei der Erfüllung seiner Aufgabe als »Fixstern« des Weltsystems bereit sein, im nationalen Sinn uneigennützig zu handeln, wenn es dem Ge-samtwohl des Systems dient.

Aber gleichzeitig ist auch die lebensspendende Sonne des kapitalistischen Weltsystems ein souveräner Nationalstaat. Dessen Aufgabe wiederum ist es, international die Interessen der dominanten Fraktion seiner eigenen Bour-geoisie zu vertreten. Nur in sehr kurzen historischen Abschnitten, sonst nur in den Modellphantasien neoklassischer Ökonomen, fallen diese beiden Be-strebungen in eins. Mithin kann die Geschichte des außenpolitischen Verhal-tens der USA seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verständig analysiert wer-den als der kontinuierliche Kampf dieser zwei Linien: auf der einen Seite die Verfechter der Interessen des globalen Gesamtkapitals, auf der anderen Seite die Verteidiger der partikularen Interessen der amerikanischen Nation oder des national beschränkten Kapitals.33 Ein weiteres Dilemma: Da die Über-

32 Vgl. hierzu die klassische Darstellung in William Yandell Elliott u.a.: The Political Economy of American Foreign Policy, New York 1955 (dt.: Weltwirtschaft und Welt-politik. Grundlage, Strategie und Grenzen der amerikanischen Außenpolitik, München 1957). Diese Schrift verbreitet noch den unschuldigen Charme der frühen Jahre des US-Nachkriegsimperiums. Demgegenüber liest sich die bloß mit einigen unterhaltsa-men Reminiszenzen an die große Zeit der britischen Weltherrschaft aufgepeppte Wie-derholung des haargenau gleichen Gedankens beim von den meisten Rezensenten als »originell« angehimmelten Briten Niall Ferguson (Empir e : The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, London/New York 2003) be-reits wie die Auftragsarbeit einer public relations-Agentur.

33 Hier liegt auch die Unterscheidungslinie zwischen dem, was im amerikanischen politikwissenschaftlichen Diskurs als »Idealismus« und »Realismus« bezeichnet wird.

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wachung der globalen Regeln für die Geschäfte des Weltkapitals durch einen mächtigen Nationalstaat ein starkes und schlagkräftiges Militär erfordert, ergibt sich daraus stets die Gefahr einer Verselbständigung des militärisch-strategischen Interesses, d.h. einer militärisch induzierten Machtprojektion um ihrer selbst willen. Dies umso mehr, als die aktive Vorantreibung der globalistischen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzeitig in der Form eines existenziellen Abwehrkampfes der »westlichen Zivilisation« gegen den östlichen Kommunismus bzw. eine angeblich an der Weltherr-schaft interessierte Sowjetunion durchgeführt wurde.

7. Die Sowjetunion und die Länder des sozialistischen Lagers waren nach dem Krieg die Ursache dafür, dass das wilsonistische Projekt zwar bewusst ver-folgt, aber nicht gleich ganz verwirklicht werden konnte. Gleichzeitig waren sie aber dafür verantwortlich, dass in den ersten 20 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Interessen des globalen Gesamtkapitals und die des Nationalstaats USA weitgehend zusammenfielen. Die Vereinigten Staa-ten förderten großzügig, aber durchaus im Eigeninteresse, den Wiederauf-bau der kapitalistischen Länder Westeuropas und Japans mit Hilfe des Eu-ropean Recovery Program (Marschall-Plan) und anderer Hilfsprogramme: Schließlich brauchte die US-Wirtschaft nach dem Wachstumsschub durch den Krieg nun satisfaktionsfähige und leistungsstarke Partner für die Frie-denszeit danach. Ihre zunächst ungeheure Überlegenheit an industrieller Produktivität und ihre finanziellen Ressourcen erlaubten es ihr, indirekt die lebenswichtigen Exporte ihrer Partner zu subventionieren, indem sie jah-relang eine strukturelle Unterbewertung von deren Währungen im Bretton Woods-System hinnahm. Auf diese Weise förderte sie sowohl die schnelle Rekonstruktion der anderen kapitalistischen Kernländer als auch die Re-In-ternationalisierung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen. Interessanter-weise fällt diese Phase des »altruistischen« Internationalismus der USA in eine Periode, in der die Internationalisierung der US-Wirtschaft selbst noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Anders gesagt: Die US-Wirtschaft war zu jener Zeit so gut wie autark, der Außenhandel spielte erst eine geringe Rolle, eine Abhängigkeit von lebenswichtigen Importen (z.B. Ol) bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht; die USA hätten locker auf dem erreich-ten Niveau existieren können, ohne überhaupt Außenhandelsbeziehungen zu pflegen. Zwar erlaubte es der strukturell überbewertete Dollar ameri-kanischem Kapital, in Europa und anderen Teilen der Welt Unternehmen

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und Industrieanlagen zu basement bargain-Preisen zu erwerben, aber diese Einkäufe waren aus Überschüssen bezahlte Extras, noch kein essentieller Bestandteil amerikanischer Akkumulationsstrategien.

Die späten 1960er und 1970er Jahre brachten nicht nur eine moralische, politische und militärische Krise für die Vereinigten Staaten, sondern auch eine Akkumulationskrise für das amerikanische Kapital und damit eine Schwächung der ökonomischen Eliten. Das keynesianische System der Nachkriegszeit stieß an die politischen Grenzen seiner Tolerierbarkeit für die ökonomischen Eliten. Stagnation und Inflation traten gemeinsam auf und ließen das Neuwort »Stagflation« in die Umgangssprache eingehen. Die Hauptleidtragenden waren die »investierende Klasse«, also die Superreichen. Sie mussten die schreckliche Erfahrung eines »wealth Crashs« machen, der geradewegs Züge einer Umverteilung von oben nach unten annahm: Inner-halb von knapp zehn Jahren sank der prozentuale Anteil am Aktienbesitz des reichsten 1% der US-Bevölkerung von 37% im Jahr 1965 auf 23% Mitte der 1970er Jahre.34 Mit anderen Worten: Der real existierende Kapitalismus hatte nach 20 Jahren »sozialdemokratischer« Politik aus Angst vor dem Kommunismus in seinem Führungsland, aber nicht nur dort, aufgrund ho-her Arbeitseinkommen und eines hohen Beschäftigungsniveaus ein solches Stadium relativer sozialer Nivellierung erreicht, dass die Chancen für die ökonomischen Eliten, hohe Rendite zu erwirtschaften und neuen Reichtum zu akkumulieren, arg eingeschränkt waren. Grob gesagt: Investieren »lohnte nicht mehr«.

Bereits in den 1960er Jahren hatte sich abgezeichnet, dass die Zeit der unmittelbaren Interessendeckung von USA und ihren Partnern in Westeu-ropa und Japan zu Ende gehen würde. Nicht zuletzt die Kosten des Viet-namkriegs und die wachsenden Auslandsschulden führten dazu, dass auf der Grundlage des inzwischen unrealistisch niedrig fixierten Dollarwerts ($ 35 pro Unze Gold) ausländische Banken mit ihren Dollar-Guthaben locker mehrmals die Goldvorräte aus Fort Knox hätten aufkaufen können, von ih-nen aber erwartet wurde, genau dies nicht zu tun. Aber auch ohne gezielte politische Aktionen, wie sie z.B. der französische Präsident de Gaulle mehr-fach angekündigt hatte, nahm der Abfluss der US-Goldreserven in der zwei-ten Hälfte der 1950er Jahre kontinuierlich zu. Präsident Nixon reagierte auf diese bedrohliche Situation, indem er 1971 ohne Vorankündigung sozusagen über Nacht die Goldbindung des Dollars für beendet erklärte und damit

34 David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, S. 16.

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praktisch das Bretton Woods-System einseitig aufkündigte. Damit war, statt des zuvor letztinstanzlichen Goldes, nunmehr der reine Papierdollar zum Weltgeld erhoben worden: ein durchaus riskantes Spiel, was sich aber am Ende insofern als erfolgreich erwies, als es die reale Voraussetzung für einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des Nachkriegskapitalismus wurde: die Umwandlung des »embedded liberalism«,35 wie das keynesianisch-klassen-kompromisslerische Nachkriegssystem neuerdings genannt wird, in den so genannten »neo-liberalism«.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben spätestens seit Beginn der 1980er Jahre auch politisch in diesem Prozess in allen Feldern wieder die Führungsrolle übernommen. Praktisch umgesetzt wurde sie vor allem durch eine enge Zusammenarbeit mit der Wall Street, seit Ende des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit der Londoner Ci ty das finanzielle Zentrum der Weltwirtschaft. Das riskante Spiel der Aufkündigung des Bretton Woods-Systems hatte sich gelohnt.36 Bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jah-re wurde ein gezielter Politikwechsel eingeleitet, der von folgenden Zielen geleitet war: erstens der forcierten Durchsetzung eines neuen Regimes des Kapitalismus, in dem unter der Supervision des internationalen Finanzka-pitals die Regeln und Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft univer-sell durchgesetzt waren und den nationalen Regierungen - ob demokratisch gewählt oder nicht - so wenig Möglichkeiten wie möglich blieben, in das »freie Spiel« der Marktkräfte einzugreifen; zweitens, der Überführung von so vielen nationalen Ressourcen und Bereichen des öffentlichen Lebens wie möglich in die Verfügungsgewalt Anlage suchenden Privateigentums; und drittens, der rigorose Senkung der relativen Arbeitskosten in den Hauptlän-dern des Kapitalismus. Der nun in konzertierter Aktion mit den wichtigsten Verbündeten über die nächsten zehn Jahre lancierte und legitimierte »Neo-liberalismus« kann nach mehreren Gesichtspunkten analysiert werden: Ver-lautbarungspolitisch gestartet wurde er als ein utopisches Programm auf der ideologischen Grundlage der neo-klassischen Ökonomie und des wilsonisti-schen Weltbildes, nach dem die »Befreiung der Märkte« von jedweder Kon-trolle oder Regulierung gleichsam naturgesetzlich optimale Ertragsresultate für alle Beteiligten hervorbringe. Aktionspolitisch umgesetzt wurde er als

35 Siehe dazu M. Blyth: Great Transformations: Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century, Cambridge 2002. Vgl. auch Harvey, A Brief..., a.a.O., S . l l .

36 Siehe hierzu Peter Gowan: The Dollar-Wall Street Regime, in: The Global Gam-ble. Washington^ Faustian Bid for World Dominance, London 1999, S. 19-38.

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ein politisches Projekt zur Wiederherstellung optimaler Akkumulationsbe-dingungen und der Macht der ökonomischen Eliten. Propagandistisch mas-senwirksam verkauft wurde er als anti-etatistisches »Freiheitsprogramm«, wobei listig auf rhetorische Figuren und kulturelle Stile der 68er Revolte zurückgegriffen wurde, sodass coole Finanzjongleure, hedonistische Cou-ponschneider und selbstherrliche Bankchefs als die wahren Vollender der Kulturrevolution der 60er Jahre erscheinen konnten.37 Real-historisch aber ist dieser »Neoliberalismus« nichts weiter als ein weiterer Abschnitt des wilson-istischen Programms zur Wiederherstellung der kapitalistischen Weltordnung des 19. Jahrhunderts, die bereits mindestens so global (bis auf die technischen Accessoires der Gegenwart) war wie die heutige »postnationale Ordnung«.

8.

Der Wilsonismus ist bis heute die durchgängige Konstante amerikanischer Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er war und ist der ver-bindliche, »überparteiliche« (»bipartisan«) Bezugsrahmen für jede amerika-nische Regierung von Harry S. Truman bis zu George W. Bush. Kein US-Prä-sident ist in sechs Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte auch nur einen Deut von den Grundprinzipien des Wilsonismus abgewichen. Er hätte es auch gar nicht gekonnt, denn eine legale oder illegale Amtsenthebung durch konzertierte Aktion der ökonomischen Eliten wäre die unvermeidliche Folge gewesen.38

Wenn die Handlungsweisen von US-Präsidenten während dieser Zeit den-noch ganz unterschiedliche Reaktionen im Rest der Welt einschließlich der kapitalistischen Verbündeten hervorgerufen haben, dann lag das weniger am politischen Verhalten der USA als an sich verändernden Kräfteverhältnissen und daraus resultierenden Wahrnehmungsveränderungen. So wurde es lange

37 Siehe hierzu meinen Aufsatz From the »Anti-Revisionist Left« to the »New Centre«: Reflections on the Ancestry of »Modernized« Social Democracy, in: Oliver Schmidtke (Hrsg.):The Third Way Transformation of Social Democracy. Normative claims and policy initiatives in the 21" Century, Aldershot/England 2002, S. 163-181.

38 Einen einzigen zaghaften Ansatz dazu gab es Anfang der 1990er Jahre, als der noch unerfahrene Präsident Clinton, offenbar noch betört von seiner eigenen Rhetorik und in Gedenken an seine wilde Jugend in Gesellschaft von Vietnamkriegs-Gegnern, eine militärische Intervention in Haiti zur Rettung des (demokratisch gewählten) so-zialdemokratischen Präsidenten Aristide vor einem Militärputsch anordnete. Es war nicht zuletzt diese naive Verwechslung von rhetorischem und praktischem Wilsonis-mus, mit dem er jenen Hass und jenes Misstrauen bei einem Teil der politischen Eliten auf sich lud, der später bis zu einem Impeachment-Versuch führen sollte. Und das, obwohl Clinton diesen Fauxpas später hundertmal wettgemacht hatte!

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Zeit auch außerhalb der USA weitgehend übersehen, dass der Vietnamkrieg - ein Vernichtungsfeldzugs gegen ein ganzes Volk, dem annähernd drei Mil-lionen Menschen zum Opfer fielen - das mit Abstand größte internationale Verbrechen der Nachkriegszeit gewesen ist, um ein Vielfaches blutiger als und genauso »völkerrechtswidrig« durchgesetzt wie der jüngste Feldzug gegen den Irak. Auch der Vietnamkrieg diente in letzter Instanz den Zielen »Frei-heit der Meere« und »Freiheit des Welthandels«, auch wenn in diesem Fall die Logik des Kalten Krieges mit ihrer »Dominotheorie« vordergründig dazwi-schengeschaltet war. Damals oblag es Teilen der jungen Generation in Euro-pa wie in den USA selbst, Protest und Widerstand zu Gehör zu bringen. Sie hatten einen schweren Stand gegenüber ihren Regierungen wie gegenüber der Mehrheitsmeinung in ihren Ländern. Die politischen Führer und die veröf-fentlichte Meinung der westeuropäischen Verbündeten brachten immer wie-der ihre Solidarität mit »dem Engagement der Amerikaner in Vietnam«, wie es damals hieß, zum Ausdruck. Ein »Völkerrecht« wurde in Zusammenhang mit Vietnam ausschließlich von den sozialistischen Ländern argumentativ ins Feld geführt. Der Grund für die westeuropäische Solidarität mit Amerika war, dass die Interessen der ökonomischen Eliten in den europäischen kapitalistischen Ländern an guten Beziehungen zu den USA damals noch allerhöchste Priori-tät hatten; man war einig im gemeinsamen ideologischen Abwehrkampf gegen Sozialismus und Kommunismus und vorteilhaft verbunden durch das für die Europäer segensreiche Bretton Woods-System.

Gut anderthalb Jahrzehnte nach dem größten Triumph der ökonomischen Eliten der USA, der Kapitulation der Sowjetunion, ist der amerikanische Präsident George W. Bush in den Augen eines großen Teils der politischen und ökonomischen Eliten Europas, von den Bevölkerungen gar nicht zu re-den, eine gefährliche Person, die nicht nur bedenkenlos das »Völkerrecht« breche, sondern auch zur Gefahr Nr. 1 für den Weltfrieden avanciert sei. Vom objektiven Tatbestand her kann jedoch Bush und seiner Regierung - abgesehen von bestimmten rhetorischen Fehlgriffen - nicht ernsthaft vor-geworfen werden, Verstöße gegen das »Völkerrecht« oder gegen die allge-mein-menschliche Moral begangen zu haben, die nicht ebenso und zum Teil weitaus brutaler von jedem ihrer Vorgänger seit Harry S. Truman begangen worden sind: entweder direkt durch militärische Aktionen oder indirekt durch geheimdienstliche Unterstützung lokaler Kräfte.39

39 Allein die bloße Nennung von Beispielen hierfür würden Seiten in Anspruch neh-men. Zu nennen wären neben dem erwähnten Vietnamkrieg drei indirekte, aber sehr

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Dennoch erscheint es dem öffentlichen wie auch dem akademischen Dis-kurs in Deutschland wie in den meisten seiner Nachbarländer, dass mit der Präsidentschaft George W. Bushs ein qualitativer Wandel in der amerika-nischen Außenpolitik stattgefunden habe, und zwar sowohl, was die poli-tische Strategie (»Unilateralismus«), als auch, was den moralischen Standard (»Völkerrechtsmissachtungen«) betrifft. Dabei haben die USA im niederge-worfenen Irak nichts weiter getan als die üblichen Maßnahmen einzuleiten, die seit 50 Jahren durchgeführt werden, wenn ein Land in den alleinigen Zu-ständigkeitsbereich der »internationalen Märkte« übergeleitet werden soll: Privatisierung des Staatseigentums, Investitionsfreiheit für ausländisches Kapital, gesetzliche Garantien für den Profittransfer, die Einführung neuer, unternehmerfreundlicher Steuergesetze u.v.m. - alles unverzichtbare Ele-mente des wilsonistischen Programms und des wilsonistischen Verständnis-ses von »Demokratie«!

Die Ordnungspolitik der Europäischen Union und die Lobbyarbeit der ökonomischen Eliten Europas verfolgen im Prinzip genau die gleichen Ziele. Dennoch wächst auch hier die Kritik an den USA. Warum? Was angesichts des Irak-Kriegs die plötzliche Kritikbereitschaft in Europa hervorzurufen scheint, ist keineswegs ein plötzlich gewachsener moralischer Anspruch auf-sehen erfahrener und aus eigenen Erfahrungen geläuterter Europäer, wie es einige Autoren wie z.B. Habermas reklamieren, sondern wohl eher der Be-ginn eines objektiven Auseinanderfallens der Interessen zwischen den USA als Nationalstaat und den bislang engsten Verbündeten im kapitalistischen Weltsystem. Offensichtlich ist zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte eine Konstellation am Entstehen, in der die Erwartungen der kapitalistischen Länder an die USA als »uneigennützige« Sonne des kapitalistischen Welt-systems und die nationalen Interessen der USA sich nicht mehr nachhaltig miteinander vereinbaren lassen.

Diese Konstellation ergibt sich zwingend aus der besonderen Bedeutung, die fossile Energiequellen und insbesondere das Erdöl für die nationale Re-produktion der USA spielen. Die USA verbrauchen, gemessen an ihrer Be-völkerungszahl, das vier- bis zwanzigfache an fossilen Energien von dem, was andere vergleichbare Länder verbrauchen. Weil ein an das Automobil sowie an billige Heiz- und Kühlenergie geketteter Lebensstil unverzichtbar für den American Way of Life ist, sehen die ökonomischen Eliten sich gera-

folgenreiche Interventionen: Die Zerstörung der Demokratie im Iran 1953, der Mas-senmord an Mitgliedern der KP Indonesiens 1965 und der Putsch in Chile 1973.

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George W. Bush im Kontext US-amerikanischer Außenpolitik 195

dewegs dazu genötigt, um der Erhaltung des sozialen Friedens willen ange-sichts knapper werdender Ölvorräte die Verfügungsgewalt über die großen Quellen dieser Erde zumindest mittelfristig sicherzustellen.40

In diesem Sinne war der militärische Überfall auf den Irak, das Land mit den zweitgrößten gesicherten Ölreserven der Erde, eindeutig ein Akt, der im Interesse des Nationalstaats USA geführt wurde; er war nicht mehr selbst-verständlich vermittelbar als im Interesse des Gesamtsystems. Seine Rati-onalität für die verbündeten Länder hätte allein in dem indirekten Argu-ment bestanden, das materielle Wohlergehen und die politische Stabilität der »Sonne« des kapitalistischen Weltsystems sei per se von positivem Wert für das System und damit letztlich auch den eigenen Interessen nützlich. Diese Begründung reichte wohl hin für einige beflissene Neumitglieder der kapita-listischen Weltfamilie aus dem Osten Europas, nicht aber mehr für die poli-tischen und ökonomischen Eliten des westlichen Europa, um auch angesichts einer vom kommunistischen Jahrhundertfeind befreiten Welt sich trotzdem noch einmal bedingungslos hinter ihre alte »Schutzmacht« zu scharen.

Der Grund dafür also, dass Kritik an den USA und leidenschaftlicher Antiamerikanismus, meist fokussiert auf die Person George W. Bush, in-zwischen in den Ländern der EU den politischen Mainstream erreicht ha-ben, liegt letztlich in der beginnenden Unvereinbarkeit von »Sonnenfunk-tion« und hartem nationalstaatlichen Interesse für das politische Verhalten der USA. Die antikapitalistische Linke zieht bei diesem Antiamerikanismus freudig mit und unterstellt am liebsten gleich dabei, die USA und vor allem George W. Bush persönlich seien auch allein verantwortlich für den Neo-liberalismus. Dies ist natürlich Unfug. Zwar ist der Neoliberalismus, wie oben gezeigt, ideologisch und praktisch nichts als das Weitertreiben des Wil-sonismus. Aber gleichzeitig war und ist er auch ein internationales Projekt, verfolgt von den ökonomischen Eliten der EU, Japans oder Indiens ebenso wie denen der USA. Zu seiner politischen Durchsetzung trugen Margaret Thatcher, Pinochet und auf ihre Weise auch Helmut Kohl, Tony Blair, Ger-hard Schröder und selbst Deng Xiaoping ebenso bei wie Ronald Reagan, Clinton und die Bushs.

Deswegen kommt es bei der Einschätzung von anti-amerikanischer Kri-tik mehr denn je darauf an, zu unterscheiden zwischen solcher, die von an-

40 Siehe hierzu: Michael Klare: Blood and Oil. The Dangers and Consequences of America's Growing Petroleum Dependency, New York 2004. Siehe auch Elmar Alt-vater: Öl-Empire, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, No. 1/2005, S. 65-74.

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tikapitalistischen Prämissen ausgeht, und solcher, die bloß eine wachsende Rivalität unter imperialistischen Komplizen zum Ausdruck bringt. Für eine politische Linke, die nicht von falschen Freunden missbraucht werden will, heißt das: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom amerikanischen Imperialismus schweigen!

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Frank Deppe »Euroimperialismus« Anmerkungen zu einem neuen Schlagwort

1. Mit dem Ubergang ins 21. Jahrhundert deuteten sich Veränderungen in den Beziehungen zwischen den kapitalistischen Zentren der Weltwirtschaft und der Weltpolitik an. Während Ostasien - mit dem neuen Kraftzentrum China - immer mehr in die Rolle eines neuen Zentrums der kapitalistischen Welt-wirtschaft hineinwächst, waren die transatlantischen Beziehungen - in der Zeit des Kalten Krieges durch eine deutliche ökonomische und politische Dominanz der USA charakterisiert - erheblichen Belastungen ausgesetzt. In den USA wurden schon in den 1990er Jahren die Beschlüsse der EU über die Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Ziel der Einführung des Euro und der Errichtung der Europäischen Zentralbank (EZB) bis 1999 als Kampfansage gegenüber dem »Dollar-Wall-Street-Regime« (Peter Gowan) bewertet. Und auch die Fortschritte auf dem Gebiete einer Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die Osterweiterung bis 2001 und Ausarbeitung des Verfassungsvertrages mussten in den USA als Zeichen dafür gewertet werden, dass die EU sich nicht nur territorial erweitert, sondern auch die politische Integration vorantreibt und mit den »institutionellen Reformen« auch ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit zu effektivieren versucht.

Der Europäische Rat verkündete im März 2000 in Lissabon eine Strategie mit einem ambitionierten Ziel: Bis 2010 sollte die EU zum »wettbewerbsfä-higsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt« umgebaut werden, »der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einen größeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen« (vgl. Dräger 2005). Die Ausarbeitung einer Europäischen Sicherheitsstrate-gie (»Solana-Papier«, 2003) war für Beobachter in den USA der letzte Beweis dafür, dass die Europäer sich aus der US-Hegemonie der Nachkriegszeit zu lösen versuchen und - jenseits der NATO - eigene Interventionsstreitkräfte aufbauen wollen. Das neue Sicherheitskonzept weitet den strategischen Ra-dius der EU global aus; die Sicherheit einer weltwirtschaftlichen Infrastruk-

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tur wird darin ebenso erwähnt wie die Bedeutung von Armut und Migration für die europäische Sicherheit. »Die strategischen Ziele der EU beziehen sich auf die Abwehr von Bedrohungen (Terrorismus, Massenvernichtungswaf-fen, regionale Konflikte), die Stärkung der Sicherheit der Nachbarschafts-regionen (östlich der EU und im Mittelmeerraum) sowie eine multilaterale Weltordnung« (Algieri 2005: 222).

Als die politische Führung der USA im Jahre 2003 den Militärschlag ge-gen den Irak vorbereitete, musste sie feststellen, dass sich - anders als im ers-ten Irakkrieg 1991 - einige europäische Regierungen der militärischen Ko-operation verweigerten: die Regierungen Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland sowie Belgiens.1 Andere - die Regierungschefs von Großbritan-nien, Spanien, Italien, vor allem aber die Regierungen der neuen Mitglieds-staaten im Osten, die inzwischen auch der NATIO angehörten - schlossen sich der »All ianz der Will igen« an. Gegen die »Unwil l igen« wurde in den USA eine rüde Polemik entfacht - in Westeuropa demonstrierten Millionen von Menschen gegen den Krieg und gegen die Politik von Bush, Rumsfield, Rice und Cheney. Die Europäer waren also gespalten, obwohl sie doch ge-rade den Willen zum gemeinsamen Handeln im Rahmen der GASP - und speziell der ESVP (Europäische Sicherheits-, und Verteidigungspolitik) - be-kundet hatten und im Verfassungsentwurf die militärische Dimension der EU-Integration gestärkt wurde. Von der Bush-Administration musste dieser EU-interne Dissens zunächst als eine Bestätigung ihrer globalen Führungs-rolle gewertet werden. Auf der anderen Seite nahm in den Jahren 2003/2004 der Antiamerikanismus in Westeuropa erheblich zu, der beste Verbündete (Tony Blair) geriet unter den Druck der eigenen Partei, gute Freunde (Aznar und Berlusconi) wurden abgewählt; gleichzeitig entwickelte sich in Westeu-ropa eine lebhafte Debatte über die Notwendigkeit , die außenpolitische und militärisch-sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU - gegebenen-falls auch gegenüber den USA - endlich auszubauen.

2. Die neokonservativen Ideologen in den USA, die die Außenpolitik von George W. Bush (über das Pentagon, die Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice und den Vizepräsenten Dick Cheney) maßgebend bestimmen (Menzel

1 Die Regierung der BRD z.B. gewährte jedoch den USA nicht nur logistische Un-terstützung im Irakkrieg, sondern arbeitete auf der Ebene der Geheimdienste eng mit den USA bzw. der CIA zusammen - vor allem bei der Verfolgung und Folterung von Menschen, die verdächtigt wurden, terroristischen Netzwerken anzugehören.

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»Euroimperialismus« 199

2004: 93ff.), reagierten auf diese neue Herausforderung zunächst gelassen. Robert Kagan hat in einer viel beachteten Schrift die Differenzen zwischen den USA und der EU als völlig normalen Ausdruck ihrer unterschiedlichen Stärke und Macht interpretiert. Europa ist - im Verhältnis zu den USA - po-litisch und militärisch schwach. Daher tendiert es dazu, »to move beyond power into a self-contained world of laws and rules and transnational ne-gotiation and Cooperation. It is entering a post-historical paradise of peace and relative prosperity«. Die Europäer träumen den Traum des Kantischen »Ewigen Friedens«. Die USA hingegen sind als die stärkste Macht in der Welt zum Realismus gleichsam verdammt: »the United States remains mired in history, exercising power in an anarchic Hobbesian world where interna-tional laws and rules are unreliable, and where true security and the defense still depend on the possession and use of military might. That is why on major Strategie and international questions today, Americans are from Mars and Europeans are from Venus« (Kagan 2003: 3).

Es gibt allerdings in den USA - vor allem im Umkreis der Demokraten - genügend Stimmen, die vor der Gefahren einer grenzenlosen Überschät-zung der amerikanischen Macht warnen. Diese »entstehen, wenn Amerika der Illusion erliegt, seine Vorherrschaft sei von ewiger Dauer und die eher traditionellen geopolitischen Herausforderungen existierten nicht mehr« (Kupchan 2003: 21). Die strukturellen Schwächen und Risikopotenziale der US-Ökonomie (vgl. Deppe u.a. 2004: 85ff.) werden dabei ebenso benannt wie die Gefahren einer Politik des »Unilateralismus« (Mearsheimer 2001), der die USA von ihren Verbündeten isoliert. Die Führungsposition der USA - und die damit verbundene Führungsaufgabe - wird nicht in Frage gestellt. Sie kann sich freilich nur - mittel- und langfristig - in der Kooperation mit Partnern stabilisieren.2 Joseph Nye (2002) - prominenter Sprecher der libe-ralen Schule und des alten »Ostküsten-Establishments« - beschwört das »Pa-radox« der amerikanischen Macht: Sie sei zu groß, um von irgendeiner ande-ren Macht oder Mächtekonstellation in Frage gestellt zu werden, aber nicht groß genug, um alle Probleme dieser Welt allein zu lösen. Nye warnt auch

2 Brzezinski (1997: 198) formulierte schon zur Zeit der Präsidentschaft von Bill Clinton diese Aufgabe: »In the short run, it is Americas interest to consolidate and perpetuate the prevailing geopolitical pluralism of the map of Eurasia ... By the middle term, the foregoing should gradually yield to a greater emphasis on the emergence of increasingly important but strategically compatible partners ... Eventually, in the much longer run still, the foregoing could phase into a global core of genuinely shared poli-tical responsibility.«

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davor, die Bedeutung der »soft power« (z.B. die Attraktivität des American Way of Life und seines Wertesystems) zu unterschätzen. Schärfer noch kriti-sierte der Soziologe Michael Mann (2003: 314) die Innen- und Außenpolitik in der Folge des »neokonservativen Putsches«, der - vor allem als Antwort auf den terroristischen Angriff vom 11. September 2001 - das Primat des militärischen Denkens etablierte: »Während in der Vergangenheit Amerikas Macht hegemonial war, also in der Regel vom Ausland akzeptiert und häufig als legitim betrachtet wurde, kommt sie jetzt aus den Gewehrläufen.«3 Ange-sichts der Unfähigkeit der US-Besatzungsmacht, den Irak nach dem militä-rischen Sieg zu stabilisieren - ganz zu schweigen vom erfolgreichen Aufbau eines demokratischen Staatswesens mehren sich natürlich die Stimmen, die dem amerikanischen »Empire« bzw. seiner Politik des »Imperialismus« den Niedergang voraussagen (Pfaff 2004; Ferguson 2004).

Dabei werten einige Kommentatoren die Krise der transatlantischen Beziehungen im Zusammenhang des Irakkrieges schon als Indikator eines wachsenden Selbstbewusstseins der »Europäer«, das seinerseits auf die öko-nomische Potenz der Europäischen Union, auf die Position des Euro gegen-über dem US-Dollar4 sowie auf die Fortschritte der EU seit dem Ende des Kalten Krieges (Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, GASP/ ESVP, Osterweiterung etc.) zurückzuführen sei.5 Oftmals werden dabei von Anhängern der Demokratischen Partei die Verhältnisse in der EU idealisiert. Jeremy Rifkin z.B. charakterisiert die EU als eine »leise Supermacht«, die den USA längst als Modell bzw. als »Hoffnungsträger für eine bessere Welt« gegenüberstehe. Dabei bezieht er sich nicht allein auf die Wirtschaftskraft sowie auf die Arbeitsbeziehungen und die Sozialpolitik in der EU, sondern auch auf deren Rolle als eine »Supermacht« in der Arena der internationalen

3 Dass der »Militarismus« das Charakteristikum des US-amerikanischen »Imperi-ums« sei, vertritt vor allem der Ostasienexperte Chalmers Johnson in seinem neuen Buch »The Sorrows of Empire. Military, Secrecy and the End of the Republic«, 2004.

4 »Many West European Leaders believe that the Euro will greatly strengthen their political position vis-à-vis the United States in international negotiations; many Ameri-cans fear that the Euro will have negative consequences for American security and the international Standing of the United States« (Gilpin 2000: 225).

5 »European, at times Japanese, Opposition to American unilateralism in recent years (military Intervention in the Middle East, assertiveness of trade relations and neglect of the Doha round, recklessness in managing the dollar) has been taken as a sign of mounting political antagonisms between contesting Centers of the world capitalism« (Albo 2003: 89).

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»Euroimperialismus« 201

Politik, die - im Gegensatz zum Militarismus der USA - den Leitbildern der Nachhaltigkeit und des Ausgleichs verpflichtet sei (Rifkin 2004).6

3. Die Debatte um den Irakkrieg und um die transatlantischen Beziehungen ließ so schon erkennen, wie die Frage nach der Existenz und der Relevanz eines »Euroimperialismus« aufkommen konnte. Sie steht im Kontext des Kampfes um die »neue Weltordnung« nach dem Ende des Ost-West-Kon-fliktes. Noch Anfang der 1990er Jahre war die »neue Weltordnung« (u.a. von George H.W. Bush, dem »Alteren«)7 begriffen als Projekt einer fried-lichen, sozial gerechteren und ökologisch sicheren Welt, das durch die Um-verteilung der »Friedensdividende« möglich wird. Schon unter der Clinton-Administration haben sich jedoch Konturen einer Außenpolitik der USA abgezeichnet, die - im nationalen Interesse - die militärische Überlegenheit der USA (und der NATO) einsetzt, um die Vormachtposition der USA so-wohl im Nahen Osten, um das Kaspische Meer und schließlich auch bei der politischen Reorganisation Gesamteuropas auszubauen (»militarisierte Hegemonie«, vgl. Müller 2003: 122ff.).

Der Imperialismusbegriff spielte für die Analyse der internationalen Be-ziehungen und der Weltordnung lange Zeit keine bedeutende Rolle. In den 1960er und 1970er Jahren konzentrierten sich »Imperialismusanalysen« auf das Verhältnis zwischen den Kapitalmetropolen und der sog. »Dritten Welt«

6 Die innere Spaltung innerhalb der EU, die schon während der Balkankrisen der 1990er Jahre und dann wiederum während des Irakkrieges zutage trat, ist typisch für die GASP. Auch die Beurteilung der »weichen Faktoren« europäischer Politik (Sozi-alpolitik, Umweltpolitik usw.) sowie des politischen Systems der EU bleibt blind für die Defizite und Widersprüche in diesen Bereichen. Dorothee Bohle (2004: 300ff.) zeigt am Beispiel der EU-Osterweiterung, dass solche Vorstellungen von einem »besseren Europa« nicht begründet sind. »Instead of exporting welfare capitalism and a security order based on multilateralism and human rights, EU expansion has entailed the re-emergence of economic center-periphery relations within the new Europe.«

7 In seiner berühmten Rede »Towards a New World Order« vom 11. September 1990 sagte US-Präsident George H.W. Bush: »We stand today at a unique and extraor-dinary moment. The crisis of the Persian Gulf, as grave as it is, also offers a rare oppor-tunity to move toward a historic period of Cooperation. Out of these troubled times - a new world order can emerge: a new era, free from the threat of terror, stronger in the pursuit of justice, and more secure in the quest for peace. An era in which the nations of the world, East and West, North and South, can prosper and live in harmony... A world where the rule of law supplants the rule of the jungle. A world in which nations recognize the shared responsibility for freedom and justice. A world where the strong respect the rights of the weak« (zit. n. Menzel 2004: 7).

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sowie auf die »antiimperialistischen Befreiungsbewegungen« - von Kuba, Algerien bis nach Vietnam und Angola. Sie knüpften z.T. an die klassisch gewordenen Imperialismusanalysen vom Anfang des 20. Jahrhunderts an (Hobson, Hilferding, Luxemburg., Lenin, Bucharin). Diese hatten den Zu-sammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus im Inneren und seiner ökonomischen und politischen Expansion nach außen in den Mittel-punkt gestellt (»Überakkumulat ion« und »Unterkonsumtion«) . Die neue-ren Analysen betonten jedoch die Veränderungen innerhalb der Weltord-nung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: der Ost-West-Konflikt, die Rolle der Atomwaffen, die Hegemonie der USA innerhalb des westlichen Lagers und der darin eingeschlossene Wandel der zwischenimperialistischen Konkurrenzverhältnisse, die Dynamik der Weltwirtschaftsbeziehungen usw. (vgl. ausführlich Deppe u.a. 2004). Seit den 1980er Jahren geriet der Begriff »Imperialismus« fast in Vergessenheit - auf der einen Seite galt er als marxis-tisch-leninistisch »vorbelastet«; auf der andere Seite setzten sich innerhalb des akademischen Mainstreams in den Sozialwissenschaften immer mehr Richtungen durch, denen die Fragestellungen einer kritischen Gesellschafts-und Kapitalismusanalyse mehr oder weniger als irrelevant erscheinen.

4. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der Herausbildung einer neuen Formation des »transnationalen High-Tech-Kapitalismus« und dem Sieges-zug des Neoliberalismus in Wirtschaft und Politik (Candeias 2004) wurden jedoch neue Fragen aufgeworfen, die zum Teil an die alten Debatten an-schlossen. Die erste dieser Fragen betraf die »neue Weltordnung« nach dem Ende der Bipolarität. Würde die neue Weltordnung durch die einzig verblie-bene »Supermacht« USA beherrscht werden oder würden sich neben den USA (und Nordamerika) weitere Zentren ökonomischer und politischer Macht - in der Struktur der »Triade« (Nordarmerika, Westeuropa, Ostasien) - herausbilden? Welche Rolle würde die »Globalisierung« von Ökonomie, Wissensproduktion, Kultur und Kommunikation für die Auseinanderset-zung um die »neue Weltordnung« spielen? Wie würden sich die der kapita-listischen Globalisierung eingeschriebenen Widerspruchskomplexe auf die Auseinandersetzungen um die neue Weltordnung auswirken?

Die Imperialismustheorien hatten einerseits die Frage nach dem Zusam-menhang von Kapitalakkumulation und der territorialen Expansion von ökonomischen und politischen Herrschaftsräumen in den Mittelpunkt ge-stellt. Mit anderen Worten: Kapitalistische Regime müssen nach innen - öko-

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»Euroimperialismus« 203

nomisch, politisch und ideologisch - durch externe Expansion abgesichert werden. Diese Logik entspricht der widersprüchlichen Bewegungsform kapitalistischer Akkumulation selbst; die immer wieder neu reproduzierten Verwertungsschranken müssen durch verschiedene - der Kapitallogik adä-quate - Strategien überwunden und hinausgeschoben werden (auch im räum-lichen und zeitlichen Sinne). Hierin liegt die Tendenz des Kapitals, nationale Grenzen zu überschreiten, obwohl auf die Funktion des Nationalstaates für die Sicherung der Eigentums- und Verwertungsverhältnisse nicht verzichtet werden kann. Imperialistisch ist also nicht die äußere Expansion, die Erobe-rung von Märkten und Einflusssphären, sondern der Kampf von Staaten und Staatengruppen um Hegemonie oder Suprematie in der ökonomischen und politischen Weltordnung einer bestimmten historischen Epoche kapitalisti-scher Entwicklung.8

Ohne die Kontrolle von Räumen (z.B. von »Eurasien« oder des »Nahen Ostens«) und von Kommunikations- und Verkehrswegen, ohne die ökono-mische Beherrschung anderer Länder und Regionen - sei's zur Kontrolle der Rohstoffvorkommen oder auch zur Eroberung von Absatzmärkten oder zur Kontrolle von Finanzmärkten - kann kein Staat (wie die USA) oder kei-ne Staatengruppierung (wie die Europäische Union) ihre Rolle als »Global Player« bei der Gestaltung der neuen Ordnung im eigenen Interesse wahr-nehmen. In diesem Sinne versteht z.B. Peter Gowan (1999: VII/VIII) den Titel seines ausgezeichneten Buches aus dem Jahre 1999, in dem er aller-dings den Begriff des »Imperialismus« nicht verwendet. Er behandelt darin »the American attempt to use the international system of sovereign states as a mechanism of American global dominance ... the benefits of the global transnational order will accrue to the United States, while the risks and costs can be distributed abroad. This is the main distinctive form of the US's glo-bal project. This is the Global Gamble.«

Die klassischen Imperialismustheorien wollten jedoch gleichzeitig die Frage beantworten, warum sowohl die äußere Expansion und die damit ver-bundene zwischenimperialistische Konkurrenz als auch die sozialen Kon-

8 Stephen Gill (2004), einer der führenden Vertreter der neogramscianischen Schule der Internationalen Politischen Ökonomie unterscheidet sehr genau zwischen Hege-monie (Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten) und Dominanz/Suprema-tie. Letztere zeichnet sich durch das Übergewicht der direkten Gewalt bzw. des Zwangs gegenüber den Beherrschten aus. Gill vertritt die Auffassung, dass sich - seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes - die Rolle der USA in der »Weltordnung« von der Hegemo-nie zur Suprematie, die stets das Primat des »national interest« betont, verändert hat.

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flikte im Innern der eigenen Gesellschaften (Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung) zunehmend gewaltförmig ausgetragen wurden. Der im-perialistische Machtstaat (nach innen und außen) wurde zum Träger dieser politisch-militärischen Gewalt, die schließlich in den beiden Weltkriegen eskalierte. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes schien zunächst eine neue Periode des Friedens und des Abbaus der Rüstungspotenziale in der Welt möglich. Schnell wurde allerdings deutlich, das die Auflösung der alten Weltordnung mit neuen Konflikten und Kriegen, also mit einer deutlichen Zunahme der direkten und indirekten Gewaltanwendung - nicht nur als un-mittelbare Folge des Zerfalls der alten Ordnungen (wie z.B.. auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion bzw. von Jugoslawien), sondern auch als Reak-tion auf neue transnationale Konfliktlinien9 - verbunden war.

Innerhalb von nur 10 Jahren - zwischen der Rede des älteren George H.W. Bush über die »neue Weltordnung« und dem Angriff auf das World Trade Centre in New York (am 11. September 2001) und den nachfolgenden Kriegen gegen Afghanistan und den Irak - vollzog sich eine dramatische Wendung zur Akzeptanz von unmittelbarer Gewalt, um Herrschaftsinte-ressen im Zusammenhang des Kampfes um Weltordnung durchzusetzen. Dem entsprach ein Wandel in der Innenpolitik der demokratischen Staaten des Westens: die Sicherheitsproblematik - als Schutz vor dem Terrorismus ebenso wie als Antwort auf die zunehmenden sozialen Widersprüche in den Kapitalmetropolen als Folge von wachsender Armut, Arbeitslosigkeit, stei-genden Kriminalitätsraten als Folge der Schattenökonomie und der Infor-malisierung von Arbeit (Altvater/Mahnkopf 2002) - rückte auf der Agenda der Innenpolitik an die erste Stelle, verdrängte die Sozialpolitik auf die un-teren Ränge und sicherte die Zustimmung breiter Bevölkerungsteile bei der Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte.

9 Samuel Huntington vertrat - als einer der einflussreichsten konzeptiven Ideologen US-amerikanischer Außenpolitik - schon 1996 die These, dass nunmehr der »Zusam-menstoß der Kulturen« (letztlich bezog er sich auf den Zusammenstoß zwischen der westlich-christlichen und der islamischen »Zivilisation«) die internationale Politik und d.h. den Kampf um »Weltordnung« bestimmen werde. Der 11. September 2001 und der anschließend vom US-Präsidenten verkündete »Krieg gegen den Terror« wird immer wieder als Bestätigung der Thesen von Huntington angesehen. Als kritische Auseinan-dersetzung und Alternative vgl. Cox 1998.

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5. Der Begriff des »Imperialismus«, der fast in Vergessenheit geraten war, wur-de nunmehr - gleichsam als Reflex auf die zunehmende Gewaltförmigkeit der Politik - immer häufiger verwendet. Dass die USA ein »Imperium« (Empire), also staatliches Zentrum eines Weltherrschaftssystems bilden und deshalb an Macht und Reichtum die alten Imperien - das Römische Reich und das Britische Empire - überragen, wurde kaum bestritten. »Eine im-periale Macht zu sein ... bedeutet, der bestehenden Weltordnung Geltung zu verschaffen, und dies im amerikanischen Interesse ... Im 21. Jahrhundert herrscht Amerika alleine, und es kämpft dabei für die Ordnung in instabilen Zonen, in denen sich der Untergang vergangener Imperien besiegelt hat, in Palästina und an der nordwestlichen Grenze Pakistans, um nur zwei zu nen-nen« (Ignatieff, in: Speck/Snaider 2003: 16).

Die Begriffe »Imperium« und »imperialistisch« wurden jetzt vor allem von neokonservativen Journalisten als positive Selbstbeschreibungen der amerikanischen Macht und Politik geradezu inflationiert. Die USA müssen im eigenen Interesse die Rolle des »Weltpolizisten« (»Globocop«) akzeptie-ren: »Wenn wir die Bösen nicht stoppen, wer sonst? Die Aufgabe, diese fer-nen Länder unter Kontrolle zu halten - Regionen voller gescheiterter, krimi-neller Staaten -, wird letzten Endes uns zufallen. Das bedeutet, dass liberaler Imperialismus wohl unsere Zukunft ist, ob es uns gefällt oder nicht« (Boot, in: Speck/Snaider 2003: 70). Der liberale Imperialismus überragt alle anderen an militärischer Stärke, aber er wendet diese nicht an, um - wie der »alte Im-perialismus« - ein Kolonialreich zu sichern, sondern um Demokratie, Wohl-stand und American Way of Life in der Welt zu verbreiten. »Das Imperium des 21. Jahrhunderts ist ein Neuankömmling in den Annalen der politischen Wissenschaft. Es ist ein Empire Ute - eine globale Hegemonie, deren Merk-male freie Märkte, Menschenrechte und Demokratie sind, durchgesetzt mit Hilfe der abschreckendsten Militärmacht, die es jemals gegeben hat. Es ist der Imperialismus eines Volkes, dem immer vor Augen steht, dass es die Un-abhängigkeit seines Landes erwarb, indem es gegen ein Empire revoltierte, eines Volkes, das sich als Freund der Freiheit in aller Welt versteht« (Igna-tieff, in: Speck/Snaider 2003: 17). Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Be-griff vom »liberalen Imperialismus« angesichts der Außerkraftsetzung dieser Werte durch die US-Besatzung im Irak bzw. in Afghanistan und angesichts des politischen und militärischen Widerstandes gegen sie kaum noch ernst-genommen wird. Vielmehr wird nunmehr konstatiert, dass die Weltmacht Nr. 1 zwar den ersten Militärschlag erfolgreich führen kann, aber danach

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sowohl militärisch als auch politisch (»state building«) die Schlacht zu ver-lieren droht.

Die kritischen Imperialismusanalysen beschränken sich nicht allein da-rauf, die Ideologie vom »guten Imperialismus« und seinen universalistischen Wertebezügen (Freiheit, Menschenrechte) mit der Realität der US-amerika-nischen Machtpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit den partikularen Interessen der herrschenden ökonomischen und politischen Eliten in den USA (aber auch in den anderen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften) an der Beherrschung und Ausbeutung der Welt »im natio-nalen Interesse« zu konfrontieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die schlimmsten »Terroristen« der Gegenwart (von den Taliban bis zu Osa-ma Bin Laden) vor nicht allzu langer Zeit engste Verbündete der USA im Kampf gegen den Kommunismus bzw. gegen die Sowjetunion gewesen sind. Diese Kritik bleibt jedoch auf der Ebene der Ideologiekritik bzw. der Identi-fikation einer bestimmten Form der Politik mit dem »Imperialismus« stehen. Sie verzichtet auf die Analyse des Zusammenhangs zwischen dem »internen Regime« und der zunehmenden Gewaltförmigkeit globaler Machtpolitik.

Michael Hardt und Antonio Negri haben in ihrem - außerordentlich er-folgreichen - Buch mit dem Titel »Empire« (2002: 35) dieses als Zentrum eines globalen Herrschaftssystem beschrieben, »das die Globalisierung von Netzwerken der Produktion trägt und ein Netz der Inklusion einsetzt, um möglichst alle Machtbeziehungen innerhalb der neuen Weltordnung einzu-fassen. Zur gleichen Zeit setzt es Polizeimacht gegen die neuen Barbaren und die rebellischen Sklaven ein, die diese Ordnung bedrohen.« Mit dem alten staatszentrierten Imperialismus habe diese neue Ordnung (der Wis-sensproduktion und der »Biomacht«) nur noch wenig gemein; obwohl die Grundstruktur des Systems durch die kapitalistische Logik bestimmt wird. Das heißt: Für dieses Konzept einer weitgehend entstaatlichten globalen Machtstruktur sind die transatlantischen Beziehungen - wie insgesamt die Entwicklung der Europäischen Union - sowie die Konkurrenzverhältnisse zwischen den Blöcken der Triade weitgehend irrelevant.10

10 Hardt/Negri2002: 383) schreiben: »Von unserem Standpunkt aus jedoch ist die Tatsache, dass sich gegen die alten Mächte Europas ein neues Empire herausgebildet hat, nur zu begrüßen. Denn wer will noch irgendetwas von der angekränkelten herr-schenden Klasse Europas wissen, die vom Ancien Regime direkt zum Nationalismus überging, vom Populismus zum Faschismus und die heute auf einen generalisierten Neo-Liberalismus drängt? Wer will noch etwas wissen von diesen Ideologien und bü-rokratischen Apparaten, von denen die verrottende europäische Elite so gut lebte? Und

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Der imperialismustheoretische Ansatz von Panitch und Gindin (2000; 2003a/b) kritisiert sowohl den »Ökonomismus« der klassischen Imperialis-musdebatte als auch die staatstheoretischen Defizite in »Empire« von Hardt und Negri. Der amerikanische Imperialismus zeichnet sich dadurch aus, dass der amerikanische Staat die Funktion der Sicherung der globalen kapi-talistischen Ordnung - ihrer Spielregeln und ihrer materiellen und ideolo-gischen Funktionsbedingungen - übernommen hat. Dieses Imperium wird durch die Kapitalverflechtungen auf dem Weltmarkt (für Waren und Geld-titel) sowie durch die damit einhergehende Internationalisierung der Klas-senverhältnisse (vor allem der Bourgeoisie) materiell fundiert. Die Vorherr-schaft des US-Militärs in der Welt,11 das »Dollar-Wall-Street-Regime« sowie die Dominanz der US-Regierung in den internationalen Organisationen (vor allem IWF/WB, WTO) sind die Stützpfeiler des American Empire, die durch die weltweite Bedeutung der Kommunikations- und Kulturindustrien (Microsoft, CNN, Warner, Hollywood etc.), aber auch z.B. durch die füh-rende Rolle der US-Universitäten bei der Ausbildung der »Eliten« aus der ganzen Welt im Bereich der Politik, der Ideologie, der Kultur, der Sprache etc. flankiert werden.

Panitch und Gindin sehen wohl die Bedeutung der europäischen Integra-tion und nehmen auch die Spannungen zwischen Europa und den USA im Zusammenhang des Irakkrieges zur Kenntnis. Gleichwohl betrachten sie den Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion, die Planungen für einen einheitlichen, europäischen Finanzmarkt, selbst die Osterweiterung und die Fortschritte auf dem Felde der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-tik seit den frühen 1990er Jahren als durchaus funktionale Entwicklungs-prozesse innerhalb des Systems des amerikanischen Imperialismus. Dabei kommt es zu Konflikten und Spannungen, die es freilich auch schon zur Zeit des Kalten Krieges in den transatlantischen Beziehungen immer wieder gegeben hatte. Die neoliberale Ausrichtung der EU-Politik seit der Einheit-lichen Europäischen Akte (Binnenmarktprogramm) und Maastricht (1991),

wer erträgt noch diese Systeme der Arbeitsorganisation und diese Unternehmen, die längst jede Lebendigkeit verloren haben?« Die europäische Integration und die Ant-worten der »Europäer« auf die Anforderungen einer »neuen Weltordnung« nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes werden nicht einmal erwähnt. Die Autoren haben eine Vorstellung von Europa, die dem Zeitalters des klassischen Imperialismus (vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) korrespondiert.

11 Nach Chalmers Johnson (2004) gibt es im Jahre 2003 offiziell 725 US-amerika-nische Militärstützpunkte in anderen Ländern; er bezeichnet diese Basen als das »Ske-lett des Empire«. Er schätzt die tatsächliche Zahl der Basen als deutlich höher ein!

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die stets von der Strategie geleitet war, dass die europäische Wirtschaft sich den Herausforderungen der »Globalisierung« zu stellen habe, ist für Panitch und Gindin gerade der Mechanismus, durch den die EU in das amerika-nische Imperium integriert und ihm untergeordnet wird. Die ökonomische Penetration - z.B. durch die Direktinvestitionen transnationaler Konzerne in den USA und der EU - ist eine der Voraussetzungen dafür, dass Span-nungen nicht zum Bruch führen. Je mehr allerdings der US-amerikanische Staat (unter der Führung der neokonservativen »Hardl iner«) »im Interesse des amerikanischen Kapitals und nicht im Interesse des globalen Kapitals« agiert, um so mehr bestimmen solche Konflikte auch die Innenpolitik der Staaten innerhalb des US-Empire (Spannungen zwischen nationalen, euro-päischen und neo-imperialen Interessen) und eröffnen den oppositionellen Kräften »gewisse Möglichkeiten« (Panitch/Gindin 2003a: 139/40).

6. Die Renaissance der Imperialismus-Analysen reflektiert fast ausschließlich die Machtposition und die expansive und aggressive Politik der USA im Prozess des Kampfes um eine »neue Weltordnung« nach dem Ende des Kal-ten Krieges. Die kritischen Analysen, die die Widersprüche und den Herr-schaftscharakter kapitalistischer Ordnungen in den Mittelpunkt stellen, be-zeichnen die Zunahme der direkten und indirekten Gewaltanwendung zur Sicherung dieses Herrschaftssystems als das eigentliche Merkmal imperialis-tischer Politik in der Gegenwart. Diese Widersprüche betreffen nicht nur die ökonomischen Instabilitäten und die sozialen Spaltungen im Weltmaßstab, sondern zugleich die Arroganz der Mächtigen, die globalen Armutsprozesse, Massenmigration, die zahllosen lokalen Kriege etc. (vgl. ausführlich Deppe u.a. 2004: 131ff.; Foster u.a. 2003).

In den politischen Alltagsdiskursen finden sich immer wieder Stimmen, die jede Form der expansiven und aggressiven Außenpolitik kapitalistischer Staaten als »imperialistisch« bezeichnen. Oftmals wird auch im Anschluss an Lenins Imperialismusanalysen die Zunahme zwischenimperialistischer Konflikte und deren Zuspitzung als Merkmal der gegenwärtigen Epoche konstatiert. Dies verbindet sich dann mit dem Appell, den »Imperialismus im eigenen Lande« bzw. den »Imperialismus der EU« zum »Hauptfeind« zu erklären.12 An der Peripherie (z.B. in Lateinamerika) wird auch immer

12 Bezugspunkte für solche Kritik bietet z.B. die Außenpolitik der ehemaligen euro-päischen Kolonialmetropolen - namentlich Frankreich und Großbritannien. Die fran-

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wieder an die »Ausbeutung der Dritten Welt« als zentralem Merkmal des Imperialismus erinnert. Solche Bezüge ignorieren freilich nicht nur die De-fizite der »alten Imperialismustheorien«, sondern immunisieren sich auch gegen einen adäquaten Begriff des gegenwärtigen Kapitalismus im 21. Jahr-hundert. Oftmals wird in diesem Zusammenhang der »Antiamerikanismus« als Vorwurf gegen diejenigen gewendet, die den Imperialismusbegriff für das American Empire reserviert haben.

Angesichts der Defizite der »klassischen Imperialismusanalysen« sowie der vielfältigen - sozialwissenschaftlich aber keineswegs eindeutigen - Be-deutungen des Imperialismusbegriffs in der Gegenwart kann dieser wohl kaum als zeitdiagnostische Schlüsselkategorie anerkannt werden. Eher han-delt es sich um eine Fragestellung bzw. um eine Forschungshypothese, um • die in den aktuellen Analysen der internationalen Politik verwendeten

Imperialismusbegriffe (und ihre unterschiedlichen Bedeutungen und Reichweiten) kritisch zu überprüfen;

• die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen in bezug auf die Kräf-teverhältnisse zwischen den USA und der EU sowie die Konfliktfelder politisch-strategischer Interessen im Hinblick auf die Gestaltung der Weltordnung unter der Fragestellung zu analysieren, ob sich die EU eher in Richtung eines »Gegenimperialismus« oder eines »Subimperialismus« innerhalb des American Empire entwickelt;

zösische Armee (bzw. die Fremdenlegion) interveniert immer wieder in afrikanischen Staaten (ehemalige Kolonien Frankreich), um die Interessen französischer Unterneh-men und Bürger sowie derjenigen Teile der einheimischen Eliten, die mit den alten Ko-lonialherren kooperieren, zu schützen. Auch die Bundesrepublik Deutschland verfolgt in ihrer Außen- und Europapolitik nationale Interessen, die auf die Stärkung der eige-nen Position in der UNO (ständiger Sitz im Sicherheitsrat), in der EU und auf die Er-weiterung von ökonomischen und politischen Einflusssphären in Osteuropa oder auf dem Balkan gerichtet sind. Die Umwälzungen z.B. in der Ukraine, in Georgien oder in der Region des Südkaukasus (vgl. Soghomonyan 2004) sind nicht nur durch innere soziale und politische Kräfte, sondern auch durch die Interventionen von außen (der USA, der EU bzw. von einzelnen EU-Staaten) angetrieben, in denen je spezifische öko-nomische und politische Interessen (Eroberung von Märkten, Kontrolle von Räumen, politische Einbindung von Eliten) eine zentrale Rolle spielen. Auch der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens wurde auf diese Weise von außen - insbesondere durch die Politik der Bundesregierung - beeinflusst (Bohle 2004: 304ff.). Solche Formen der Außenpoli-tik werden oftmals als imperialistisch bezeichnet. Sie betreffen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtprozess des Kampfes um Weltmacht und Weltordnung.

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• zu erkunden, wie solche Optionen und Strategien mit den unterschied-lichen Interessen von Fraktionen der wirtschaftlichen und politischen Eliten in den USA bzw. in den Mitgliedstaaten der EU korrespondieren;

• schließlich auch normative Diskurse über die Möglichkeiten eines durch die EU - in ihrer Innen-, Sozial- und Außenpolitik - repräsentierten al-ternativen Gesellschafts- und Politikmodells gegenüber der heute fortge-schrittensten Gestaltung kapitalistischer Entwicklung diesseits und jen-seits des Atlantiks zu führen.

Dabei werden solche Hypothesen a priori von jener Widerspruchskonstella-tion auszugehen haben, die die europäische Integration seit ihren Anfängen charakterisiert. Der ökonomische und politische Integrationsprozess be-wegt sich stets in der Spannung von partikularen/nationalen und suprana-tionalen/gemeinschaftlichen Interessen. Das gilt zumal für das Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes - zusammen mit der Erweiterung der EU - syste-matisch ausgebaut wird. Gleichwohl achten die Regierungen der Mitglied-staaten gerade auf diesem Felde - vor allem der Sicherheitspolitik - darauf, dass die nationale Souveränität im Kern erhalten bleibt.13 Obwohl die Ent-wicklung der GASP eindeutig auf die Stärkung der EU als »Global Play-er« bzw. als »regionales Machtzentrum« in der Weltpolitik14 gerichtet ist, ist sie doch noch weit von ihren eigenen Zielsetzungen und einer strategischen Kohärenz zwischen den größten Mitgliedstaaten in der EU entfernt. Dazu kommt, dass die Frage der Beziehungen zu den USA zwischen den Regie-

13 Wessels (2004: 166/7) hebt hervor, dass in den Beratungen über die neue EU-Verfassung besonders intensiv über jene Materien (und die Abstimmungsverfahren in diesen Materien) verhandelt wurde, »die als zentral für die nationale Souveränität einzelner Staaten deklariert wurden: Die Außen- und Verteidigungspolitik (Art. 1-40 Abs. 7) sowie die Sozial- und Steuerpolitik (Art. III-210 Abs. 3), aber auch die Grund-entscheidungen zum mehrjährigen Finanzrahmen (Art. 1-55) bleiben zunächst der Ein-stimmigkeit unterworfen.«

14 Vor allem die Debatten über den Beitritt der Türkei (der allerdings innerhalb der Union höchst umstritten ist) zeigen, dass die deutsch-französische Allianz offensicht-lich bestrebt ist, die EU - mit ihren Grenzen im Mittelmeerraum, im Nahen Osten, in der Kaukasus-Region, vor allem auch in Osteuropa (zwischen der neuen Ostgrenze der EU und der Westgrenze Russlands) als handlungsfähigen Akteur zu profilieren, der auch seine eigenen strategischen Interessen gegenüber den USA zu vertreten vermag. Allerdings ist es auch hier offen, ob daraus zwangsläufig eine Konstellation der Kon-frontation bzw. der offenen »zwischenimperialistischen Konkurrenz« entsteht - eben-so möglich scheint die geopolitische Erweiterung der Macht der EU als Bedingung für eine engere Kooperation mit den USA - vor allem im Nahen Osten.

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rungen der EU höchst umstritten ist. Wenn sich die britische Regierung im Jahr 2003 - unterstützt von den Regierungen Italiens, Spanien, Polens und anderen Neumitgliedern in Mittel- und Osteuropa - sofort der »Allianz der Willigen« im Irakkrieg angeschlossen hat und - seit dem Beitritt Großbri-tanniens zur EG (in den frühen 1970er Jahren) - stets die »special relation-ship« zu den USA als Kernbestand ihrer Europapolitik betont hat, so wurde auch darin deutlich, dass das Adjektiv »imperialistisch« - bezogen auf eine eigenständige Rolle der EU als kollektiver Akteur und als »Global Player« - die Wirklichkeit der europäischen Politik zum gegenwärtigen Zeitpunkt (wohl auch auf absehbare Zeit) nicht richtig zu beschreiben vermag.15

Wenn die Hypothese vom »Euroimperialismus« überprüft wird, so sind zwei Dimensionen zu beachten. Auf der einen Seite wird die EU im Zuge der Erweiterung mit der Herausforderung konfrontiert, an ihren Außen-grenzen in Osteuropa, im Mittleren Osten sowie im Mittelmeerraum (vor allem in der Maghreb-Region) ihre Sicherheitsinteressen geltend zu machen und zugleich - durchaus in Konkurrenz zu anderen Großmächten (z.B. den USA und Russland im Südkaukasus und um das Kaspische Meer) - eigene Strategien der Einflussnahme auf die Eliten und die Regierungen der Staaten dieser Regionen zu verfolgen. Sie kann dabei - wie das Beispiel des Atom-konfliktes mit dem Iran andeutet - durchaus als kollektiver Akteur eigene Konzepte einer friedlichen Konfliktregulierung durch Verhandlungen statt durch militärische Drohung und Krieg verfolgen - ob mit Erfolg, steht da-hin. Es ist in diesem Fall aber auch denkbar, dass die EU als »subimperi-alistischer«, kollektiver Akteur auch die Interessen der USA wahrnimmt, die durch den Irak-Krieg eindeutig geschwächt sind und die sich angesichts des wachsenden Widerstandes in den USA selbst gegen die Politik des Prä-sidenten ein weiteres militärisches Abenteuer überhaupt nicht leisten kön-nen. Die Schwierigkeiten in der EU, die nationale Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik zu vergemeinschaften, deuten jedoch eindeutig darauf hin, dass die EU noch weit davon entfernt ist, als »Global Player« eine starke Rolle zu spielen. Schon auf dem Balkan zeigen sich die Grenzen einer einheitlichen Politik. Die engen Bindungen der neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Ost-

15 Cafruny (2003: 95) fasst seine Analyse der Kräfteverhältnisse zwischen den USA und der EU - auch im Bereich der Neugestaltung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges - wie folgt zusammen: »The geopolitical dimension ... can generally he cha-racterized by American supremacy, West European fragmentation and rivalry, and a >hub and spoke< integration with the dominant superpower«. Diese Schlussfolgerung stimmt mit den Position von Panitch und Gindin überein.

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europa an die USA und die NATO konfrontieren daher eine supranationale Integration der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit neuen Hin-dernissen.

Die zweite Dimension betrifft die inneren Verhältnisse in der EU selbst. Die Erweiterung auf 25 bis 27 Mitglieder schafft einen Wirtschafts- und So-zialraum, der durch extreme Asymetrien gekennzeichnet ist, während gleich-zeitig mit der erfolgreichen Implementierung des Gemeinsamen Marktes und der Wirtschafts- und Währungsunion ein Großraum, ein »Empire« ge-schaffen wurde, »das auf der Souveränität des Kapitals basiert« (Holmann 2005: 25). Diese Asymetrien beziehen sich nicht allein auf die enormen Ent-wicklungsunterschiede der Ökonomie, der Produktivität, der Strukturen des Arbeitsmarktes, der Entwicklung des Sozialstaates usw., sondern »asy-metrische Regulierung« betrifft vor allem »die nachteiligen Auswirkungen der Wirtschafts- und Währungsintegration auf europäischer Ebene auf die soziale Regulation auf der nationalen Ebene« (ebd.: 34). Die Aussichten auf eine künftige soziale Harmonisierung bzw. Überwindung der Kluft zwi-schen Arm und Reich in der EU werden damit noch unwahrscheinlicher. In diesem Zusammenhang kann das Empire-Building in der EU und insbeson-dere die Erweiterungsstrategie auch in Zusammenhang mit dem »Euroimpe-rialismus« interpretiert werden. Das Kapital aus den entwickelten Zentren der Alt-EU erschließt sich die neuen Räume als Absatzmärkte, als Anlage-sphäre bzw. als Reservoir für billige Arbeitskräfte, die als eine gewaltige »Reservearmee« im Osten das Lohnniveau der Lohnabhängigen im Westen drücken können und damit für das Kapital einen Machtfaktor im Kampf zur Ausschaltung gewerkschaftlicher Gegenmacht bilden. Damit würde das auswärtige Kapital eine zentrale Rolle im Prozess der transnationalen Klas-senformierung in Mittel- und Osteuropa spielen: »Die neue Machtelite, die (hier) seit 1989 entstanden ist, ist dann nicht mehr so sehr um eine besitzende Compradorenbourgeoisie gruppiert - wie es die Dependenztheorien in den 1960er und 1970er Jahren sehen würden -, sondern um eine Manager- oder Aktionärselite, deren Interessen denen des auswärtigen Kapitals vollständig unterordnet sind und die als Durchgangs- und direkte Vermittlungsinstanz bei der Einführung und Reproduktion des auswärtigen Kapitals in diesen Ländern fungiert« (ebd.: 40). Der Prozess des »Empire-Building« verläuft extrem asymetrisch und geht mit der Konstitution neuer Zentrum-Periphe-rie-Herrschaftsverhältnisse einher (Bohle 2004). Diese entsprechen keines-wegs jenem propagandistischen Leitbild, das nicht nur die Politik friedlicher Konfliktbearbeitung und den Multilateralismus (d.h. Stärkung der inter-

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nationalen Organisationen), sondern auch das »europäische Sozialmodell« dem Modell der US-amerikanischen Weltherrschaft gegenüberstellt. Auch in diesem Zusammenhang taugt der klassische Imperialismusbegriff als zeit-diagnostische Schlüsselkategorie nur wenig.

7. Zur Realität europäischer Politik gehört es freilich, dass Projekte und Stra-tegien diskutiert und entwickelt werden, die auf eine »imperiale« bzw. »im-perialistische« Aufwertung der EU als »Global Player« - insbesondere als Gegengewicht zum American Empire - gerichtet sind. Innerhalb des konser-vativen Lagers überwiegen Positionen, die die Suprematie der USA anerken-nen. Die Ministerpräsidenten Berlusconi und Aznar (bis zu ihrer Abwahl) fügten sich demonstrativ in diese Rolle der besten Freunde von George W. Bush, während Premierminister Tony Blair für seine New-Labour-Regie-rung nur die Politik der bedingungslosen Subordination gegenüber den USA in seiner Amtszeit fortsetzte, die seine Vorgängerin Margaret Thatcher (in der Kooperation mit Ronald Reagan) eingeleitet hatte. Die Tradition des »Gaullismus«, der in den 1960er Jahren das »Europa der Vaterländer« zu einer eigenständigen weltpolitischen Kraft zwischen den Fronten des Kalten Krieges ausbauen wollte, ist schwächer geworden, obwohl Elemente dieser außenpolitischen Konzeption in der Europapolitik der französischen Prä-sidentschaft unter Jacques Chirac und in der neu belebten deutsch-franzö-sischen Allianz fortwirkten.

Strategische Projekte für eine »imperiale« Profilierung der EU kamen vor allem aus den Reihen der konzeptiven Ideologen der in Deutschland zwi-schen 1998 bis 2005 regierenden Sozialdemokratie und ihres grünen Koaliti-onspartners, der den Außenminister der Bundesregierung stellte. Die strate-gischen Überlegungen richteten sich dabei im Kern auf die weitere Stärkung des Einflusses der EU in der internationalen Politik. Durch die Stärkung ihrer ökonomischen Macht, den Aufbau einer militärischen Komponente der EU (ESVP, Eingreiftruppe, Koordination der Rüstungsindustrien; vgl. Heidbrink 2004) sowie durch eine Attraktivität des »europäischen Sozial-modells«, durch überzeugende Beispiele des Multilateralismus und durch eine Politik der Krisenvermeidung - anstelle direkter militärischer Inter-vention oder gar »präventiver Schläge«, die die US-Regierung für sich als Recht in Anspruch nimmt - sollen die Anziehungskraft dieses europäischen Modells auf der Arena der Weltpolitik erweitert werden. »The West Euro-pean states have continued to seek to build up their international political

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influence as a caucus. They have done so by developing a stronger civilian political diplomacy and one with a real edge against the United States. It fo-cuses on rule-based treaty regimes on a global scale instead of power politics, it stresses the peaceful resolutions of conflicts, it stresses rule-based human rights regimes etc. They also demand a more collegial form of global govern-ment in which the US cannot decide all the big issues unilaterally. There have even been signals of a European interest in linking up with East Asian states against Washington on certain important issues, something that would be a matter of great concern in Washington. Thus there is a real though still very fragile and not very streng EU-centered West European game of balancing against US hegemonic power politics. It could be described as a subversive bandwagoning« (Gowan 2002: 305).

Am 31. Mai 2003 veröffentlichten führende europäische Zeitungen einen von Jürgen Habermas verfassten Aufruf, in dem der Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak kritisiert wurde und gleichzeitig die Anti-kriegesdemonstrationen vom Februar desselben Jahres als Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit gefeiert wurden. Die Bürger Europas soll-ten sich ihrer Identität und ihres gemeinsamen Schicksals bewusst werden. Europa muss sein volles Gewicht auf der Ebene der internationalen Politik und innerhalb der U N O einbringen, um ein Gegenwicht zu dem hegemoni-alen Unilateralismus der USA zu bilden. Konzepte einer künftigen Weltord-nung sollten ohne europäische Beteiligung nicht akzeptiert werden. Die EU muss ihre militärischen Interventionskapazitäten ausbauen, den politischen Integrationsprozess durch das Verfahren der »verstärkten Zusammenarbeit« vorantreiben und gleichzeitig die besonderen Merkmale des europäischen Gesellschaftsmodells sowie seiner politischen Kultur als Alternative zu einem - vom amerikanischen Militär dominierten - globalen »Turbokapita-lismus« hervorheben. Diese Elemente einer »postnationalen, europäischen Identität« sollten die EU in die Lage versetzen, »die USA mit einer alter-nativen (universalistischen) Vision und Konzeption einer Weltordnung zu konfrontieren« (Habermas 2003a/b).

Die Resonanz auf das Manifest der Intellektuellen war bescheiden (Deppe 2004). Habermas hatte einerseits die politische Linie (vor allem des deutschen Außenministeriums) zum Ausbau der politischen und militärischen Kapazi-täten der EU durch die »verstärkte Zusammenarbeit« zwischen Deutschland und Frankreich unterstützt; auf der anderen Seite war die Idealisierung von Elementen eines »europäischen Gesellschaftsmodells« wenig glaubwürdig. Schließlich sah sich Habermas schnell - vor allem in Mittel- und Osteuropa

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- mit dem Vorwurf des »Antiamerikanismus« konfrontiert. Gleichzeitig war die deutsche Außenpolitik bis zum Ende des Jahres 2004 (vor allem nach der Wiederwahl von George W. Bush) bemüht, die Beziehungen zu Washington zu verbessern. Die Ideologie des »Euroimperialismus« - eher auf der Linie eines neuen machiavellistischen »Realismus« - wird hingegen von Herfried Münkler, einem der führenden Köpfe in den »Vorhöfen der (sozialdemo-kratischen) Macht«, ausgebaut und zugespitzt. Die Vision eines alterna-tiven Modells der europäischen Gesellschaft und Kultur wird jetzt aufge-geben zugunsten einer nüchternen Forderung nach dem Ausbau imperialer Handlungsfähigkeit der EU. »Wenn Europa jetzt nicht auf die Schiene der Selbstverschweizerung gerät, also darauf vertraut, von Freunden umzingelt zu sein, und sich möglichst klein macht, um als bloße Kapitalsammelstelle in der Welt zu fungieren -, könnte ihm eine komplementäre, vielleicht sogar eine konkurrierende Rolle gegenüber den amerikanischen Ordnungsvorstel-lungen zuwachsen. Das hätte mit Sicherheit ziemliche Integrationseffekte ... Europa müsste dann eine Großmachtrolle mit mindestens hegemonialer Ausstrahlung übernehmen« (Münkler 2004a: 544). Diese Großmachtrolle verlangt eine entsprechende militärische Fundierung: »Die eigentliche Frage heißt doch: In welcher Weise sind die Europäer handlungsfähig? Das ist die klassische Frage nach der militärischen Interventionsfähigkeit, die bedeu-tet, dass ein politischer Wille der Europäer mit militärischen Mitteln, mag er nun legitim oder illegitim sein, gegebenenfalls geltend gemacht werden kann« (ebd.: 547).

Inzwischen hat Münkler auch seine Terminologie an den Imperialismus-Diskurs angepasst. Dass die EU als »imperialer Akteur« aufzutreten habe, als »Ordnungsmacht«, dass es in ihrem »eigenen Interesse« liege, »an einer für sie vitalen Peripherie eine politisch entscheidende Rolle zu spielen«, wird nunmehr - auch im Hinblick auf die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei - geopolitisch begründet: »Einerseits ist die Südostflanke der EU nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens die schwächste Stelle Europas, die zugleich einen der klassischen Krisenherde des Kontinents während der gesamten Neuzeit darstellt ... darüber hinaus hat Europa ein vitales Interesse an der Stabilisierung der Krisenregionen des Nahen und Mittleren Ostens auf der einen und des Kaukasusraumes wie des Kaspischen Beckens auf der anderen Seite. Diese Stabilität ist nicht ohne die Türkei zu sichern« (Münk-ler 2004b: 1464). Die gesamte Entwicklung der EU seit den frühen 1990er Jahren - also seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes - wurde »durch Elemente von Imperialität überlagert«. Mit anderen Worten: die EU tritt

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- obwohl die herrschende politische Kultur eher »antiimperial« ausgerichtet ist - längst als »imperialer Akteur« auf: »Die Insistenz auf Einhaltung der Menschenrechte, die Forderung nach schrittweiser Demokratisierung an-grenzender Länder und schließlich die wirtschaftliche Durchdringung dieser Räume sind klassische Formen, in denen sich Imperien zu ihrer Umgebung verhalten« (ebd.)

Münkler nutzt die Position des Wissenschaftlers, um den Politikern in Eu-ropa das schlechte Gewissen zu nehmen, wenn sie des »Imperialismus« be-schuldigt werden sollten. Immerhin gab es auch den »guten Imperialismus« - auch darin knüpft Münkler an Denktraditionen in der deutschen Sozialde-mokratie vor 1914 an, die dem Imperialismus in den Kolonialgebieten eine »zivilisatorische Mission« gegenüber den Eingeborenen zuschreiben wollte. Einer der Vertreter dieser Position war Gustav Noske, der in der Novem-berrevolution als Reichswehrminister (»Bluthund«) traurige Berühmtheit erlangen sollte. Münkler plädiert für eine Revision des kritischen Imperia-lismusbildes: »Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso gut lassen sie sich aber auch als Friedensgaranten, Verbreiter politischer und kultureller Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen« (ebd.: 1463).

Münklers Propagierung des »Euroimperialismus« ist - wie wir festge-stellt haben - von der Realität europäischer Politik ziemlich weit entfernt, obwohl er reale Entwicklungstendenzen der europäischen Integration seit 1991 und auch die Interessenlage z.B. der deutschen und der französischen Regierungen beim Widerstand gegen die Irak-Politik der USA durchaus zutreffend anspricht. Wenn es eine Funktion der Intellektuellen ist, der herrschenden Klasse bzw. dem »Block an der Macht« das Bewusstsein ih-rer/seiner geschichtlichen Rolle zu vermitteln, dann werden seine Texte bei den Strategieplanern der außenpolitischen Staatsapparate aufmerksame Le-ser finden. Allerdings bilden solche strategischen Diskurse stets auch Felder des intellektuellen und politischen Kampfes um Hegemonie. Wenn deutsche Strategen eine - militärisch gestützte - »Großmachtpolit ik« der EU einfor-dern, dann wächst mit Recht bei den Nachbarn das Misstrauen, dahinter ver-berge sich wieder einmal der Anspruch auf eine Führungsposition Deutsch-lands »in der Mitte Europas«.

Die »Verfassungskrise«, in die die EU unvermeidlich nach den Refe-renden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 geraten ist, hat allerdings solche ideellen Höhenflüge und Ambitionen beschädigt. Hatte

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der frühere Erweiterungskommissar Günther Verheugen noch Anfang 2005 die Losung ausgegeben: »Die EU muss Weltmacht werden!«, so haben die meisten EU-Politiker inzwischen gelernt, dass ohne eine effektive politische Führung gerade diejenigen Ziele, die mit der Hervorhebung der Rolle der EU als »Global Player« verbunden sind, nicht zu erreichen sind. Die bislang wenig erfolgreichen Bemühungen, den Verfassungsprozess weiterzuführen bzw. neu zu konfigurieren, lassen freilich erkennen, dass die politische In-tegrationskrise, die durch das Scheitern des Verfassungsentwurfes ausgelöst wurde, keineswegs überwunden ist.

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Ingo Malcher Nach dem Neoliberalismus? Linkswende in Lateinamerika und ihre Perspektiven

Um die Jahrtausendwende sind in vielen Ländern Lateinamerikas Linksre-gierungen an die »Macht« gekommen, und es ist eine Krise der neoliberalen Hegemonie zu konstatieren. Die hier vertretene These lautet, dass nach der Argentinienkrise zur Jahreswende 2001/2002 die neoliberale Hegemonie auf dem Kontinent ideologisch in die Krise geraten ist. Jedoch ist gleichzeitig festzustellen, dass es Elemente dieser Hegemonie gibt, die weiterhin fort-wirken.

Dies bedeutet, dass die neoliberale Institutionalisierung, die Implemen-tierung von Mechanismen und Spielregeln, welche das neoliberale System festigen, während der 1990er Jahre durchaus erfolgreich war. Gerade dies macht es für antihegemoniale Bewegungen und Regierungen besonders schwierig, alternative Wege zu finden, da ein Aufbrechen der neoliberalen Zwangsstrukturen dafür von Nöten wäre. Es ist daher zu untersuchen, welche Mechanismen die politischen Spielräu-me der Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika einschränken und wie diese wirken. Es soll im folgenden zunächst die Krise der Hegemonie be-schrieben werden, dann der Versuch unternommen werden, die Politik der neuen Linksregierungen zu definieren, und schließlich sollen ihre externen Limitationen untersucht werden.

1. Krise und Neuanfang in Lateinamerika

Von den 1930er Jahren bis zu den 1980er Jahren lassen sich in fast allen Ländern Lateinamerikas Konturen eines - je nach Land - mehr oder we-niger stark ausgeprägten Modells der Importsubstitution ausmachen, das sich durch einen starken regulierenden Staat und hohe Zollsätze nach au-ßen charakterisierte. Spätestens mit Beginn der 1990er Jahre setzte sich in fast allen Ländern ein Modell durch, das auf Deregulierung, Privatisierung, Währungsstabilität und Marktöffnung setzte. Die 1990er Jahre sind daher als

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Dekade der neoliberalen Hegemonie in Lateinamerika zu bezeichnen.1 Bei-spielhaft für die während der neoliberalen Konterrevolution durchgesetzten Reformen sind die Länder Argentinien, Brasilien, Mexiko, Peru und Chile.

Zur Jahrtausendwende geriet das neoliberale Modell in die Krise, mit der Argentinienkrise als Auslöser. Der Zusammenbruch im Jahr 2001 und der Zahlungsausfall Argentiniens kurz vor der Jahreswende markieren die Krise der neoliberalen Hegemonie in Lateinamerika. In keinem Land des Kontinents war während der 1990er Jahre das neoliberale Modell mit sol-cher Konsequenz durchgesetzt worden wie in Argentinien. Die Folge war eine wirtschaftliche Depression und eine Staatsverschuldung, die nicht mehr zu bedienen war. Der argentinische Zahlungsausfall war der dem Volu-men nach größte Zahlungsausfall in der Geschichte der Emerging Markets. Umso bemerkenswerter ist es, dass es ausgerechnet Argentinien in zähen Verhandlungen mit Gläubigern und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gelungen ist, einen Abschlag von 70 Prozent auf seine Schuldsumme zu erzwingen, eine Maßnahme, die für andere hochverschuldete lateiname-rikanische Länder Maßstäbe für Verhandlungen mit den Gläubigern setzen könnte. Somit lässt sich die Argentinien-Krise als polit-ökonomische Zäsur in ganz Lateinamerika deuten. Aber nicht nur Argentinien ist während der neoliberalen Dekade in die Krise geraten. Finanzkrisen in so gut wie allen Ländern Südamerikas (z.B. Brasilien, Ecuador, Uruguay) kennzeichnen die-se Dekade. In fast allen Ländern Lateinamerikas haben Finanzkrisen das orthodoxe Modell, das auf Marktöffnung, Freihandel, Deregulierung und Privatisierung setzt, stark diskreditiert. Nicht zufällig bildeten sich in Ar-gentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Uruguay und Venezuela gegenhege-moniale Regierungsprojekte heraus.

1 Robert Cox (1998: 83) definiert Hegemonie rückgreifend auf Antonio Gramsci auf internationaler Ebene als »eine Ordnung innerhalb der Weltwirtschaft mit einer do-minanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt und sich mit anderen unter-geordneten Produktionsweisen verbindet«. Sie ist auch »ein Komplex internationaler sozialer Beziehungen, der die sozialen Klassen der verschiedenen Länder miteinander verbindet«. In Lateinamerika lässt sich, unter dem Stichwort des »Washington (Konsen-sus« (vgl. Williamson 2002: 1), in den 1990er Jahren eine solche dominante Produkti-onsweise feststellen. Damit werden das Prinzip der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten und die Währungsstabilität zum obersten Primat, der Staat hat die Gesellschaften derart umzugestalten, dass sie in der Weltmarktkonkurrenz bestehen können. Dies geschah über niedrige Steuern, niedrige Außenzölle, Deregulierung, Flexibilisierung, Anti-In-flationspolitik.

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So kann der jüngste Linksrutsch in Lateinamerika als Antwort auf die neoliberale Dekade gesehen werden. Es wären sicherlich sehr viele Unter-schiede zwischen den einzelnen Regierungen herauszuarbeiten, aber fest-zuhalten bleibt, dass es Regierungen sind, die im Wahlkampf und in der Regierung mehr oder weniger erfolgreich versucht haben, neoliberale Po-litikmuster zurückzudrängen. Sie setzen auf einen starken, regulierenden Staat, sozialen Ausgleich und auf eine verstärkte regionale Integration statt auf Weltmarktöffnung. Das mag für europäische Maßstäbe noch nicht be-sonders revolutionär klingen. Man muss aber dem argentinischen Soziologen und Linksperonisten Horacio Gonzalez recht geben, der sagt, dass in den Ländern Lateinamerikas viele Dinge revolutionär sind, die in Europa selbst-verständlich sind, weil sie nie erreicht wurden, etwa Erhöhung der Renten, höhere Sozialausgaben, oder dass die Polizei ohne Waffen Demonstranten gegenübertritt. Interessant daran ist aber auch, dass der Spielraum im Mo-ment der Krise für die Länder größer geworden zu sein scheint. Dies liegt daran, dass ein Akkumulationsmodell politisch und ökonomisch gescheitert war, und dass sich dadurch die hegemonialen Verhältnisse innerhalb der Ge-sellschaften und auch auf dem Kontinent verschoben haben.

2. Neue Wirtschaftspolitik?

Linksregierungen haben, bei allen Differenzen, in Argentinien, Bolivien, Bra-silien, Ecuador, Uruguay und Venezuela2 die Regierungsgewalt inne. Doch nach Ansicht des französischen Ökonomen Robert Boyer (2005) kann im Falle Argentiniens kein neues Akkumulationssystem erkannt werden »Es ist kein Akkumulationsregime, es ist die Korrektur der effektiven Nachfrage. Niemand weiß, wie eine langfristige Lösung aussieht«, so Boyer.3 Auch für ganz Lateinamerika kommt Boyer zu demselben Schluss: »Der Washington Consensus ist zusammengebrochen, aber es gibt keine langfristige Vision.« (ebd.)

Politisch und wirtschaftlich versuchen die neuen Linken vorsichtig, die neoliberalen Reformen der 1990er Jahre zu entschärfen. Verstaatlichungen von einst privatisierten Firmen, Aufgabe der überbewerteten Währungen,

2 Wobei Venezuela in dieser Reihe wegen seines Ölreichtums als Sonderfall bezeich-net werden muss. Genauer zu Venezuela: Müller 2007.

3 Alle Zitate wurden, soweit nicht anders vermerkt, durch den Autor übersetzt.

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Industrieförderung sind die neuen Merkmale einer Krisenwirtschaft. Dies scheint der einzige Weg zu sein. Nach dem marktradikalen Kahlschlag der vergangenen Dekade ist es die Aufgabe der Regierungslinken, zunächst den Staat als Regulationsinstanz zu rehabilitieren. Die Aufgabe der Linken, so schrieb der argentinische Politologe Atilio Borón gegen Ende der neoli-beralen Dekade der 1990er Jahre, sei es, den Staat zu rehabilitieren (Borón 1999: 220). Man mag an dieser Aussage viel zu kritisieren finden. Man muss aber auch sehen, dass die Verhältnisse im Lateinamerika der 1990er Jahre nicht mit denen in Europa vergleichbar sind. So ist die Aussage Boröns eher als Aussage über die tatsächliche Schwäche linker Bewegungen in dieser Zeit zu verstehen, die sich besser nicht zu viel vornimmt.

So zeichnen sich gegenwärtig erst Konturen einer neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik ab, die sich mittelfristig erst noch beweisen muss. Doch Re-ferenzen an das Modell der Importsubstituierung der 1970er Jahre sind er-kennbar. Auch in der Außenpolitik lässt sich mit dem Mercosur (Mercado Común del Sur) ein gemeinsames Projekt ausmachen. Diese Freihandelsge-meinschaft wurde zu Beginn der 1990er Jahre unter neoliberalen Vorzeichen von Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay gegründet und erlebte nach der Argentinien-Krise ihre Wiederbelebung. Es wird der Versuch un-ternommen, den Mercosur auf ganz Südamerika auszuweiten und ihn als Alternative zur von den USA betriebenen FTAA (Free Trade Area of the Americas) aufzubauen.

So ist die Ablehnung der FTAA auch der kleinste gemeinsame Nenner der Mercosur-Mitglieder. Getragen wird die Opposition dagegen vor allem von Argentinien und Brasilien. In beiden Ländern ist eine Abkehr von der bisherigen außenpolitischen Orientierung auszumachen. In Brasilien war während der 1990er Jahre das Modell der »pragmatischen Unterordnung« (Schirm 1994: 227) unter die Interessen der USA vorherrschend, in Argen-tinien hingegen der von dem Politologen Carlos Escudé (1995) entwickelte »periphere Realismus«, demzufolge ein Land wie Argentinien überhaupt keine eigene Außenpolitik betreiben könne und sich daher besser einem starken Staat wie den USA anschlösse.

Seit der Eskalation der Argentinienkrise 2001/2002 setzen Argentinien und Brasilien auf eine Vertiefung des Mercosur und der Süd-Süd-Zusam-menarbeit. Die Vertiefung des Mercosur geht einher mit einer neuen Außen-handelspolitik, die von Entwicklungszielen geleitet ist und dem Modell der 1990er Jahre - Privatisierung, Deregulierung und Weltmarktöffnung - mit Distanz gegenübersteht (vgl. Malcher 2005).

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Nicht zuletzt die Dynamiken sozialer Bewegungen in den einzelnen Mer-cosur-Ländern haben dazu geführt, dass die Konturen eines neuen, aus der Krise der neoliberalen Hegemonie entstehenden Akkumulationsregimes zu erkennen sind. Dieses setzt in der Regulierung andere Prioritäten. So ist die Außenöffnung nicht mehr prioritäres Ziel der Mercosur-Länder, sondern die eigene industrielle Entwicklung. Diese neue, noch nicht voll ausgereifte Akkumulationsstrategie könnte als national-regionales ISI-Modell (im-portsubstituierende Industrialisierung) mit gleichzeitigem Erreichen makro-ökonomischer Stabilität bezeichnet werden. Sein Erfolg hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut es den Mercosur-Ländern auf internationaler Ebene ge-lingt, die Spielregeln zu verändern. Das beinhaltet auch die Regulierung der Zwangselemente der neoliberalen Hegemonie, wie dies beispielsweise die liberalisierten Finanzmärkte darstellen. Doch noch ist das Akkumulations-regime erst in Konturen auszumachen, noch immer Undefiniert. Auch sind Zweifel angebracht. Gerade die beiden größten und wichtigsten Länder, Ar-gentinien und Brasilien, scheinen auf ein Agroexport-Modell zuzusteuern, das wenig Raum lässt für fortschrittliche Ideen und nur in einem Bündnis mit der Agrarbourgoisie möglich ist.

3. Krise des Konsens

Wenn von einer Krise der neoliberalen Hegemonie gesprochen wird, ist zu Beginn gleich einzuschränken: Hegemonie ist, Antonio Gramsci folgend, immer eine Mischung aus Konsens und Zwang. Hegemonie stellt die poli-tische, geistige, kulturelle, moralische Führung dar und beruht auf der Zu-stimmung, Anerkennung, auf dem Konsens der Beherrschten. Hegemonie nach Gramsci ist also eine Herrschaftsstruktur, bei der nur in Ausnahme-fällen Gewalt angewandt wird. Sein Hegemoniebegriff integriert die Alltags-ebene, die Ökonomie, die Politik, die Kultur und die Ideologie. Hegemonie ist demnach nicht nur die Vorherrschaft einer Klasse, die über die Produk-tionsmittel verfügt und den Staat als Instrument ihrer Herrschaft über die Gesellschaft benutzt. Hegemonie ist die gesellschaftliche Herrschaft und politische Führung einer Klasse, der es gelingt, einen Konsens zwischen Be-herrschten und Herrschern herzustellen. Eine herrschende Klasse ist dann hegemonial, wenn sie auch von Mitgliedern anderer Klassen Zustimmung erfährt und es ihr gelingt, einen Konsens innerhalb der Gesellschaft aufzu-bauen. Die herrschende Klasse verfügt auch über die Möglichkeit der Ge-

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waltanwendung und sie kann diese Gewalt auch anwenden, ohne dass dies ihrer Hegemonie einen Abbruch tut. Je mehr diese Zustimmung in Unter-stützung übergeht (und umso weniger Gewalt nötig ist), umso stärker ist die Hegemonie. Die Einheit der Interessen kann durch Zugeständnisse an die beherrschten Klassen hergestellt werden. (Vgl. Gramsci, GH Bd. 8: 1947ff.)

Auf Lateinamerika übertragen bedeutet dies: Es ist nicht die Hegemo-nie, die in der Krise ist, sondern vielmehr ist der Konsens der Hegemonie zusammengebrochen. Dies bedeutet, die Zwangselemente der neoliberalen Hegemonie, die während der 1990er Jahre institutionalisiert wurden, sind weiterhin in Kraft. Es sind dies die Mechanismen der Finanzmärkte, aber auch Handelsverhandlungen und Abkommen, wie etwa die WTO oder Me-chanismen der kapitalistischen Ökonomie, wie etwa das Leiten von Investi-tionen durch Risikoversicherungen. Auf die Mechanismen der Finanzmärk-te und ihre beschränkende Wirkung für nicht-marktkonforme Politiken soll im folgenden genauer eingegangen werden, da ihr Wirken die politischen Spielräume der Regierungen stark einschränkt. Der Finanzbereich ist ein Schlüsselsegment, in dem unterschiedliche politökonomische Bereiche zu-sammenkommen: Staaten, ihre Finanzierung und ihre Politik, Unternehmen und ihre Investitionsentscheidungen. Seine Wirkungsmacht wird in den So-zialwissenschaften bislang zu wenig beachtet, hat er doch starken Einfluss auf die Ausrichtung der Wirtschafts-, Finanz- oder Sozialpolitik vorranging von Schwellenländern. Allzu oft werden in den Sozialwissenschaften der IWF und die Weltbank als zentrale Akteure wahrgenommen, die Instrumen-te der privaten Regulierung hingegen kommen in den Analysen oftmals zu kurz. Auch infolge der Asienkrise oder der Argentinienkrise waren es vor allem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, die im Zentrum sozialwissenschaftlicher Kritik standen (vgl. etwa Wade/Veneroso 1998: 3-23).

4. Finanzmärkte und politischer Spielraum

Neben suprastaatlichen Institutionen wie der Weltbank und dem Internati-onalen Währungsfonds (IWF) sind während der 1990er Jahre im Zuge der Finanzmarktliberalisierung weitere Einrichtungen und Mechanismen immer wichtiger geworden, welche die internationalen Finanzströme regulieren. Es sind dies die Rating-Agenturen zur Bemessung des Kreditrisikos und der von der Investmentbank J.P. Morgan Chase ermittelte Emerging-Markets-

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Bond-Index (EMBI+), aber auch Rückversicherungen, bei denen Konzerne, Importeure oder Exporteure sich gegen politische Risiken oder Währungs-schwankungen oder Zahlungsausfall des Kunden versichern können. Allen diesen Einrichtungen ist gemein, dass sie private Regulierungsinstrumente der Weltwirtschaft darstellen und fernab jeglicher staatlicher oder supra-staatlicher Kontrolle liegen. Es ist daher von privater Regulierung der globa-len politischen Ökonomie zu sprechen.

Die hier vertretene These lautet, dass im Zuge liberalisierter Finanzmärkte seit dem Ende des Bretton Woods-Systems 1973 und im Zuge der Neuen Fi-nanzarchitektur, die nach den Krisen 1997-1999 (Asienkrise, Russlandkrise, Long-Term-Capital-Management-Crash) eingeführt wurde, neue Mecha-nismen privater Regulierung entstanden sind. Diese Mechanismen ersetzen staatliche und suprastaatliche Regulierung nicht. Sie treten auf in neu ge-schaffenen Sphären. Im Falle der Rating-Agenturen spricht Timothy Sinclair von »embeded knowledge networks (EKN)« (Sinclair 2001: 441). Diese de-finiert er (ebd.) als private Institutionen, die eine soziale Form der Autorität besitzen. Sie sind Mechanismen, welche den staatlichen und suprastaatlichen Einfluss zurückdrängen und das Funktionieren der Ökonomie und der Fi-nanzmärkte zum Ziel haben. Richtig schlussfolgert Sinclair: »EKNs help to privatize policymaking, narrowing the sphere of government intervention.« (Sinclair 2001: 441) Die Souveränität der Nationalstaaten hinsichtlich der Gestaltungsspielräume wird durch Einheiten der privaten Regulierung stark eingeschränkt.

Im folgenden sollen daher die Instrumente der privaten Regulierung als ernst zu nehmende politische Akteure betrachtet werden. Zwar sind sie ihrer Definition nach ökonomische Institutionen. Doch die Folgen ihrer Tätigkeit haben durchaus politische Implikationen für Staaten, Kommunen und die dort lebenden Menschen und für die Verteilungsmechanismen der Gesell-schaft. Wenn, wie oben beschrieben, Hegemonie immer eine Mischung aus Konsens und Zwang darstellt, so können diese Finanzmarktinstrumente als Zwangselemente der neoliberalen Hegemonie gewertet werden. Die priva-ten internationalen Regulationsinstanzen sind ein zentrales Element für die Festigung der neoliberalen Hegemonie und sie gewährleisten das Fortwir-ken der hegemonialen Mechanismen, da sie marktimmanent (also »neutral«) funktionieren und keiner Kontrolle unterliegen. Ihre Existenz und ihr Wir-ken wird demnach auch selten kritisiert oder gar ihre Existenzberechtigung oder ihre Funktionsweise infrage gestellt. Zentral für die Existenz der neoli-beralen Hegemonie sind diese Mechanismen deshalb, weil sie die Hegemo-

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nie selbst dann aufrechterhalten, wenn dieselbe in die Krise geraten ist. Die Instanzen der privaten Regulierung wirken über Zwangsstrukturen fort. Die Wirkungsweise dieser Instanzen der privaten Regulierung funktioniert über Marktmechanismen, die sich außerhalb des Zugriffs der Regierungen oder suprastaatlicher Organisationen befinden.

Während Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO), der IWF oder die Weltbank das neoliberale Modell durch Abmachungen und Verträge institutionalisieren, stellen die Finanzmarktmechanismen eine private Form der Institutionalisierung dar. Sie gehen damit einen Schritt weiter in der Fes-tigung der neoliberalen Hegemonie. Denn IWF und Weltbank unterliegen immerhin noch der Kontrolle von Regierungen. Die Finanzmarktmechanis-men hingegen sind private Schiedsrichter im Schein der Neutralität, die die Interessen der Investoren vertreten. Der Präsident der deutschen Bundes-anstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin), Jochen Sanio, bezeichnete Ra-ting-Agenturen im Juni 2003 als »größte unkontrollierte Machtstruktur im Weltfinanzsystem«.4

Zu untersuchen ist, wie die Mechanismen der privaten Regulierung funk-tionieren und wie sie Einfluss auf die volkswirtschaftlichen Ziele von meist hochverschuldeten Schwellenländern nehmen, und wie diese dadurch in ihrem Handeln eingeschränkt werden. Schließlich ist zu untersuchen, wie und ob diese Form der privaten Regulierung überwunden werden kann. Die hier vorgetragene These lautet, dass durch die privaten Regulierungsinstan-zen der Weltwirtschaft alternative Wege für Regierungen extrem erschwert, wenn nicht gar verhindert werden, was bei der Analyse und Bewertung gerade der neuen Linksregierungen in Lateinamerika in Betracht gezogen werden sollte. Im folgenden sollen zunächst die Rating-Agenturen und der Emerging-Markets-Bond-Index (EMBI+) genauer untersucht werden, da diese die beiden zentralen Elemente der privaten Regulierung darstellen.5

4 Zit. nach: manager-raagazin.de, in: http://www.manager-magazin.de/geld/arti-kel/0,2828,265077,00.html.

5 Ein weiteres Instrument der privaten Regulierung sind Versicherungen, die Inve-stitionen für Konzerne unterschreiben. Jede Firma kann sich dagegen versichern, dass bei einer Auslandsinvestition ihre Produktionsmittel durch den Staat enteignet werden, kann sich dagegen versichern, dass ein privater oder staatlicher Kunde nicht bezahlt, kann sich gegen Lieferausfall versichern. Ohne solche Versicherungen werden transna-tionale Konzerne in Schwellenländern nicht tätig, oder nur dann, wenn sie das Risiko als absolut gering einschätzen. Die Höhe der Versicherungsrate wird von den rund 20 weltweiten Risikoversicherern danach beurteilt, wie sie die Länder, in denen investiert

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Rating-Agenturen: Unternehmen wie Standard & Poor's oder Moody's bewerten die Bonität von Kreditgebern im privaten und öffentlichen Sektor. Sie lenken damit Investorengelder. Ein schlechtes Rating bedeutet für ein Unternehmen, einen Staat oder eine Gemeinde höhere Zinsen oder dass Pen-sionsfonds die Schuldpapiere abstoßen müssen. Je höher das Defizit eines Unternehmens oder Staates, desto schlechter das Rating. Damit nehmen die Agenturen direkten Einfluss auf Managemententscheidungen, aber auch auf Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.

J.P. Morgan Emerging-Markets-Bond-Index (EMBI+): Weltweit werden Staatsanleihen von Schwellenländern auf den Schuldenmärkten gehandelt. Über den EMBI+ werden die Länderrisikopunkte eines Landes ermittelt, die dann wiederum in Zinsen gerechnet als Risikoaufschlag auf US-Staatsan-leihen dem Zinssatz für Neuemissionen eines Landes am Ausgabetag hinzu-gerechnet werden. Kaufen also viele Investoren an den Märkten die Papiere eines Landes, etwa nach einer vorteilhaften Rating-Entscheidung, sinken die Länderrisikopunkte und damit die Zinsen, oder umgekehrt.

4.1 Rating-Agenturen In dem Prozess der Liberalisierung der Finanzmärkte spielen die Rating-Agenturen zur Bewertung des Kreditrisikos eine zentrale Rolle. Durch die Einstufung des Kreditrisikos eines Landes haben die Rating-Agenturen eine faktische Macht inne, da sich die Ergebnisse dieser Einstufungen sofort in höheren oder niedrigeren Zinssätzen für die betroffenen Länder bemerk-bar machen. Dadurch erhöht sich der Druck auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen einer Regierung unmittelbar, da die Preise für Staatsanlei-hen auf dem Schuldengebrauchtmarkt sich sofort verändern und damit auch der Zinssatz für Neuemissionen und die Finanzierung des Haushaltes des betroffenen Staates. Auch entsteht durch eine schlechtere oder bessere Ein-stufung ein Druck im Inland: Selbst hoch effizient arbeitende Firmen, die in einem schlecht benoteten Land tätig sind, bekommen schlechte Noten von den Rating-Agenturen ausgestellt wegen ihres erhöhten Standortrisikos, was wiederum zu einer Verteuerung der Finanzierungskosten führt.

Damit sind die Rating-Agenturen zu einem Zwangs-TÜV geworden für richtige oder falsche Wirtschaftspolitik. Belohnt werden von ihnen Regie-rungen, die bei den Haushaltsausgaben maßhalten und sparsam sind und den

oder aus denen gekauft oder geliefert wird, einschätzen, also, wie hoch das politische Risiko dort eingeschätzt wird.

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staatlichen Sektor eindämmen. Also Regierungen, die dafür sorgen, dass die Zahlungsfähigkeit ihres Landes erhalten bleibt und die Anleger nicht um ihr investiertes Geld fürchten müssen. Bestraft werden Länder von den Rating-Agenturen, die keine Haushaltsdisziplin halten und wirtschaftlich in eine Krise geraten sind oder geraten könnten. Dadurch sind die Rating-Agen-turen zu einem Instrument der neoliberalen Hegemonie geworden.

Das Duopol der Agenturen Zwei US-amerikanische Firmen teilen das Rating-Geschäft praktisch unter sich auf und haben ein Duopol inne: Moody's Investors Service (Moody's) und Standard & Poor's Ratings Group (S&P).6 Auch die kleineren Konkur-renten haben ihren Sitz in den USA: Fitch IBCA und Duff & Phelps Cre-dit Ratings. Die Rating-Agenturen sind demnach für Willke (ebd.) »das am stärksten oligopolisierte und konzentrierte Element des globalen Finanzsys-tems«. Moody's und S&P teilen 80 bis 85 Prozent des Marktes unter sich auf (FAZ, 9.3.2000).7 Beide Agenturen haben einen aggressiven Expansionskurs eingeschlagen, um ihre marktbeherrschende Stellung zu verteidigen. S&P hat sehr viele nationale Rating-Agenturen aufgekauft und so ein weltweites Netz geknüpft.

Moody's und S&P bewerten jeweils eine Schuldsumme von etwa drei Billionen Dollar (Sinclair 1994: 453). Nach Ansicht der Financial Times Deutschland (19.4.2000) »ist davon auszugehen, dass Moody's und Standard & Poor's über die von ihnen erteilten Ratings den Fluss von rund 80 Prozent des gesamten Weltkapitals kontrollieren« (zit. nach Hillebrand 2001:152). In der Regel werden die beiden Agenturen nur dann tätig, wenn sie einen Auf-trag dazu von einer Firma oder einem Land erhalten. Der Rating-Prozess wird dann vom Kunden bezahlt. Bei S&P arbeiten derzeit ca. 700 Analysten, bei Moody's sind es ca. 600. Vor allem die hochverschuldeten Schwellenlän-der der Dritten Welt sind für die Rating-Agenturen ein »Schlüsselmarkt«

6 Beide Agenturen gehören Informationskonzernen: Moody's gehört zu Dun & Bradstreet und S&P gehört zur Verlagsgruppe McGraw-Hill (Willke 2001: 163).

7 An dieser marktbeherrschenden Stellung der Agenturen hat auch die US-amerika-nische Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) einen Anteil. Seit 1974 haben Standard & Poor's, Moody's und Fitch das SEC-Gütesiegel »nationally recognized statistical rating organisation« (NRSRO). Konkurrenten aus Japan und an-deren Ländern kämpfen seit Jahren vergebens um dieses Gütesiegel. Nirgendwo ist festgelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um als NRSRO anerkannt zu werden. Ende Februar 2003 hat die SEC der kleinen kanadischen Agentur Dominion Bond Ra-ting diesen Status zuerkannt (vgl. Hauch-Fleck 2003).

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(Hillebrand 2001: 151) geworden. Beide Marktführer haben es sich zur Gewohnheit gemacht, etwa zehn Prozent der Ratings als öffentliche Infor-mationen anzubieten oder als »unsolicited rating« (Everling 1999: 253). Bis zum Jahr 1991 waren die Rating-Agenturen in Deutschland nicht besonders wichtig, weil alle Neuemissionen von privaten Anleihen staatlich genehmigt werden mussten und Investoren davon ausgehen konnten, dass zumindest ein Mindestmaß an Sicherheit bestand. Es war die Deregulierung im Finanz-bereich, die dafür gesorgt hat, dass sich die Richtlinien der Rating-Agen-turen in Deutschland durchsetzen konnten.

Entstehung und Aufgaben der Rating-Agenturen Die Aufgabe von Rating-Agenturen ist es, die Bonität eines Kreditnehmers festzustellen und zu bewerten. Die erste Rating-Agentur wurde im Jahr 1837 in New York gegründet. Auch die beiden heutigen Marktführer können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Standard & Poor's entstand im Jahre 1941 aus der Fusion von Standard Statistics und Poor's Publishing Com-pany. Die Geschichte der Firma geht zurück bis ins Jahr 1860, als Henry Varnum Poor (1860) seine »History of Railroads and Canals of the United States« veröffentlichte, ins Rating-Geschäft stieg die Firma allerdings erst im Jahr 1926 ein.8 Moody's Investor Service wurde 1900 gegründet (vgl. Hille-brand 2001: 151). Dadurch wird deutlich, dass die Rating-Agenturen keine neuen Instrumente des sich herausbildenden Neoliberalismus sind. Neu al-lerdings sind ihre Wichtigkeit und Definitionsmacht, die sie spätestens seit den 1990er Jahren innehaben. Im Rating-Geschäft macht die Beurteilung von Staatsanleihen (Bonds), das sogenannte sovereign rating, einen geringen Anteil aus. Über 80 Länder haben gegenwärtig ein Rating in Auftrag gege-ben, dem stehen allein 8.000 US-amerikanische Firmen gegenüber, die sich bewerten lassen (Hillebrand 2001: 152).

Durch die Schuldenkrise der Schwellenländer während der 1980er Jahre veränderte sich das Kreditgeschäft und damit auch die Bedeutung der Rating-Agenturen. Zahlreiche Schwellenländer standen während der Schuldenkrise am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Vor allem die US-Banken waren davon ernsthaft bedroht, da sie den Ländern Kredite gegeben hatten. Als Folge ga-ben die Banken den Ländern keine starren Kredite mehr, sondern zeichneten Staatsanleihen der Länder. Dies hat eine größere Flexibilität für die Banken

8 Vgl. http://www2.standardandpoors.com/NASApp/cs/ContentServer?pagename =sp/Page/AboutUsMainPg&r=l&b=8&l=EN&s=l.

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und Investoren zur Folge, da sie in der Lage sind, die Papiere abzustoßen, wenn ihnen das Risiko zu groß wird, oder neue Papiere zu zeichnen, wenn sie sich ein gutes Geschäft davon versprechen. So gelingt es den Banken und Investoren, auch das Investitionsrisiko besser zu streuen. Damit einher geht ein sprunghafter Anstieg der Wertpapieremissionen. Im Jahr 1994 beliefen sich die Nettoneuemissionen noch auf 257,8 Milliarden Dollar, im Jahr 1999 waren sie schon auf rund 1.225 Milliarden Dollar angestiegen (Bank for In-ternational Settlements 2000: 112). Bei diesen Geschäften schlüpfen die Ban-ken oftmals nur in die Rolle des Abwicklers der Geschäfte, ohne selbst tätig zu werden. Für Länder und Unternehmen ergibt sich daraus die Möglich-keit, ihren Kapitalbedarf direkt an den Finanzmärkten zu decken, ohne den Umweg über die Banken zu gehen. Dabei muss der Investor aber das Risiko absichern, was die Rating-Agenturen ins Spiel bringt. Doch dieser Wandel in der Art, wie Investments abgewickelt werden, und wo Banken nur noch Geschäfte abwickeln, hat Folgen für Firmen und Regierungen, die Investi-tionskapital suchen. Sinclair schreibt zu Recht: »Rating has become a key means of transmitting the policy of orthodoxy of managerial best practice. Much more of the world is now open to the consequences of rating judge-ments than was the case during the Cold War.« (Sinclair 2005: 18)

Funktionsweise der Rating-Agenturen Bei einem Rating-Verfahren werden sowohl qualitative als auch quantita-tive Daten verwendet, um das Risiko eines Kreditnehmers zu beurteilen. Die Einschätzung der Wettbewerbslage, der Ertragskraft, der Finanzstruktur, der Vermögenswerte, der Managerqualität, der strategischen Ausrichtung und des Umfelds eines Kreditnehmers werden dabei bewertet. Die Einstufung des Schuldners drückt aus, wie groß die Gefahr ist, dass dieser seine Schul-den nicht wird zurückzahlen können. Vor allem werden von den Agenturen Schuldtitel (Bond-Rating), Aktien (Stock-Rating) und Banken bewertet. Die Rating-Ergebnisse wirken sich umgehend auf die Aktienpreise oder die Bond-Preise aus, wie empirische Untersuchungen ergeben haben (vgl. Hand/Holt-hausen/Leftwich 1992). Die Ratings sind somit Handreichungen für Inves-toren und beeinflussen die Investorenentscheidungen. Je schlechter ein Land oder eine Firma von den Rating-Agenturen eingestuft wird, desto höher ist das Investitionsrisiko und desto höher steigt die Rendite. Eine hohe Rendite bedeutet für den Schuldner höhere Kosten, um sich mit Geld zu versorgen. Daher bemüht sich der Schuldner um ein möglichst gutes Rating-Ergebnis. Willke (2001:165) stellt hierzu richtig fest: »Je stärker sich Unternehmen, Ins-

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titutionen, Regionen und ganze Länder auf den globalen Finanzmärkten im Wettbewerb untereinander um Anlagekapital bemühen, desto stärker sind sie auf möglichst positive Ratings angewiesen, um ihre Kapitalkosten zu optimie-ren. Hieraus erwächst den wenigen global agierenden Rating-Agenturen ein bislang noch wenig begriffener und noch weniger problematisierter Einfluss auf globale Ströme von Investitionsentscheidungen.«

Rating-Agenturen werden so im Bereich der Schwellenländer zu einer Art TÜV über die richtige oder falsche Wirtschaftspolitik. Sie bestimmen, wohin Investitionen bei unterschiedlichen Wirtschaftslagen fließen. Auf die Firmen oder Länder haben sie einen Zwangseffekt: Sie zwingen zum Kostensparen und zu einem sparsamen Haushaltskurs, damit den Investoren das Gefühl gegeben werden kann, dass sie ihr Geld wiedersehen werden. Dies bedeu-tet, dass die Staatsausgaben gesenkt werden und ein für das Finanzkapital günstiges Investitionsumfeld (keine Steuer auf Kapitalgewinne, stabile Wäh-rung) geschaffen werden muss. Dadurch werden die Rating-Agenturen zum institutionellen Fundament der neoliberalen Wende. Sie bekommen - im Falle der Schwellenländer - als private Institutionen eine Definitionsmacht über den Kurs der Wirtschaftspolitik verschuldeter und von Auslandsinves-titionen abhängiger Länder. Gerade in den kritischen Sozialwissenschaften wurde ihrer Rolle bei der Diskussion um die Durchsetzung der neoliberalen Epoche bislang zu wenig Beachtung geschenkt.

Der Rating-Prozess ist ein permanenter Prozess, der in Zusammenarbeit zwischen Regierung/Firmenleitung und der Rating-Agentur abläuft. Dabei werden die gewonnenen Daten permanent aktualisiert und das Rating auf-oder abgewertet. Durch die Funktionsweise der Rating-Agenturen wird Wissen über Firmen und Länder gewonnen und aufgearbeitet. Dieses Wis-sen wird in den Dienst gestellt von Investoren, Anlagefonds, Pensionsfonds, Investmentbanken, Leasing-Gesellschaften, Factoring-Instituten, Kapital-und Unternehmensbeteiligungsgesellschaften. Sie entscheiden darauf auf-bauend, wo und zu welchen Bedingungen sie investieren werden oder ob sie ihr Geld aus einem bestimmten Markt abziehen.

Beim Rating-Prozess wird zunächst das Länderrisiko, dann das Branchen-risiko und schließlich das firmenspezifische Risiko ermittelt. Bei der Analy-se des Länderrisikos wird die politische und wirtschaftliche Stabilität eines Staates ermittelt. Das Ergebnis der Länderrisikoanalyse fließt direkt in die Bewertung einer Firma ein, die in einem bestimmten Land ihren Sitz hat. »In der Regel erhält eine >Untereinheit< keine bessere Einstufung als das Land, in dem sie ansässig ist.« (Hillebrand 2001: 158) Dieses sogenannte sovereign

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ceiling erschwert und verteuert die Kreditbeschaffung von effizienten Fir-men in Schwellenländern. Bei der Beurteilung des Branchenrisikos werden die Zukunftsperspektiven des Industriezweigs sowie die Konkurrenzsituati-on unter die Lupe genommen. Das Unternehmensrisiko bezieht sich auf die Qualität des Managements, die verwendete Technologie, die Kapitalstruk-tur, Finanzierungspolitik etc. Die Ranking-Skala von S&P hat zwölf unter-schiedliche Stufen. Angefangen bei »AAA«, exceptional financial security, bis hin zu »SD«, Selective Default, und schließlich »D« - Zahlungsausfall.

Auch wenn Moody's und S&P in aller Welt Büros haben, so ist der Ein-fluss der Wall Street, wo sie ihren Hauptsitz haben, doch maßgeblich für die Parameter in den Ratings. So stellt Sinclair (1994: 453) zu Recht fest: »New York remains the analytical core, where rating expertise is defined and rein-forced.«

Gerade Regierungen von Schwellenländern beschweren sich daher häu-fig, dass Rating-Agenturen das von ihnen bewertete Land nicht richtig ken-nen würden und daher zu falschen Einschätzungen kommen. Diese Kritik mag nur zum Teil zutreffen. Denn die von den Rating-Agenturen gewählten Parameter fördern keine falschen oder richtigen Ergebnisse zu Tage. Viel-mehr haben sie ein eindeutiges Ziel: Die Risikoabwägung für Investoren, und dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern nur um geeignet oder ungeeignet als Geldanlage aus Sicht des Geldbesitzers, der aufgrund des Ra-ting-Ergebnisses entscheidet, ob er viel riskieren will oder nicht.

Folgen für Schwellenländer Der Bewertungsprozess der Bonität von Staaten ist ähnlich dem von Firmen. Auch hier wird der Credit Default als Ausgangsszenario, als schlimmster Fall, angenommen. Daraufhin wird die Wahrscheinlichkeit ermittelt, mit der dieser Fall eintreten kann. Dabei finden sowohl makroökonomische Indika-toren Eingang in die Analyse wie auch historische Indikatoren. Diese Indi-katoren listet Hillebrand (2001: 153f.) auf. • Pro-Kopf-Einkommen: Je höher, umso besser für die finanzielle Basis

eines Staates. • Wachstumsrate des BIP: Je höher, umso wahrscheinlicher die volle Bedie-

nung von Schulden und Zinsen. • Inflation: Hohe Inflation lässt auf finanz- und wirtschaftspolitische

Schwierigkeiten schließen. • Haushaltsdefizit: Hohes Haushaltsdefizit ist gefährlich für Schulden-

dienst.

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• Leistungsbilanz: Hohe Defizite führen zu wachsender Verschuldung, was wiederum zur Gefährdung der Zahlungsfähigkeit führt.

• Staatsverschuldung: Je höher, umso unwahrscheinlicher ihre vollständige Bedienung.

• Wirtschaftliche Entwicklung: Je entwickelter, umso geringer die Wahr-scheinlichkeit eines Zahlungsausfalls.

• Schuldner-Geschichte: Länder, die in der Vergangenheit zahlungsunfähig waren, sind ein höheres Risiko.

• Regierungsform und politische Institutionen • Politische Partizipation • Geordnetheit der Führungsnachfolge • Ausmaß und Konsens über die Ziele der Wirtschaftspolitik • Integration in das globale Handels- und Finanzsystem • Interne und externe Sicherheitsrisiken Das Verfahren zur Rating-Erhebung kennt vier Stufen: • Datenerhebung und -forschung • Ein vorläufiger Bericht wird der Regierung übergeben, die diesen über-

prüfen und anfechten kann. • Das endgültige Rating wird innerhalb der Agentur abgestimmt und po-

tenzielle Investoren werden darüber informiert. • Die Rating-Agentur verfolgt weiterhin die Entwicklung des Landes und

korrigiert gegebenenfalls das Rating. Schwellenländer finanzieren sich seit der Schuldenkrise der 1980er Jahre immer stärker über den Kapitalmarkt, wo vor allem institutionelle Anleger tätig sind (Pensionsfonds, Versicherungen, Investmentfonds). Von 1993 bis 1997 stiegen die Portfolio-Investitionen in den Schwellenländern von 117 Milliarden US-Dollar auf 286 Milliarden US-Dollar an. Die Zahl der insti-tutionellen Anleger wird von der Financial Times Deutschland (19.4.2000, Anmerkung bei Hillebrand 2001: 161) auf ca. 3.000 geschätzt. Dieter (1999: 81) berechnete, dass deren Kapitalanlagen im Jahr 1995 den Wert des gesam-ten BIP der G-7-Länder deutlich übertrafen. Ca. 32 Prozent dieses Vermö-gens entfallen auf die großen Pensionsfonds. In den USA unterliegen diese strengen Vorschriften und müssen ihre Werte in Titel anlegen, die von den Rating-Agenturen zumindest mit investment grade eingestuft werden (bei S&P »BBB«, bei Moody's »Baa3«). Wenn die Titel eines Landes oder einer Firma unter diese Note fallen, so müssen sie diese automatisch abstoßen.

Genau dies führte zur Verschärfung der Asienkrise 1996/1997. Richti-gerweise erkennt Strulik in den Rating-Agenturen auch Institutionen, die

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für Instabilität sorgen können: »[J]ede Information begründet neben Er-wartungen auch die Möglichkeit gegenläufiger Entwicklungen, schafft also Ungewissheit. Für die Agenturen selbst werden zukünftige Ereignisse nicht nur durch Veränderungen in ihrer Umwelt unvorhersehbarer, sondern auch deshalb, weil sie beispielsweise mit jeder Verfeinerung ihrer Analysetech-niken zugleich die Zahl anfechtbarer Annahmen über künftige Entwicklun-gen erhöhen.« (Strulik 2000: 449) Allerdings erkennt er nicht, dass schon die Veröffentlichung eines Ratings die Wirklichkeit beeinflusst. Er definiert Rating-Agenturen als »wissensbasierte Organisationen« (Strulik 2000: 450), die in der Lage sind, ihre Umwelt mit »anderen Unsicherheiten« zu belas-ten. Im Verlauf der Asienkrise führten die Urteile der Rating-Agenturen zu erheblichen »Folgeproblemen« (ebd.). Doch seine Kritik geht über eine immanente Kritik am Funktionieren der Agenturen nicht hinaus, wenn er schreibt, die Agenturen hätten Thailand erst im Oktober 1997 in ihre Watchlist aufgenommen, zu einer Zeit, als die Landeswährung Baht schon längst eingebrochen war, und auch Südkorea wurde bis Oktober 1997 noch von ihnen als sicher eingestuft. Die folgende Herabstufung führte zu einer schweren Belastung der Volkswirtschaften auch außerhalb der Region. Dabei ist doch gerade die Frage nach dem Zusammenhang von Rating-Urteil und folgendem Zusammenbruch interessant, und inwieweit dieser durch die Be-reitstellung von Informationen der Rating-Agenturen (ganz abgesehen von deren Richtigkeit) noch beschleunigt wurde. Der Vorwurf, die Agenturen hätten schlicht falsche Ratings abgegeben, greift zu kurz und beschreibt ihre Funktionsweise nur unzureichend.9 Schlechte Urteile der Rating-Agenturen

9 Auch in der Privatwirtschaft werden die Rating-Agenturen für Fehlurteile kriti-siert. Standard & Poor's und Moody's haben erst die Anleihen von Enron und Wold-com heruntergestuft, als deren Konkurs schon kurz bevorstand. In Deutschland wird die Entscheidung von Standard & Poor's kritisiert, Thyssen-Krupp-Anleihen auf den Junk-Bond-Status abzuwerten. Diese wurde von den Analysten damit begründet, dass Thyssen-Krupp sehr hohe Pensionsrückstellungen habe. Thyssen-Krupp will jetzt mit einem Gutachten die Sichtweise der Rating-Agentur korrigieren. Immerhin kos-tet die Herabstufung des Unternehmens rund 20 Mio. Euro mehr an Zinszahlungen. Für Fehlurteile haftbar gemacht werden, etwa über Schadenersatzklagen, können die Rating-Agenturen nicht. Ihre Bewertungen der Zahlungsfähigkeit gelten juristisch als freie Meinungsäußerung (vgl. Hauch-Fleck 2003). Langsam kommt aber in Deutsch-land eine Diskussion über die Macht der Rating-Agenturen in Gang. So forderte der Chef des Deutschen Aktieninstitutes (DAI), Rüdiger von Rosen, eine strengere Kon-trolle der Rating-Agenture. (Vgl. manager-magazin.de, in: http://www.manager-ma-gazin.de/geld/artikel/0,2828,265077,00.html.) Angesichts der Machtfülle der beiden führenden Agenturen S&P und Moody's forderte von Rosen die Einrichtung einer

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laufen in der Regel entgegengesetzt zu den Interessen der Schwellenländer, da sie deren Kapitalaufnahme verteuern. Dies verschärft dortige Wirtschafts-und Finanzkrisen nur, da ein hoher Zinssatz die Wiederbelebung der Wirt-schaft erschwert. Schlechte Ratings beschleunigen in der Regel den Abwärt-strend in den Schwellenländern.

Auch zwingen die Entscheidungen der Rating-Agenturen Regierungen dadurch zu einem Sparkurs, der die sozialen Gegensätze noch verschärft. Es sind die Einstufungen der Rating-Agenturen, die über die Realisierung und Finanzierbarkeit von Politiken in den Schwellenländern entscheiden und die über die Handlungsperspektiven urteilen. Nichts, was Geld kostet und da-durch den Schuldendienst gefährden könnte, ist erwünscht. Dies schränkt die Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Regierungen in den Schwellenländern ein, die immer mit Blick auf die Bewertung ihres Landes Politik machen müssen. Das Ziel der Ratings ist es in diesem Fall, diszipli-nierend auf die Regierungen einzuwirken und deren Zahlungsfähigkeit zu gewährleisten.

4.2 Emerging-Markets-Bond-Index (EMBI+) Es erschien notwenig, etwas länger auf die Rating-Agenturen einzugehen, da sie in der kritischen Sozialwissenschaft bislang wenig Beachtung fanden. Im Folgenden soll auf ein weiteres privates Regulierungsinstrument eingegan-gen werden: den Emerging-Markets-Bond-Index (EMBI+), wie er von J.P. Morgan Chase ermittelt wird. Damit wird der Zinssatz für Neuemissionen von Staatsanleihen von Schwellenländern festgelegt. Die Finanzmärkte ha-ben damit einen direkten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, da der EMBI+ direkt und unmittelbar marktfreundliche Politik belohnt und marktfeind-liche bestraft.

Nachdem die Schuldenkrise der 1980er Jahre die Banken der USA erschüt-tert hatte, wurden neue Elemente entwickelt, um die Gläubiger besser zu

Schiedsstelle, die von den Unternehmen angerufen werden könnte, wenn diese mit den Ratings nicht einverstanden seien. Diese Schiedsstelle sollte nach Ansicht von Rosens allerdings zunächst privatwirtschaftlich organisiert sein. Erst wenn dort keine Einigung erzielt würde, will von Rosen staatliche Institutionen einschalten, etwa die Bundes-anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) oder eine Institution auf EU-Ebene. Auch kritisierte von Rosen die Dominanz der beiden US-Agenturen und forderte eine stärkere europäische Komponente und mehr Wettbewerb auf dem duopolistischen Ra-ting-Markt.

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schützen.10 So geben die Banken heute so gut wie keine starren Kredite mehr an Schwellenländer, sondern zeichnen Staatsanleihen dieser Länder (Bonds). Dieser Ubergang von der Kreditfinanzierung der 1970er und 1980er Jahre zur Bond-Finanzierung war nur Schwellenländern möglich, nicht den armen Entwicklungsländern. Dieser Prozess stärkte den Einfluss und die Einnah-men der Rating-Agenturen, da sie einzelne von Staaten ausgegebene Bonds bewerten. Den Zinssatz für die Bonds bestimmt der sekündlich festgestellte EMBI+ am Ausgabetag. Damit sind Banken und Investoren flexibler, da sie in der Lage sind, die Papiere abzustoßen, wenn ihnen das Risiko zu groß wird, oder neue Papiere zu zeichnen, wenn sie sich ein gutes Geschäft davon versprechen. Dabei muss der Investor aber das Risiko absichern, was die Rating-Agenturen und den EMBI+ ins Spiel bringt.

Über den EMBI+ haben die Finanzmärkte eine direkte Definitionsmacht über die Ziele der verschuldeten Volkswirtschaften inne. Sinken die Aus-sichten, dass ein Land seine Schulden bezahlen kann, bieten verschreckte Investoren auf den Schuldtitelmärkten die Schuldtitel (»Bonds«) des ent-sprechenden Landes zum Verkauf an. Dies funktioniert über das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Werden viele Titel angeboten, sinken die Preise. Dadurch sinkt der Wert der Bonds und es steigen die Länderrisikopunkte. Das Länderrisiko ist eine Art Zwangs-TÜV, mit dem die Finanzmärkte auf wirtschaftspolitische Entscheidungen in den einzelnen Ländern direkt und unmittelbar Einfluss nehmen können. Es ist auch ein Sanktionsmechanismus für wirtschaftspolitische Maßnahmen, die dazu führen, dass die Aussichten auf Zahlung der Schulden sinken. Marktkonforme Politiken (z.B. extremer Sparkurs) werden durch niedrige Zinssätze belohnt, marktfeindliche (z.B. Erhöhung der Staatsausgaben) bestraft. Insofern haben die Finanzmärkte ein reales politisches Druckmittel in der Hand. Treffend schreibt Huffschmid (1999: 545) über die Rolle der Finanzmärkte in der Weltökonomie: »Inter-national liberalisierte F[inanzmärkte] werden zunehmend zu einer Schran-ke für jede Wirtschaftspolitik, die sich an Beschäftigungs-, Wohlfahrts-, Gerechtigkeits- oder Nachhaltigkeitsvorstellungen orientiert. Denn das Interesse des Geldkapitals richtet sich in erster Linie auf die Stabilität des Geldwerts, auf den steigenden Kurswert seiner Wertpapierdepots, auf hohe

10 »Wahrscheinlich war dies der gefährlichste Moment für die kapitalistische Wirt-schaft seit 1929 gewesen«, bilanziert Hobsbawm (1998: 527) über die Schuldenkrise. Halperin Donghi stimmt zu: »Hätten alle lateinamerikanischen Länder ihre Schulden nicht mehr bezahlt, hätten sie das weltweite Finanzsystem in Gefahr gebracht.« (Hal-perin Donghi 1992: 758, Übersetzung I.M.)

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Zinsen bzw. Dividenden. Seine Durchsetzungsmacht gegenüber der Politik ist besonders groß, seit es über die Möglichkeit verfügt, sich jederzeit ohne besonderen Aufwand durch Kapitalflucht unliebsamen Eingriffen zu ent-ziehen. Die hohe Mobilität verschafft dem Kapital Exit-Optionen, die es als Drohung gegen jede Regierung wenden kann.« Mit den in die Höhe getrie-benen Zinsen durch die Länderrisikorate sitzt der Staat doppelt in der Falle: Die hohen Zinsen erschweren wegen der teuren Kredite das Wirtschafts-wachstum, sie verhindern aber auch, dass Geld in produktive Investitionen fließt, da die Rendite schon auf Festgeldkonten relativ hoch ist, verglichen mit der Gewinnerwartung bei Investitionen im produktiven Bereich inmit-ten einer Krise. Profitieren können von einer solchen Situation nur Geld-besitzer. Genau dies ist im Falle Argentiniens passiert, bevor sich das Land zum Jahreswechsel 2001/2002 zahlungsunfähig erklären musste. Durch die hohe Verschuldung des Staates im Land verloren die lokalen Banken und die lokalen privaten Rentenkassen ihre Liquidität, sie hatten rund die Hälfte der argentinischen Bonds in ihren Portfolios (Boris/Malcher 2001: 47ff.).

Die von den Rating-Agenturen entworfenen Begriffe »Non-investment« oder »Default« sind im Falle von Firmen leicht festzustellen: Bankrott. Bei einer Firma bedeutet dies, dass sie geschlossen wird, die verbliebenen Ak-tiva versteigert werden, um die Schulden zu bedienen. Im Falle eines Staa-tes ist dies nicht möglich. Er hat auch nach seinem Bankrott Aufgaben zu erfüllen, etwa das Bezahlen von Staatsangestellten, Aufrechterhaltung von Infrastruktur, Erhaltung von Schulen, Krankenhäusern etc. Dennoch gel-ten für Staaten auf den Finanzmärkten dieselben Kriterien, was als weiteres Disziplinierungsinstrument wirkt. Die stellvertretende IWF-Chefin Anne Krueger hat bereits kurz nach Argentiniens Zahlungsausfall eine Diskussi-on über die Etablierung suprastaatlicher Regelungen für Staatsbankrotte in Gang gebracht.11 Denn der Fall Argentinien hat die Finanzmärkte wachge-rüttelt: Durch das Fehlen von Regulierung im Falle des Bankrotts standen auch keine Sanktionsmechanismen mehr zur Verfügung.12

11 Vgl.: IWF will Konkursrecht für Staaten schon ab nächstem Frühjahr, AFP, 23.09.02, 15:38.

12 Zumindest in diesem Fall. Argentinien wurde im Moment der Zahlungsunfä-higkeit dadurch begünstigt, dass die Commodity-Preise sehr stark anzogen und das Land dank florierender Exporte einen Haushaltsüberschuss verzeichnete und nicht auf Fremdfinanzierung angewiesen war.

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Linkswende in Lateinamerika und ihre Perspektiven

5. Perspektiven

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Anders als im Bereich des internationalen Handels, wo es eine globale Ord-nung mit klar definierten Regeln gibt - wie auch immer diese zustande ka-men -, gibt es vergleichbare Regelungen für den Bereich der Finanzmärkte nicht. Weder die Rating-Agenturen noch der EMBI+ unterliegen der Kon-trolle eines Staates oder suprastaatlicher Organisationen. Im Gegenteil: Wie am Beispiel des Baseler Akkords für Bankensicherheit gezeigt wurde, sind die Rating-Agenturen in der Lage, staatliche Institutionen in den G7-Län-dern von ihren Richtlinien zu überzeugen und diese in den Rang von staat-licher Politik zu erheben.

Mit den Rating-Agenturen und dem EMBI+ entscheiden private Insti-tutionen über die Zugangsbedingungen von Staaten zu den Finanzmärkten und über die Kosten der Finanzierung von Staaten - und damit direkt über die Ziele der Politik und was politisch möglich ist und was nicht. Dies hat zur Folge, dass die Wirtschafts-, Steuer-, Umwelt- und Sozialpolitik welt-weit privat reguliert werden, das heißt im Sinne privater Interessen reguliert werden. Daher gehören die Rating-Agenturen und der EMBI+ zum insti-tutionellen Fundament der neoliberalen Hegemonie und zu ihren Durch-setzungsinstrumenten. Aber sie sind mehr als das: Die private Regulierung der Weltwirtschaft und der globalen Finanzmärkte sind ein Zwangsmecha-nismus der neoliberalen Hegemonie. Die Weltpolitik wird auf diese Weise privatisiert.

Mit dem EMBI+ werden für Staaten die gleichen Kriterien bei der Ermitt-lung der Zinszahlungen angewandt wie für Unternehmen. Dabei müssen die Staaten einen - wie auch immer gearteten - Sozialstaat finanzieren, die In-frastruktur sichern, die Verwaltung finanzieren. Staaten sind keine privat-wirtschaftlichen Einrichtungen, trotzdem werden sie so behandelt. Wichtig ist, dass es sich beim EMBI+ um einen Marktmechanismus handelt, der im Zuge der Liberalisierung der Finanzmärkte entstanden ist. Dieser Marktme-chanismus steht über den Regierungen der Länder und besteht weiter fort, selbst wenn der neoliberale Konsens bereits zerbrochen ist. Genau deswegen ist er als Zwangsmechanismus zu begreifen.13

13 Heiner Flassbeck kritisierte als einer der wenigen mehrfach die bestehende Wäh-rungsordnung. »Wer eine globalisierte und liberalisierte Welt will, eine Welt mit freiem Güter- und Kapitalverkehr, muss auch eine globale Geld- und Währungsordnung an-streben und bereit sein, die eigene wirtschaftspolitische Autonomie dafür zurückzu-

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Es sind diese Zwangsmechanismen, welche die Spielräume der Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika einschränken. Ihre Wirkungsmacht hängt auch von weltwirtschaftlichen Verhältnissen ab. In Zeiten hoher Roh-stoffpreise, in denen die Länder über hohe Deviseneinnahmen verfügen und daher meist kein Haushaltsdefizit finanzieren müssen, wird ihre Wirkungs-weise abgeschwächt. Dies ändert sich aber sofort wieder, wenn die Preise auf den Weltmärkten wieder fallen. Gerade Länder wie Venezuela oder Bolivien sind sehr stark vom Rohstoffexport abhängig und ernten mit ihren gegen-wärtigen Reformen bei Unternehmern und Investoren heftige Kritik.

Doch auch in diesen Ländern führte die neoliberale Hegemonie der 1990er Jahre wie in ganz Lateinamerika nicht zu Wohlstand, sondern stürzte fast alle Länder des Kontinents in schwere Krisen. Und die neuen Regierungen steu-ern mit mehr staatlicher Regulierung dagegen - ein Zurück zu mehr Markt erscheint heute als nicht denkbar. Das liegt aber auch daran, dass die Krise in Südamerika zum Wiedererwachen der sozialen Bewegungen auf dem Konti-nent geführt hat. Landlosen, Arbeitslosen, Kleinbauern gelingt es als organi-sierte Kraft, in vielen Ländern Druck auf die Regierungen auszuüben.

Doch der Erfolg der linken Regierungen hängt auch stark davon ab, wie es ihnen gelingt, auf internationaler Ebene die Verhältnisse zu verändern - und das ist derzeit utopisch. Hierfür finden sich weder bei europäischen Regierungen und erst recht nicht in den USA Bündnispartner. Doch wenigs-tens eine stärkere Regulierung weltwirtschaftlicher Verhältnisse wäre nötig. Selbst das ist nicht durchsetzbar, und schon gar nicht, wenn es Länder ab-seits der Zentren sind, die dies fordern.

Und bei der eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik ist fraglich, ob sie schon ausreicht, um die Verhältnisse in den lateinamerikanischen Ländern zu beeinflussen und das enorme soziale Ungleichgewicht wenigstens ein we-nig zu verändern. Aber es ist ein Anfang. Progressive Veränderung in Süd-amerika scheint derzeit möglich. Doch bei dem Prozess der Veränderung werden auch Rückschläge und Niederlagen auf die Linksregierungen zu-kommen. Nur weil einige Regierungen ausgewechselt wurden, ist dies nicht notwendigerweise der Beginn einer neuen Epoche. Zu Recht warnt Jose Mu-jica, ehemaliger Stadtguerillero der Tupamaros und inzwischen Landwirt-schaftsminister von Uruguay, vor allzu hohen Erwartungen an seine neue Regierung. Gefragt, ob die Linke in Uruguay jetzt die Macht erobert habe,

stellen.« (Flassbeck 2002) Zu Kritik und Alternativen zur bestehenden Weltwährungs-struktur siehe auch: Flassbeck 2001: 241ff.; Herr 2001: 161ff.; Huffschmid 2001: 201ff.

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gab er zur Antwort: »Macht ist etwas, was uns zu groß ist, wir haben es an die Regierung gebracht.« Macht hat die nationale Bourgeoisie, haben auslän-dische Investoren, haben die internationalen Finanzmärkte, haben die Dis-ziplinarinstitutionen wie der IWF. Deshalb können Veränderungen von den Regierungslinken in Südamerika nicht allein in die Wege geleitet werden.

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Giovanni Arr ighi Adam Smith in Beijing1

»Zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, schrieb Geoffrey Barraclough Mitte der 1960er Jahre, »stand die europäische Macht in Asien und Afrika in ihrer vollen Blüte; keine Nation, so schien es, konnte der Überlegenheit europä-ischer Waffen und Wirtschaftskraft standhalten. Sechzig Jahre später sind nur noch Überreste der europäischen Dominanz übrig. .. . Nie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte kam es in solcher Geschwindigkeit zu einem derartigen revolutionären Umschwung.« Die Positionsveränderung der Völker Asiens und Afrikas »war das sicherste Zeichen für den Beginn einer neuen Ära«. Für Barraclough gab es wenig Grund zum Zweifel: Wenn die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - die für die meisten Historiker noch von europäischen Kriegen und Problemen dominiert war - aus größerem Blickwinkel geschrieben würde, würde sich »kein Einzel-thema als wichtiger erweisen (...) als die Auflehnung gegen den Westen«. (Barraclough 1967: 153f.) In meinem Buch »Adam Smith in Beijing« (2007) stelle ich die folgende Behauptung auf: Wenn die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus solch einem größeren Blickwinkel geschrie-ben wird, dann wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach kein Einzelthema als bedeutsamer erweisen als die ökonomische Renaissance Ostasiens. Die Auflehnung gegen den Westen schuf für die Völker der nichtwestlichen Welt die politischen Bedingungen für die Erlangung sozialer und ökonomischer Macht. Die ökonomische Renaissance Ostasiens ist das erste und deutlichste Anzeichen dafür, dass solch eine Machterlangung begonnen hat.

Wir sprechen von einer Renaissance, denn - in den Worten Gilbert Roz-mans - »Ostasien ist eine große Region der Vergangenheit, die mindestens zweitausend Jahre lang an der Spitze der Weltentwicklung stand, bis zum 16., 17. oder sogar 18. Jahrhundert, nach dem sie einen relativ kurzen, aber sehr tief empfundenen Niedergang erlitt.« (Rozman 1991: 6) Die Renais-sance erfolgte durch einen Schneeballeffekt miteinander verbundener »Wirt-schaftswunder« in einer Reihe von ostasiatischen Staaten, der in den 1950er

1 Leicht gekürzte Fassung der Einleitung zum gleichnamigen Buch (Hamburg 2007).

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und 1960er Jahren in Japan begann, in den 1970ern und 1980ern in Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur, Malaysia und Thailand weiter anwuchs und in den 1990ern und frühen 2000ern im Hervortreten Chinas als weltweit dyna-mischster Brennpunkt des Wachstums von Wirtschaft und Handel gipfelte. Terutomo Ozawa zufolge - der als erster den Begriff eines Schneeballeffekts zur Beschreibung des ostasiatischen Aufstiegs einführte - wird »das chinesi-sche Wunder, auch wenn es noch in der Anfangsphase steckt, ohne Zweifel ... das dramatischste sein, was seine Auswirkungen auf den Rest der Welt angeht ..., insbesondere auf Nachbarländer.« (Ozawa 2003: 700; Hervorhe-bung im Original)2 Martin Wolf stößt in dasselbe Horn, wenn er erklärt:

»Sollte [Asiens Aufstieg] so weitergehen wie während der letzten paar Jahrzehnte, wird er die zweihundert Jahre währende Dominanz Europas und, anschließend, seines riesigen nordamerikanischen Ablegers beenden. Japan war lediglich der Vorbote einer asiatischen Zukunft. Das Land hat sich als zu klein und zu sehr nach innen gerichtet erwiesen, um die Welt zu ver-ändern. Was nun folgt - allem voran China - wird sich als keins von beidem erweisen. .. . Europa war die Vergangenheit, die USA sind die Gegenwart und ein von China dominiertes Asien ist die Zukunft der Weltwirtschaft. Wie es scheint, kommt diese Zukunft bestimmt. Die großen Fragen sind, wie bald und wie reibungslos das passiert.«3

Die von Wolf ins Auge gefasste asiatische Zukunft ist vielleicht nicht so zwangsläufig, wie er unterstellt. Doch selbst wenn er nur teilweise Recht hat, deutet die Renaissance Ostasiens darauf hin, dass Adam Smiths Voraussage einer letztendlichen Angleichung der Macht zwischen dem siegreichen We-sten und dem besiegten Nichtwesten schließlich wahr werden könnte. Wie Karl Marx nach ihm sah Smith einen wichtigen Wendepunkt der Weltge-schichte in den europäischen »Entdeckungen« von Amerika und der Passage nach Ostindien um das Kap der Guten Hoffnung. Nichtsdestotrotz war er viel weniger zuversichtlich als Marx in Bezug auf den letztendlichen Nutzen dieser Ereignisse für die Menschheit.

»Ihre Folgen sind zwar bereits recht beachtlich gewesen, doch ist es noch nicht möglich, in dem kurzen Zeitraum von zwei bis drei Jahrhunderten, die seither vergangen sind, die Auswirkungen in ihrer ganzen Tragweite erken-nen zu können. Und keine menschliche Klugheit und Umsicht kann voraus-sehen, welche Wohltaten und welches Unglück der Menschheit aus diesen

2 Die Schneeball-Metapher wird zum ersten Mal verwendet in Ozawa 1993: 30f. 3 »Asia is Awakening«, The Financial Times, 22. September, 2003.

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einmaligen Entdeckungen erwachsen werden. Ganz allgemein dürften sie wohl in der Tendenz nützlich und förderlich sein, da sie die entlegensten Gebiete der Welt in gewissem Umfange zusammengeführt und es ihnen möglich gemacht haben, sich gegenseitig zu helfen, den Bedarf an Nötigem und Annehmlichem im Austausch zu decken und Gewerbe und Handel un-tereinander zu fördern. Für die Eingeborenen in Ost- und Westindien aber sind alle Handelsvorteile, die aus beiden Ereignissen hätten erwachsen kön-nen, zusammengeschrumpft, und sie haben in dem schrecklichen Unglück geendet, das sie erlitten haben ... Zu der Zeit, als man beide Entdeckungen gemacht hat, war das Ü b e r g e w i c h t an Macht auf Seiten der Europäer so groß, dass sie sich jede Art Ungerechtigkeit in diesen fernen Gebieten erlau-ben konnten. Vielleicht können künftighin die Eingeborenen jener Länder stärker und machtvoller, die Macht der Europäer aber schwächer werden, sodass die Bewohner aller Regionen der Welt den gleichen Mut und die glei-che Stärke erlangen, wodurch es zu einem Gleichgewicht in der Abschre-ckung kommt, das allein die Ungerechtigkeit unabhängiger Nationen in eine Art Respekt vor den gegenseitigen Rechten umzuwandeln vermag.« (Smith 1993: 526f.; Hervorhebung von mir)

Da die Ureinwohner Europas bei weitem nicht schwächer und diejenigen nichteuropäischer Länder bei weitem nicht stärker wurden, stieg das »Über-gewicht an Macht« auf Seiten der Europäer und ihrer Ableger in Nordame-rika und anderswo nach der Veröffentlichung von Der Wohlstand der Natio-nen noch fast zweihundert Jahre weiter an, ebenso wie ihre Möglichkeit, sich in der nichteuropäischen Welt ungestraft »jede Art von Ungerechtigkeit« zu erlauben. Ja, als Smith dies schrieb, hatte Ostasiens »Niedergang« kaum be-gonnen. Im Gegenteil, der bemerkenswerte Frieden und Wohlstand und das Bevölkerungswachstum in China während des größten Teils des 18. Jahr-hunderts waren eine Quelle der Inspiration für führende Köpfe der europä-ischen Aufklärung. Leibniz, Voltaire, Quesnay und andere »wandten sich an China um moralische Belehrung, Anleitung in institutioneller Entwicklung und Belege für ihr Eintreten für so unterschiedliche Sachen wie aufgeklärten Absolutismus, Meritokratie und eine auf Landwirtschaft basierende Volks-wirtschaft«. (Adas 1989: 79; siehe auch Hung 2003) Der auffallendste Un-terschied zu europäischen Staaten war die Größe und Bevölkerung des chi-nesischen Reichs. Quesnays Charakterisierung zufolge war das chinesische Reich das, »was ganz Europa wäre, wäre das letztere unter einem einzigen Souverän vereinigt« - eine Charakterisierung, die auch in Smiths Bemerkung anklingt, der chinesische »Binnenmarkt« sei »in seiner Ausdehnung nicht

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viel kleiner als der Absatzmarkt aller europäischen Länder zusammen«. (Quesnay 1969: 115; Smith 1993: 576)

Während der nächsten 50 Jahre unterlief ein großer Vorwärtssprung in der militärischen Macht Europas dieses positive Bild von China. Europä-ische Kaufleute und Abenteurer hatten schon lange die militärische Ver-wundbarkeit eines Reichs betont, das von einer Klasse des Amtsadels regiert wurde, und sich gleichzeitig bitter beschwert über die bürokratischen und kulturellen Hindernisse, auf die sie beim Handel mit China stießen. Diese Anklagen und Beschwerden förderten eine grundsätzlich negative Sicht auf China als bürokratisch repressives und militärisch schwaches Reich. 1836, drei Jahre bevor Großbritannien den ersten Opiumkrieg gegen China be-gann (1839-1842), erklärte der Autor eines in Kanton anonym veröffentli-chten Aufsatzes, »es gibt derzeit vermutlich kein passenderes Kriterium für die Zivilisation und den Fortschritt einer Gesellschaft als ihre Kenntnisse in der >mörderischen Kunst<, die Perfektion und Vielfalt ihrer Hilfsmit-tel zur gegenseitigen Zerstörung und die Kunstfertigkeit, mit der sie diese verwendet«. Dann fuhr er fort, indem er die chinesische Reichsmarine als »ungeheuerliche Burleske« abtat, und behauptete, antiquierte Kanonen und disziplinlose Armeen machten China »an Land machtlos«, und diese Schwä-chen seien Symptome einer grundlegenden Schwäche der chinesischen Ge-sellschaft als Ganzer. Michael Adas, der diese Bewertungen wiedergibt, fügt hinzu, dass die zunehmende Bedeutung militärischer Fähigkeiten »für die Beurteilung der Gesamtleistung nichtwestlicher Völker durch die Europäer den Chinesen, die weit hinter die aggressiven >Barbaren< vor ihren südlichen Toren zurückgefallen waren, nichts Gutes verhieß.« (Adas 1989: 89-93, 124f., 185f.; siehe auch Parker 1989: 98f.)

In dem Jahrhundert nach Chinas Niederlage im ersten Opiumkrieg wurde der Niedergang Ostasiens zu dem, was Ken Pomeranz die große Divergenz genannt hat. (Pomeranz 2000) Das politische und wirtschaftliche Geschick zweier Weltregionen, die bis dahin durch einen ähnlichen Lebensstandard gekennzeichnet waren, wichen stark voneinander ab, denn Europa stieg ra-sant auf den Zenit seiner Macht, und Ostasien sank ebenso rasant auf seinen Tiefstpunkt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war China zum ärmsten Land der Welt geworden; Japan war ein militärisch besetzter, »halb-souveräner Staat«, und die meisten anderen Länder der Region kämpften entweder noch gegen die Kolonialherrschaft oder standen kurz davor, durch die Teilung im aufkommenden Kalten Krieg auseinandergerissen zu werden. In Ostasien gab es ebenso wenig Anzeichen wie anderswo für eine nahe bevorstehende

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Bestätigung von Smiths Behauptung, durch die Ausweitung und Vertiefung des Austausches in der Weltwirtschaft würde es zu einem Machtausgleich zwischen Völkern europäischer und nichteuropäischer Abstammung kom-men. Sicherlich hatte der Zweite Weltkrieg der Auflehnung gegen den We-sten gewaltigen Auftrieb verliehen. In Asien und Afrika wurde vielerorts die alte Staatssouveränität wieder hergestellt und massenweise neue wurden ge-schaffen. Doch mit der Entkolonialisierung ging die Errichtung des umfang-reichsten und potenziell zerstörerischsten Apparats westlicher Streitmacht einher, den die Welt je gesehen hatte.4

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, als es dem mächtigen US-amerikanischen Militärapparat nicht gelang, das vietnamesische Volk in eine permanente Spaltung entlang der Trennlinie des Kalten Krieges zu zwingen, schien die Situation sich zu verändern. Zum 200. Jahrestag der Veröffentli-chung von Wohlstand der Nationen und kurz nachdem die USA beschlossen hatten, sich aus Vietnam zurückzuziehen, fragte sich Paolo Sylos-Labini, ob die Zeit endlich gekommen sei, da - wie Smith es sich vorgestellt hatte - »die Bewohner aller Regionen der Welt den gleichen Mut und die gleiche Stärke erlangen, wodurch es zu einem Gleichgewicht in der Abschreckung kommt, das allein die Ungerechtigkeit unabhängiger Nationen in eine Art Respekt vor den gegenseitigen Rechten umzuwandeln vermag«. (Sylos-Labini 1976: 230-232) Die wirtschaftlichen Umstände schienen auch die Länder zu be-günstigen, die inzwischen die Dritte Welt bildeten.5 Ihre natürlichen Res-sourcen waren sehr gefragt, ebenso wie ihr üppiges und billiges Angebot an Arbeitskräften. Die Kapitalflüsse aus Ländern der Ersten in Länder der

4 Das weit auseinandergezogene/ausgreifende Netzwerk quasi dauerhafter Mili-tärstützpunkte in Ubersee, das die USA während und nach dem Zweiten Weltkrieg aufbauten, war, in Stephen Krasners Worten, »ohne historischen Präzedenzfall; kein Staat hatte zuvor seine eigenen Truppen in so großem Umfang während eines so lan-gen friedlichen Zeitabschnitts auf souveränem Territorium anderer Staaten stationiert.« (Krasner 1988: 21)

5 Die Entstehung einer »Dritten Welt« in den 1950ern war ein gemeinsames Produkt der Auflehnung gegen den Westen und der Weltordnung des Kalten Kriegs. Während der historische Nichtwesten fast vollständig der Dritten Welt zugeordnet wurde, spal-tete sich der historische Westen in drei verschiedene Bestandteile. Der wohlhabendste (Nordamerika, Westeuropa und Australien) machte zusammen mit Japan fortan die Erste Welt aus. Ein weniger wohlhabender Bestandteil (die UdSSR und Osteuropa) bildete fortan die Zweite Welt und ein weiterer (Lateinamerika) konstituierte zusam-men mit dem Nichtwesten die Dritte Welt. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Verschwinden der Zweiten Welt wurden die Ausdrücke Erste und Dritte Welt zu Ana-chronismen und durch die Ausdrücke globaler Norden bzw. Süden ersetzt.

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Dritten (und Zweiten) Welt verstärkten sich beträchtlich, die rasche Indus-trialisierung von Drittweltländern unterminierte die frühere Konzentration der Produktion in Erst- (und Zweit-)Weltländern, und Drittweltländer hat-ten sich über ideologische Gräben hinweg vereinigt, um eine neue internati-onale Wirtschaftsordnung zu fordern.

Als ich mich 18 Jahre später erneut mit Sylos-Labinis Überlegungen be-schäftigte, wurde mir klar, dass jede Hoffnung (oder Befürchtung) einer un-mittelbar bevorstehenden Angleichung der Chancen der Völker der Welt, von dem andauernden Prozess der weltweiten wirtschaftlichen Integration zu profitieren, voreilig gewesen war. In den 1980ern hatte eine von den USA vorangetriebene Eskalation des Wettbewerbs auf den weltweiten Finanz-märkten plötzlich die Versorgung der Dritt- und Zweitweltländer mit Gel-dern zum Versiegen gebracht und die Nachfrage nach ihren Produkten stark schrumpfen lassen. Die Handelsbedingungen waren so schnell und entschie-den zugunsten der Ersten Welt umgeschlagen, wie sie sich in den 1970ern zu ihren Ungunsten gekehrt hatten. Desorientiert und desorganisiert durch die zunehmende Turbulenz der Weltwirtschaft und in harter Bedrängnis infolge einer neuen Eskalation des Rüstungswettlaufs war das Sowjetreich zerfallen. Statt zwei einander feindlich gegenüberstehende Supermächte zur Verfügung zu haben, mussten Drittweltländer nun mit ehemaligen Zweitweltländern um den Zugang zu Märkten und Ressourcen der Ersten Welt konkurrieren. Gleichzeitig ergriffen die USA und ihre europäischen Verbündeten die Ge-legenheit, die sich durch den Zusammenbruch der UdSSR bot, mit einigem Erfolg Anspruch auf ein weltweites »Monopol« der legitimen Anwendung von Gewalt zu erheben, in dem Glauben, dass ihre Übermacht nicht nur größer war als je zuvor, sondern in jeder Hinsicht unanfechtbar. (Arrighi 1994: 21f.)

Nichtsdestotrotz wurde mir ebenfalls klar, dass die Gegenreaktion nicht die Machtverhältnisse von vor 1970 wieder hergestellt hatte. Denn das Schwinden der Sowjetmacht war von der Entstehung dessen begleitet ge-wesen, was Bruce Cumings den »kapitalistischen Archipel« von Ostasien getauft hat. (Cumings 1993: 25f.) Japan war bei weitem die größte der »In-seln« dieses Archipels. Von den übrigen waren die Stadtstaaten Singapur und Hongkong, der Garnisonsstaat Taiwan und die Teilnation Südkorea am wichtigsten. Keiner dieser Staaten war nach herkömmlichen Maßstäben mächtig. Hongkong war nicht einmal ein souveräner Staat, und die drei grö-ßeren Staaten - Japan, Südkorea und Taiwan - waren vollkommen abhängig von den USA, nicht nur im Hinblick auf militärischen Schutz, sondern auch

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auf Energie- und Nahrungsmittelvorräte sowie die profitable Veräußerung ihrer Erzeugnisse. Und dennoch zwang die kollektive Wirtschaftskraft des Archipels als neue »Werkstatt« und »Geldkassette« der Welt die traditio-nellen Zentren der kapitalistischen Macht - Westeuropa und Nordamerika - zur Umstrukturierung und Neuorganisation ihrer eigenen Industrien, ih-rer Wirtschaft und ihrer Lebensweise. (Arrighi 1994: 22)

Eine solche Trennung von militärischer und wirtschaftlicher Macht ist, so behauptete ich, in den Annalen der kapitalistischen Geschichte ohne Präzedenzfall und könnte sich in drei recht verschiedene Richtungen ent-wickeln. Die USA und ihre europäischen Verbündeten hätten versuchen können, ihre militärische Überlegenheit dazu einzusetzen, den entstehenden kapitalistischen Zentren Ostasiens »Schutzzahlungen« abzupressen. Wäre der Versuch gelungen, wäre möglicherweise das erste echte Weltreich der globalen Geschichte entstanden. Ohne einen solchen Versuch bzw. wenn er erfolglos geblieben wäre, dann wäre Ostasien im Lauf der Zeit möglicher-weise das Zentrum einer Weltmarktgesellschaft geworden, wie Adam Smith sie sich vorstellte. Aber es war auch möglich, dass die Trennung zu endlosem weltweiten Chaos führen würde. Wie ich es damals in einer Paraphrasie-rung Joseph Schumpeters ausdrückte: Ehe die Menschheit im Verlies (oder Paradies) eines West-zentrierten Weltreichs oder einer Ostasien-zentrierten Weltmarktgesellschaft erstickt (oder sich aalt), »könnte sie leicht im Schre-cken (oder dem Ruhm) der eskalierenden Gewalt verbrennen, die mit der Liquidierung der Weltordnung des Kalten Kriegs einhergegangen ist«. (Ar-righi 1994: 354-356, in Paraphrasierung von Schumpeter 1954: 163)

Die Trends und Ereignisse der 13 Jahre, seit dies geschrieben wurde, ha-ben die Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Eintreten jedes dieser Er-gebnisse radikal verändert. Die weltweite Gewalt ist weiter eskaliert und die Übernahme des Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert durch die Bush-Regierung in Reaktion auf die Ereignisse des 11. September 2001 war im Wesentlichen ein Versuch, dieses erste echte Weltreich der globalen Geschichte entstehen zu lassen (dazu näher Arrighi 2007: Teil 3). Das ab-grundtiefe Scheitern des Projekts auf irakischem Testgelände hat die Mög-lichkeit der tatsächlichen Entstehung eines West-zentrierten Weltreichs zwar nicht ausgeschlossen, aber doch stark verringert. Die Wahrscheinlichkeit eines endlosen weltweiten Chaos hat sich vermutlich vergrößert. Gleichzei-tig sind auch die Chancen für die Herausbildung einer Ostasien-zentrierten Weltmarktgesellschaft gestiegen. Die glänzenderen Aussichten für dieses Ergebnis sind zum Teil den verheerenden Auswirkungen des irakischen

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Abenteuers auf die US-amerikanische Weltmacht geschuldet. Größtenteils jedoch bestehen sie aufgrund von Chinas spektakulärem wirtschaftlichem Fortschritt seit den frühen 1990ern.

Chinas Aufstieg hat Auswirkungen von großer Tragweite. China ist kein Vasall der USA wie Japan oder Taiwan und auch kein bloßer Stadtstaat wie Hongkong und Singapur. Auch wenn die Reichweite seiner militärischen Macht im Vergleich zu den USA verblasst und das Wachstum seiner verar-beitenden Industrien immer noch von Exporten auf den US-amerikanischen Markt abhängt, ist die Abhängigkeit des Wohlstands und der Macht der USA vom Import billiger chinesischer Waren und von der Abnahme von US-Staatsanleihen durch China doch ebenso groß, wenn nicht größer. Und was noch wichtiger ist, China tritt immer stärker an die Stelle der USA als Hauptantriebskraft der Expansion von Wirtschaft und Handel in Ostasien und darüber hinaus.

Die übergreifende These in »Adam Smith in Beijing« ist, dass das Schei-tern des Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhunderts und der Erfolg der chinesischen Wirtschaftsentwicklung zusammengenommen die Verwirk-lichung von Smiths Vision einer Weltmarktgesellschaft auf der Grundlage größerer Gleichheit unter den Zivilisationen der Welt wahrscheinlicher ge-macht haben als je zuvor seit der Veröffentlichung von Der Wohlstand der Nationen vor fast 250 Jahren. Die Versuche der USA, die Erlangung von Macht durch den globalen Süden zurückzudrängen, schlugen auf sie selbst zurück. Sie haben das beschleunigt, was ich die »letzte Krise« der US-He-gemonie nenne, und günstigere Bedingungen für die Bildung eines Com-monwealth, einer Gemeinschaft der Zivilisationen, in der Art, wie Smith sie sich vorgestellt hat, geschaffen als je zuvor. Die Entstehung einer solchen Gemeinschaft ist bei weitem nicht sicher. Die westliche Dominanz kann auf viel subtilere Arten reproduziert werden als in der Vergangenheit, und ins-besondere bleibt auch eine lange Zeitspanne der eskalierenden Gewalt und des endlosen weltweiten Chaos möglich. Welche Weltordnung, oder Unord-nung, letztlich zustande kommen wird, hängt stark von der Fähigkeit der einwohnerstärkeren südlichen Staaten ab, zunächst und vor allem von China und Indien, sich und der Welt einen sozial gerechteren und ökologisch nach-haltigeren Entwicklungspfad zu eröffnen als denjenigen, der die Reichtümer des Westens hervorgebracht hat.

Aus dem Amerikanischen von Britta Dutke

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Literatur

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Arrighi, Giovanni (1994): The Long Twentieth Century: Money, Power and the Origins of Our Times, London

Arrighi, Giovanni (2007): Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhun-derts, Hamburg

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Cumings, Bruce (1993): »The Political Economy of the Pacific Rim«, in: R.A. Palat (Hrsg.), Pacific-Asia and the Future of the World-System, Westport/CT, 21-37

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Krasner, Stephen (1988): »A Trade Strategy for the United States«, in: Ethics and International Affairs, 2, 17-35

Ozawa, Terutomo (1993): »Foreign Direct Investment and Structural Transforma-tion: Japan as a Recycler of Market and Industry«, in: Business and the Contem-porary World, 5(2), 129-150

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Rozman, Gilbert (1991): The East Asian Region: Confucian Heritage and its Mo-dern Adaptation, Princeton

Schumpeter, Joseph (1954): Capitalism, Socialism, and Democracy, London Smith, Adam (1993/1961): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth

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Hyekyung Cho

Sozialistische Fata Morgana in kapitalistischer Wüste Die Il lusion vom chinesischen Sozialismus

In einem Zeitungsbericht (Süddeutsche Zeitung, 26.07.06) war zu lesen, dass die Kommunistische Partei Chinas (KP) die »Große Halle des Volkes« für ein Popkonzert vermietet. Die KP hat keinerlei Hemmungen mehr, die Volkskongresshalle, das wichtigste Symbolbauwerk und Wahrzeichen des chinesischen Sozialismus im Herzen Beijings, kommerziell zu vermarkten. Dies ist ein Zeichen für den Wandel, den die chinesische Gesellschaft in den letzten drei Jahrzehnten erlebt hat.

Infolge der marktwirtschaftlichen Reformen in China hat sich ein Wirt-schaftssystem herausgebildet, das kapitalistisch durchorganisiert und immer stärker von ausländischem Kapital abhängig ist. Die Marktbeziehungen, die anfänglich außerhalb von den sozialistisch-planwirtschaftlichen Strukturen und auf dem kleinen Gebiet am Rande des Landes auf Experimentierbasis erlaubt waren, haben inzwischen die gesamten Produktions- und Lebensbe-reiche durchdrungen. Das Gesetz einer Marktökonomie, die vom Kalkül von Profitmaximierung bestimmt wird, reicht inzwischen weit über das Wirt-schaftssystem hinaus. Die um sich greifende kapitalistische Verwertungslo-gik hat die gesamte Lebenswelt einschließlich der natürlichen Lebensgrund-lage in Besitz genommen und prägt den Habitus der Menschen. Die Parole »reich zu werden ist ruhmvoll«, mit der Deng Xiaoping die Bevölkerung für die Reformen geistig auszurüsten suchte, ist mittlerweile im Bewusstsein der Chinesen fest verankert. Das »heilige« Prinzip des Geldmachens kennt keine moralisch-ethischen und sozialen Grenzen. So beobachten wir heute einen aufblühenden Kapitalismus in China. Das drei Jahrzehnte lange Experiment mit dem Sozialismus nach der Chinesischen Revolution von 1949 scheint zu einer kurzen historischen Episode zu werden.

Die augenfällige Begleiterscheinung der kapitalistischen Transformation ist ein gewaltiges Wirtschaftswachstum, das das einst arme sozialistische Ent-wicklungsland zu einer Wirtschaftsmacht mit globaler Bedeutung gemacht

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hat. China hebt sich von den anderen Transformations- und Entwicklungs-ländern ab, indem es geschickt der »Falle« der neoliberalen Globalisierung entkommen zu sein scheint. Gegenüber der so genannten Schock-Therapie, mit der die ehemaligen sozialistischen Länder im Ostblock einen abrupten Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus durchsetzten, erweist sich die graduelle Strategie der politischen Führung in China als erfolg-reicher.

Das chinesische Wirtschaftswunder erregt eine weltweit große Aufmerk-samkeit. In einer unüberschaubar wachsenden Informationsflut in täglichen Medien wie wissenschaftlichen Publikationen kursieren viele Mythen, wel-che aus Missverständnissen und Fehlinterpretationen des chinesischen Re-formprozesses erwachsen. Der erste Mythos betrifft die These einer neu-en Supermacht China als der Herausforderer der USA und schöpft aus der Scheinrealität der statistischen Zahlen über Chinas ökonomische Leistungs-fähigkeit. Der zweite Mythos besteht in China als »dem neuen Eldorado der Weltwirtschaft«, das die Träumerei der internationalen Geschäftswelt über einen Markt mit einer schier unvorstellbaren Größenordnung widerspie-gelt. Der Jubel über grenzenlose kommerzielle Möglichkeiten in China hat in letzten Jahren allerdings deutlich nachgelassen. Stattdessen häufen sich ernüchternde Warnungen. Zuletzt ist der Sozialismusmythos zu nennen. Einige Kritiker des Kapitalismus sehen in Chinas ökonomischem Aufstieg ein erfolgversprechendes alternatives Modell zum Kapitalismus. Man wun-dert sich nur, wie ein Land wie China, das eine rücksichtslose Ausbeutung und Entrechtung der Lohnabhängigen wie der Armen betreibt und jegliche Möglichkeiten für demokratische Kontrolle über politische und ökono-mische Entscheidungsprozesse ablehnt, als ein wünschenswertes nachkapi-talistisches Modell qualifiziert werden kann.

Im Folgenden werden diese Mythen, insbesondere der Sozialismusmy-thos, kritisch beleuchtet. Ziel ist nicht, die theoretische Möglichkeit eines erfolgreichen Sozialismus anhand des chinesischen Beispiels zu überprü-fen. Vielmehr liegt das Hauptanliegen darin, die verbreiteten Missverständ-nisse über die chinesischen Reformen auszuräumen und dadurch die kapi-talistische Realität Chinas von Trugbildern und Projektionen der diversen Wunschvorstellungen zu bereinigen.

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Verwirrungen und Missverständnisse über Chinas politische Ökonomie

Chinas Wachstumserfolge seit 1979 werden in der gegenwärtigen Diskus-sion nahezu einhellig der marktwirtschaftlichen Transformation und der Einbindung in den globalen Kapitalismus zugeschrieben. Hier herrscht ein fundamentaler Konsens, der unabhängig von politischer und ideologischer Couleur von Befürwortern der neoliberalen Globalisierung über Kritiker des Marktliberalismus hin zu fundamentalen Kapitalismuskritikern reicht. Neuerdings werden von allen Seiten die soziale Verwahrlosung und eine ökologische Katastrophe in China registriert. Diese werden jedoch lediglich als »Kollateralschäden« des Wachstums angesehen.

Umstritten ist die Frage nach dem so genannten chinesischen Charakter der Marktwirtschaft. Dass sich die herrschende KP nach wie vor zum Sozi-alismus bekennt und an öffentlichem Eigentum an Produktionsmitteln als dessen Kern festhält, sorgt für einige Verwirrungen. Die KP ebenso wie ei-nige linke Kapitalismuskritiker vertreten unter Berufung auf Marx die Mei-nung, dass Marktwirtschaft und Sozialismus keinen Widerspruch darstellen. Demnach wird das chinesische Modell als eine sozialistische Marktwirtschaft charakterisiert, die sich einerseits von der - anarchischen - kapitalistischen Marktwirtschaft und andererseits vom - rigiden - sowjetischen Typus des Sozialismus unterscheidet. Im Gegensatz zu einer Planwirtschaft gilt eine Marktwirtschaft wegen der »flexiblen Regulierungsfunktionen« (Itoh 2003: 3) als wachstumsfördernd. Deren zerstörerische Natur jedoch würde durch eine sozialistische Politik gezähmt, die sich in der Dominanz des öffentlichen Eigentums an Produktionsmitteln äußern soll.

Wenn wir dieser Auffassung folgen, lautet die logische Schlussfolgerung, dass sich der Sozialismus im marktwirtschaftlichen China parallel zum schwindenden Anteil des staatlichen Eigentums im Prozess der Selbstauflö-sung befindet. Dennoch ist aus linken Kreisen zu hören, dass die sozialisti-sche Grundorientierung trotz des gesellschaftlichen Wandels mit eindeutiger kapitalistischer Prägung bewahrt würde (vgl. Itoh 2003; Peters 2005). Die Verfechter des chinesischen Sozialismus stützen sich zur Begründung ihrer Annahme auf die offiziellen Reformprogramme und übernehmen häufig Ar-gumente der KP. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die sozialistische Orientierung im gegenwärtigen China lediglich in der pro-pagandistischen Selbstdarstellung der KP vorzufinden ist. Die sozialistische Rhetorik der KP steht aber im Dienste der ideologischen Anpassung an die

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marktwirtschaftliche Transformation, wobei die Idee des Sozialismus dazu missbraucht wird, den Machtanspruch der KP ideologisch zu rechtfertigen.

Das zentrale Argument für die verbleibende sozialistische Grundorientie-rung in China ist die Dominanz des öffentlichen Eigentums. Diesbezüglich postuliert Makoto Itoh den staatlichen Anteil an den wichtigen Produktions-mitteln von über 50% als das Mindestmaß für eine sozialistische Marktwirt-schaft und hält eine gesellschaftliche Restriktion der privatwirtschaftlichen Expansion für unverzichtbar. (Itoh 2003: 7) Das öffentliche Eigentum oder Gemeineigentum, das auch von der KP als Kernstück des chinesischen So-zialismus propagiert wird, ist eine begriffliche Neuschöpfung in den späten 1990er Jahren, als die flächendeckende Privatisierung der Staatsbetriebe voll in Gang kam. Im Unterschied zum früheren strengeren Verständnis des Staatseigentums schließt öffentliches Eigentum die Beteiligung privaten Ka-pitals ein. Aufgrund der undurchsichtigen und unzuverlässigen chinesischen Statistiken sowie der neu entstandenen diversen Mischeigentumsformen ist weder eine klare Grenzziehung zwischen staatlichen und privaten Betrieben noch eine genaue Angabe über die staatlichen bzw. privaten Anteile mög-lich. Klar ist jedoch, dass sich der Abbau des öffentlichen Sektors fortsetzt. Die Zahl der staatlich kontrollierten Unternehmen sinkt von Jahr zu Jahr rapide. Eine im Jahr 2005 veröffentlichte Studie der OECD belegt, dass im Jahr 2003 der Anteil des Privatsektors am BIP 59,2% betrug und somit den öffentlichen Sektor übertraf.1 In aktuellen Zahlen liegt der Anteil des Pri-vatsektors mit 70% des BIP noch höher.2 Aufgrund dieses Wandels sind die bisherigen Argumente für den chinesischen Sozialismus in der Propaganda der KP hinfällig geworden.

Der Abbauprozess des Staatsektors in China ist noch nicht abgeschlos-sen, und politische Restriktionen oder »sozialistisch« tragfähige Grenzzie-hungen in diesem Prozess sind dabei nicht zu erkennen.

Die wenigen übriggebliebenen Staatsbetriebe gelten als das Spiegelbild der technologischen Rückständigkeit und Ineffizienz der chinesischen Wirt-schaft. Daher wird der Reformbedarf unermüdlich propagiert. Zudem reicht die quantitative Dominanz des staatlichen Eigentums nicht aus, einen So-zialismus zu qualifizieren. Wie die historischen Erfahrungen des realen So-

1 Der Privatsektor umfasst alle Betriebe, die weder vom Staat noch von kollektiven Eigentümern kontrolliert werden. OECD, Economic Survey of China 2005, Published on 16 September 2005. (http://www.oecd.Org/document/21/0,2340,en_2649_201185_ 35331797_l_l_l_1.00.html)

2 »China Is a Private-Sector Economy«, Business Week, 22. Aug. 2005.

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zialismus in China und Osteuropa zeigen, beseitigt die Verstaatlichung der Produktionsmittel nicht die Ausbeutung. Im heutigen China unterschieden sich die Staatsbetriebe in ihren Geschäftstätigkeiten nicht mehr von privaten Unternehmen. Dieser Kritikpunkt führt uns zu der zentralen argumenta-tiven Schwäche bei den Verfechtern des chinesischen Sozialismus, dass sie nämlich den bestehenden KP-Staat als Garant der sozialistischen Politik un-hinterfragt voraussetzen. Der grundlegende Wandel des Herrschaftscharak-ters, der die Verschiebung der ökonomischen und sozialen Machtstrukturen im Zuge der Durchkapitalisierung reflektiert, bleibt im Dunkeln. So wirkt der KP-Staat wie eine geheimnisvolle Black box, eine rätselhaft mächtige Ge-stalt, die die Fata Morgana eines sozialistisch-demokratischen China hervor-ruft.3 Im Glauben an die Fähigkeit des KP-Staates, den späteren Übergang zum Sozialismus bewerkstelligen zu können, lebt der Staatskult, der fatale Irrtum des realen Sozialismus im 20. Jahrhundert, fort. Der Niedergang des realen Sozialismus jedoch lehrt uns, dass das Zentrum im Kampf für eine so-zialistische Politik nicht der Aufbau eines allmächtigen vorsorgenden Staa-tes, sondern die Stärkung der Demokratie sein sollte.

Chinas Wachstum: Sozialistisch oder marktwirtschaftlich?

Wir beginnen mit dem eingangs erwähnten fundamentalen Konsens der Gleichsetzung von Wirtschaftswachstum und Marktwirtschaft. Zu klären ist die Frage, inwiefern das chinesische Wachstum mit den marktwirtschaft-lichen Reformen in Verbindung gebracht werden kann. Wie in aller Munde ist, wuchs die chinesische Wirtschaft seit 1979 im Jahresdurchschnitt um knapp 10%. Hohes Wirtschaftswachstum in China ist jedoch kein charakte-ristisches Merkmal der marktwirtschaftlichen Reformen. Im Gegenteil ver-zeichnete China schon vorher hohe Wachstumsraten. Zwischen 1953 und 1977 betrug die jährliche Wachstumsrate des Nationaleinkommens 6,7%.

3 Das scheint für mich die einzig nachvollziehbare Erklärung über das Beharren des Sozialismusmythos. Helmut Peters, ein Verfechter des chinesischen Sozialismus, stellt mittlerweile fest, dass die ökonomischen und sozialen Strukturen in China eine »unverkennbar kapitalistische Einfärbung« aufweisen. Trotzdem schließt er die Mög-lichkeit nicht aus, dass »sich unter Führung der KP auch eine Art national-demokra-tische Gesellschaft (mit starken Elementen des nationalen Kapitalismus) im Sinne einer allseitigen Vorbereitung auf den späteren (neuen) Übergang zum Sozialismus gestalten lässt«, ohne eine plausible Erklärung für diese Möglichkeit abzugeben. (Vgl. Peters 2006.)

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Die Zuwachsrate im Industriesektor im gleichen Zeitraum war noch höher und lag im Jahresdurchschnitt bei 14,4%. Das hohe Wachstum in dieser Pe-riode ging auf den big push zur Schwerindustrialisierung nach dem sowje-tischen Vorbild zurück. Dank des massiven Aufbaus der Schwerindustrie, die als Avantgarde-Industrie des Sozialismus galt, zählte China bereits in den späten 1970er Jahren zu einem der größten Stahl- und Zementproduzenten der Welt, was wegen seiner wirtschaftlichen Autarkie verständlicherweise von keiner Bedeutung für den kapitalistischen Weltmarkt war. Die schwer-industrie-zentrierte Industrialisierung wurde durch die wirtschafts- und in-vestitionspolitische Diskriminierung der Landwirtschaft sowie durch die auf niedrigem Niveau festgesetzten Löhne und den erzwungenen Konsumver-zicht erreicht. Die ländliche Bevölkerung erhielt zwar die minimalen Sozi-alleistungen durch das Kommunensystem. Das Sozialrevolutionäre Ziel der Befreiung von Armut und Unterdrückung blieb jedoch eine leere Verspre-chung. Selbst die privilegierte städtische Bevölkerung erreichte kaum einen Lebensstandard oberhalb des Existenzminimums.

Wird der Blick dennoch auf makroökonomische Zahlen gerichtet, war das chinesische Wachstum in der Periode des maoistischen Sozialismus zwar niedriger als das in der marktwirtschaftlichen Reformära, jedoch deutlich höher als in vielen kapitalistischen Entwicklungsländern.4 Dies hatte vor 1978 eine entwicklungstheoretische Debatte um das chinesische Modell des Sozialismus und dessen Übertragbarkeit auf andere Länder ausgelöst. (Vgl. Dernberger 1980.) Die relativ positive Gesamtbilanz des Wirtschaftswachs-tums im maoistischen China liefert ein Gegenbeispiel zur Annahme, das Wachstum als das natürliches Begleitprodukt der marktwirtschaftlichen Re-formen betrachtet wird. Wie Makoto Itoh zu Recht kritisiert, ist diese Sicht-weise ein »enges ideologisches Gerüst« (Itoh 2003: 2). Angesichts der Tatsa-che, dass die chinesische Wirtschaft bislang mit oder ohne Marktwirtschaft schneller als die meisten der kapitalistischen Entwicklungsländer gewachsen ist, erscheint die Frage zwar berechtigt, inwiefern dies mit dem Sozialismus chinesischer Prägung im Zusammenhang steht. Itohs Schlussfolgerung, dass das chinesische Wachstum seinen sozialistischen Grundlagen zugeschrie-ben werden soll, ist jedoch voreilig. Meines Erachtens kann das chinesische

4 Das gleiche gilt z.B. für die Sowjetunion in den 1950er und 1960er Jahren und Nordkorea nach dem Koreakrieg bis Ende der 1970er Jahre. Seitdem die Marktwirt-schaft synonym für Wachstum geworden ist, werden die Anfangswachstumserfolge in der sozialistisch-planwirtschaftlichen Industrialisierung einfach ignoriert.

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Wachstum weder mit der sozialistischen noch mit der marktwirtschaftlichen Grundorientierung ausreichend erklärt werden.

Das schnelle Wachstum in China ist vielmehr das Resultat der staatlich organisierten Industrialisierung, also des systematischen Transfers der Wirt-schaftsressourcen - Kapital und Arbeitskräfte - von der Landwirtschaft zum Industrie- und Dienstleistungssektor. Im ersten Anlauf der sozialistischen Industrialisierung sank der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandspro-dukt (BIP) von 57,3% im Jahr 1952 auf 34,5% im Jahr 1977. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil des Industriesektors von 22,7% auf 47,8% des BIP mehr als verdoppelt. Nach 1978 wurde der industrielle Strukturwan-del in der Kombination mit der marktwirtschaftlichen Transformation fort-gesetzt. Die Landwirtschaft schrumpfte auf 13,8% des BIP im Jahr 2005. Der Industrie- und Dienstleistungssektor erreichte im gleichen Jahr jeweils 52,9% und 33,3% des BIP. Dabei bildete die investitionspolitische Verschie-bung von der Schwer- zur Konsumgüterindustrie den zentralen Anschub für die markwirtschaftlich orientierte Industrialisierung nach 1978. Durch die boomende Konsumgüterproduktion und die steigenden Löhne kam China allmählich aus der schwerindustriellen Mangelwirtschaft heraus. Der alltägliche Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich merklich. Die KP hat eine erfolgreiche staatlich gelenkte Industrialisierung bewerkstelligt, zunächst mit planwirtschaftlicher, dann mit marktwirtschaftlicher Methode. Wie die chinesische Führung immer wieder den berühmten Spruch von Deng Xiaoping zitiert, »ist es egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache sie fängt Mäuse«.

Wachstum und das chinesische Problem

Als nächstes ist zu fragen: Was führte dazu, dass die KP Ende der 1970er Jahre für die Marktwirtschaft als den besseren Weg zum Wachstum optierte? Was treibt die KP-Führung dazu, die marktwirtschaftlichen Reformen kon-sequent durchzusetzen? Wie oben erwähnt, liegt das Problem für China nicht in mangelndem Wachstum, sondern in der Qualität des Wachstums. In Bezug auf die alte und neue Frage, ob das relativ hohe Wachstum in China mit oder ohne Marktwirtschaft einen vorbildlichen Modellcharakter besitzt, ist ein tiefergehender Blick in den Wachstumsprozess notwendig. Charakte-ristisch für das chinesische Wachstum waren die investitionsgetriebene quan-titative Expansion der Produktionskapazität mit sinkender Produktivität

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sowie das Nebeneinander von Überkapazitäten und Versorgungsengpässen. Vor 1978 hatte die KP-Führung mit der Dezentralisierung der Planautori-tät versucht, diesen Problemen entgegenzuwirken. Diese Maßnahme jedoch war nicht nur wirkungslos, sondern verschlimmerte sogar die Situation. Die Folge war ein Zickzack von Re-Zentralisierung und Dezentralisierung. Die Re-Zentralisierungsphase war mit dem rückläufigen, und die Dezentralisie-rungsphase mit dem exzessiven Wachstum verbunden. Dies kam in extremen Schwankungen zum Ausdruck, zwischen dem dramatischen Rückgang von -29,7% im Jahr 1961 und dem höchsten Stand von +23,3% im Jahr 1970. Da die - zentrale oder dezentrale - Planung die ihr zugedachte Funktion einer effektiveren Ressourcenallokation nicht erfüllte, begann die KP in den 1970er Jahren mit dem Experiment von Marktmechanismen.

Wie bekannt, war die chinesische Transformation gradualistisch. Die gra-duelle Transformation war kein planmäßiger Prozess. Sie wurde vom Aus-einanderklaffen von Resultaten und Intentionen der Reformexperimente getrieben. Es ist anzumerken, dass nicht der Erfolg der jeweiligen Reform-schritte, sondern deren Fehlschlag den Pfad und die Dynamik der Transfor-mation bestimmte.

Experimente mit dem Marktsozialismus und sein Scheitern Die Anfangsphase in den 1980er Jahren, in der die ideologischen Berüh-rungsängste mit dem Kapitalismus noch stark vorhanden waren, war von marktsozialistischen Reformansätzen geprägt. Ziel war die Wiederbelebung des Sozialismus, der während der katastrophalen Großen Proletarischen Kulturrevolution (1966-1976) nahezu erstickt wurde. Während der plan-wirtschaftliche Rahmen weiterhin der bestimmende Faktor für den Wirt-schaftsprozess blieb, wurden marktwirtschaftliche Elemente - mehr Auto-nomie der Staatsbetriebe bei Geschäftsentscheidungen unter Beibehaltung des Staatseigentums - als Hilfsmittel eingeführt, um die maroden Staatsin-dustrien effizient und rentabel zu machen. Die Öffnung für den kapitali-stischen Weltmarkt wurde beschlossen, um die Staatsindustrien mit Hilfe der entwickelten ausländischen Technologien zu modernisieren.

Die ersten Reformen in der Landwirtschaft, die zum starken Einkom-menszuwachs der Bauern führten, wurden zunächst als erfolgreich bewer-tet. Diese Erfolge gingen im Wesentlichen auf die Erhöhung der staatlichen Ankaufpreise für Agrarprodukte zurück. Sie waren aber von kurzer Dau-er, weil das aufgrund der drastisch zugenommenen Haushaltsdefizite nicht mehr finanziert werden konnte. Die folgenden Reformen im Industriesek-

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tor zeigten die ähnlichen Züge. Das landesweite Investitionsfieber war von den Subventionen finanziert. Die Löhne stiegen ebenso wie die Verluste der Staatsbetriebe, was mehr Subventionen erforderte und dem Staat einen Schuldenberg hinterließ. Das Experiment der wirtschaftlichen Öffnung der ersten Sonderwirtschaftszonen hatte zwar ein steigendes Außenhandelsvo-lumen zur Folge. Dies ging jedoch mit wachsenden Handelsbilanzdefiziten einher, die China nicht eigenhändig finanzieren konnte und die in den Jahren 1981 und 1986 mit den Hilfskrediten vom IWF finanziert werden mussten.

Neben den akuten Finanzierungsproblemen sah sich die KP-Führung mit dem gleichen Strukturproblem wie vor 1978 konfrontiert. Das anstelle der staatlichen Planung eingeführte Selbstverantwortungssystem der Wirtschafts-subjekte ließ dem unstillbaren Drang zur Investitionsexpansion freien Lauf, der zu einem massiven Aufbau von Produktionskapazitäten im staatlichen und kollektiven Sektor führte. Hinzu kam der starke Zuwachs des Privatsektors, der sich außerhalb des öffentlich-staatlichen Sektors schnell entfaltete. Dies schlug sich in hohem Wirtschaftwachstum nieder. Jedoch traten die erhofften Effekte von effizienter Ressourcenallokation und Wachstumsstabilität nicht ein. Hingegen erreichte der angeheizte lokale Wachstumswettkampf Ende der 1980er Jahre einen Zustand wirtschaftspolitischer Anarchie und löste eine ökonomische Krise aus,5 die dann in einer politischen Krise eskalierte. Das eigentliche Ziel des Aufbaus leistungsfähiger Staatsindustrien schlug fehl. Die Produktivität der Staatsbetriebe sank weiter, während deren Verluste stetig wuchsen. Damit war das Ende der Marktsozialismus-Experimente erreicht.

Seither wurde das altbekannte Qualitätsproblem im chinesischen Wachs-tumsprozess als »überhitztes Wachstum« bezeichnet und von der Zentral-regierung als die Hauptplage angesehen.6 Dieses Problem hatte wenig mit der »Anarchie des Marktes« zu tun, weil eine funktionierende Marktwirt-schaft in China nicht existiert. Hingegen war der »local developmentalism« die treibende Kraft für die unkontrollierbare Expansion der Produktionska-

5 Das starke Wachstum des Industriesektors in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verschlimmerte die Versorgungsengpässe mit Elektrizität und Rohstoffen. Als Folge ging die Inflationsrate in die Höhe und die Industrieproduktion musste eine Zwangs-pause einlegen. Angesichts dessen scheuten einige lokale Regierungen nicht davor zu-rück, Militäreinheiten einzusetzen, um die Versorgung mit Rohstoffen für ihre Indus-trien zu sichern.

6 Dieser lag die Angst vor Inflation zugrunde. Die Bekämpfung der Inflation bildete die Priorität der Wirtschaftspolitik der Zentralregierung. Dieses Thema verlor Ende der 1990er Jahre angesichts der Deflationstendenz kurzzeitig an Aktualität. Im Jahr 2004 kehrte die Sorge um das »zu viel Wachstum« wieder.

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pazitäten ohne Rücksicht auf die realen Absatzmöglichkeiten oder Verluste. Die Motive lokaler Wirtschaftssubjekte waren zwar marktwirtschaftlich be-stimmt, nämlich höhere Profite zu erzielen. Die Umsetzung dieser Ziele je-doch erfolgte in staatlicher Regie auf lokaler Ebene. Da die marktwirtschaft-liche Selbstregulierungsmechanik einer »Schumpeterschen schöpferischen Zerstörung« aus politisch-ideologischen Gründen noch nicht erlaubt war, konnte das überhitzte Wachstum nur durch zentralstaatliche Zwänge - die Beschränkung der Kreditvergabe - gebremst werden. Die darauffolgenden Wachstumsrückschläge wurden durch die Abwertung der chinesischen Währung kompensiert, die zu einem explosionsartigen Exportwachstum führte. Auf diese Weise wurde die binnenwirtschaftliche Überakkumulation externalisiert. Darin findet man nicht nur eine Erklärung, warum die Wachs-tumsschwankungen in der Reformära weniger extrem ausfallen, sondern auch ein völlig neues Element im Wachstumsprozess seit 1978, nämlich Chi-nas Eintritt in den globalen Kapitalismus. Jedoch die zentralstaatliche In-tervention zur Kontrolle des local developmentalism wirkte nur kurzzeitig. Das ordnungspolitische Eingreifen der Zentralregierung scheiterte häufig an der dezentralisierten wirtschaftspolitischen Entscheidungs- und Implemen-tierungsstruktur. Aufgrund der begrenzten Möglichkeit der KP-Führung, lokale Entwicklungen zu beeinflussen, setzte die KP-Führung zunehmend auf die Macht der Marktgesetze, um die Fehlentwicklungen zu korrigieren und das Wachstum nach ihrer Zielvorstellung zu gestalten.

Perfektionierung der Marktwirtschaft Nach einem heftigen internen Richtungsstreit Ende der 1980er Jahre schrieb die KP-Führung die Etablierung einer vollständigen Marktwirtschaft in ihren Reformprogrammen fest. Sie machte die politische Intervention auf lokaler Ebene für die krisenhafte Entwicklung in den 1980er Jahren verantwortlich. Um ein »richtiges« Wachstum zu ermöglichen, sah die Zentralregierung ihre Hauptaufgabe darin, die Marktgesetze sich frei von staatlicher Einflussnahme entwickeln zu lassen. Anfang der 1990er Jahre wurde die Produktionsplanung gänzlich abgeschafft und die Preisbildung der Agrar- und Industrieprodukte wurde mit wenigen Ausnahmen dem Markt überlassen. Der Importsubstitu-tion galt zwar weiterhin die entwicklungsstrategische Priorität. Jedoch wurde die Öffnung der Binnenmärkte für ausländisches Kapital ausgeweitet, um die technologische Modernisierung der Staatsbetriebe zu beschleunigen.

Dieser Reformanstoß hatte erneut das überhitzte Wachstum in den Jah-ren 1992/93 zur Folge. Die Investitionen schnellten Anfang der 1990er Jahre

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wieder in die Höhe. Die Verluste der Staatsbetriebe erreichten Rekordhö-hen. Dies führte die KP-Führung zu einem radikalen Politikwechsel für den Staatssektor mit dem Ziel des Abbaus der Überkapazitäten und der Pro-fitsteigerung. Seitdem entfielen alle bisherigen politisch-ideologischen Tabus. Die Abwicklung der ineffizienten Staatsbetriebe wurde erlaubt. Die wenigen Überbleibsel der sozialistischen Elemente aus der Vergangenheit verschwin-den, indem die Staatsbetriebe von sozialpolitischen Verpflichtungen befreit und diese Aufgaben kommerzialisiert wurden. Mit der Reform der Eigen-tumsrechte ging die faktische Privatisierung der Staatsbetriebe zügig voran, auch wenn die KP-Führung diesen Begriff vermeidet.

Die marktwirtschaftliche Auflösung des Staatssektors in China war ei-gentlich dazu gedacht, unrentable von rentablen Betrieben zu trennen und dann nur die ersteren abzuwickeln. Davon blieben die strategisch wichtigen Branchen - u.a. industrielle Rohstoffe und Finanzdienstleistungen, in denen das Monopol der großen Staatsbetriebe herrscht - vorerst verschont. Ent-gegen der ursprünglichen Absicht der KP-Führung verlief der Prozess aber blind für diese Unterscheidung, so dass die staatlichen Vermögen unkon-trolliert in Privathände übertragen wurden. Das geht darauf zurück, dass der Privatisierungsprozess in China ohne »Masterplan« vom Interessenkalkül der lokalen Entscheidungsträger getrieben wurde.7 Bei kleineren und mittle-ren Betrieben ist der Privatisierungsprozess weitgehend abgeschlossen. Die großen Staatsunternehmen wurden nach der internen Rationalisierung und Restrukturierung in Aktiengesellschaften umgewandelt, wobei die Mehrzahl davon noch unter staatlicher Kontrolle bleibt.

Die marktgerechte Restrukturierung des Staatssektors verbesserte die Finanzdaten der übriggebliebenen Staatsbetriebe. Sie hatte aber verheeren-de sozioökonomische Folgen, die sich in den späten 1990er Jahren in Mas-senarbeitslosigkeit, Deflation, einem gewaltigen Berg notleidender Kredite der staatlichen Banken und schließlich in einem Wachstumsrückgang aus-drückten. Die Zentralregierung versuchte durch die Exportsteigerung aus dieser binnenwirtschaftlichen Wachstumskrise zu kommen. Dafür gab sie

7 Die Privatisierung gilt generell als der beste Weg zur Effizienzsteigerung. Die end-gültige Entscheidung wird bestimmt von den Realisierungschancen der anvisierten fi-nanziellen Vorteile für alle Beteiligten - lokale Regierungen als Eigentümer, staatliche Banken als Finanziers, Manager und Beschäftigte. Das regional unterschiedliche Tempo der Privatisierung in China erklärt sich daraus. Ausführlich zum Privatisierungsprozess in China siehe Green/Lui 2005.

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den jahrzehntelangen Widerstand gegen den »freien Handel« auf und stimmte den Auflagen des WTO-Beitritts für eine umfassende Marktöffnung zu.

Der WTO-Beitritt führte zu einem starken Exportzuwachs und kurbelte das Wachstum wieder an. Zugleich stürmten ausländische Investoren den Markt, um von der Öffnung der bis dahin schwer zugänglichen Binnen-märkte zu profitieren. Der von außen kommende Wettbewerb erhöhte den Druck auf die laufende Reform der Schlüsselunternehmen, die bislang dank ihrer Monopolstellung am Binnenmarkt natürliche Wettbewerbsvorteile ge-nossen hatten. Hier geht eine stille Privatisierung durch die Veräußerung der staatlichen Anteile an private Investoren vor sich. Erst Mitte 2003 schaffte die Zentralregierung eine Aufsichtsbehörde für das staatliche Eigentum, um den unkontrollierten Billigausverkauf des staatlichen Eigentums zu verhindern und den Transfer der staatlichen Anteile zu überwachen. Die verspäteten Versuche, die Privatisierung zu regulieren, spiegeln die bittere Erkenntnis über das Ergebnis der Reformen wider. Die Strategie »Tausch von (aus-ländischer) Technologie gegen (Binnen-)Markt«, die zur Verringerung des technologischen Abstands zwischen China und den entwickelten Industrie-staaten angewandt wurde, hat mehr dem ausländischen Kapital geholfen, sei-ne Präsenz in China auszuweiten. Der Reformzustand der Staatsindustrien bleibt trotz aller bisherigen Versuche vom angestrebten Ziel meilenweit ent-fernt. Dennoch hält die KP-Führung an dieser Strategie fest und fördert den Verkauf der staatlichen Anteile an ausländische Investoren.

Wachstumserfolge während der kapitalistischen Transformation

Die bisherigen Reformen sind aus der Sicht der KP-Führung nur bedingt er-folgreich. Denn sie hat nach wie vor mit dem Qualitätsproblem des Wachs-tums sowie mit dem local developmentalism zu kämpfen, der sich gegenüber disziplinarischen Maßnahmen aus Beijing unempfänglich zeigt. Dennoch ist Chinas Wirtschaftswachstum seit 1978 zweifellos bemerkenswert. Hier stellt sich die Frage, wie sich das Wachstum vor und nach 1978 voneinander unterscheidet.

Der Kern der erfolgreichen Industrialisierung in China ist die Mobili-sierung der ökonomischen Ressourcen unter einem autoritären Regime.8 In

8 Parallelen finden wir in den ostasiatischen Schwellenländern. Zum Vergleich zwi-schen dem sowjetischen und dem ostasiatischen Wachstumsmodell siehe Krugman 1994.

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dieser Hinsicht weist die chinesische Industrialisierung vor und nach 1978 eher eine Kontinuität als einen Bruch auf. Trotz der marktwirtschaftlichen Transformation kontrolliert der Staat den gesamten Ablauf des Wirtschafts-prozesses, wobei die direkte Intervention, sprich die unternehmerische Tätigkeit des Staates, nun eine zweitrangige Rolle spielt. Auch wenn die Produktionsplanung abgeschafft wurde, sind planwirtschaftliche Elemente weiterhin von signifikanter Bedeutung, indem der Staat Wachstumsziele - jährlich und fünfjährig - festlegt und dementsprechend nötige Ressourcen mobilisiert und zuteilt. Was die Investitionen betrifft, behält der staatliche Sektor in China mit einem Anteil von über 50% immer noch die führende Position, auch wenn der Privatsektor die Oberhand in der Wirtschaftslei-stung hat. An diesem Punkt versagen die neoklassischen Wirtschaftslehren.

Die Industrialisierungserfolge im Zuge der kapitalistischen Transformati-on basieren nicht nur auf der Ausbeutung der Lohnarbeit. Mit seiner Kon-trollmacht über die ökonomischen Ressourcen befördert der Staat das Unter-nehmertum und diszipliniert es dazu, nach profit-orientierten Marktgesetzen zu handeln. Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zum Staatssozi-alismus vor 1978. Das konsequent verfolgte Ziel war, die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Industrien zu erhöhen. Die direkt und indirekt staatlich kontrollierten Unternehmen hatten von der KP-Füh-rung angesetzte Ziele zu erfüllen und mussten entsprechende Leistungen erbringen, um sich behaupten zu können. Im Sozialismusmythos wird diese Art des Wachstumsregimes, in der der Staat als Patron der wirtschaftlichen Entwicklung fungiert, irrtümlicherweise mit Sozialismus verwechselt. (Vgl. Itoh 2003: 20.)

Ein weiteres wichtiges Element für den chinesischen Erfolg ist die Inte-gration in den globalen Kapitalismus. Ausländisches Kapital profitiert davon und leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, dass China zur Werkbank der Welt geworden ist.9 China steht auf der Seite der Gewinner der neoliberalen Globalisierung. Es ist mehr als fraglich, den chinesischen Staatskapitalismus als eine Opposition oder gar eine Gegenmacht gegen den neoliberalen Ka-pitalismus darzustellen, weil Chinas Export von der neoliberalen Globali-sierung abhängt und auch von der neoliberalen »Konterevolution« in den entwickelten Industriestaaten profitiert. Insofern gibt es für die chinesische

9 Der Anteil der ausländischen Unternehmen am chinesischen Export und Import lag im Jahr 2005 jeweils bei 58,5% und 58,7% gegenüber 0,4% und 1,9% im Jahr 1986. Der ausländische Anteil am Export der Hochtechnologiegüter ist besonders hoch. Im Jahr 2004 entfielen 87,3% davon auf die ausländischen Unternehmen.

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Regierung wenig Grund, sich der neoliberalen Globalisierung entgegenzu-stellen.

Allerdings ist der chinesische Wachstumserfolg mit einem Makel behaf-tet, der weder von der sozialistischen noch von der marktwirtschaftlichen Industrialisierung zu beheben war: die rückständige Landwirtschaft, die zu-gunsten der Industrialisierung benachteiligt und geopfert wurde. Die Fra-ge, wie die KP in Zukunft das Problem meistern könnte, bleibt offen. Das derzeitige Lösungskonzept scheint in der Beschleunigung der Industrialisie-rung und Urbanisierung zu liegen. Denn angesichts der Tatsache, dass immer noch über 60% der Bevölkerung in ländlichen Regionen leben und 49% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt sind, ist noch genügend Kapazität dafür vorhanden. Dadurch kann China moderner und das von der chinesischen Regierung erklärte Ziel »bescheidener Wohlstand für alle« ver-wirklicht werden. Konkret bedeutet das die Erhöhung des Pro-Kopf-Ein-kommens von derzeit US$ 1.740 auf US$ 3.000 im Jahr 2020. Jedoch schafft die forcierte Industrialisierung und Urbanisierung andere Probleme: die Verknappung des Ackerlandes, die Versorgungsengpässe mit industriellen Rohstoffen, die Umweltbelastung und die zunehmende Scherenentwicklung zwischen arm und reich. Diese Probleme, die heute bereits dramatische Aus-maße angenommen haben, wachsen schneller als die Politik der KP darauf reagieren kann. China, dem niemand das Recht auf die Industrialisierung absprechen kann, droht seinem eignen Wachstum zum Opfer zu fallen.

Autoritärer Staatskapitalismus

Was die chinesische Transformation hervorgebracht hat, ist keine Markt-wirtschaft, sondern ein autoritärer Staatskapitalismus. Durch den von der KP-Führung ausgeübten Leistungsdruck bildet sich die kapitalistische Ordnungsstruktur heraus. Entscheidend dafür ist die Restrukturierung des Staatssektors seit Anfang der 1990er Jahre. Sie hat die sozialistischen Ele-mente aus der Vergangenheit abgeräumt. Der Transfer des staatlichen Eigen-tums in die Privathände hat eine Schar von neureichen Kapitalisten hervor-gebracht. Während ein immer geringerer Teil der Bevölkerung als rechtlose billige Arbeitskräfte vom wachsenden Kapital genutzt wird, mehrt sich die industrielle Reservearmee. Eine »normale« Begleiterscheinung dieses Wan-dels ist der wachsende Gegensatz zwischen arm und reich. Die Entwicklung der Produktivkräfte im Zuge der raschen Industrialisierung hat zwar Millio-

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nen Menschen aus der Armut herausgeholt, die u.a. auf den niedrigen Indus-trialisierungsgrad zurückgeht. Sie schafft aber eine andere Art von Armut, die durch die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse verursacht wird. Die heutige Armut ist nun der Preis des wachsenden Reichtums und Wohlstands einer kleinen Minderheit.

Die neuen Kapitalisten wachsen in einer engen Verbundenheit mit dem KP-Staat. Schließlich war er ihr Geburtshelfer. Zudem gewährt er die po-litischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Kapi-talisten frei entfalten können. Diese bilden die Machtbasis der KP, denn sie sind die Helden für das neue China. Diese enge Verbundenheit der neuen Kapitalisten mit der Partei ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass die KP-Herrschaft trotz aller sozialen Probleme stabil geblieben ist. Jedoch stellt die wachsende Macht des Privatkapitals eine künftige Herausforde-rung für den autoritären Staatskapitalismus dar. Dessen Erfolg ist mit einer bestimmten Entwicklungsphase verbunden, in der die Bedingungen für eine kapitalistische Marktwirtschaft noch nicht ausgereift waren. Wie der Un-tergang der autoritären Entwicklungsstaaten in Ostasien gezeigt hat, gerät die staatliche Bevormundung zunehmend in Konflikt mit den Interessen des wachsenden Privatkapitals. Auch entlang der kapitalistischen Entwicklung formieren sich neue gesellschaftliche Konflikte, die wie Helmut Peters zu Recht bemerkt, durch den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital ge-prägt sind. (Peters 2005) Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Interessen-gegensatz von Arbeit und Kapital per politische Anordnung des autoritären Staates miteinander versöhnt werden könnte. Die größte Schwäche der au-toritären Entwicklungsstaat-Strategie liegt darin, dass sie leicht das Opfer von ihr selbst provozierter innenpolitischer Unruhen werden kann. Die Un-terdrückung der Demokratie im autoritären Staatskapitalismus ist die unab-dingbare Voraussetzung für sein Bestehen, kann aber zugleich zur Ursache für seinen eigenen Untergang werden.

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Literatur

Cho, Hyekyung (2005): Chinas langer Marsch in den Kapitalismus, Münster. Dernberger, Robert (Hrsg.) (1980): China's Development Experience in Compa-

rative Perspective, Cambridge/London. Green, Stephen/Lui, Guy S. (Hrsg.) (2005): Exit the Dragon? Privatization and

State Control in China, London. Hart-Landsberg, Martin/Burkett, Paul (2004): China and Socialism: market re-

forms and class struggle, New York. Itoh, Makoto (2003): Sozialistische Marktwirtschaft und der chinesische Weg.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7-8. Krugman, Paul (1994): »The Myth of Asia's Miracle«, in: Foreign Affairs, Bd. 73,

Nr. 6. Peters, Helmut (2005): »Gefährdet der Aufstieg der VR China zu einer globalen

Macht den Weltfrieden?«, AG Friedensforschung an der Uni Kassel (http:// www.uni-kassel.de/fb5/frieden/rat/2005/peters.html)

Peters, Helmut (2006): »Ein anregender Beitrag zur Sozialismus-Debatte in der VR China«, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, H. 65, März, 17. Jg. (http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/archiv/xxinfo/h065s098. html)

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Rolf Geffken Klassenkampf statt Marktsozialismus? China auf neuen Wegen oder auf a l tem Wachstumspfad?

Die bisweilen noch anzutreffende Vorstellung, in Chinas Betrieben, Dörfern und Städten herrsche »konfuzianische Ruhe«, hält der Wirklichkeit nicht stand. Das Gegenteil trifft zu. Allein von 2003 auf 2004 stieg nach offiziellen Angaben die Zahl massiver Demonstrationen und Arbeitskonflikte von ca. 50.000 auf 70.000 an. 2005 sollen es bereits über 80.000 gewesen sein. Dabei spricht die chinesische Statistik nicht nur von Protesten, sondern sogar von (lokalen) »Aufständen«. Nicht selten sind das Ziel direkter Aktionen Par-teibüros oder Verwaltungszentralen, weniger die Unternehmensleitungen. Und doch liegt die Hauptursache der aufbrechenden Konflikte in nichts anderem als in dem chinesischen Prozess angeblicher »Modernisierung«, also der Privatisierung öffentlicher Unternehmen, der Förderung des priva-ten Wirtschaftssektors und des ungebrochenen Wirtschaftswachstums. Der Flächenbedarf von industriellem Kapital, Finanzkapital und Häuserspeku-lanten führt zur bisweilen brutalen Landnahme und (faktischen) Enteignung von Bauern und einfachen Hausbesitzern. Investoren aus Taiwan, Hong-kong und Südkorea in den »Export Processing Zones« des Südens testen die Belastbarkeit des jungen chinesischen Arbeitsrechts, indem sie Löhne von Arbeitsmigrantlnnen nicht oder nicht rechtzeitig auszahlen. Doch selbst in staatlichen Unternehmen, wie insbesondere im Bergbau, ist die Verletzung von Sicherheitsstandards an der Tagesordnung. Inoffizielle Schätzungen ge-hen von mindestens (!) 5.000 tödlich verunglückten chinesischen Bergleuten pro Jahr aus. Die chinesischen Gewerkschaften werden immer noch nicht den elementaren Anforderungen an die Interessenvertretung abhängig Be-schäftigter gerecht. Und das gilt keineswegs nur für die mangelnde Streik-bereitschaft der Organisation. Nicht selten sind die Funktionen von Partei-sekretär und (!) Betriebsgewerkschaftsvorsitzendem (vergleichbar einem Betriebsratsvorsitzendem in Deutschland) identisch (!) mit der des Gene-ralmanagers oder Eigentümers! Eine nicht nur nach deutschem Arbeitsrecht wegen des Verbots der Interessenkollision (§5 BetrVG) undenkbare Kons-tellation.

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Klassenkampf statt Marktsozialismus? 269

Kein Wunder, dass unter den Bedingungen eines mangelhaften Geset-zesvollzugs und wachsender Unglaubwürdigkeit politischer Kader in den Regionen Protest sich eruptiv und unkontrolliert Bahn bricht. Kein Zweifel aber auch, dass dieser Protest alle Elemente eines Klassenkampfes beinhal-tet. Zumal dann, wenn man bedenkt, dass in China - noch mehr als in den USA - die Einkommensschere zwischen »Arm« und »Reich« extrem weit auseinanderklafft.

Wachstum und Klassenkampf - sind das nicht die untrüglichen Zeichen eines Marsches Chinas in den Turbokapitalismus? Oder ist das Reich der Mitte gar »auf neuem Kurs«, wie manche Beobachter und Zeitungskom-mentatoren meinen?

Richtig ist zunächst, dass China weiterhin auf Wachstumskurs ist. Seit über 20 Jahren hält dieses Wachstums an. Bei bis zu 10% soll die Wachs-tumsrate pro Jahr gelegen haben. Nicht wenige »Experten« hatten angesichts eines solchen Wachstums den baldigen Kollaps der chinesischen Ökonomie prophezeit. Er trat - bislang - nicht ein. Und zu allem Überfluss wurde nun auch noch die offizielle Wachstumsrate nach oben korrigiert. Sie lag und liegt also noch höher. Eines ist sicher: Traditionelle Erklärungsmuster, auch überkommene marxistische Kategorisierungsversuche, reichen nicht. Sie scheiterten bisher alle am Objekt: an China selbst.

Während Investoren aus Japan, Europa und den USA des Lobes voll sind und deren Euphorie auch zahlreiche Regierungen der westlichen Hemisphä-re angesteckt hat, hüllen sich viele Linke in Schweigen oder befürchten an-gesichts dieses Tempos Schlimmstes. Wachstum dieser Art habe wachsende Einkommensdisparitäten zur Folge. Es sei begleitet von massiven Erschei-nungen der Umweltzerstörung. Der Ressourcenverbrauch Chinas habe in manchen Regionen wiederholt bis an die Grenzen des »Denkbaren« ge-führt. Wasserreservoirs neigten sich ihrem Ende zu. Ständig steigender En-ergiebedarf habe schon zu Stromabschaltungen geführt, von denen auch die Industrieproduktion westlicher Investoren betroffen gewesen seien. Eine Zuspitzung »gesellschaftlicher Widersprüche« und damit sozialer Konflikte erscheine damit unausweichlich. Kurz: Dieses Wachstum sei ein »Übel«. Es komme nur einer kleinen Schicht immer reicher werdender Unternehmer und den ausländischen Kapitalisten zugute.

In der Tat sind nicht nur die Einkommensdisparitäten Chinas signifikant. Das Wachstum hat den inländischen und ausländischen Großunternehmen genutzt, bzw. ist das Wachstum auch Ausdruck von deren ungebrochenen Profiten.

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Ist dieses Wachstum nun aber also ein Beleg für den »turbokapitali-stischen« Weg Chinas oder befindet sich China gar nicht auf einem solchen Weg? Liegt hier nicht vielmehr eine »nachholende Entwicklung« des eigent-lichen Agrarlandes Chinas vor? Ist China etwa - wie die offizielle Lesart der KP-Führung glauben machen will - nur auf dem Weg einer Entfesselung der Produktivkräfte, um - so die tatsächliche Zeitangabe - in 100 Jahren den Sozialismus aufzubauen? Ist das Wirtschaftssystem Chinas deshalb vielleicht sogar eine »sozialistische Marktwirtschaft« und eben nicht der »Turbo- oder Manchesterkapitalismus«, von dem bisweilen in den Medien zu lesen und zu hören ist?

Tatsächlich behauptet z.B. Theodor Bergmann, dass die VR China »eine erfolgreiche Alternative zum Kapitalismus« sei und bezeichnet die gegen-wärtige Phase immerhin als »sozialistischen Aufbau«. Auch der deutsche Rechtssinologe Harro von Senger sieht in der jetzigen Entwicklung Chinas einen Prozess der »Modernisierung« im Rahmen einer politischen Strategie der KP-Führung. Der englische Soziologe Peter Nolan erkennt in der Politik der KP-Führung immerhin das Bestreben, einen starken Staat im Interes-se sozialer Stabilität durchzusetzen, und bezeichnet dies als »Dritten Weg« zwischen Maoismus und kapitalistischer Entwicklung.

Während der Exilgewerkschafter Han Dongfang behauptet, der ver-meintliche Prozess der Modernisierung habe China »in ein Paradies für das Kapital und eine Hölle für die Arbeiter« verwandelt, erkennt Thomas He-berer als einer der führenden deutschen Chinawissenschaftler jedenfalls im sozialen Bereich eine Politik der »gezielten Duldung und Untätigkeit des Staates in sozialpolitischen Konflikten«. Heberer unterstreicht in seinen Untersuchungen immer wieder den mit dem Prozess der »Modernisierung« einsetzenden Prozess des »Verkaufs von Macht« durch politische und staat-liche Kader und die auf diese Weise bewirkte unmittelbare Einbindung der Partei in den Prozess der ökonomischen Transformation.

Nun hat die koreanische Politologin Hyekyung Cho jüngst den Versuch einer rationalen Erklärung des »China-Phänomens« unternommen.1 Darin stellt sie fest, dass das vielfache Räsonnieren über die »Weltwirtschaftsmacht der Zukunft« meist einhergehe mit einem erheblichen Wirklichkeitsverlust in der medialen Berichterstattung, weil nach wie vor das relative Wachstum unzulässigerweise verabsolutiert werde. Zugleich bewertet sie das gegen-

1 Vgl. Hyekyung

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wärtige Wirtschaftswachstum als im wesentlichen gefährlich und konstatiert eine katastrophale Entwicklung vor allem der Arbeitsstandards in China.

Ganz anders Wolfgang Pomrehn, der in den Beschlüssen des letzten Na-tionalen Volkskongresses einen Sinneswandel erkennt.2 Die Grenzen und Gefahren des ungebremsten Wachstums seien erkannt und nachhaltiger Res-sourcenverbrauch und Stärkung der Binnenkonjunktur rückten jetzt in den Vordergrund. Noch deutlicher wird Helmut Peters, der behauptet, es gäbe gar keinen grundsätzlichen Wandel in Richtung Privatisierung, vielmehr sei die chinesische Führung dabei, die sozialen Widersprüche »zu mildern und zu lösen«.3 Dabei knüpft er an die These von Zhang Guangming an, dass man als Anhänger des historischen Materialismus darauf vertrauen (!) könne, »dass die Marktwirtschaft objektiv die notwendigen ... Bedingungen für den künftigen Sozialismus schaffen wird.«4 Zhang sieht sogar »zwischen Marktwirtschaft und Demokratisierung« eine Beziehung von Ursache und Wirkung« (!).

Also ein Weg in den Marktsozialismus oder in den Turbokapitalismus mit einer totalen Transformation des wirtschaftlichen Systems?

Nur relatives Wachstum?

Bei der Frage nach dem Wachstums Chinas halten sich tatsächlich manche damit auf, ob China »wirklich« wachse oder ob es in Wahrheit nicht nur »aufhole«, sein Wachstum also nur »relativ« sei. Doch auch das nur »rela-tive« Wachstum Chinas ändert nichts an der Tatsache, dass China bereits jetzt so massiv in den globalen Wirtschaftskreislauf eingegriffen hat, dass damit unmittelbare Folgen für die nationalen Ökonomien einer Vielzahl westlicher Länder entstanden sind. Nur einige Beispiele: a. Der anhaltende Bauboom hat zu einem Drittel (!) des Weltmarktver-

brauchs an Stahl und zur Hälfte (!) des Weltmarktverbrauchs an Zement geführt.

b. Der ständig wachsende Energiebedarf hat zu einer weltweit massiv erhöh-ten Nachfrage nach Kohle geführt (ein Phänomen, das sogar in Deutsch-land den alten Kohle-Konsens nun in Frage zu stellen droht). Ferner hat

2 Vgl. junge weit 59/2006. 3 Vgl. Sozialismus 3/2006. 4 Vgl. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 65/2006, S. 106ff.

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die kontinuierliche Nachfrage nach Energie zur Erhöhung des Ölpreises und gleichzeitig zu einer aktiven Suche Chinas nach Kooperationen mit Ölförderländern geführt,

c. Der anhaltende Boom z.B. der deutschen Exportwirtschaft, die massiven Gewinne insbesondere der deutschen Reedereien und der gleichzeitige Boom der deutschen Überseehäfen hängen unmittelbar (wenn nicht sogar ausschließlich) mit dem anhaltenden chinesischen Wirtschaftswachstum zusammen.

Ein Ausbeuterparadies?

Natürlich hat das anhaltende Wirtschaftswachstum Chinas seinen innen-politischen »Preis«.5 Dieser liegt vor allem im Bereich der Sozialstandards sowie im Bereich der Umweltstandards. Definitiv falsch aber ist z.B. die Be-hauptung Cho's, China habe das »weltweit niedrigste Lohnniveau«. Diese Behauptung ist innerhalb der Linken und ihres begrenzten China-Diskurses immer wieder anzutreffen. Aber sie wird dadurch nicht richtiger. Zunächst einmal gibt es in China nicht nur eine Einkommensschere zwischen der är-meren Landbevölkerung und den so genannten reichen Mittelschichten in den Städten des Ostens. Es gibt vielmehr eine solche Einkommensschere auch und gerade innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Während in Shanghai beispielsweise das Bruttomonatseinkommen von IT-Mitarbeitern zum Teil das Einkommensniveau vergleichbarer Arbeitnehmer in Taiwan übersteigt, liegt der Durchschnittslohn von Wanderarbeitnehmern etwa im Perlfluss-Delta sicherlich unter dem Niveau vergleichbarer Arbeitnehmer in Taiwan, Japan und Südkorea. Und dennoch: Die langanhaltende wirtschaftliche Dy-namik ohne massive krisenhaften Erschütterungen hat zugleich zu einem wachsenden Bedarf (nicht nur an qualifizierten) Arbeitskräften und eben-falls zu wachsenden Formen des Widerstandes von Arbeitnehmern geführt. Längst ist das »Job-Hopping«6 zu einem allgemeinen Phänomen der chi-nesischen Wirtschaft geworden. Während z.B. VW-China etwa 30% seiner qualifizierten Mitarbeiter pro Jahr durch Abwerbung und freiwillige Fluk-tuation verliert, bemühen sich andere - insbesondere US-amerikanische Fir-men - massiv um die Abwerbung chinesischer Arbeitnehmer, insbesondere

5 Vgl. Rolf Geffken, Der Preis des Wachstums, Hamburg 2005. 6 Vgl. China-Special, Asia-Bridge 2/2006.

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mit zusätzlichen Leistungen und Vergütungen. Doch auch im Bausektor so-wie in der Textilindustrie kommt es seit ein oder zwei Jahren zu erheblichen Fluktuationen sogar unter Wanderarbeitnehmern. Vielfach hat ein Wettlauf um Arbeitnehmer begonnen, bei dem die Werbung mit besseren Arbeitsbe-dingungen eine Rolle spielt.

Keine Arbeiterrechte?

Auch die Behauptung, in China herrsche »die Missachtung sämtlicher (!) Normen der internationalen Arbeitsorganisation« (Cho) vor, ist definitiv falsch. Das chinesische Arbeitsgesetz von 1995 gehört sicherlich nicht zu den fortschrittlichsten Arbeitsgesetzen weltweit.7 Doch während die arbeits-rechtliche Entwicklung in den westlichen Industriestaaten von kontinuier-licher »Liberalisierung« gekennzeichnet ist, hat China nach Abschaffung der »eisernen Reisschüssel« ständig an einer Verbesserung des Vollzugs seines Arbeitsrechts gearbeitet. Zahlreiche der arbeitsrechtlichen Bestimmungen (insbesondere die Befugnisse staatlicher Kontrollbehörden, die Befugnisse von Betriebsgewerkschaften oder etwa die Vorschriften über die Vergütung von Uberstunden) sind in sozialstaatlicher Hinsicht sogar richtungswei-send.

Nun bereitet der chinesische Gesetzgeber sogar ein völlig neues Gesetz vor, mit dem Abschied genommen wird vom Modell des flexiblen Arbeits-rechts und Beschäftigte mehr geschützt werden sollen. Allerdings ist der immer noch mangelhafte Vollzug strukturbedingt: Es war und ist der von Heberer zu Recht konstatierte Verkauf von politischer Macht, der nach wie vor unmittelbar Korruption produziert und damit zugleich die Wirksamkeit sozialer Schutzgesetze unterläuft.

Der Staat als Zuschauer?

Dennoch ist es falsch - wie Cho es tut - zu behaupten, die KP-Führung verschließe »ihre Augen weitgehend vor den Schattenseiten der Wachstum-serfolge«. Das Gegenteil ist richtig: Immer deutlicher zeichnet sich insbe-sondere im Bereich der Arbeitsstandards ein Gegensatz zwischen den Ak-

7 Im Einzelnen: Rolf Geffken, Arbeit in China, Baden-Baden 2004.

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tivitäten der Zentralregierung und mancher Provinzregierung ab: So ist es insbesondere die Zentralregierung, die durch zusätzliche Maßnahmen ver-sucht, den Vollzug arbeitsrechtlicher Normen durchzusetzen und die Rolle der Gewerkschaften in den Betrieben zu stärken.

Trifft es aber zu, dass es keine Politik der Privatisierung (mehr) gibt? Und kann man - wie Pomrehn - davon ausgehen, dass dem Aufbau von Sozi-alversicherungen eine Schlüsselrolle bei der Stärkung der Binnenkaufkraft zukommt?

Es gibt in der Politik der Privatisierung keinen Wandel. Der massive Rück-gang des öffentlichen Sektors spricht eine deutliche Sprache. Dennoch gibt es nach wie vor eine dirigierende Rolle des Staates, allerdings sehr vermit-telt, aber sie existiert. So ist es keine Frage, dass die massiven Interventionen der Zentralregierung zum Abbremsen des Wirtschaftswachstums vor allem innenpolitische und sozialpolitische Ursachen hatten und haben. Auch der chinesischen Führung ist nicht entgangen, dass die Zahl massiver Arbeits-konflikte8 angestiegen ist. Die Antwort der Zentralregierung und auch zahl-reicher Provinzregierungen darauf ist nicht allein Repression (insbesondere in Bezug auf Sanktionen gegen »Rädelsführer«), sondern vor allem »Ver-rechtlichung«. Man mag dies als »konservatives Sozialmodell« denunzieren. Tatsächlich aber birgt genau dieses Vorgehen die Chance, dass sich dringend notwendige Arbeitnehmerrechte verfestigen und damit letztlich die Grund-lage für eine demokratische Entwicklung des Landes bilden können.

Doch es gibt wenig Grund, die Zahl der Konflikte kleinreden zu wollen. Die Arbeitskonflikte in China ausgerechnet mit dem Streik im öffentlichen Dienst in Deutschland 2006 zu vergleichen - wie Pomrehn dies tut - geht an der Sache vorbei. Hierzulande werden bei einer vergleichsweise fast nur symbolischen Aktion weder Parteibüros abgefackelt, noch Verwaltungsge-bäude gestürmt. Ursache der Konflikte sind auch nicht nur bloß »lokale An-lässe«. Gerade die Tatsache, dass die Anlässe (obwohl lokalen Ursprungs) landesweit auftreten, zeigt, dass sie verallgemeinerungsfähig sind. Sie sind die gesetzmäßige Folge massiver Einkommensdefizite und Vollzugsmän-gel der Gesetze und des Staates. Sie zeigen aber auch, dass zwischen poli-tischen Absichten der Zentrale und tatsächlicher Umsetzung in der Region bisweilen massive Lücken klaffen. So kann man nicht behaupten, in China habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, ein effektiver Ressourcenverbrauch sei notwendig, und gleichzeitig annehmen, danach werde jetzt auch tatsäch-

8 Vgl. Jhonny Erling, Die Welt 23.12.2006.

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lich gehandelt. In Wahrheit überlagert die landesweit wuchernde und in der Politik der Privatisierung wurzelnde Korruption jede Art des Politik- und Rechtsvollzugs. Das gilt übrigens auch und gerade für die von Pomrehn ge-lobte Sozialversicherung. Dort ist die immer noch (!) faktisch fehlende Tren-nung der Versicherungshaushalte von den allgemeinen staatlichen Haushal-ten der Grund dafür, dass sich schon mal der eine oder andere Provinzfürst aus den Beiträgen der Versicherten »legal« bereichert.

Neoliberaler Rückzug oder Intervention?

Doch darf niemand übersehen, dass die wirtschaftliche und sozialpolitische Rolle des Staates (wieder) zunimmt: Seit drei Jahren gibt es eine staatliche Institution, die sich organisiert um den Umbau des Staatssektors kümmert. Es ist die »State Asset Super Vision and Administration Commission (SA-SAC)«, in der sämtliche staatlichen Anteile chinesischer Unternehmen zu-sammengelegt wurden. Während früher (insbesondere in der ersten und zweiten Phase der Privatisierung) Staatsunternehmen als angeblich »nicht rentabel« heruntergerechnet wurden, sind nun die Gewinne chinesischer Staatsunternehmen in den ersten drei Monaten des Jahres 2005 um 31% auf 16 Mrd. US$ gestiegen.9 Zugleich wird damit der Staatssektor nicht etwa - wie in Russland - zur Beute wirtschaftlicher Oligarchien, sondern zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Das immer noch in weiten Bereichen wirtschaftlich rückständige China hat keine andere Wahl als die des massiven wirtschaftlichen Wachstums. Sei dieses relativ oder ab-solut. Ohne Wirtschaftswachstum wird es in China weder soziale noch poli-tische Fortschritte geben. Zugleich hat die Dynamik dieses Wachstums auch zur Entwicklung von Widerstandspotenzialen und mit einer gewissen Ver-spätung auch zur erheblichen Verbesserung von Sozialstandards geführt.

Insofern kann sicher nicht von einem »Marktsozialismus« die Rede sein. Auch die Theorie des 100 Jahre langen Marsches dürfte in den Bereich der Politfabel zu verweisen sein. Wenn Zhang von Waren als »natürlichen poli-tischen Gleichmachern«10 spricht und die Ursachen kapitalistischer Macht-konzentration nicht in der »Marktwirtschaft« sieht, sondern darin, dass »die Umgestaltung des politischen Systems ... nicht weitreichend genug war«,

9 Wirtschaftswoche, Sonderausgabe 1 v. 27.10.2005, S. 78. 10 Vgl. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 65/2006, S. 110.

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so reduziert sich seine These auf die Erkenntnis, dass objektive Vorausset-zung des Sozialismus eine bestimmte Stufe der Produktivkraftentwicklung ist. Doch zu glauben (»Vertrauen«!), dass dies staatlicherseits (!) garantiert sei, widerspricht Theorie und Praxis gleichermaßen. Bergmann, Pomrehn, Peters und Zhang haben nicht im Blick, wie sich die privatkapitalistische Entwicklung Chinas auch auf den gesellschaftlichen Überbau auszuwirken begonnen hat und weiterhin auswirkt: Korruption ist in diesem Prozess eine gesetzmäßige Auswirkung des Verkaufs und des Erhalts von politischer Macht. Soll das durch ein Mehrparteiensystem anders werden? Und wenn ja: Wer könnte und sollte dann daran ein Interesse haben?

Richtig ist aber, dass von den Erscheinungen sich zuspitzender Wider-sprüche nicht auf einen »kapitalistischen Kern« im Sinne Han Dong Fangs geschlossen werden kann: Die »Hölle für die Arbeiter« ist ein bestechendes, aber schon nach 20 Jahren Transformationsprozess sehr unhistorisches Bild.

So paradox es klingen mag: Bei aller angebrachter Vorsicht scheint die VR China das vielleicht erste und einzige »sozialdemokratische« Entwick-lungsmodell zu sein. Nicht etwa im Sinne der Entwicklung eines westlich geprägten Parlamentarismus. Wohl aber im Sinne einer Entfesselung pri-vatkapitalistischer Dynamik bei gleichzeitiger Beibehaltung staatlicher Kontrollmechanismen bis hin zu sozialstaatlichen Strukturen. Ja sogar un-ter weitgehend angestrebter formaler Rechtsstaatlichkeit (»Regieren mit Gesetzen«). Es ist unklar, wie weit dieser Prozess gehen kann und welche historische Tragfähigkeit diese Balance zwischen Staat und Privatkapital haben wird. Hierzulande wird vielfach übersehen, dass China eben eine klar definierte Zentralgewalt nicht hat, sondern dass den Regionalregie-rungen und auch den Parteizentralen in den Regionen zum Teil erhebliche Bedeutung zukommt. Legt man die grundlegende marxistische Erkenntnis, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, zugrunde und akzeptiert man die grundsätzlich dominante Rolle der ökonomischen Basis im Verhältnis von Basis und »Überbau« so müsste die Schlussfolgerung, dass das System ir-gendwann politisch implodieren wird, naheliegen. Allein der Verkauf von Macht und die damit einhergehende systembedingte Korruption lassen die Frage aufkommen, wie und unter welchen Bedingungen sich dagegen ein noch so »sozialistischer« Überbau durchsetzen kann. Und die Frage ist mehr als berechtigt, wenn man allein an die absurde Rolle der Gewerkschaften denkt, die immer noch nicht ( !) die ihnen mindestens zukommende Rolle einer Interessenvertretung der Arbeiter zu erfüllen scheinen. Wenn der Ge-

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neralmanager zugleich (!) Parteisekretär und Gewerkschaftsvorsitzender ist, liegt mehr als nur ein juristisches Inkompatibilitätsproblem vor: So kann vielmehr dauerhaft keine gesamtgesellschaftliche Steuerung stattfinden, so muss vielmehr »Steuerung« (und Korruption) im privatkapitalistischen Sinn sich vollziehen bzw. wuchern.

Sozialstaat statt Sozialismus?

Doch steht diese mikroökonomische Ebene in einem Gegensatz zur ge-samtstaatlichen Kontrolle, und zwar auch auf regionaler Ebene. Zugleich darf der Einfluss wachsender sozialer Konflikte auf diesen Prozess nicht un-terschätzt werden. Es ist deshalb durchaus wahrscheinlich, dass China auf dem Umweg seiner eigenen »Bismarckschen« Sozialgesetzgebung und einer sich entwickelnden organisierten Gewerkschaftsbewegung zu einem Sozi-alstaatsmodell abseits von marktsozialistischen Träumen und nur-kapitali-stischem Alltag kommt. Dabei sollte niemand vergessen, dass der deutsche Weg zum Sozialstaatsmodell des Grundgesetzes einen Umweg von 150 Jah-ren nahm, der mit Blut, Tränen, Desillusionierungen, aber auch mit Erfol-gen gepflastert war. Mit Sicherheit wird China diesen Weg in kürzerer Zeit zurücklegen. Und mit Sicherheit werden Armut und Stillstand diesen Weg nicht beschleunigen. Mit Recht haben die Erfahrungen und Wunden der verheerenden »Kulturrevolution« einen innerchinesischen Konsens geschaf-fen, dass »Verteilung von Armut« immer auch Entrechtung zur Folge haben wird. Insofern ist das »nachholende Wachstum« nicht nur objektiv notwen-dig, sondern auch im Bewusstsein der meisten Chinesen unbestrittene Be-dingung einer progressiven Entwicklung. Tatsächlich ist das wirtschaftliche Wachstum Voraussetzung für einen funktionsfähigen Sozialstaat ebenso wie für rechtsstaatliche Strukturen. Trotz aller »kapitalistischen Entwicklung« ist Chinas Wachstum also für seine Zukunft ein Segen und kein Fluch. Aber ein »neuer Kurs« ist das dennoch nicht. Es ist und bleibt ein eigener Weg jenseits von Turbokapitalismus und sozialistischen Träumen. Ein sich gewis-sermaßen immer neu selbst gefährdendes Projekt ohne wirkliche Gewissheit seiner eigenen Zukunft.

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Rosemary Hennessy Deregulierung des Lebens Körper, Jeans und Gerechtigkeit

Die seit Anfang der 1970er Jahre heraufziehende neoliberale Neuorganisie-rung des Kapitalismus deregulierte die Profitakkumulation für eine kleine Gruppe transnationaler Eliten zum Preis einer zunehmenden Verelendung der Mehrheit der Gesellschaft. Die Lockerung staatlicher Kontrollen des Kapitals beinhaltete die Privatisierung sozialer Leistungen und eine zuneh-mende Flexibilisierung der Arbeit durch die Schwächung oder Abschaffung rechtlicher Rahmenbedingungen zum Schutze von Arbeiterinnen und Ar-beitern. Durch die Lockerung staatlicher Finanz- und Handelsbeschrän-kungen konnten Unternehmen besseren Zugriff auf Regierungen erlangen sowie Land und natürliche Ressourcen aus Lateinamerika, Russland, Ost-europa, China, Südostasien und zuletzt Irak in den ungezügelten globalen Markt saugen. Nach dem 11. September 2001 nahm die neoliberale Geopo-litik der USA mit dem Start des »Kriegs gegen den Terror« eine neue aggres-sive Wende. Bis zum Januar 2006 führte dieser Krieg zum Tod von über einer halben Million Irakern und von über 3.000 US-Soldaten. Durch xenophob motivierten Nationalismus gesteigerte Homeland Security führte zur Ver-schärfung der US-Einwanderungspolitik und zur Abschiebung tausender Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Papiere. Dies sind Beispiele einer langen Reihe von Opfern und Beschädigungen. In dieser aktuellen Phase gewalttä-tiger Hegemoniebestrebungen der USA ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass der neoliberale Kapitalismus schon lange einen verdeckten Krieg gegen die Körper und die Natur führt. Im folgenden wird ein Kapitel dieses ver-deckten Kriegs gezeigt: die Körper, die er ins Visier nimmt, seine versteckten Kosten und die materiellen Bedingungen, die diejenigen umklammern, die ins Fadenkreuz geraten: im Süden wie im Norden, quer über den Globus verteilte, flexible feminisierte Subjekte.

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Deregulierung des Lebens 279

1. Bio-Deregulierung - »La Realidad Vivida en Carne Propia«

Egal wie wir es nennen, so Teresa Brennan in »Der Terror der Globalisie-rung« (2003), der im Neoliberalismus entfesselte, unkontrollierte Wettbe-werb hat zu unerschwinglichen und unerträglichen Lebenskosten geführt. Brennan führt eine scharfsinnige Analyse des täglichen Lebens im Westen durch. Sie zeigt, dass das globalisierte Kapital in seinem Profitstreben alle Aspekte der Produktion beschleunigt, so auch die Distribution, den Konsum und den Tausch. Für die Nutzung menschlicher und natürlicher Ressourcen in der kapitalistischen Produktion begibt sich das Kapital bei der Suche nach Nachschub auf eine Reise um die Welt. Anders ausgedrückt heißt das, dass Kapitalisten dann durch Umsiedlung und durch Outsourcing Kapital zu ak-kumulieren versuchen, wenn die Zeit zur Reproduktion zu lang wird und damit die Kosten zur Reproduktion der täglichen Arbeitskraft wie auch der nächsten Generation zu hoch werden. Von den Erfordernissen menschlicher wie natürlicher Reproduktionszyklen abzusehen hat zur Folge, dass Leben beschädigt wird. Je mehr das Tempo der Kapitalausdehnung und -akkumu-lation zunimmt und die zur menschlichen und natürlichen Reproduktion und Regeneration benötigte Zeit dahinter zurückbleibt, desto mehr dringt die Deregulierung in die elementaren Bedingungen des Überlebens ein. Am Kreuzungspunkt von weltweiter räumlicher Ausdehnung des Kapitals und Preisgabe der Zeit, die für generationale und tägliche Reproduktion, zum Überleben, benötigt wird, befinden sich die am stärksten Feminisierten, d.h. der billigste Quell von Arbeitskraft.

Wenn man sagt, dass menschliche und natürliche Reproduktion Zeit be-nötigt, so heißt das auch zu sagen, dass sie mit Kosten verbunden ist. Zur Senkung der mit der Reproduktion des Lebens verbundenen Kosten ist eine Strategie des Neoliberalismus die Deregulierung. Man hört viel über die De-regulierung als Instrument neoliberaler Wirtschaftsreformen, das die wohl-fahrtsstaatlichen Begrenzungen der Kapitalakkumulation aufweicht, indem natürliche Ressourcen ebenso wie öffentliche Verkehrsmittel, Versorgungs-betriebe, Gesundheitsversorgung, Bildung, soziale Dienste, Land usw. pri-vatisiert werden. Wir wissen weniger über die Deregulierung als Technolo-gie der Bio-Macht, die Menschen genauso wie die natürliche Welt das soziale Wesen der Natur und die körperliche, bewusste Existenz auspumpt. Um als Einzelne und als Gattungswesen überleben zu können, müssen Menschen die Mittel herstellen, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensbedingungen benötigen. Diese Aufrechterhaltung hängt von der menschlichen genauso ab

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wie von der natürlichen Welt, ein in der Geschichte bisher unausweichliches Faktum. Die Voraussetzung menschlichen Lebens oder die Bedingungen der täglichen wie generationalen Reproduktion sind gemeinhin auch als mensch-liche Bedürfnisse bekannt. Es ist allgemein anerkannt, dass Menschen Essen, Wasser, Luft und angenehme Temperaturen bzw. ein Obdach zum Uberle-ben brauchen. Mittlerweile muss man, wie Brennan richtigerweise anmerkt, hinzufügen: Sauerstoff, saubere Luft, die nicht mehr überall vorausgesetzt werden kann. Zu diesen sprichwörtlich notwendigen Bedürfnissen kommen weitergehende Bedürfnisse nach Kommunikation und Ausleben der eige-nen Möglichkeiten der Gefühlsempfindungen - der Stoff, der das Mit- und Untereinander der Leute, das menschliche Leben gesellschaftlich und das einzelne Leben lebenswert macht. Diese sozialen Bedürfnisse sind von den körperlichen nicht getrennt, sondern in diese eingewoben. Sie strukturieren Kulturen und Identitäten und beinhalten das, was Brennan die »Möglich-keit, das Leben zu genießen«, nennt. Armut, so erinnert sie uns, beeinträch-tigt den Lebensgenuss, genauso wie Krankheit. Ohne die Gelegenheit, die menschlichen Fähigkeiten der Kommunikation und emotionalen sozialen Interaktion auszuüben, wird der Organismus depressiv; Depressionen sen-ken die Immunfunktionen und damit die Aussicht körperlichen Überlebens (Brennan 2003: 17).

Die allumfassende Deregulierung (des menschlichen Körpers, des Han-dels, der Arbeit und der natürlichen Umgebung) strebt danach, alle Ein-schränkungen aufzuheben, die durch die Zeit aufgenötigt sind, die Mensch und Natur für ihre Reproduktion benötigen. Mit zunehmender Deregulie-rung werden die (Über-)Lebensbedingungen von ihr durchdrungen (ebd. 20). Das Ergebnis ist, dass alle Formen menschlicher Reproduktion zu teuer werden, sowohl in bezug auf Gesundheit als auch in bezug auf die nachfol-genden Generationen (ebd. 17, 87). Kinderversorgung, Kranken- und Al-tenpflege und Rente erlauben es den Menschen, in relativ stabilen Verhält-nissen aufzuwachsen, es sich gut gehen zu lassen und alt zu werden. Doch das bedeutet zeitintensive Kosten und somit eine Last für die Kapitalakku-mulation. In einem Kapitalismus »reloaded« wird die für die Reproduktion menschlicher und natürlicher Ressourcen benötigte Zeit auf das Notwen-digste hinuntergeschraubt.

Seine Grenzen findet dies in den Bedürfnissen des menschlichen Organis-mus, der Natur und zunehmend auch in den Folgen ihres Zusammenspiels. Der ungezügelte Wettbewerb der Lohnabhängigen auf dem Weltmarkt und die daraus folgende Abwertung ihrer Arbeit könnte der krönende Sieg des

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neoliberalen Kapitals sein, aber dieser Sieg wird durch die Ausweitung der Grenzen des menschlich Erträglichen errungen. Je stärker die Deregulierung in die grundlegenden Lebensbedingungen eindringt, desto mehr wird sie zu dem, was Brennan »Bio-Deregulierung« (ebd. 20, 32) nennt. Die Deregulie-rung des Lebens verringert die Zeit, die sowohl Menschen als auch die Natur zur Verfügung haben, um sich zu erholen, und zwingt dem Alltag neue Re-geln auf. Wie die wirtschaftliche Deregulierung zieht auch die Bio-Deregu-lierung den kurzfristigen Profit einer langfristigen Perspektive vor (ebd. 33). Sie wirkt sich auf die Körper in den entwickelten kapitalistischen Bereichen des globalen Nordens aus wie auch auf die Körper der hyper-ausgebeuteten »Zwei-Drittel-Welt« des Südens. Die Folgen der Bio-Deregulierung zeigen sich in den Zwängen, die Einfluss darauf haben, wie und wo Menschen leben und arbeiten, wenn sie gezwungen sind, länger und härter zu arbeiten, Be-gegnungen und persönliche Kontakte eingeschränkt werden und Migration entweder eine Frage des Pendeins über lange Strecken oder des Umziehens wird. Die Deregulierung des Lebens schlägt sich nieder in Zeitmangel, einem Zeitrhythmus des Gehetztseins und der Unsicherheit. Sie zeigt sich auch dort, wo die Beschäftigung nicht mehr garantiert ist und Mehrfachanstel-lung, Überstunden, Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit zu einem Zerfall emotionaler Bindungen in Familien und Gemeinden führen.1

Der Körper »dereguliert« sich ebenfalls, wenn auf die für das harmo-nische Zusammenspiel der verschiedenen Bio-Zyklen notwendigen Regel-mäßigkeiten keine Rücksicht genommen wird. Die Sorge um das Überleben, ob real oder antizipiert, stört dieses Zusammenspiel, und diese Störung zeigt sich in zunehmender persönlicher Isolation und neuen Formen körperlicher und seelischer Verelendung - Stress. Wenn das autonome Nervensystem überlastet ist, nehmen psychosomatische Krankheiten enorm zu (ebd. 30); wenn die Umweltverschmutzung beim Menschen zu Immunschwächen, de-pressiven und neurologischen Störungen, Krebs und Geburtsfehlern führt, zeigt sich, wie die Bio-Deregulierung der Natur das Wohlbefinden des Men-schen beeinträchtigt. Die Bio-Deregulierung nimmt ihren Lauf, wenn sich die Produktion mit ihrer Geschwindigkeit und ihren Anforderungen über die Erfordernisse der sich selbst regulierenden Körperfunktionen hinweg-setzt. Um Schritt zu halten, zwingt das menschliche Gehirn den Körper, sein Wohlbefinden zu opfern bzw. zu »deregulieren«. Es gibt folglich einen

1 Brennan weist darauf hin, dass die Gehetztesten der Gehetzten arbeitende Mütter sind (ebd. 25).

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Fehlbetrag zwischen dem, was der Körper kann und dem, was sein Wille ihm aufzwingt (ebd. 30). Der deregulierte Körper kommt ohne Schlaf, Erholung und richtiges Essen aus - er nimmt Drogen, um chronische Beschwerden und stärker werdende Allergien ruhigzustellen oder greift auf illegale Dro-gen zurück, um seine Schmerzen zu betäuben (ebd. 24).

Die Folgen der Bio-Deregulierung überschreiten die Trennung zwischen ausgebeuteten und hyper-ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern. Aus diesem Grund ist es ein brauchbares Konzept, Leute in offensichtlich grund-verschiedenen Situationen eine gewisse Gemeinsamkeit erkennen zu lassen. Viele in der »Ein-Drittel-Welt«, die angeblich vom globalen Kapitalismus profitiert haben, leiden unter dessen negativen Auswirkungen auf ihr Le-ben und ihre Gesundheit, darunter leiden auch die, die in der »Zwei-Drittel-Welt« arbeiten, um zu überleben.

Teresa Chavez, eine ehemalige Fabrikarbeiterin aus dem mexikanischen Reynosa im Bundesstaat Tamaulipas, beschreibt Folgen der Bio-Deregu-lierung, wenn sie die zersetzenden Auswirkungen des Freihandels auf ihr Leben beschreibt. Nach Jahren der Fließbandarbeit in einer Autofabrik fin-det sie keine Arbeit mehr, weil sie an einem Handwurzelknochensyndrom leidet; die repetitiven Arbeitstätigkeiten am Fließband haben ihren Körper außer Funktion gesetzt. Sie kümmert sich jetzt um die Kinder ihrer Söhne und Töchter, die bei ihr leben, so auch das Kind von Teresas Tochter, die vor einigen Jahren an Krebs gestorben ist. Das ist »die am eigenen Leib erlebte Wirklichkeit«, Fleisch gewordene Realität, sagt sie (Ojeda/Hennessy 2007: 91). Teresas eindringlicher Ausdruck, »la realidad vivida en su propia carne«, zeigt ein Bild von den Kosten, die der Capitalism Reloaded mit sich bringt, und die Bedeutung der Bio-Deregulierung für die Arbeiterinnen und Arbei-ter am globalen Fließband.

Der freie Handel profitiert von der politischen und kulturellen Entmäch-tigung und Enteignung bestimmter Subjekte, einer Enteignung, die sich im Körper niederschlägt - Weiblichkeit ist eine Form der Enteignung (Hennes-sy 2004: 426; Hennessy 2006). Als Arbeiter feminisiert zu sein bedeutet, den Anspruch auf die eigene Leistungsfähigkeit auf doppelte Weise aufzugeben. Es gibt einen bestimmten Grad, zu dem die menschlichen Fähigkeiten, die die Arbeitskraft des feminisierten Arbeiters umfasst, vollständiger von ih-rem Besitzer gelöst sind, als es bei einem Arbeiter der Fall ist, der nicht femi-nisiert ist. Diese Besitzlosigkeit senkt die Kosten der Arbeitskraft und ver-größert dadurch den Wert, der den Waren zugefügt wird, die der feminisierte Arbeiter produziert. In diesem Sinne sind feminisierte Arbeiterinnen und

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Arbeiter nicht nur die Subjekte des Mehrwerts, sie sind vielmehr die Hy-per-Ausgebeuteten. Ausbeutung ist als solche nie »wertfrei«, denn sie hängt von der Bio-Deregulierung ab und ist durch sie mit hervorgebracht. Letztere setzt an dem Punkt an, wo die Arbeiterin ihre bereits wertbeladene Arbeit, aber unterwertige Arbeitskraft, gegen einen Lohn eintauscht. Die Mehr-wertakkumulation hängt davon ab und gleichzeitig von Formen der Bio-Deregulierung am Arbeitsplatz, die den Mehrwert (oder Profit) auf Kosten der Auslöschung des »carne propria«, des eigenen Fleisches der Arbeiterin oder des Arbeiters abpresst. Wie eine ehemalige Arbeiterin einer Elektro-nikfabrik in Nueva Laredo/Mexiko ihre Arbeit in den maquilas (Montage-betriebe im Norden Mexikos und in Mittelamerika - d.V.) beschreibt, zeigt, wie die feminisierte Arbeitskraft in den ganzen Körper einverleibt ist und wie der Körper der Arbeiterin durch die unternehmerische Deregulierung am Arbeitsplatz und die Deregulierung der natürlichen Welt beherrscht ist.

»Wenn du in der Fabrik arbeitest, weißt du nicht was mehr weh tut, dein Körper oder die Tatsache, dass du ein Bewusstsein hast. Dein Rücken, deine Hände. Die Schmerzen sind so groß, dass du keine Gefühle mehr hast. Du starrst nur noch auf die Uhr. Und wenn die Glocke wieder schellt, dann sagst du mit deinem ganzen Körper: >Gott sei Dank!< An regnerischen Tagen ha-ben sie immer diejenigen weggeschickt, die schlammbeschmutzt ankamen, und die verloren dadurch einen ganzen Arbeitstag. Natürlich waren die schmutzig. Sie mussten auf eigene Faust zwei colonias durchqueren, und das Unternehmen hatte keine Fahrgelegenheiten. Doch das Unternehmen konn-te keine verschmutzten oder nassen Leute in die Fabrik lassen, die musste wegen der Festplatten sauber bleiben.«

In dem Maße, wie die Körper verausgabt werden, schafft der schmerz-hafte Verfall einer entbehrlichen Arbeiterschaft auf Seiten des Unterneh-mens (Mehr-)Wert.2 Die Körper der zu spät zur Sony-Fabrik kommenden Arbeiterinnen und Arbeiter waren nicht nur schlammbeschmutzt, sie waren durch und durch mit Giften getränkt: Das Unternehmen entsorgte die bei der Produktion anfallenden Chemikalien direkt in den Fluss - die einzige Wasserquelle der Siedlungen und unbewirtschafteten Flächen, auf denen die Mehrheit der Maquiladora-Arbeiterinnen und - Arbeiter leben. Der schmutz-starrende Körper einer Arbeiterin trägt ausreichend negativen Wert, um an einem regnerischen Tag den Wert ihrer Arbeitskraft komplett auszulöschen,

2 Melissa Wright (2005) beschreibt den Widerspruch, dass durch die Abnutzung der Körper der Arbeiterinnen auf Seiten des Kapitals tatsächlich (Mehr-)Wert entsteht.

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denn die Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem Bus abholen zu lassen, würde die Kapitalakkumulation des Unternehmens belasten.3

Bio-Deregulierung benennt die Orte, an denen das Kapital die Zeit und Kraft der Menschen als Ernte einfährt, ihnen sprichwörtlich das Fell gerbt - Muskeln, Knochen und Bewusstsein als Wert abschält, der dem unbezahl-ten Teil des Arbeitstages zugerechnet werden kann; die Deregulierung der Sinne durch den Stress und die Kraft, die dafür nötig ist, die Produktion zu beschleunigen, Produktionsquoten zu erfüllen und Überstunden zu ma-chen. Der beständige Abbau von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften bedeutet auch dauerhafte Behinderungen, Fehl- und Totgeburten und ent-setzliche Geburtsfehler aufgrund der am Arbeitsplatz verwendeten Chemi-kalien und Gifte. »Vergewaltigung« könnte eine passende Metapher für diese Taten sein, aber es ist auch die sprichwörtliche Tauschwährung als Preis für einen Job. Eine ehemalige Maquiladora-Arbeiterin beschreibt das wie folgt:

»Ich erinnere mich an einen Tag, als ich als Gewerkschaftsvertreterin des Unternehmens die Aufgabe hatte, zu dem Vorplatz zu gehen, wo die Arbei-terinnen eingestellt werden, und dort einige abholen sollte. Die Unterneh-mensleitung hatte mir gesagt, ich solle etwa 50 von ihnen holen. An dem Tag warteten viele Frauen in der Schlange. Auf der einen Seite des Platzes war das Büro des Gewerkschaftssekretärs der CTM (Confederaciön de Trabaja-dores de Mexico). Der kam jeden Tag, meldete sich und ging dann wieder. Seine Zeit verbrachte er mit Politik, aber in der Fabrik war der kaum. An dem Tag war er da, um sich mit ein paar Reportern zu treffen. Währenddes-sen hat der Typ, der für Einstellungen zuständig war, die Frauen überprüft. Er war so widerlich. Er sagt zu mir: >Hier, nimm diese mit, aber die anderen bleiben bei mir. Sie sind carne fresca<, Frischfleisch. Wenn diese Frauen den Job wollten, mussten sie mit ihm mitgehen und Sex mit ihm haben. Danach würde er sie zur Fabrik bringen. Ich erinnere mich an den Ausdruck auf ih-ren Gesichtern, sie waren so jung und hatten schreckliche Angst. Also ging ich ihn vor dem Gewerkschaftssekretär und der Presse an, ich sagte: >Sie kommen alle mit mir mit, und du wirst das nie wieder tun! Von jetzt an werden die Arbeiterinnen direkt in die Fabrik kommen, um eingestellt zu

3 Viele Maquilas bieten Busfahrten zur Fabrik an, allerdings ziehen sie die Kosten dafür vom Lohn ab. Im Beispiel dieser Firma gelang es den Arbeiterinnen, Busfahrten durchzusetzen, allerdings erst nachdem sie sich gewerkschaftlich organisiert hatten und selbst die Busse (alte US-Schulbusse) suchten, mit denen ihnen das Unternehmen er-laubte, die Brücke zur Fabrik zu überqueren.

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werden<. Und ich habe den Gewerkschaftssekretär dafür angezeigt, dass er dieses Schwein gedeckt hat.«

Wenn die Identität als feminisierte Arbeiterin am Körper haftet, dann zeigt die Tat dieser Arbeiterin uns und ihren companeras, dass dies nicht zwangsläufig so ist. Der Wert, der der Arbeitskraft anhaftet wird gegen ei-nen Lohn eingetauscht - das Ausmaß, bis zu dem dieser Tausch nicht in den eigenen Händen liegt, ist auch deswegen ein Kampfschauplatz, weil die Bedeutung des Körpers, der Wert, der seinen Fähigkeiten anhaftet, nicht für sich selbst spricht.

2. »What's Real?« - Wirkl ichkei t und Wahrhei t der Körper

Die sich über die Landschaften, Industriegebiete und Freihandelszonen ver-vielfältigenden Formen der Bio-Deregulierung stehen in einem zeitlichen Zusammenhang mit Prozessen der ungleichmäßigen Assimilation und Ver-einnahmung von schwul-lesbischen, transgeschlechtlichen und post-gay Identitäten durch die kulturelle Wirklichkeit (cultural »real«), Prozessen, die das Voranschreiten des neo-liberalen Kapitalismus begleitet haben. Die vor-herrschende Art und Weise zu erkennen, was wirklich und wahr ist (»what's real«), trägt zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus, wie auch der Bio-Deregulierung bei. Es entsteht eine Eng-führung des Wissens um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Vordrin-gen des Kapitalismus in die Zeit beschleunigen, die benötigt wird, uns als menschliche Wesen zu reproduzieren und unsere menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Neoliberale Ideologien nehmen vielfältige Formen an, dazu gehören moralische Diskurse, Erzählungen von individueller Verantwortung und Wettbewerb, Erzählungen von Assimilation und von den Unterschie-den, die die Freiheit des »freien« Subjekts des Kapitals bestimmen, Diskurse über kulturelle Vielfalt und Multikulturalismus, über Zivilgesellschaft (als Freiwilligenorganisationen oder Zusammenschlüsse gut- und bereitwilliger Subjekte), Globalisierung und Freihandel. Die kulturelle Logik des Zufalls und der Beliebigkeit (»logic of randomness«) zeigt sich in vielen dieser Dis-kurse über die neoliberale Wirklichkeit. In deren Folge werden Vorstellungen von Kausalzusammenhängen zurückgedrängt, wird unausgesprochen - und durchaus auch ausgesprochen - darauf beharrt, dass die materiellen und his-torischen gesellschaftlichen Verhältnisse bestenfalls kontingent, zufällig und nicht vorhersagbar sind, dass Erfahrung von etwaigen zugrundeliegenden

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Verhältnissen entkoppelt ist. Das flexible Subjekt, mittlerweile Klischee des globalen Nordens, ist der Inbegriff dieser Logik des Unbestimmten und Un-vorhersagbaren (random cultural logic). Sein Erkennungszeichen ist das weit verbreitete englische Wort »whatever« - egal, einerlei.4 Das Auftauchen des flexiblen Subjekts (wendig, biegsam, anpassungsfähig) ist, wie viele Exper-ten hervorgehoben haben, nicht unwillkürlich, sondern vielmehr Ergebnis struktureller Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise (Martin 1994; Harvey 2005). Die für die menschliche Reproduktion notwendige Zeit wurde durch den Umbau der Arbeitsverhältnisse aufgesogen, dessen Ergeb-nis die Schaffung einer durch Zeitarbeit, Aufgabenerweiterung, just-in-time Produktion frei verfügbaren Arbeiterschaft ist. Mit der Beschleunigung der Produktion im neoliberalen Kapitalismus ging die Normalisierung von Un-terschieden durch Subjektivierungstechnologien einher. Trennungen zwi-schen Heim und Arbeit wurden durchlässiger, die geschlechtliche Teilung der Arbeit lockerte sich in einigen Arbeitsfeldern und Unterschiede, die die herrschenden Diskurse der entwickelten Welt bisher formiert hatten, erla-gen postmodernen Ambivalenzen. Die Überformungen neoliberaler Ideo-logie nach dem 11. September sind ebenfalls nahe Verwandte der Logik der Unvorhersehbarkeit. Dazu zählt bspw. die Kultur der Angst, die durch die Bush-Regierung angeheizt wurde, indem den Bürgern gesagt wurde, dass niemand wisse, wann und wo die Terroristen zuschlagen werden, und der Staat deswegen seine Überwachungsmaßnahmen ausdehnen müsse, um dem Zufallscharakter der feindlichen Handlungen gerecht werden zu können. Die-se Logik schränkt die Bedeutung bestimmter Schlüsselbegriffe, die bestim-men, was wahr ist, ein: Die Begriffe, mit denen die Leute menschliches und natürliches Leben verstehen und mit denen sie Bedeutung stiften, werden vereindeutigt. Eine Auswirkung der neoliberalen Bio-Deregulierung besteht darin, dass sich diese Zufallslogik auch im Verständnis dessen äußert, was

4 Anm. d. Übers.: Das englische »whatever« fungiert grammatisch als unbestimmtes Relativpronomen, eine Konstruktion, die im Deutschen am ehesten mit dem Indefi-nitpronomen vergleichbar ist. Anders als bestimmte Relativpronomen, die sich auf ein bestimmtes, bekanntes Substantiv beziehen, bleibt gerade das im Ausdruck »whatever« offen. So tritt dieser Ausdruck als Platzhalter für Unbekanntes, Unbestimmbares auf (»do whatever you like«, »whatever you say« usw.) bzw. entkräftet, relativiert zuvor Gesagtes, wenn es am Ende eines Aussagesatzes steht: »..., whatever.« - Ins Deutsche ist es je nach Kontext übertragbar als »wie oder was auch immer« oder »ist ja auch egal«. Als Sprechgewohnheit transportiert und verfestigt dieses »whatever« die von Hennessy im Text angesprochenen um sich greifenden Bedeutungsambivalenzen sowie ein zu-nehmendes Beliebigkeitsdenken.

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menschliche Reproduktion und menschliche Grundbedürfnisse sind. Die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse als zufällig anzusehen bedeu-tet, diesen Prozess als unvorhersehbar - als nicht durch menschliches Ver-mögen kontrollierbar - und die Subjekte gleichsam durch die flexibilisierten Normen des »whatever« regiert zu sehen.

Während der Neoliberalismus sich in den letzten 30 Jahren als vorherr-schende gesellschaftliche und kulturelle Logik herausbildete, fand zugleich eine erstaunliche Metamorphose der Normen und Werte statt, die die sexu-elle Identität formen, und die Grenzen von Toleranz und Akzeptanz wurden neu gezogen. Lisa Duggan hat dargelegt, wie sich die Rhetorik der offizi-ellen neoliberalen Politik in den USA in den 1990er Jahren von der Allianz des »Kulturkriegs« hin zu einer des oberflächlichen »Multikulturalismus« verschoben hat, der mit den globalen Bestrebungen der US-Geschäftsinter-essen kompatibel ist. Im neuen Jahrtausend bildet sich eine »enge, formale, nicht auf Umverteilung zielende Form der >Gleichheit< heraus«, die mit dem Gerede vom »dritten Weg« (weder queer noch konservativ) der Homonor-mativität einen schwul-lesbischen Mainstream formt, der »eine entpoliti-sierte schwul-lesbische Kultur vertritt, die tief im privatisierten emotionalen Leben des Zuhauses und des Konsums verankert ist« (Duggan 2004: 44ff.). Dies kann man z.B. an einer Titelgeschichte des Time Magazine vom Ok-tober 2005 sehen, The Battie Over Gay Teens, in der behauptet wird, dass Jugendliche in immer jüngerem Alter ihr Coming Out haben, doch dass, egal ob auf Seiten der religiösen Rechten oder progressiven Linken, der Trend in Richtung post-schwul-lesbische (post-gay) Identitäten geht. Oder wie Rieh Savin-Williams (Cornell-University) schreibt: »Nur weil sie schwul sind, müssen sie nicht bei einer Demonstration mitlaufen.«5

Entgegen diesem »post-gay«-Trend zeigt eine Studie von Lee Badgett (1997) eine gänzlich andere Wirklichkeit, die weder CSD-Demonstrationen noch post-schwul-lesbische Verlautbarungen aufgreifen. Badgett zeigt, dass, wenn es um den Wert ihrer Arbeitskraft geht, Lesben in der Arbeiterschaft der USA immer noch Frauen und die Mehrheit der schwulen Männer keine ganzen Männer sind. »Lesbische und bisexuelle Frauen verdienen etwa so viel wie heterosexuelle Frauen; schwule und bisexuelle Männer verdienen 17% weniger als heterosexuelle Männer mit derselben Ausbildung und Her-kunft, am gleichen Ort und mit derselben Beschäftigung.« (Badgett 2001)

5 Eine prägnante Analyse der Debatten in den USA um die Homo-Ehe führt Mari-ana Valverde (2006) vor.

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Dennoch hat die Eingemeindung post-schwul-lesbischer Subjekte, die die flexible Logik des Unvorhersehbaren von Arbeit und Leben begleitet hat, die öffentliche Vorstellungswelt in den USA fest im Griff und geht mit einem neuen nationalistischen Diskurs einher, zu dessen Schlüsselworten »Heim«, »Sicherheit« und »Familie« gehören. Die Verbreitung »post-schwul-les-bischer flexibler Subjekte« und die Assimilierung der Homonormativität in den USA geschieht durch eine parallele Unterströmung konservativen Back-lashs, die sich am deutlichsten anhand von Kampagnen gegen die gleichge-schlechtliche Ehe zeigt, die in den verschiedenen Bundesstaaten laufen. Ein Großteil der Rhetorik dieser Kampagnen dreht sich um die Begriffe Heim, Sicherheit, Familie. Lisa Duggan und Richard Kim bezeichnen die Ehe-Diskussion im US-Wahlkampf von 2004 als »die andere Sicherheitsfrage« und stellen fest, dass die Bush-Regierung im Wahlkampf den Backlash ge-gen die Homo-Ehe mit auf den Weg gebracht und als zutiefst emotionales Programm der Homeland Security genutzt hat. Da die Ehe das Versprechen eines »sicheren Heim(atland)s« bietet, war dies eine wirkmächtige Ergän-zung im ideologischen Arsenal des Kriegs gegen den Terror. Aber es besteht ein grundlegender Widerspruch zwischen der imaginären, symbolischen Anziehungskraft von Ehe als Garant des sicheren Heims (egal ob begrenzt auf heterosexuelle Paare oder demokratisiert für homonormative Schwule und Lesben) und der Wirklichkeit, in der die meisten Menschen leben. So ge-sehen stützt die Verteidigung der häuslichen »Heimatfront« die Hoffnungen vieler, die in der Hoffnungslosigkeit eines sich auflösenden sozialen Ganzen leben und sich auf die Unterstützung der Familie verlassen müssen, die all das, was ihr zunehmend abverlangt wird, nicht mehr bieten kann. Während die konservative Verteidigung der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau versucht, den Anschein zu erwecken, die institutionelle Basis der Familie zu stärken, sind Familien aller Art, auch schwul-lesbische, damit beschäftigt, sich über Wasser zu halten und die Arbeit zu leisten, die ihnen die Erforder-nisse der Reproduktion abverlangen.

Die neoliberale Globalisierung schreitet durch die Landnahme immer größerer Teile des gesellschaftlichen Lebens voran. Ich denke, dass wir die Einverleibung schwul-lesbischer Subjekte in das kulturelle Zentrum der Ho-monormativität und die Debatten um die Homo-Ehe als Kampfschauplät-ze um die Landnahme betrachten können. Die Position der Schwulen- und Lesbenrechte, die für die Homo-Ehe eintritt, behält die mit der Institution der Ehe verschränkte soziale Realität der Unsicherheit des Zuhauses bei und belässt die Kosten im Dunkeln, die die neoliberale Wirtschaftspolitik für alle

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Arten von Familie mit sich bringt, indem ökonomische und soziale Verant-wortung - für Kinder, Alte und Kranke - auf die Privathaushalte verscho-ben wurde. Menschen demonstrieren für die Verteidigung der Ehe oder für den Eintritt in sie aufgrund ihrer nicht erfüllten eigentlichen Bedürfnisse. In dem Maße, wie soziale Sicherungssysteme verschwinden, werden Ver-wandtschaftsnetze für viele Menschen der einzige Rückhalt des Überlebens. Die konservative Verteidigung der Ehe und das Pendant der Schwulen- und Lesbenrechte sind zwei Seiten desselben Anliegens; beide speisen sich aus den Kosten, die die Bio-Deregulierung abverlangt, aus den unbefriedigten Bedürfnissen der Arbeitenden, aber sie tun dies beide auf ideologische Art und Weise. Der Diskurs über post-schwul-lesbische Homonormativität ist eine Ergänzung dieser beiden Seiten. Er kann für eine Whatever-Haltung in Fragen sexueller Identität eintreten, er kann als progressiv oder sogar als be-freiend erscheinen. Aber der Diskurs über das flexible Subjekt gibt keinerlei Hinweise auf die Gründe der Unsicherheiten, die die meisten post-schwul-lesbischen Leben strukturieren.

Die Kulturen des Neoliberalismus bieten verschiedene eng abgesteckte Wege des Verständnisses menschlicher und natürlicher Fähigkeiten und ihrer Beschaffenheit an. Als Begriff, der eine der Technologien des neoliberalen Ka-pitalismus offenlegt, kann Bio-Deregulierung uns dazu in die Lage versetzen, die Art und Weise zu betrachten, in der Sexualität, Körper und Geschlechts-identität ebenso in einer Reihe von Praxen des US-Nationalstaats auftauchen wie auch transnational in den vielfältigen und geteilten gesellschaftlichen Un-sicherheiten der im globalen Norden und Süden lebenden und arbeitenden Menschen. Diese Herangehensweise ermöglicht es uns, die Normen besser zu verstehen, die das Normale, das Erträgliche, das Unsagbare regulieren, am Arbeitsplatz und außerhalb, inner- und außerhalb des symbolischen und schwer zu erreichenden »Heims«, und sie ermöglicht uns, die Rolle dieser Normen zu begreifen, die sie bei der Enteignung der grundsätzlichen und gesellschaftlichen menschlichen Bedürfnisse einer Mehrheit von uns spielen. Darüber hinaus denke ich, dass der Diskurs post-schwul-lesbischer Assimi-lation und die gegen Schwule und Lesben gerichtete Verteidigung der Ehe in den USA beide Teil einer internationalen Arbeitsteilung und neoliberaler Geopolitik sind. Dabei sind die Formen der Lebensführung, die in den fort-geschrittenen Bereichen der Kultur der Ein-Drittel-Welt gelten, historisch und materiell eng gekoppelt an die Feminisierung der Arbeitsverhältnisse gerade jenseits dieser hochentwickelten Bereiche. Einem speziellen Kapitel dieses geschichtlichen Zusammenhangs wende ich mich im folgenden zu.

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3. Jeans wi th Justice -im Namen der Gerechtigkeit produzierte Hosen?

Jacob Levi Strauss (1829-1902), geboren als Loeb Strauss in Buttenheim in Bayern, war das jüngste von sieben Kindern. Sein Vater, Hirsch Strauss, war Textilwarenhändler, der 1845 überraschend an Tuberkulose starb. Zwei Jahre später starb auch seine Mutter, Rebecca Haas-Strauss, und Loeb sah armen Verhältnissen entgegen. Er nahm ihre zwei Töchter und emigrierte in die USA zu den älteren Strauss-Söhnen, die in New York einen Textilwarenhan-del aufgebaut hatten. Als die Nachricht des kalifornischen Goldrauschs die Ostküste erreichte, sah Loeb, zu dem Zeitpunkt schon als »Levi« bekannt, an der Western Frontier gute Geschäftsmöglichkeiten auftauchen. 1853 nahm er die US-Staatsbürgerschaft an und reiste nach San Francisco, wo er der Westküstenvertreter des Familienunternehmens wurde und den Berg-leuten Arbeits- und Lebensmittel verkaufte. Ihm wurde schnell klar, dass der Stoff, den er zur Erfüllung bestimmter Bedürfnisse, für die Herstellung von Zelten und als Dachplanen für die Wagen, mitgebracht hatte, viel besser dafür genutzt werden konnte, weitaus dringenderen Anforderungen gerecht zu werden: nämlich strapazierfähige Hosen für die Bergleute herzustellen. 1872 kam Jacob Davis, der Erfinder der Stahlniete für die Verstärkung von Hosen, zu Strauss nach San Francisco, um die erste Jeansfabrik der Westküs-te zu leiten.6

Es folgte ein langfristiges Engagement durch Levi Strauss, auf Bedürfnisse von Arbeitern einzugehen, und es entstand der Ruf einer ethischen Unter-nehmensführung. Als Levi Strauss 1902 starb, war er ein hoch angesehenes Mitglied der Gemeinde, das gemeinnützige Arbeit, Waisenhäuser und die jüdische Synagoge unterstützte. Da er keine direkten Nachkommen hatte, ging das Unternehmen in den Besitz seiner Neffen, der Haas-Familie, die Levi Strauss' Investitionen in progressive Arbeitgeberpraktiken und Phil-anthropie fortsetzten. In den darauffolgenden Jahren gründete das Unter-nehmen eine Reihe von Stiftungen, unterstützte Museen und Wohlfahrts-organisationen und gab zig Millionen Dollar an die Universität Berkeley, an der das Institut für Betriebswirtschaft nach einem Nachkommen von Levi Strauss benannt ist (Schoenberger 2000: 47). Das Unternehmen Levi Strauss & Co ist stolz auf das seit langem bestehende Profil eines ethisch geführten

6 Biographische Details zu Jacob Levi Strauss siehe »Jewish Life in the American West«, vgl. www.museumoftheamericanwest.com und www.levistrauss.com

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Unternehmens und weist u.a. auf den Beitrag zur Integration in der Textil-industrie des Südens, d.h. der Zusammenarbeit Weißer und Schwarzer, hin. Levi Strauss hatte gegen Forderungen nach einer segregierten Arbeiterschaft aufbegehrt und war einer der ersten Arbeitgeber, dessen Betriebe ohne Ras-sentrennung arbeiteten. Heute in 110 Ländern mit Markenzeichen ins Han-delsregister eingetragen, die unter den Namen Levi's®, Dockers® und Levi Strauss Signature™ Bekleidung verkaufen, ist Levi Strauss & Co's globale Reichweite eng verbunden mit dem Ruf eines Unternehmens, das auf pro-aktive Art und Weise auf Arbeiter eingeht. Auf der Internetseite des Unter-nehmens wird der unternehmerische Ansatz des »Profit durch Prinzipien« vorgestellt und der Mut herausgestrichen, gemäß den Grundwerten des Un-ternehmens zu handeln. Es wird geltend gemacht, dass das Unternehmen auf Kunden eingeht, die »Unternehmen zur Rechenschaft ziehen, nicht nur für ihre Produkte, sondern auch dafür, wie sie hergestellt und vermarktet werden«. Wenn wir den Weg nachverfolgen, wie die Produkte von Levi Strauss & Co hergestellt und vermarktet werden, dann stoßen wir auf eine Reihe von Begebenheiten, in denen die Einverleibung post-schwuler Identi-täten und viel brutalere Formen der Bio-Deregulierung aufeinandertreffen. Levi Strauss & Co's Engagement im Wertediskurs speist sich aus zwei auf-einanderfolgenden und punktuell sich überschneidenden globalen Krisen: den Auswirkungen der AIDS-Epidemie und der strukturellen Anpassung der Produktion, um angesichts des Wettbewerbs die Profitrate halten und steigern zu können. Erstere bringt die Firma zu einem großen unterneh-merischen Beitrag zur HIV-Aufklärung, als Unterstützung ihrer schwulen Arbeiter in San Francisco und durch AIDS hervorgerufene Philanthropie. Letztere führt zu einem jahrzehntelangen Prozess der Verlagerung der Pro-duktion ins Ausland. Dass Levi Strauss & Co in der Mitte der 1990er Jahre eine Vermarktungsstrategie betrieb, die ausdrücklich auf junge schwule und transgender Subjekte zielte, ist in beiden dieser Krisen begründet.

Auf Druck der Beschäftigten entwickelte Levi Strauss & Co 1982 ein Modellprogramm, das das Unternehmen zu einem international führenden Unternehmen im Kampf gegen AIDS machte. Es begann mit den Forde-rungen einer Gruppe von Arbeitern im Hauptquartier des Unternehmens in San Francisco. Diese Arbeiter beklagten den Verlust von Freunden und Liebhabern, die an AIDS gestorben waren, und forderten die Einrichtung einer AIDS Informations- und Spendentafel in der Eingangshalle. Der da-malige Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer, Robert D. Haas, unter-stützte da;. Projekt und förderte später eine Reihe von Initiativen, die sich zu

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einer facettenreichen Kampagne bündelten und die Aufklärung über AIDS, Gesundheitsversorgung sowie ein Outreach-Programm mit der schwulen Community beinhaltete.

Dieses »umfassende und anspruchsvolle Programm« machte Levi Strauss & Co zu einer »der größten und wichtigsten Ressourcen für die Bevöl-kerung San Franciscos. Seither haben sich gemeinnützige Einrichtungen, Kliniken, Handelskammer und Aktivistengruppen an Levi Strauss & Co zwecks Rat in der AIDS-Aufklärung gewandt« (www.levistrauss.com). Bis 1992 war Levi Strauss & Co die einzige Fortune 500 Firma, die Sozialleis-tungen für gleichgeschlechtliche Paare gewährte, und bis zum Endes des Jahrhunderts gewährte die Levi Strauss & Co Stiftung über 3 Millionen Dollar im Jahr an Zuschüssen, viele gingen an Projekte der AIDS-Arbeit. Die Stiftung des Unternehmens finanzierte darüberhinaus viele Projekte aus dem LGBT-Bereich (lesbisch/schwul/bisexuell/transgender-Projekte), dar-unter das LGBT-Filmfestival und das Hetrick-Martin-Institut. Sie gehörte auch zu den Stiftungen, die ihre Finanzierung der Pfadfinder zurückzog, weil die Boyscouts of America Schwule und Lesben diskriminieren. 1991, ein Jahrzehnt nachdem Levi Strauss & Co eine führende Rolle in der Befür-wortung von Schwulen- und Lesbenrechten eingenommen hatte, wurde es das erste multinationale Unternehmen, das einen umfassenden Ethikkodex für die Zulieferer- und Herstellerbetriebe des Unternehmens verabschiede-te. Die Geschäftspartner werden in diesen Verhaltensmaßregeln, den Global Sourcing and Operating Guidelines, darauf verpflichtet, »gesetzestreu und im Rahmen der Durchführung ihrer unternehmerischen Geschäfte stets im Einklang mit den rechtlichen Bestimmungen zu handeln ... und mit Levi Strauss & Co das Engagement zu teilen, zur Verbesserung der Bedingungen der Kommune beizutragen (sowie) sicherzustellen, dass ihre Angestellten in keinem Fall physischen Risiken ausgesetzt werden, fair bezahlt werden, sie das Recht zur freien Assoziation ausüben können und in keiner Weise ausgebeutet werden« (ebd.).

Protest von Arbeitern und ziemlich viel Aufmerksamkeit der Medien an-lässlich der Neuansiedlung von Levi Strauss & Co-Produktionsstätten im Ausland waren der eigentliche Grund für die Schaffung des Ethikkodexes. Wie viele US-Hersteller verlagerte auch Levi Strauss & Co seine Produktion, um die Profitraten durch billigere Arbeit aus dem Süden zu erhöhen. Nied-rigere Löhne, schwache oder gar keine Kollektivvertretungsrechte garan-tieren dort, dass Arbeiterinnen und Arbeiter keine bezahlten Überstunden, Gesundheitsversorgung oder die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen

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fordern können und reduzieren dadurch die Kosten, die die Kapitalakkumu-lation bremsen. Zwischen 1981 und 1990 verlagerte das Unternehmen etwa die Hälfte seiner Produktion aus den USA und Kanada. Um 1990 gab es rund um den Globus verteilt 600 Tochtergesellschaften und Auftragnehmer in Entwicklungsländern, darunter Costa Rica, Mexiko, Guatemala, Domi-nikanische Republik, Brasilien, Philippinen, Südkorea, China, Hongkong, Taiwan, Macao, Thailand, Malaysia, Singapur, Bangladesh, Indien, Pakistan, Sri Lanka und Indonesien (vgl. Louie o.J.).7

Der Ausgleich der Folgen der automatisierten Produktion in einigen ihrer US-Werke wurde von Levi Strauss & Co bereits begonnen. Das Ergebnis waren Entlassungen in einigen der älteren Werke in Tennessee, Arkansas und Texas (vgl. Owen 2000). Die Schließungen trafen die Arbeiter im Sü-den hart, da diese Gegenden so wieso schon unter hoher Arbeitslosigkeit und Niedrigstlöhnen litten, außerdem bot Levi Strauss & Co nur schäbige Ab-findungen an. Unter den entlassenen Arbeiterinnen und Arbeitern befanden sich 2.000 mexikanische und mexikanisch-amerikanische Arbeiterinnen des Levi Strauss & Co-Werks in Zarzamora/Texas. Viele dieser Frauen hatten seit mehr als 14 Jahren für Levi Strauss & Co gearbeitet, als die Produktion nach Costa Rica verlagert wurde. Mithilfe von Aktivisten und Rechtsanwälten führten die Arbeiterinnen einen Gerichtsprozess gegen das Unternehmen (vgl. Zugman 2003). Sie verloren den Prozess, aber die Fuerza Unida (Verein-te Kraft), die Gruppe, die sich im Arbeitskampf gegründet hatte, brachte die Sweatshop-Praktiken von Levi Strauss & Co ans Licht der Öffentlichkeit.8

Die Arbeiterinnen aus dem Werk in San Antonio beschreiben die Kosten der

7 Ende des Jahres 1991 wurde ein Levi Strauss & Co-Auftragnehmer in Saipan (US-Territorium im Pazifik) beschuldigt, chinesische Frauen als Sklavinnen zu halten, ihnen die Pässe abzunehmen und sie bei Löhnen unterhalb des Minimums zu 84-Stunden-Wochen zu zwingen. Ein Auftragnehmer in Indonesien flog damit auf, dass er bei den Arbeiterinnen Leibesvisitationen vornahm, um festzustellen, ob sie menstruierten und ihnen der gemäß islamischem Gesetz zustehende freie Tag wirklich zustand. Ange-stellte eines ehemaligen Levi Strauss & Co-Auftragnehmers in Mexiko geben an, dass mindestens zehn Kinder im Alter von unter 14 Jahren in der Fabrik gearbeitet haben, dass Arbeiter entlassen wurden, wenn sie »zu oft« auf die Toilette gingen, und dass Regenwasser durch die Decke drang und auf dem Boden Pfützen bildete, die zu Strom-schlägen führten, (vgl. Louie o.J.).

8 Kara Zugmans Analyse bezieht Berichte der Mitglieder von Fuerza Unida ein und zeigt, wie die Arbeiterinnen von Levi Strauss & Co's widersprüchlichen Diskursen über Familie und Wettbewerb befangen waren und wie sie dennoch den Gegendiskurs der »Mutterschaft« neu erzählen - in Frontstellung zu dem Unternehmen und den Ge-werkschaften, die sie nicht unterstützten.

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Bio-Deregulierung, die Folge der Hyperausbeutung ihrer Arbeitskraft war, und darin klingt das Echo der Stimmen der mexikanischen Maquiladora-Arbeiterinnen nach: der Druck, Produktionsquoten einzuhalten, schnell zu arbeiten, nicht auf die Toilette gehen zu dürfen oder Trinkwasser zu holen und Mehrfachverletzungen, u.a. Handwurzelknochensyndrom und zerris-sene Bandscheiben (vgl. Zugman 2003).

Die Verlagerung der Produktion ins Ausland erwies sich für das Unter-nehmen als lukrativ, in den frühen 1990er Jahren wuchsen bei Levi Strauss & Co die Profite kontinuierlich. In diesem Jahrzehnt entdeckte das Unter-nehmen auf äußerst aggressive Art und Weise Schwule und Transgender als Marktnische. In einer Anzeige von 1995 wird eine transsexuelle Frau auf dem Rücksitz eines Taxis gezeigt, die zum Schrecken des Taxifahrers einen Rasierapparat aus ihrer Handtasche zieht, um den Bartschatten zu rasieren.9

1996 lagen die Verkaufszahlen bei 7,1 Milliarden Dollar. 1998 entwickelte Levi Strauss & Co seine erste auf Schwule ausgerichtete Werbekampagne, die darauf aus war, junge hippe Käufer für die Marke Dockers® zu gewin-nen. Die Anzeige wurde als Beilage des Magazins Out geschaltet und zeigte Porträts von zehn schwulen Helden, darunter James Dale, dessen Klage gegen die Pfadfinder New Jersey bis zum Obersten Gerichtshof ging. Zu dieser Kampagne sagte Mark Malinowski, der Chefmarketingspezialist von Levi Strauss & Co: »Wir versuchen die 25- bis 34-jährigen zu erreichen, die wir die modernen Stadtmenschen nennen. Als wir uns diese Gruppe ange-sehen haben, haben wir festgestellt, dass schwule Männer und Lesben einen großen Anteil dieser Gruppe ausmachen« (vgl. Elliott 1998). Die mit der Kampagne Betrauten geben an, dass sie viel bedeutsamer wurde, nachdem Matthew Shepherd, ein offen schwul lebender Student der Universität Wy-oming, erschlagen wurde (ebd.). Eine weitere Dockers-Anzeigenkampagne von 2000/2001, die unter die Kategorie der »vage schwulen« Kampagnen fällt, zeigt eine junge Frau, die ihren Eltern ihren neuen Freund vorstellt, und wie dann sowohl die Mutter als auch der Vater mit ihm zu flirten begin-nen. Im Jahr 1998 startete Levi Strauss & Co seine »What's real?«-Werbe-kampagne, die aus einer Reihe von Interviews mit »wirkl ichen« Menschen besteht, darunter ein unbeholfener Teenager namens Dustin, der vor der Kamera steht, direkt in sie hineinsieht und uns über eine Unterhaltung mit seinem Vater berichtet:

5 Siehe http://www2.commereialcloset.org/cgi-bin/iowa/portrayals.html?record= 16

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»Wir haben über meine Nachbarn gesprochen, weil die mich hassen und so. Sie mochten die Musik, die ich hörte, nicht, weil ich die immer ziemlich laut gehört habe und dazu in meinem Zimmer getanzt habe. Wir haben darü-ber geredet, dass sie mich hassten und so. Er sagte dann: >Das ist halt der Typ Mensch, zu dem die gehören< - die sind wie er. >Die mögen keine Homo-sexuellen, die denken du nimmst Drogen.< Und ich sagte: >Papa, die wissen doch gar nicht, dass ich schwul bin.< Und er sagte: >Was hast du gesagt?< Und dann sagte ich: >Ich meine, die wissen doch gar nicht, dass ich Drogen nehme! Ah, ich meine...<« (www.commercialcloset.org/cgi-bin/iowa/portra-yals/html ?record=92)

Diese halb angepasste, halb schwule oder transgender Rhetorik, die hier am Werke ist, verbindet »schwul« nur halbherzig mit Drogengebrauch und normalisiert zugleich das »schwule« Subjekt als Junge von nebenan, ein »whatever« post-schwuler Jugendlicher. Zur gleichen Zeit, in der die Ver-braucher Dustin und andere Darsteller von Levi Strauss & Co sahen, er-reichte das Unternehmen der NAFTA-bedingte Niedergang der US-Textil-industrie. 1998 schlössen in Texas die Werke in McAllen, Harlingen, El Paso und Wichita Fall; in Tennessee die Werke in Mountain City und Johnson City; sowie die Werke in Valdosta (Georgia), Morrilton (Arkansas), Warsaw (Virginia), Murphy (North Carolina) und Cornwall (Ontario/Kanada). 2002 schlossen sechs weitere US-Werke und bis September 2003 hatten weitere 5.900 Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job verloren. Die zwei Werke in San Antonio waren die letzten, die in den USA geschlossen wurden. Zwei Nähe-reibetriebe in Edmonton und Stoney Creek in Ontario/Kanada wie auch die Fertigungsanlage in Brantford schlossen im März 2004 und vollendeten den Auszug von Levi Strauss & Co aus Nordamerika (vgl. Jones 1999).

Die Reaktion von Levi Strauss & Co auf die AIDS-Krise innerhalb der Belegschaft in San Francisco setzte die sonst übliche unternehmerische Art außer Kraft, sich über die Erfordernisse und Bedürfnisse menschlicher Kör-per hinwegzusetzen und sie bloß als Profitbremse zu betrachten. Gleich-zeitig wurde durch die Fabrikschließungen und Unternehmenspraktiken wie die in San Antonio und die neueröffneten Werke in Asien, Zentrala-merika und der Karibik die Gesundheit von Arbeiterinnen und Arbeitern völlig ignoriert und mit deren entwerteter feminisierter Arbeitskraft Kas-se gemacht. Wie passen diese Geschichten zusammen? Wenn es richtig ist zu sagen, dass Levi Strauss & Co's Aufmerksamkeit in der AIDS-Krise die Voraussetzung für seine auf Schwule zielenden Marketingstrategien in den 1990er Jahren war, ist es dann auch berechtigt zu sagen, dass der Transfer der

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Produktionsstätten ins Ausland materiell verbunden ist mit der Vermark-tung schwuler Assimilation? Levi Strauss & Co's »What's real?«-Kampagne gemeindet schwule Jugendliche als Subjekte in den Mainstream ein, deren Anderssein normal und akzeptabel, sogar cool ist. Welche Verbindung hat diese Normalisierung der post-schwulen Subjekte zur Deregulierung der Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Levi's-Jeans zusammennähen? Besteht ein Verhältnis der Bio-Deregulierung zwischen dem spektakulären Einsatz homonormativer Körper im transnationalen Werbesektor und dem Dahinschwinden der Körper anderswo? Wenn das so ist, welche Rolle spie-len die Grenzen, die sexuelle Identitäten bestimmen in diesem Feld? Ist es falsch anzunehmen, dass schwule und post-schwule Subjekte und Fabrik-arbeiterinnen und -arbeiter gänzlich verschieden und geografisch bestimmt sind? Was sind die Implikationen einer solchen möglicherweise falschen An-nahme?

Der jüngste Arbeitskampf bei einem Levi Strauss & Co-Zulieferer in Gömez Palacio in Durango/Mexiko bestätigt die Schnittstelle zwischen Ge-schlechtsidentität und dem Wert der Arbeitskraft im Neoliberalismus und lässt eine komplizierte Beziehung zwischen Sexualität und Feminisierung der Arbeit annehmen. Um zu verstehen, was in dieser komplizierten Sach-lage wirklich und wahr ist, dürfen wir Sexualität nicht gegen Arbeit ausspie-len oder schwule Konsumenten und Bürgerinnen und Bürger des Nordens nicht von den Arbeiterinnen und Arbeiter des Südens trennen. Wir werden vielmehr die Herausforderungen annehmen müssen, die diese komplizierte Sachlage mit sich bringt und die eine transnationale Organisierung immer wieder in Frage stellt.

Die Gegend um La Laguna im Norden Mexikos ist immer noch das größ-te Zentrum für Textilproduktion und -export des Landes und hat Zentren wie Puebla und Tehuacan im Süden längst überholt. Eigentlich ist diese Ge-gend eher landwirtschaftlich geprägt, vor allem Baumwollanbau findet hier statt, aber auch der Abbau von Bodenschätzen. Bis Mitte der 1990er Jahre gab es hier keine großen Maquiladoras. Die Reform des Artikels 27 der me-xikanischen Verfassung beschleunigte 1992 die Privatisierung der ejidos, der Ländereien im öffentlichen Besitz, und leitete eine neue Entwicklungsphase ein. Um das neoliberale Modell durchsetzen zu können, mussten die Be-wohner der ejidos vertrieben werden und sie wurden obdachlos. In dieser Periode wurde die Lajat Manufacturing Company gegründet, offiziell be-kannt als Maquiladoras y Manufacturas Lajat, die ein Modell neoliberaler Geschäftsgebaren ist. Lajat gehört den Gebrüdern Bello, die Subunterneh-

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mer von mindestens einem, wenn nicht von mehreren anderen Subunterneh-men großer namhafter Textilhersteller, darunter Levi Strauss & Co, Mudd Jeans und Aeropostale sind. Die fünf Brüder verfügen über enge politische Verbindungen in den Bundesstaaten Durango und Coahuila und sie beschäf-tigen etwa 12.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in verschiedenen Werken der Region. Dem Journalisten Julio Ramirez zufolgte entstand die Lajat Com-pany aus der Privatisierung der ejidos der Region Laguna vor allem auf der Grundlage eines Abkommens zwischen Lazaro Bello und dem Gouverneur von Coahuila. Zu einem niedrigen Preis wurden die Ländereien 1993 ge-kauft. Dies fand unter zweifelhaften Umständen statt, in denen der Leiter einer der ejidos, der dem Kauf ablehnend gegenüberstand, erschossen wurde und seine Leiche auf einer Müllkippe in der Wüste gefunden wurde. Dieser Mord wurde niemals aufgeklärt. Die Profite aus den Investitionen der Bellos in die Textilfabriken waren so ertragreich, dass sie in Torreön einen exklusi-ven Country Club und Golfplatz bauten und die örtliche Wasserversorgung abgruben, die sich aus den zunehmend austrocknenden Seen speist.

Die näheren Einzelheiten des Arbeitskampfs in den Lajat-Werken in G6-mez enthüllen den Tribut an den Neoliberalismus, den die marodierende Textilindustrie von denen fordert, die in diesem tödlichen Spiel gefangen sind. Durch die NAFTA wurde 1994 die Region für die Herstellung von Jeans geöffnet. Die Unterzeichung des CAFTA-DR im Jahr 2005 und das Auslaufen des Textilhandelsabkommens (ATC)10 am ersten Tag desselben Jahres bedrohten die Textilindustrie dieser Region, denn Schutztarife fielen weg und neue Handelsvereinbarungen brachten Zentralamerika und Asien mit in den globalen Wettbewerb der Textilbranche. La Laguna hatte weiter-hin einen strategischen Vorteil, denn es ist die Region der drei Sonderpro-duktionszonen Mexikos mit dem niedrigsten Minimallohn. Dies erlaubt es der Region, mit den Niedriglohngegenden im Süden des Landes zu konkur-rieren und den Unternehmen weiterhin Zugang zum großen US-Verbrau-chermarkt zu bieten. Dennoch herrschte in der Region eine Atmosphäre der Jobunsicherheit vor.

Zeitgleich mit dem Auslaufen des Textilabkommens kündigte Lajat im Januar 2005 an, die Produktion von Gömez in die Stadt Torreön zu verla-

10 Anm. d. Übers.: Details hierzu vgl. http://www.ustr.gov./Trade_Agreements/Bi-lateral/CAFTA/CAFTA-DR_Final_Texts/Section_Index.html; kritisch dazu: http:// www.oeku-buero.de/veroeff. Das Agreement of Textile and Clothing (ATC) galt zwi-schen 1974 und 2005, darin wurden die Exportmengen festgelegt, die aus den sogenann-ten Entwicklungsländern in die entwickelten Länder exportiert werden durften.

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gern und teilte mit, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, wenn sie weiter für sie arbeiten wollten, dort arbeiten müssten. Das Werk in Torreön liegt etwa 10 km von Gómez entfernt und das Unternehmen sagte den Arbeiterinnen und Arbeitern, dass sie auf der offenen Ladefläche von Lastwagen dorthin gebracht würden, aber abends selbst zusehen müssten, wie sie nach Hause kommen. Für viele war das ein unüberwindbares Hindernis. Die Ankündi-gung des Umzugs nach Torreon brachte für die Arbeiterinnen und Arbeiter von Lajat das Fass zum Überlaufen, denn die Arbeitsbedingungen im Gó-mez-Werk waren bereits grauenhaft - die Arbeiterinnen wurden gezwun-gen, bis zu 12 Stunden täglich zu arbeiten, ohne dass Überstunden bezahlt wurden. Es gab kein Trinkwasser, das Management erlaubte ihnen nicht, auf die Toilette zu gehen, und diejenigen, die es dennoch wagten, wurden da-vongejagt. Die Toiletten waren oft kaputt und zwei der drei hatten kein flie-ßendes Wasser. Die Produktionsquoten waren extrem und die Arbeiterinnen und Arbeiter durften die Fabrik nicht verlassen, bevor sie die Quoten erfüllt hatten. Sie benutzten für den S t o n e w a s h - E f f e k t der Jeans viele Chemikalien, aber sie bekamen dazu keinerlei Schutzkleidung. Die Mehrheit der Arbeite-rinnen und Arbeiter waren junge Frauen und alleinerziehende Mütter.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter organisierten sich, um gegen den Trans-port nach Torreón zu protestieren, und beschwerten sich wegen der gesund-heitsgefährdenden Arbeitsbedingungen. Sie gründeten ein unabhängiges Bündnis und starteten den Prozess zur Anerkennung des Kollektivvertre-tungsrechts als unabhängige Gewerkschaft. Die Lajat-Arbeiterinnen wand-ten sich an die internationale Organisation der Coalition for Justice in the Maquiladoras und baten diese um Unterstützung. Da der Ethikkodex von Levi Strauss & Co auch das Recht auf freie Assoziation enthält, übte das Bündnis Druck auf Levi Strauss & Co aus, sich an den Kodex zu halten. Als Reaktion darauf schickte Levi Strauss & Co die für Lateinamerika zustän-dige Abteilungsleiterin, um die Zustände in Gömez zu untersuchen. Zuerst sagte diese, dass die Fabrik in Gömez nicht für Levi Strauss & Co arbeite und das, obwohl die Arbeiterinnen ihr Beweise vorlegten. Dann sagte sie, dass das Werk ohne gültige Konzession von Levi Strauss & Co gearbeitet habe.

In der Zwischenzeit wurden die Organisierungsversuche der Arbeite-rinnen bei jedem Schritt durch die mexikanische Kommission für Arbeitsan-gelegenheiten und durch den offiziellen Gewerkschaftsverband Confeder-acion de Trabajadores de Mexico (CTM) torpediert. Je mehr Arbeiterinnen auf eine Wahl drängten, desto offener stellten sich die Arbeitsbehörde und

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der Gouverneur auf die Seite des Unternehmens. Als im September 2005 ein Erfolg der Arbeiterinnen bei der Gewerkschaftsabstimmung so gut wie sicher war, verkündete Lajat die Schließung des Werks in Gómez Palacio aufgrund mangelnder Aufträge. Tatsächlich verlagerten sie die Produktion aber nur zu einem anderen Subunternehmer ein paar Häuser weiter und in das andere Lajat-Werk in Torreón. Da Lajat die Arbeiterinnen und Arbeiter rechtlich nicht einfach kündigen konnten, kürzten sie deren Löhne von 850 Pesos auf 350 Pesos die Woche (von 85 auf 35 Dollar) und stoppten die Zah-lungen an die Krankenkasse sowie die Wohnzuschüsse. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden außerdem auf Schwarze Listen gesetzt, was bedeutet, dass sie in anderen Fabriken der Region keine Jobs bekommen können.

Auf internationalen Druck hin war Levi Strauss & Co im Herbst 2005 endlich dazu bereit, die Verantwortung für die Durchsetzung des hauseige-nen Ethikkodexes zu übernehmen. Doch die Art, wie das letztlich geschah, bediente einen doppelbödigen Diskurs. Gemäß des Ethikkodexes zur Un-ternehmensführung darf ein Zulieferer eine Fabrik nicht schließen und die Produktion in eine andere verlagern, um Organisierungsversuche von Ar-beiterinnen und Arbeitern zu vereiteln. Doch obwohl die Arbeiterinnen und Arbeiter das Gegenteil bewiesen, behauptete Levi Strauss & Co weiterhin, dass es in Gömez offiziell keine Produktionsstätten unterhalten habe, als die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Organisierungskampagne starteten, und es deswegen auch nichts unternehmen könne.

Normalerweise geben die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, wenn die mexi-kanische Kommission für Arbeitsangelegenheiten den Prozess der Gewerk-schaftsgründung verzögert, denn sie können dem langfristigen Druck und Widerstand, der ihren Organisierungsversuchen entgegengebracht wird, nicht standhalten. Doch die Arbeiterinnen gewannen in diesem Fall an Stärke und schafften in dieser Region einen wichtigen Präzedenzfall. Sie gründeten eine offiziell anerkannte Koalition der Arbeiterinnen und Arbeiter, ein Gebilde, das normalerweise von der Kommission für Arbeitsangelegenheiten nicht an-erkannt wird. Sie verpflichteten das Unternehmen auf ein Arbeitsabkommen, das die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorsieht. Sie erlangten die Wie-deranstellung der zu Unrecht gefeuerten Arbeiterinnen und die Nachzahlung ihrer Arbeitsausfälle. Und sie hielten stand gegen ein riesiges multinationales Unternehmen und enthüllten dessen Praktiken in der nationalen und interna-tionalen Öffentlichkeit. Außerdem schafften sie es, in der Region eine starke soziale Bewegung in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen aufzubauen. Was noch wichtiger ist: Sie erlangten die offizielle Anerkennung und Zulassung ih-

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rer Gewerkschaft, der Lajat Workers' Union, der ersten Gewerkschaft, deren Führungspositionen nur von Frauen besetzt sind.

Diese Siege sind das Ergebnis ihrer Unbeirrbarkeit und ihres Muts sowie der Unterstützung durch abgestimmte Verbraucherkampagnen in den USA und Kanada wie auch effektiver grenzüberschreitender Organisierung. Am Ende führten diese gemeinsamen Aktionen dazu, dass leitende Führungs-kräfte von Levi Strauss & Co nach La Laguna kamen, um die letzte Runde der Verhandlungen zwischen dem Lajat Management und der Lajat Wor-kers' Union zu eröffnen. Während dieses Prozesses behielt Levi Strauss & Co seine Position bei, die es in den letzten Monaten der Verhandlungsge-spräche eingenommen hatte: Levi Strauss & Co würde nicht darauf beste-hen, dass Lajat die Produktion wieder nach Gömez zurückverlagert, denn, so wurde gesagt: »Wir können unseren Zulieferern nicht vorschreiben, wie sie ihre Geschäfte organisieren.« Doch wenn das so ist, wozu hat man dann einen Ehrenkodex unternehmerischen Handelns?

Die Geschichte des Arbeitskampfes bei Lajat ist die Geschichte der zügel-losen Bio-Deregulierung eines Unternehmens im Streben nach Beibehaltung und Erhöhung der Profitraten. Doch die Feminisierung der Arbeiterschaft bei Lajat geschah in der Form von Herrschafts- und Unterdrückungsritu-alen, wie sie in anderen Maquilas ebenfalls am Werk sind. Eduardo Gonza-lez, ein Arbeiter bei Lajat, erklärt, welche Formen der Bio-Deregulierung diese Feminisierung beinhaltet:

»Als ich in diese Fabrik kam, traf ich auf einen mächtigen, rücksichtslosen und neiderfüllten Chef. Er erkannte die Leistung, die wir in unsere Arbeit steckten, nicht an ... Manchmal kam Tomás Bello, der Ingenieur, um zu zeigen, dass sein Wort Gesetz ist, herumfluchend feuerte er rechts und links Arbeiter und beschimpfte uns mit Worten wie >H...ensohn<. Ich erinnere mich daran, dass jedes Jahr im Dezember die Gerüchte starteten, dass die Fabrik geschlos-sen werde, weil es keine Arbeit mehr gebe und ich spürte diese Unsicherheit und Ungewissheit bei meinem Job. Das beeinträchtigte meine Familie und würde zu persönlichen Problemen führen.« (Ojeda/Hennessy 2007: 122)

Zu Eduardos persönlichen Problemen gehört, dass seine Tochter mit einem Herzfehler geboren wurde und sie Medikamente und Operationen benötigte. Während des Arbeitskampfs lief der Krankenversicherungsschutz ab und sie starb. Als die Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Organisierung begannen, war Biopolitik wieder die Hauptwaffe des Unternehmens. An-gefangen bei der Verlagerung der Produktion nach Torreón und dem damit verbundenen 10km Nachhauseweg folgten sexuelle Belästigung von Frauen,

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nächtliche Besuche des Managements bei den Arbeiterinnen und Arbeitern zu Hause, wo ihre Familien bedroht wurden, und schließlich Kürzungen der Löhne und Sozialleistungen. All dies erhöhte den Druck auf die Arbeite-rinnen und Arbeiter und verminderte die Chancen ihrer Familien aufs Über-leben.11 Doch Biopolitik spielte auch auf unterschwelligere, kaum sagbare Art und Weise eine tragende Rolle in dieser Auseinandersetzung.

Als die Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Organisierung einer unabhän-gigen Gewerkschaft begannen, war einer ihrer Sprecher derjenige, der zu-nächst Generalsekretär werden sollte. Ein Mann, den ich hier aus Gründen der Anonymität Jose nenne. In einem informellen Gespräch erzählte er, dass er schwul ist, eine Tatsache, die im Arbeitskampf nicht ein einziges Mal zur Sprache gekommen war. Er hat eine Ehefrau, um die er sich kümmert und der es nicht gut geht. Er hat auch einen Sohn. Er ist stolz darauf, schwul zu sein, und lässt durchblicken, dass das kein Geheimnis war. Er erzählte, dass die Arbeit in den Maquilas eine der wenigen Möglichkeiten ist, als offen schwuler Mann, d.h. als feminisierter Mann, Arbeit zu finden. Während Joses Schwul-sein in den öffentlichen Auseinandersetzungen und Berichten über den Ar-beitskampf keine Rolle spielte, so spielte es eine große Rolle bei den Schikanen und Einschüchterungsversuchen ihm gegenüber, die unerbittlicher wurden je mehr der Arbeitskampf im Sommer 2005 an Fahrt gewann. Anonyme Anrufe, nächtliche Drohungen und Beschimpfungen an der Haustür waren alle durch-zogen mit Ausfällen gegen sein Schwulsein. Manager der Fabrik kamen zu ihm nach Hause und drohten ihm verbal Tätlichkeiten an, die das Zusammen-schlagen von Schwulen, Gay-Bashing, beinhalteten. Als er aufgab und lieber die Abfindung annahm, als noch mehr davon zu ertragen, wurde ihm gesagt, dass er nicht auf die Schwarze Liste käme. Doch das war eine Lüge. Voller Be-dauern und Reue sagt er, dass er denkt, seine Kolleg/innen verraten zu haben. Ich weiß nicht, welches Gewicht der Einsatz seines Schwulseins als Druckmit-tel beim Vergeltungsschlag des Unternehmens in den Überlegungen zu Joses Verantwortung hat. Soweit ich das sehe, waren die Arbeiterinnen und Arbeiter weder in der Lage oder willens dazu, den Angriff auf Joses Homosexualität als Strategie der Trennung seitens des Unternehmens zu erkennen, noch imstan-de, ihn als Teil der Entwertung ihrer aller Arbeitskraft gemeinsam anzugehen. Joses Homosexualität spielte auch in der Kampagne »Jeans with Justice« keine Rolle, die zur Unterstützung der Lajat-Belegschaft von einer internationalen gemeinnützigen Organisation gestartet wurde.

11 vgl. Ojeda/Hennessy 2007; siehe auch http://www.coalitonforjustice.net.

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Was enthüllen diese Erzählungen? Wenn sie nahelegen, dass die aktuelle Phase des neoliberalen Kapitalismus von den Prozessen der Bio-Deregulie-rung abhängt und sie vertieft, indem er in die »am eigenen Leib erfahrene Wirklichkeit« vordringt, dann weisen sie auch darauf hin, dass dieser Pro-zess ungleich und über geografische Räume und gesellschaftliche Bereiche hinweg verschieden ist. Mit diesem Prozess einher geht das Zusammen-schmelzen der für die Reproduktion der Natur und des menschlichen Lebens notwendigen Zeit und er gerinnt in den Zuschreibungen an die Subjekte, deren Körper und Fähigkeiten als Elende herabgesetzt oder als »Normale« assimiliert sind. Doch gerade weil Bio-Deregulierung ein Prozess ist, der in verschiedenen Formen und entlang unterschiedlicher gesellschaftlicher Ach-sen verläuft, brauchen wir Analysen, die diese Unterschiede und Taktiken erkennen können: Die Kosten sind für diejenigen, die assimiliert werden, vielleicht abgemildert und weniger brutal, aber sie sind dennoch zerstöre-risch. Die Tendenz der Geschäftsdiskurse in der hochentwickelten Welt zu mehr Verantwortung, dargestellt durch einige unternehmerische Gesten wie Werbekampagnen, Philanthropie und Sozialleistungen für Angestellte, sind in dem Maße fortschrittlich, wie sie vormals dem Elend überlassene Sub-jekte an flexibilisiertere Formen des Normalen anpassen. Die Tatsache, dass zur Jahrtausendwende mit der Assimilierung von schwul-lesbischen und transgender Subjekten, u.a. über Werbekampagnen wie die von Levi Strauss & Co, in den Mainstream der US-Kultur begonnen wurde, ist weithin er-forscht. Das Zusammentreffen dieser Vorgänge mit den intensivierten Femi-nisierungsprozessen der Arbeit andernorts sowie ihrer materiellen Abhän-gigkeit von diesen ist hingegen viel weniger begriffen. Ich schlage vor, diese Prozesse als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten.

Das Auftauchen des post-schwul-lesbischen Subjekts als bekanntes und anerkanntes Mitglied der flexibilisierten neoliberalen Arbeiterschaft, viel-leicht sogar als Mitglied einer anerkannten »neuen Familie«, trägt nichts zur Mäßigung der Auswirkungen der Bio-Deregulierung auf die meisten arbei-tenden Menschen im Norden und Süden bei. Post-schwul-lesbische Arbei-terinnen und Arbeiter machen Überstunden, arbeiten Teilzeit, arbeiten zu Minimallöhnen und managen Mehrfachaufgaben und flexible Arbeitszeiten. Vor, manchmal während und nach der Arbeit pflegen sie Alte und kümmern sich um Kinder. Auch sie sind am Gängelband des deregulierten Kapitals, das eine elitäre Minderheit bereichert. Ihr Auftauchen in der Werbung für Levi Strauss & Co ändert an diesen materiellen Verhältnissen nichts. Tat-sächlich könnte man sogar sagen, dass sie damit dazu beitragen, diese Ver-

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hältnisse zu rechtfertigen. Dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, die in einer Kette von Subunternehmen der Textilbranche für dieselbe Firma produzie-ren, die mit einem coolen post-schwulen Image Kunden wirbt, ihrer Rech-te beraubt werden, sich zu organisieren, dass ihre Körper mit Fusseln und Bleichmitteln vergiftet werden, dass Flüsse und Bachläufe, die zur Trink-wasserversorgung da sind, »blau« werden, das ist kein Zufall. Es ist eine materielle Tatsache, die uns verbindet. Wie es auch das Elend des schwulen Gewerkschafters in einem Zuliefererbetrieb von Levi Strauss & Co in Me-xiko ist. Vergeschlechtlichte Elendspolitik liegt dem Verrat Joses an seinen Genossinnen und Genossen zugrunde, aber entschuldigen ihn nicht. Diese Politik bedingte auch das Verschwinden des homosexuellen Körpers aus den Organisierungsbemühungen der Nichtregierungsorganisation und aus den öffentlichen Berichten über den Arbeitskampf. Wenn die Angestellten von Levi Strauss & Co in Gömez Palacio, die ihre Jobs verloren haben, und ein ehemaliger Gewerkschafter, der seine Überzeugungen aufgegeben hat, zu den Beschädigten dort gehören, so gehören auch die Angestellten von Levi Strauss & Co in San Francisco dazu, die nie von Jose gehört haben.

Der Arbeitskampf bei Lajat/Levi Strauss & Co ist nur ein Beispiel von vielen, bei denen Sexualität und sexuelle Orientierung in die kulturelle Po-litik der Organisierung eingelassen sind, wo Aktivistinnen und Aktivisten schwul oder lesbisch sind und Schikanen und Einschüchterungsversuche da-rauf zielen, und dennoch wird dies fast nie in den transnationalen Strategien der Organisationen, die für soziale Gerechtigkeit eintreten, angesprochen. An den Orten beheimatet, wo Kultur und Arbeit aufeinandertreffen, be-schreibt »sexuelle Orientierung« schlimmstenfalls einen Ort der Vernach-lässigung und bestenfalls eine verpasste Chance. Die Logik der neoliberalen »Whatever«-Kultur und die blinden Flecken des Schweigens bleiben bei der Formulierung von Konzepten und dem Entwerfen von Strategien He-rausforderungen für Geschlechterpolitik, die gemeinsame Unsicherheiten anspricht und kreative Gegenerzählungen aufstellt. Doch wenn Geschich-te tatsächlich von einer Dialektik von Freiheit und Zwang durchzogen ist, dann bedeutet dies, dass das menschliche Wesen niemals komplett begrenzt ist und dass es trotz der Deregulierung des menschlichen Lebens Möglich-keiten gibt, das neu zu erzählen, was sein kann im Unterschied zu dem, was als unwiderlegbare Realität präsentiert wird.

Aus dem Amerikanischen von Catharina Schmalstieg

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Mar io Candeias

Leben im Neoliberalismus Zwischen erwei ter ter Autonomie, Selbstvermarktung und Unterwer fung

Weshalb ist es so schwierig, Kritik und Widerstand gegen Neoliberalismus zu mobilisieren, wenn ihn doch eigentlich so viele ablehnen und »die Linke« doch die »besseren« Argumente hat, werde ich immer wieder gefragt. Dies liegt vielleicht auch daran, dass »die Linke« selten den Neoliberalismus in seinen Stärken ernst genug nimmt. Neoliberalismus ist kein reines »Uber-bauphänomen«, kein »Mythos« oder »Lüge«. Die neoliberale Ideologiepro-duktion ist vielmehr organisierendes Element eines krisenhaften Umbaus aller gesellschaftlichen Verhältnisse: von Arbeits- und Produktionsverhält-nissen bis zu Geschlechter- und Klassenverhältnissen etc. Ideologie meint dabei eben nicht »falsches Bewusstsein«; sie ist vielmehr eine Form der Ra-tionalisierung, in der gesellschaftliche Realität neue Definitionen erfährt, bezeichnet also eine Realität der verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im Alltagsverstand einnistet und den Einzelnen eine gewisse Orien-tierung und restriktive Handlungsfähigkeit ermöglicht.

Im Zentrum steht dabei eine radikale Vorstellung von Individualisierung und verallgemeinerter marktwirtschaftlicher Tauschgesellschaft. Die Maxi-mierung des individuellen Nutzens wird zur grundlegenden Motivation al-ler menschlichen Handlungen. Jedes individuelle finanzielle, physische wie psychische, emotionale, intellektuelle oder moralische Ziel oder Bedürfnis wird dabei als Gut interpretiert. Die rationale Abwägung der Handlungs-optionen erfolgt in Analogie zur Betriebswirtschaftslehre durch Kalkulation von Kosten und Nutzen. Der Neoliberalismus kann als hegemonial gelten, weil es ihm gelingt, die gesamte Gesellschaft mit den Kriterien betriebswirt-schaftlicher Nutzenkalküle und Orientierung auf den Wettbewerb zu durch-dringen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse damit nachhaltig zu verschieben. D.h. auch eine individuelle Ablehnung dieser Prinzipien kann nur bei Strafe des persönlichen Untergangs oder gesellschaftlicher Margi-nalisierung gelebt werden. Ansonsten muss jeder sich mehr oder weniger widerwillig in die alltägliche Konkurrenz begeben, ob an der Uni und in der

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Schule, im Betrieb oder am Arbeitsmarkt, oder auch in Liebesverhältnissen (vgl. die Romane von Houellebecq). Eine neue Produktions- und Lebens-weise (MEW, Bd. 3: 21) ist also mit veränderten Subjektivitäten verbunden.

Nun setzt sich kein hegemoniales Projekt in »Reinform« durch. Im Kampf um kulturelle Hegemonie sind die herrschenden Gruppen nicht nur zu Kompromissen gezwungen, sondern müssen ihre eigenen Vorstellungen auf konkrete Weise mit den allgemeinen Interessen der untergeordneten Gruppen verbinden, sich selbst verändern, sich reartikulieren. Es ist also keineswegs so, dass Politiker und Konzernvorstände uns einfach nur nach Strich und Faden belügen (das kommt schon auch vor), im Allgemeinen glauben sie aber wirklich, dass sie das alles für die Gesellschaft machen. Der Neoliberalismus kann sich also trotz seiner antisozialen Politik auf aktive und passive Zustimmung stützen, weil er die Interessen subordinierter, un-tergeordneter Gruppen aufnimmt, ihre Ziele allerdings ver-rückt, ins Kleid der Selbstvermarktung stopft. Die schmale gesellschaftliche Basis des Neo-liberalismus und geringere Kohärenz verleiht zugleich dem Zwang größere Bedeutung (Candeias 2004).

1. Volksvorurteile

Selbst grundlegende strukturelle gesellschaftliche Verhältnisse wie Waren-form, Lohnarbeit, Kapital etc. können sich niemals vom Konsens und den Alltagsgewohnheiten der Individuen ablösen. Sie müssen zuvor »bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils« gewonnen haben (MEW, Bd. 23: 74), sich zu »objektiven Gedankenformen« (ebd. 90) entwickelt haben, also univer-sell subjektiv wirksam werden. Sie werden zu allgemein akzeptierten, natu-ralisierten und später kaum noch hinterfragten Verhältnissen, die dennoch bewusst gelebte Praxis darstellen. Da wir als tätige Subjekte diese Struk-tur alltäglich reproduzieren, tragen wir selbst zu ihrer Festigkeit bei. Man kommt aber auch nicht einfach durch einen Willensakt heraus, wir können nicht einfach aufhören, die Strukturen zu reproduzieren. Wenn ich morgen beschließe, dass Lohnarbeit doof ist, heißt es nicht, dass ich mich dem Druck zum Verkauf meiner Arbeitskraft entziehen könnte (es sei denn, ich verfü-ge über ein entsprechendes Vermögen oder akzeptiere meinen gesellschaft-lichen Ausschluss). Die ideologische Verkehrung erfolgt also nicht im Kopf, sondern in der Struktur gesellschaftlicher Verhältnisse selbst. Ideologie ist also nicht einfach falsches Bewusstsein, sondern materiell wirksam. Es han-

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Leben im Neoliberalismus 307

delt sich um sich »hin t e r dem Rücken« der Individuen herausbildende und zugleich ihr Handeln bestimmende »objektive« soziale Formen.

Aber die damit verbundenen Ideologien setzen sich nicht nur als Zwang durch, sondern ernten aktive Zustimmung. Versuchen sie mal allgemeine Zustimmung zu bekommen für eine Forderung wie der nach einem begin-gungslosen Grundeinkommen oder Existenzgeld (eine Forderung diverser sozialer Bewegungen) - sie ernten allzu oft Widerspruch, weil die Vorstel-lung herrscht, für sein Auskommen müsse man auch arbeiten - meistens

lohnarbeiten. Versuchen sie überhaupt mal gegen die Vorstellung anzugehen, man müsse für die notwendigen Dinge, die man konsumiert, auch bezahlen - die Forderung, das Lebensnotwendige umsonst bereitzustellen (auch eine Forderung einiger sozialer Initiativen), erntet meist nur belustigtes Kopf-schütteln.

Aber bleiben wir bei weniger grundlegenden, nichtsdestoweniger für den Neoliberalismus verbreiteten Volksvorurteilen:

Zuviel Staat Einem orthodox-konservativen Neoliberalismus gelang es zunächst, das Unbehagen an unübersichtlichen, verunsichernden gesellschaftlichen Ver-hältnissen auf »Rigiditäten« und »Verkrustungen« des alten sozialdemo-kratischen Projekts zu lenken, insbesondere auf den Wohlfahrtsstaat, aber natürlich auch auf den sog. »Realsozialismus« im Osten. - Aus Sicht der Neoliberalen, etwa Hayeks, wird nach dem Zweiten Weltkrieg die eine Hälf-te Europas »kommunistisch«, der Osten, die andere »sozialistisch«, er meint die sozialen Kompromisse und keynesianischen staatlichen Interventions-programme - für ihn ein »Weg zur Knechtschaft« (Hayek 1944). Jedenfalls: Auf die Krisenerscheinungen der 1970er Jahre wie hohe Inflation, begin-nende Massenarbeitslosigkeit, Wachstumsrückgang, wissen die regierenden sozialdemokratischen Parteien keine überzeugende Antwort zu formulie-ren. In dieser Situation gelingt es neoliberalen Kräften, die Krise als Folge von »Überregulierung«, als allgemeine staatliche Steuerungskrise darzustel-len, der durch Abbau bzw. Verschlankung des Staates und Deregulierung zu begegnen sei. Die neoliberale »Ideologiekritik« fokussiert auf die »unter-drückenden Fähigkeiten des Wohlfahrtsstaates« (Marcuse 1964: 70) gegen-über der (Zivil-)Gesellschaft. Sie bietet damit handlungsleitende Deutungen der Veränderungsprozesse an, gibt eine vermeintlich klare Orientierung, die als evident erscheint und sich in den Köpfen der Subjekte verankern kann. Gegen den bevormundenden Wohlfahrtsstaat wird die emphatische Rede

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von der individuellen Freiheit gesetzt, die - anders artikuliert - auch von links betont wird. An diesem Punkt trifft sich der reaktionäre Impuls der Neoliberalen mit den emanzipativen Impulsen der 68er-Bewegung. Ganz zu Recht kritisierten 68er- und Frauenbewegung die unterdrückenden Seiten eines paternalistischen und partriarchalen Sozialstaates, der die freie Ent-faltung der Einzelnen in ein Korsett der Normierung von Lebensweisen presste. Die neoliberale Bewegung nahm diese sehr erfolgreich im Alltags-verstand etablierte Kritik auf, kehrte sie um, stellte sie sozusagen auf den Kopf, radikalisierte sie und nahm der linken Kritik damit die Spitze und

Überzeugungskraft. Ehemalige 68er, Grüne und Sozialdemokraten wurden selbst zu treibenden Kräften einer Orientierung auf Eigenverantwortung und Enstaatlichung.

Private Unternehmen arbeiten effizienter Um das Wachstum und Investitionen anzukurbeln, senken sozialdemokra-tische wie konservative Regierungen ein ums andere Mal die Steuern für Unternehmen und Vermögende. Die Finanzierung des Sozialstaates wird derweilen über erhöhte Sozialabgaben, Lohn- und Verbrauchssteuern be-trieben, massiv v.a. nach 1990. Die permanente Mehrbelastung der Lohnab-hängigen bei gleichzeitig sinkenden Leistungen, die ihnen daraus erwachsen, lässt die Akzeptanz für den alten Wohlfahrtsstaat, der dem Osten einfach übergestülpt wurde, schwinden. Die Vorstellung ineffizienter Verwaltungen, staatlicher Dienstleistungen und fauler Bürokraten ist verbreitetes »Volks-vorurteil« geworden. Die Linke hat zu Recht auf den schlechten Zustand und die Lebensferne vieler staatlicher Dienste hingewiesen; nicht zuletzt wird z.B. seit den 1970er Jahren eine grundlegende Reform des Schulwe-sens gefordert. Auch die Schelte über die Privilegien der Beamten dürfte in Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen, trifft sie doch auf persön-liche Erfahrungen, die fast jeder schon mal gemacht hat - pauschalisiert und verallgemeinert erhält diese Kritik aber eine andere politische Stoßrichtung. Genau hier setzen die Diskurse über Privatisierung und Effizienzsteigerung an. Wer teilte nicht die - wieder durchaus berechtigten - Klagen über inef-fiziente Gesundheitsdienste, überfüllte Massenuniversitäten, immer verspä-tete Züge oder miesen Postservice? Der Staatssozialismus war da auch nicht besser. Differenzierungen gehen jedoch allzu oft verloren: Da die Debatte auf zwei Alternativen reduziert wird, staatliche versus private Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, gilt die Privatisierung als modern, die Gegen-position dagegen wird schnell als altmodisch denunziert - und sie ist es in

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dieser Einfachheit auch, wenn es nicht um grundsätzlich andere Formen der Produktion gesellschaftlicher Reproduktionsbedingungen geht.

Für die Rente muss mehr privat vorgesorgt werden Ein anderes Beispiel: Wer glaubt noch, die Rente sei sicher? Nun, die meisten wohl nicht, in Deutschland sind es 92%? Wer ist überzeugt, dass wir also die Renten kürzen und die Altervorsorge privatisieren müssen, auf Kapitalbasis, um sie für die Zukunft zu sichern? Wahrscheinlich auch nicht gerade viele. Wer hat trotzdem privat vorgesorgt, weil er sich nicht darauf verlassen will, dass das alles schon irgendwie gehen wird, oder wer würde es tun, wenn er das nötige Kleingeld hätte? Nun, tatsächlich sind es 61% der Bevölkerung und ich muss mich da wohl einschließen. Und schon spielen wir mit beim Gerangel um den Abzug vom produzierten Mehrwert, denn nichts anderes sind Zinsgewinne und Aktienkurssteigerungen unserer kleinen Fonds und Kapitallebensversicherungen. Nun wird zwar von links schon seit langem auf die sog. Bürgerversicherung verwiesen, d.h. auf die Erweiterung der Einnahmebasis durch Einbeziehung aller Einkommensarten (nicht nur der Löhne). Die Durchsetzungschancen sind mit der großen Koalition aller-dings nicht gewachsen. Aber selbst bei Erhalt des heutigen Niveaus wür-de ein wachsender Anteil angesichts der Prekarisierung und Unstetigkeit der Erwerbsbiographien kaum in den Genuss der »Normalrente« nach 35 bis 40 Erwerbsjahren kommen. Auch eine Umstellung auf stärkere Steuer-finanzierung führte in den entsprechenden Ländern zu einer Abkehr von erworbenen Ansprüchen hin zu einer sinkenden Rente nach Kassenlage der öffentlichen Haushalte.

Ältere Menschen sind nicht leistungsfähig genug Viel wichtiger ist, dass kein grundsätzliches Umdenken in der Frage des Umgangs mit dem Altern erfolgt. Denn so verständlich die Sehnsucht nach der Pensionierung angesichts der herrschenden Arbeitsbedingungen ist, der Ausschluss älterer Menschen - faktisch schon ab Anfang/Mitte 50, bei Frau-en noch früher - von Teilhabe an gesellschaftlich nützlicher Arbeit ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Das werbeindustrielle Bild einer kleinen, aber reichen Schar rüstiger Rentner, die Weltreisen antreten, wie die Kin-der am Strand spielen und auf Segeljachten durch die Ägäis schippern oder Mallorca unsicher machen, prägt die Wahrnehmung. Ungern werden rapi-de steigende Altersarmut, Vereinsamungserscheinungen, Depressionen und steigende Selbstmordraten wahrgenommen. Aber konzentrieren wir uns

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nicht immer auf die drastischen Folgen: Denken wir nur an viele frühpen-sionierte Männer, die ihre Frauen schockieren, weil sie nach 30 oder mehr Jahren Ehe sich auf einmal im Haushalt betätigen, ihnen zeigen, dass sie dort hinten in der Ecke nicht richtig Staub saugen und sie das jetzt mal richtig ma-chen, oder vom Einkaufen die unmöglichsten Dinge zu überteuerten Preisen mit nach Hause bringen und sich sonst noch allerlei Hobbys ausdenken, um die Lebenspartnerin zu terrorisieren. Die meisten finden, dass sie ihre Rente nun wirklich verdient haben, und fühlen sich doch unnütz. Folge des grassierenden kapitalistischen Konkurrenz- und Verwertungsdrucks in der Arbeit, der immer größere menschliche Ressourcen auspumpt und dann un-genutzt liegen lässt, während ein großer Bedarf gesellschaftlich notwendiger Arbeiten ungetan bleibt. Perspektive bleibt die Flucht aus der Arbeit statt eine lebenswerte Umgestaltung der Arbeitsbedingungen.

Man kann nicht mehr ausgeben, als man eingenommen hat: Wir müssen sparen Ein weiteres neoliberales Dogma ist, dass das Anspruchsdenken in der Bevöl-kerung - vom Sozialstaat geschürt - diesen überfordert. Daher sei der Staat von übersteigerten Forderungen zu entlasten und wieder auf seine Kernauf-gaben zu reduzieren. Margaret Thatcher hat dies auf eine einfache Formel gebracht: Einen Staat zu führen sei ganz dasselbe wie einen Haushalt zu ma-nagen. Man könne eben nicht mehr Geld ausgeben, als man eingenommen habe. Mit dieser popularisierenden, vereinfachenden Form machte sie neoli-berale Theorie auf Ebene des Alltagsverstandes anschlussfähig - sogar noch geschlechtsspezifisch konnotiert, direkt die Figur der Hausfrau aufgreifend. Angesicht »explodierender Kosten« müsse die Haushaltskonsolidierung also vorrangiges Ziel jeder Regierung sein. Eine entsprechende Geld- und Haushaltspolitik wurde - v.a. dank der Bundesbank - auf Ebene der EU in den Maastrichtverträgen bzw. im Stabilitätspakt gesetzlich festgeschrieben - das sind harte Zwänge, die sich auch nicht mal eben so umgehen lassen. Das teilen grundsätzlich auch alle Parteien. Bei den Grünen etwa wird dies unter anderem mit dem Stichwort Generationengerechtigkeit begründet. Der Streit geht nur darum, bei wem gespart wird und wie viel. Dass es nichts mehr zu verteilen gibt, teilen aber über 90% der Bevölkerung.1

1 Umso wichtiger sind Kampagnen wie »Es ist genug für alle da!« von Attac.

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Einige ökonomische Schlaglichter dazu: In einer Situation der Uberakkumulation, also wenn es zu einem Überschuss an liquidem Kapital kommt, das nicht reinvestiert wird, wird das Einsprin-gen der öffentliche Hand erforderlich, um die Geldentwertung zu vermeiden. Fallen die privaten Schuldner, also v.a. Unternehmen aus, weil sie aufgrund sinkender Profitraten und hoher Realzinsen weniger investieren und somit kaum neue Kredite nachfragen, so setzt ein Prozess der öffentlichen Ver-schuldung ein - sonst käme es erneut zu einer Situation der Überliquidität mit niedrigen Zinssätzen und Entwertung von Geldvermögen (durch Inflati-on oder Börsencrash) mit entsprechenden weltwirtschaftlichen Folgen. Geld in seiner Funktion als Zahlungsmittel, als Kreditgeld, ist eine Forderung, also ein Vermögenswert, dem auf der anderen Seite Verpflichtungen, Schulden ge-genüberstehen. Wachsen die Geldvermögen, müssen logischerweise auch die Schulden zunehmen - und umgekehrt. Entsprechend steigt die Verschuldung der staatlichen Haushalte seit den 1980er Jahren drastisch. Spitzenreiter sind die USA mit weit über 3 Billionen US-$. Die Staatsschulden sind auch im deregulierten Finanzkapitalismus eine Funktionsnotwendigkeit. Die Staats-ausgaben zu reduzieren, ist nahezu unmöglich, tatsächlich ist eine Begrenzung des Anstiegs möglich, eine absolute Senkung der Ausgaben kaum. »Die Ver-schuldung des Staates« entspricht dem »direkten Interesse der herrschenden Bourgeoisiefraktion« (MEW, Bd. 7: 13f.), ist für sie dank der beträchtlichen Zinseinnahmen eine einträgliche Quelle der Bereicherung.

Dennoch dürfen die staatlichen Schulden nicht zu groß werden, da an-dernfalls die Geldwertstabilität der jeweiligen Währung gefährdet wäre. Die Bedienung der Schulden wirft freilich Probleme auf: Da der Staat die Er-haltung privater Geldvermögen nicht erfüllen könnte, wenn der öffentliche Schuldendienst durch Steuern auf Geldvermögen finanziert würde, bleibt nur der Zugriff auf die Einkommen der Nicht-Vermögensbesitzer und die sozialstaatlichen Transferzahlungen. Also führt die Globalisierung der Fi-nanzmärkte zu jener Krise des Wohlfahrtstaates, die in den 1990er Jahren in allen Ländern ausbricht. Arbeitnehmer und Sozialsysteme werden immer stärker belastet, um auf der anderen Seite Vermögensbesitzer über Steuer-erleichterungen, vermehrte Abschreibungsmöglichkeiten oder direkte Un-terstützungsleistungen (Eigenheimzulagen oder Subventionen) zu entlasten, in der trügerischen Hoffnung, diese würden die gewonnenen finanziellen Möglichkeiten für produktive Investitionen nutzen. Entsprechend steigt der Anteil der Lohnsteuern (sowie auch der indirekten Steuern, v.a. der Mehr-wertsteuer), während der Anteil der Unternehmens- und Kapitalsteuern

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seit über 30 Jahren permanent sinkt (allein in den letzten 4 Jahren über 60 Mrd. € Steuersenkungen), während die Profite zumindest der Großunter-nehmen Rekordniveaus erreichen.

Im übrigen liegen die effektiven Unternehmens- und Kapitalsteuern in Deutschland noch unterhalb des Niveaus der USA. Es wird also immer mehr Reichtum akkumuliert, der nicht nur andernorts fehlt, sondern auch noch weitere Zinszahlung an Vermögende erforderlich macht. Eine gigantische Umverteilungsmaschine von unten nach oben. Dennoch ist die Ansicht, dass es nichts mehr zu verteilen gibt, bis tief in die Linke hinein im Alltagsver-stand festgesetzt. Angesichts der auch staatlich betriebenen Liberalisierung des Kapitalverkehrs ist dem Problem mit nationalstaatlichen Maßnahmen allein allerdings nicht beizukommen.

Die Arbeitskosten sind zu hoch Letztes Beispiel: Die Arbeitskosten sind zu hoch und die Arbeitszeiten zu kurz. Zwar will freiwillig keiner auf Lohn verzichten, aber angesichts pol-nischer, lettischer oder portugiesischer Lohnniveaus wird vielen einsichtig, dass sie, um ihren Arbeitsplatz zu behalten, verzichten und länger arbei-ten müssen, während immer mehr Menschen überhaupt keine Arbeit mehr finden. Der Konkurrenzdruck durch Globalisierung und Billiglöhne lässt »uns« keine andere Wahl. Tatsächlich hat die Transnationalisierung der Produktion zu neuen Spaltungen zwischen Beschäftigten geführt und die Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals verschoben. Die konsensuale Un-terwerfung wird zum einen über wettbewerbskorporatistische Bündnisse auf unterschiedlichsten Ebenen gewährleistet. Diese oft ungleichen Kom-promisse bringen die kollektive Interessenvertretung in Übereinstimmung mit den betrieblichen Erfordernissen einer ständig verbesserten Konkur-renzfähigkeit und verteidigen gleichzeitig die Position etablierter Lohnab-hängigenkerne in den Zentren - zu Lasten der Prekarisierten und Arbeits-losen in den inneren und äußeren Peripherien. Beispiel Daimler-Chrysler: Angesichts der Forderung der Geschäftsführung, 500 Mio. € einzusparen, konnten die geltenden Tarifverträge (mit leichten Veränderungen) nur ge-halten werden, indem massive Verschlechterungen bei den Beschäftigten im Dienstleistungsbereich akzeptiert wurden, also beim Kantinen- und Reini-gungspersonal wie beim Servicepersonal - diese Bereiche wurden ausgela-gert oder es gab Lohnkürzungen und längere Arbeitszeiten für diejenigen, die ohnehin nicht so gut dran waren. Diese spezifische Form der betrieb-lichen Bündnisse trägt also nicht zur Solidarisierung bei, vielmehr zur Ent-

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solidarisierung, zu verstärkter Konkurrenz innerhalb der Belegschaften und zur Individualisierung.

Aufgrund solcher ausgrenzender, ausschließender Wirkungen (etwa von Frauen und Migranten) wurde der lange Zeit herrschende staatliche Kor-poratismus zwischen Staat, Gewerkschaften und Kapital frühzeitig von der Linken kritisiert. Marcuse nannte dies Mitte der 1960er Jahre ein »betrüge-risches Einverständnis von Kapital und organisierter Arbeiterschaft in einem starken Staate« (Marcuse 1964: 14). Heute kommt die Kritik nicht mehr von links. Der Wettbewerbskorporatismus neuer Prägung wird nun von Kapital-seite dort angegriffen, wo er am stärksten war: in den Großunternehmen von Volkswagen bis Siemens. Diese nutzen die Schwäche der Gewerkschaften, um die Relikte des sog. »Modell Deutschland« abzuräumen. Die Neolibe-ralen haben dafür das ideologische Arsenal geliefert. Die Kritik der Linken aufnehmend und verkürzend gelten insbesondere für Hayek - den Urvater der Neoliberalen - die Gewerkschaften und jede Form kollektiver Interes-senvertretung als das Grundübel; eine Karikatur davon bietet heute Guido Westerwelle.

Schaut man sich aber nun mal genauer an, woher der Konkurrenzdruck in erster Linie kommt, zeigt sich ein anderes Bild. Was würde ein Beschäftigter bei Daimler-Chrysler wohl sagen, wenn ein Tscheche ihn als Lohndrücker beschimpft? Das kleine Deutschland konnte in den letzten fünf Jahren sei-nen Anteil am Welthandel auf über 10% steigern und ist damit Exportwelt-meister. Kein anderes Land exportiert mehr Waren, nicht mal Japan oder die USA, Werte in Höhe von fast 800 Mrd. €. Die jährlichen Exportüberschüsse liegen bei nahezu 160 Mrd. €. Das heißt auch, das mediale Selbstbild des Landes als sklerotisch, undynamisch etc. passt nicht recht zur wettbewerbs-fähigsten Ökonomie der Welt.

Die absolute Höhe der Löhne ist wirklich vergleichsweise hoch. Tatsäch-lich interessieren Unternehmen aber für ihre Kalkulation nicht so sehr die absolute Lohnhöhe, als vielmehr die realen Lohnstückkosten. Und diese sind dank der enormen Produktivität relativ niedrig. Tatsächlich sind sie ge-genüber den Haupthandelspartnern etwa in der EU sogar gesunken. D.h. die deutsche Lohndrückerei im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung zwingt Portugal, Großbritannien oder Frankreich, ihre Löhne noch weiter abzusenken. Vor allem schwach entwickelte Ökonomien können nur über Lohnsenkungen mithalten. Solange der verteilungspolitisch neutrale Spiel-raum zwischen Lohn-, Produktivitäts- und Inflationsentwicklung nicht ausgenutzt wird, kommt es zu einer Senkung der realen Lohnstückkosten.

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Tatsächlich sind die Lohnsteigerungen faktisch so niedrig, dass es sogar zu Reallohnsenkungen kommt, während Reallöhne wie Lohnstückkosten in allen europäischen Ländern, aber auch in China oder Indien gestiegen sind (vgl. ver.di 2005).

2. Absorption der Kritik und reale Interessenverallgemeinerung im gesellschaftlichen Umbau

Wer diese Art von Volksvorurteilen nicht teilt und sich dem zu entziehen versucht, ist oft geneigt, den Neoliberalismus als unwahr darzustellen, als falsches Bewusstsein, das die wirklichen Verhältnisse nur vernebelt. Tat-sächlich kann man natürlich versuchen, so wie ich eben ansatzweise, die-se Vorurteile zu widerlegen. Das ist im Alltagsverstand zwar unmittelbar anschlussfähig, weil die Überzeugung verbreitet ist, Politiker oder Medien erzählten ohnehin nur die Unwahrheit. Beschränkt man sich darauf, wird aber eine andere Realität verfehlt, die ebenfalls im alltäglichen Denken ver-ankert ist - dass sich nämlich vieles gewandelt hat und durchaus nicht nur negative Seiten aufweist. Die neoliberale Ideologieproduktion ist dabei das organisierende Element des gesellschaftlichen Umbaus und kann sich eben auch auf aktive und passive Zustimmung stützen, weil er die Interessen subordinierter Gruppen aufnimmt, ihre Ziele allerdings ver-rückt. Zentrale Forderungen der 68er-, der Frauen-, der Öko- wie der Arbeiterbewegung wurden in neoliberale Politiken integriert, aktive Zustimmung organisiert, das kritische Potenzial dieser Bewegungen absorbiert und letztlich die Be-wegungen damit selbst zersetzt.

»Humanisierung der Arbeit« Die Arbeiterbewegungen der 1960er Jahre, die insbesondere in Italien und Frankreich, aber auch in der BRD sich zu Fabrikbesetzungen und wilden Streiks steigerten, richteten sich ganz wesentlich gegen die immer weiterge-hende Vertiefung der Arbeitsteilung, Beschleunigung der Fließbänder und die daraus folgende Monotonie und psycho-physischen Belastungen, die zu einem frühzeitigen Verschleiß der Arbeitskräfte und Dequalifizierung führ-ten. Auch die Gewerkschaftspolitiken der 1970er Jahre setzten mit Unter-stützung des Staates auf eine »Humanisierung der Arbeit«. Diese gegen die kapitalistische Ausbeutung gerichtete Kritik wurde schon seit den 1970er Jahren tatsächlich von Kapitalseite aufgenommen, allerdings nicht, um den

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Beschäftigten einen größeren Anteil am produzierten Mehrwert zu gönnen, sondern um die Produktivität voranzutreiben.

Es entwickelte sich ein neues hochtechnologisches Produktionsmodell, sozusagen ein neues Verhältnis von Produktivkräften und Produktions-verhältnissen: und zwar eine Kombination mikroelektronischer und infor-mationeller Technologien mit dem erweitertem Wissen und Erfahrung der unmittelbaren Produzenten und veränderten Formen der inner- und zwi-schenbetrieblichen Produktionsorganisation und restrukturierten Arbeits-verhältnissen. Im Gegensatz zum Fordismus der Nachkriegszeit wird dabei stärker auf die Produktionsintelligenz, das informelle Erfahrungswissen, die Kreativität und selbst die Emotionalität der unmittelbaren Produzenten gesetzt. Mit dieser Repositionierung des Wissens und der Subjektivität ist eine erweiterte relative Autonomie der Beschäftigten im Arbeitsprozess ver-bunden. Desto höher der Grad an Verwissenschaftlichung der Tätigkeiten, desto schwieriger wird es, eine direkte Kontrolle über den Arbeitsprozess aufrechtzuerhalten. Der genaue Ablauf der Tätigkeiten wird nicht mehr vor-gegeben, sondern den Beschäftigten weitgehend selbst überlassen; Hauptsa-che, das vorgegebene Ziel wird erreicht. Die Einbindung des Wissens der Be-schäftigten macht die Tätigkeiten generell interessanter und vielfältiger. Ihre Faszination verführt auch zum längeren Arbeiten. »Indem Arbeit geistige Arbeit ist, kann sie vor den Fabriktoren und Bürotüren nicht Halt machen. Die Probleme werden mit nach Hause genommen. Sie durchsetzen die Frei-zeit«, wollen gelöst werden. »Solche Praxen verändern das Familienleben, wenn sie allgemein werden.« (Haug 1996)

Anekdotenhaft zeigt dies folgende Episode: Beim Schlendern über den Campus meint eine Kollegin, irgendwie stecke ihr die Erkältung von letzter Woche noch in den Knochen - das merke sie daran, dass sie um 22.00 Uhr nicht mehr konzentriert arbeiten konnte. Als ich sie auf ihr quasi neolibe-rales Arbeitsethos ansprach, toppte mein Chef das Ganze und meinte, er würde ja schon um 5.00 Uhr morgens anfangen, damit er dann auch wirklich um 22.00 aufhören könne. Beide sind bekannte Arbeitsforscher, die immer wieder die überlangen Arbeitszeiten anprangern, Arbeitszeitverkürzung bei maßvollen Lohnabstrichen fordern, aber eben selbst im Alltag das genaue Gegenteil reproduzieren.

Unter anderem liegt das daran, dass die neuen Formen der Arbeit, vor allem im »hochqualifizierten« Bereich, aber nicht nur dort, dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und selbstverantwortlichen Arbeitsweisen ent-gegenkommen. Eingezwängt in fremdbestimmte, betrieblich kontrollierte Grenzen beschränkt sich die Autonomie allerdings auf einen engen Bereich des für die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens Förderlichen. Damit

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sind Beschäftigte gezwungen, Flexibilitäts- und Effizienzanschauungen, un-ternehmerisches Denken in ihre eigenen Denk- und Handlungsmuster zu internalisieren. Die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapitalverhältnis erreicht eine historisch-qualitativ neue Stufe. Die Ausbeutung abhängiger Arbeitskraft durch das Kapital wird durch Delegation erweiterter und zu-gleich eingegrenzter Spielräume auf das tätige Subjekt in Richtung »Selbst-ausbeutung« verschoben. Die hohen Löhne in der Anfangsphase des neuen Arbeitsregimes sollen die »psycho-physische Anpassung an die neue indus-trielle Struktur« (Gramsci) sichern. Und neue Formen sozialer Kontrolle treten hinzu. Wer dem Druck der Konkurrenz und der Anpassung in der Arbeitswelt nicht standhalten kann - die sich in den Alltag, in den Kreis von Familie und Bekannten, in die Freizeit, den Sport etc. fortsetzen -, hat die Möglichkeit, sich über ein vielfältiges Angebot von Therapien wieder »fit« machen zu lassen. Lohn und Freizeit werden zunehmend zugunsten der in-dividuellen Leistungsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit, kurz zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit verausgabt - immer mehr Zeit und Geld wird für Fitness, Wellness und nicht zuletzt Psychotherapie oder andere, mehr esoterische Angebote verwendet. Es herrscht geradezu ein konformistischer Druck, ein Non-Konformist sein zu müssen - eine Art hochtechnologische alltägliche Lebensführung, die Selbstvermarktung und persönliche Perfor-mance nötig macht, um seine Position im Kampf um die wenigen Arbeits-plätze und soziale Anerkennung zu erhalten. Auffallen und kreativ sein, aber im Rahmen des Geforderten und allgemein Akzeptierten bleiben.

Der Grad der Selbstausbeutung und der Autonomie ist dabei umkämpft. Da das Wissen der Beschäftigten in der hochtechnologischen Produktions-weise unverzichtbar geworden ist, besteht eine gewisse Notwendigkeit zur ausgehandelten Einbindung und erweiterten Partizipation. Angesichts ge-schwächter kollektiver Interessenvertretung und verschärfter Konkurrenz um Arbeit gelingt es aber, die Einbindung auf die individuelle Ebene zu beschränken. Es herrscht eine Art »Konkurrenz durch (z.T. erzwungene) Kooperation«. Neue (oftmals kollektivvertraglich vereinbarte) Partizipa-tionsformen wie Mitarbeiter- und Zielvereinbarungsgespräche tragen zur Individualisierung der Beschäftigungsverhältnisse bei. Zum Teil werden neo-tayloristische Formen der Arbeitsorganisation eingeführt und die Ein-bindung zunehmend auf Arbeiter mit zentralen Positionen innerhalb des Produktionsprozesses beschränkt.

Trotz Individualisierung und Arbeitsdruck, Stress und einseitiger Flexi-bilisierung stellen sich diese neuen Formen der Arbeit für große Teile der Beschäftigten nicht nur negativ als Verlust von Sicherheit oder gemeinsamer

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(Arbeiter-)Identität dar; vor allem für die jüngeren Generationen entspricht dies einer Befreiung von jahrzehntelanger, immer gleicher, monotoner Arbeit und normierten Lebensweisen hin zu einer Vielfältigkeit von Lebensstilen und der Ausbildung von patchwork-Identitäten. Insbesondere hochausgebil-dete und erfolgreiche Beschäftigte fühlen sich ihrem eigenen Selbstverständ-nis nach nicht länger als Angestellte oder gar Arbeiter, sondern vielmehr als eigenverantwortlich handelnde, unternehmerisch denkende selbständige In-dividuen, die ihre Interessen selbst vertreten können. Ihre Arbeit ist flexibel um zeitlich begrenzte Projekte organisiert, verbunden mit hohen Mobili-tätserfordernissen. Für diese Beschäftigtengruppen in Forschung und Ent-wicklung, in unternehmensnahen Dienstleistungen, Medien, Werbung und Design, in Architekturbüros und in der Wissenschaft, aber auch für eine zu-nehmende Anzahl hochqualifizierter Beschäftigter in der industriellen Ferti-gung erhält die ideologisch überhöhte Rede vom »Arbeitskraftunternehmer« als neue gesellschaftliche Form der Ware Arbeitskraft eine gewisse Relevanz. Sie spiegelt die Etablierung eines neuen Alltagsbewusstseins wider, das den Erfordernissen neuer gesellschaftlicher Praxen entspricht. Nicht nur von den begehrten Spezialisten wird die damit verbundene Spannung zwischen persönlicher Autonomie und zunehmender Ungewissheit durchaus auch als Zugewinn erfahren. Erweiterte Autonomie, Requalifizierung, Kreativität und Abbau von Hierarchien, also die Humanisierung der Arbeit, werden in die neoliberale Reorganisation und Flexibilisierung der Produktion in-tegriert. Eine Kritik, die sich dieser Widersprüchlichkeiten nicht annimmt, sondern nur die negativen Seiten betont, wird nicht wirkungsmächtig und reproduziert die Verhältnisse, indem sie Zusammenhänge auseinanderlegt und vereinseitigt.

»Befreiung« der Hausfrau und Zersetzung der Frauenbewegung Ein zweites Beispiel: Einer der Kernpunkte der (zweiten) Frauenbewegung war die Kritik an der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Einzwängung der Frauen in partriachale Eheverhältnisse, in denen sie meist von (Vollzeit-) Erwerbsarbeit ausgeschlossen und abhängig vom männlichen Familiener-nährer auf den Bereich des Privaten verwiesen wurden. Nun war es aus-gerechnet der neoliberale Umbau von Arbeitsverhältnissen und Sozialstaat, der genau dies in ver-rückter Weise Realität werden ließ. Die tendenzielle Selbstverständlichkeit weiblicher Berufstätigkeit tritt dabei zeitgleich mit der Verknappung der Arbeitsplätze aufgrund struktureller Arbeitslosigkeit und damit verschärfter Konkurrenz auf. Gegenüber paternalistischen Staat-

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lichen und familiären Verhältnissen (des Fordismus) überträgt der Markt die Verantwortung auf die Frauen selbst, verbunden mit dem Versprechen, dass die persönliche Tüchtigkeit und Leistungsbereitschaft potenziell zum Erfolg führen kann.

Dies macht den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und von Geschlech-terverhältnissen sowie die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse für große Teile der weiblichen Bevölkerung zustimmungsfähig und führt gleichzeitig zur Zersetzung der Frauenbewegung. Kollektive Organisationsformen zur Durchsetzung ihrer Interessen werden auch von Frauen kaum noch anvisiert, sondern meist als altmodisch und männerfeindlich empfunden. Ein Teil der weiblichen Bevölkerung profitiert tatsächlich davon. Die gewonnene Frei-heit ist zugleich ein Zwang. Einerseits sehen sich Frauen aufgrund sinkender Einkommen der Männer und der Unterminierung des fordistischen Familien-ernährermodells gezwungen, eine Beschäftigung aufzunehmen; andererseits haben ein verändertes Selbstverständnis und die verbesserte Ausbildungssitua-tion von Frauen dazu geführt, dass sie eine Erwerbsarbeit als Mittel zur Selbst-verwirklichung und Gleichberechtigung oder zumindest zur ökonomischen Unabhängigkeit betrachten. Entsprechend haben die geschlechtsspezifischen Einkommensdifferenzen deutlich abgenommen. Es ist heute weitaus schwie-riger, »die Frauen« insgesamt auf schlecht bezahlte und perspektivlose Jobs abzudrängen. Die Kehrseite davon ist die wachsende Kluft zwischen hoch und niedrig qualifizierter Arbeit - auch und gerade zwischen Frauen. Vor allem im informellen Sektor entstehen neue Geschlechterdifferenzen und -hierarchien, die durch klassenspezifische sowie ethnische und nationale Zuschreibungen noch einmal gravierend verschärft werden. So etwa wenn deutsche mittelstän-dische Unternehmer polnische Zulieferer beauftragen, die wiederum einen ukrainischen oder rumänischen männlichen Unterauftragsnehmer bestellen, der die Arbeit von illegalen rumänischen Frauen beaufsichtigt - das alles in-nerhalb Berlins wohlgemerkt, nicht irgendwo. Ähnliches findet sich ebenso in Miami, New York oder Mailand.

Da reproduktive Tätigkeiten immer noch fast exklusiv Frauen überlas-sen werden, also Haushalt, Kindererziehung und -betreuung, Pflege älterer Familienmitglieder etc., sind diese häufig auf Teilzeitarbeit festgelegt, was wiederum der Flexibilität der Unternehmen entgegenkommt. Um ihre volle Arbeitskraft auf dem Markt anbieten zu können, ist die dreifach freie Lohn-arbeiterin erforderlich, d.h. im Anschluss an Marx nicht nur frei von Pro-duktionsmitteln und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern auch frei von den notwendigen Reproduktionsarbeiten. Erfolgreiche Karriere-Frauen

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können sich von alten Familienformen emanzipieren, indem sie auf die bil-lige, prekäre - häufig illegalisierte - Arbeitskraft von Migrantinnen für die häusliche Reproduktionsarbeit zurückgreifen. Auf diese Weise entstehen »globale Betreuungsketten« (Hochschild).

Prekarisierung von »unten« Selbst die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse ist, entgegen der dominan-ten Wahrnehmung, die sich angesichts von Niedriglohn und Überausbeu-tung aufdrängt, mehr als die Neuauflage eines einfachen Prozesses der Ver-elendung. Diese Art der Flexploitation, der flexiblen Ausbeutung, beinhaltet Momente erweiterter Selbstbestimmung und Selbstorganisierung oder bes-ser: des Selbstmanagments. Es sind nicht nur die Hochqualifizierten, die das Ende des »Nine-to-five-Trotts« begrüßen. Die Menschen wissen häufiger als man denkt, dass das alte Normalarbeitsverhältnis kaum zurückzuhaben ist. - Mehr noch, viele haben »dank« flexibilisierter Arbeitsverhältnisse über-haupt erst die Möglichkeit erhalten, in den Arbeitsmarkt einzutreten (erle-ben dies freilich zugleich als Zwang). Sehr viele davon streben auch gar kein Normalarbeitsverhältnis mehr an, denn auch in den prekärsten Verhältnissen finden sich Momente erweiterter Selbstbestimmung und von Möglichkeiten andersartiger Lebensführung - meist allerdings verbunden mit vertiefter Un-terwerfung. An diesen widersprüchlichen Durchsetzungsformen der neuen Verhältnisse, die ich hier jetzt nicht empirisch auffächern kann, wird deut-lich, warum prekarisierte Verhältnisse immer noch zustimmungsfähig sind, auch bei den »Betroffenen« selbst, und von diesen (also »uns«) reproduziert werden (vgl. Candeias 2007).

Wir hatten bereits das Beispiel: Die massive Ausweitung flexibilisierter Teilzeit-Arbeitsverhältnisse (einschließlich ihrer prekären Formen) ermög-lichte für viele Frauen überhaupt erst die Teilhabe an der Lohnarbeit und ihre Verbindung mit den notwendigen Reproduktionsarbeiten (soweit das Ein-kommen nicht den Rückgriff auf illegalisierte Migrantinnen erlaubt). Auch in der Existenzweise der Illegalisierten finden sich solche Widersprüche, was sich nicht zuletzt in dem von ihnen selbst geprägten Begriff der »Autonomie der Migration« spiegelt. Trotz repressivster Maßnahmen gelingt es illegali-sierten Migranten, im Niedriglohnsektor Arbeit zu finden, die ihnen sonst verwehrt wäre. Es gilt also, solche Widersprüche konsequent ins Auge zu fassen, sonst wird der neoliberale Umbau als simpler Verelendungsprozess begriffen und damit verfehlt, warum diese Ideologie eigentlich so stark und wirkungsmächtig ist.

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Denn oft wird auf Seiten der Linken der Neoliberalismus als reine »De-struktivkraft« (Bourdieu 1998: 110) oder »konservative Restauration« (Bi-schoff u.a. 1998: 9) dargestellt. Marx hatte immer die widersprüchliche Ver-schmelzung von Destruktiv- und Produktivkräften in der kapitalistischen Entwicklung betont. Auch mit dem neoliberalen Management im Übergang zur transnationalen informationstechnologischen Produktionsweise ent-falten sich durchaus produktive Kräfte-. Die Rücknahme extremer (taylori-stischer) Arbeitsteilung in der Produktion kann die Arbeit der Beschäftigten von Monotonie befreien, neue Produktionsformen können deren Wissen integrieren, Computerisierung und Automatisierung uns von schwerer kör-perlicher Arbeit entlasten; die Internationalisierung von Kultur- und Wa-renwelt kann uns vor nationaler Borniertheit bewahren, Entstaatlichung teilweise paternalistische Bevormundung zurückdrängen; patriarchale Fa-milienverhältnissen werden aufgebrochen und Erwerbsarbeit für Frauen in stärkerem Maße möglich und auch erzwungen. Die Früchte dieser Kräfte werden jedoch ungleicher verteilt als jemals zuvor seit Ende des Zweiten Weltkrieges.

3. Delegitimierung, Marginalisierung und Spaltung

Mit der Etablierung einer transnationalen informationstechnologischen Pro-duktionsweise ist darüber hinaus auch die Zersetzung und Neuzusammen-setzung der Arbeiterklassen verbunden. Soziotechnische Veränderungen und die Transnationalisierung der Produktion führen zu einer Umwälzung von Arbeitsformen und Tätigkeiten. Dies ist verbunden mit dem Abbau for-distischer Arbeitsverhältnisse, der Entwicklung neuer Berufe und Branchen und mit neuen Spaltungen innerhalb und zwischen den verschiedenen Grup-pen von Beschäftigten.

Neuzusammensetzung der Klassen und Prekarisierung Der Geltungsbereich des sog. Normalarbeitsverhältnisses der dauerhaft vollzeit-beschäftigten, mit umfangreichen sozialen Rechten ausgestatteten, häufig gewerkschaftlich organisierten »weißen« männlichen »Arbeitneh-mer« - dieses NAV wird von außen wie von innen, von Seite der »Arbeit-geber« wie von den Beschäftigten selbst zunehmend eingeschränkt. Jenseits dieses immer noch quantitativ bedeutsamen Torsos, der früher einmal als »Proletariat« benannt wurde, tauchen zwei neue Gruppen von Beschäftigten

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auf: Zum einen entsteht eine Gruppe hochqualifizierter, flexibler, in Projekt-arbeit beschäftigter Individuen, die den alten Habitus des Arbeiters abgelegt haben, gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, deren Tätigkeiten durch die Bedienung/Beherrschung von I&K-Technologien geprägt sind - das moderne Kybertariat. Zum anderen wächst unter dem Druck hoher Arbeitslosigkeit ein wachsendes Subproleta-riat in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und mit geringer Entlohnung heran - das moderne Prekariat.

Beiden Gruppen gemeinsam ist die deformalisierte und individualisierte Form der Aushandlung und Mikro-Regulation von Arbeitsverhältnissen; sie unterscheiden sich jedoch fundamental in ihrer jeweiligen Stellung innerhalb des Produktionsprozesses. Beide sind Teil einer allgemeinen Prekarisierung der Arbeit, die keine Randerscheinung darstellt, vielmehr immanenter Teil der ökonomischen Restrukturierung und Voraussetzung fortschreitender »Flexploitation« ist - verbunden auch mit einer wachsenden Einkommens-polarisierung. Diese Prekarisierung bezieht sich nicht nur auf den Bereich sog. einfacher Dienstleistungstätigkeiten in Haushalt, Handel, Gastrono-mie, Transport oder Pflege, sondern findet sich auch in Werbeagenturen, bei Journalisten, Webdesignern und Wissenschaftlern und hat tiefgreifende Aus-wirkungen auf die Lebensweise.2 Die Grenze zwischen beiden Sphären der Arbeit - etwa zwischen Putzmann und Computerarbeiterin, auch innerhalb desselben Unternehmens - sind allerdings so scharf, dass die unterschied-lichen Arbeiten nicht mehr als Kooperationsbeziehungen wahrgenommen werden, Kommunikation kaum noch stattfindet. Die Verunsicherung dringt zugleich bis in den Kern der noch sicheren Beschäftigung vor und wird be-sonders spürbar, wenn reguläre Arbeitsplätze durch flexible Beschäftigung, etwa Leiharbeit, ersetzt werden - prekäre Arbeitskräfte werden dann als ei-gentliche Bedrohung wahrgenommen, Spaltungen zwischen Beschäftigten vertieft.

Diese Spaltungen bieten zugleich eine Chance, die Frage nach der »Ein-heit« der Arbeiterklasse oder besser: nach verallgemeinerter Handlungsfä-higkeit auf dem Niveau der informationstechnologischen Produktionswei-

2 Nicht nur un- und angelernte Arbeiter, auch Beschäftigte aus den »oberen Dienst-klassen« weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit prekärer Arbeitsverhältnisse auf. Der Prozess der Prekarisierung zeigt sich als u-förmiges Muster, als Phänomen, von dem formell hoch- wie weniger qualifizierte Arbeitskräfte betroffen sind. Unter Hochqua-lifizierten wird es besonders an der Entwicklung von abhängigen Ein-Personen-Unter-nehmen und freiberuflichen »Freelancern« deutlich.

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se neu zu stellen. Was nicht einfach ist, denn der herrschende öffentliche Diskurs setzt alles ein, um diese Verallgemeinerung »zu verschleiern« (Gorz 2000: 76) - dies beginnt schon bei der Statistik über Erwerbslosenzahlen, über sog. »untypische« Arbeitsverhältnisse und tatsächlich geleistete Arbeit in allen gesellschaftlichen Sphären. Was oder wer dabei nicht erfasst wird, gilt als nicht existent, wird an den Rand gesellschaftlicher Wahrnehmung gedrückt, marginalisiert. Zudem machen es der permanente Umbau der Pro-duktionsstrukturen, transnationale Verlagerungen, In- und Outsourcing so-wie Dezentralisierungen schwierig, Kommunikationsverhältnisse zwischen den einzelnen Gruppen aufzubauen.

Krisendiskurs, einfache Negation und große Politik Dazu kommt: Ein von »oben« permanent reproduzierter Krisendiskurs zielt auf vermeintlich fortbestehende Rigiditäten des Alten: auf verkrustete unfle-xible Arbeitsmärkte, staatliche Überregulierungen, die Kostenexplosion des Sozialstaates, Haushaltskrise etc. Die Vermittlung von Bildern des Stillstands angesichts der dynamischen Entwicklung der sog. Globalisierung verdeckt zugleich den rasanten Umbau der Gesellschaft, inklusive der Form des So-zialstaates. Solche allgegenwärtigen Krisenideologien dienen zur Einschrän-kung des Terrains gesellschaftlicher Auseinandersetzung und zur Produkti-on von aktivem Konsens zum vermeintlich notwendigen Umbau. Proteste und Kritik im Sinne einer einfachen Negation der Umbauprozesse bleiben relativ wirkungslos. Sie sind oft auf reine Ablehnung beschränkt, fordern im-plizit eine Rückkehr zum vergangenen Modell, zielen auf einen »sozialeren« Neoliberalismus oder wünschen sich eine bevorstehende Revolution herbei. Das Wissen der Einzelnen, dass der alte nationale Sozialstaat und das Nor-malarbeitsverhältnis unter den neuen Bedingungen kaum zurückzuhaben sind, sichert dabei nach wie vor einen passiven Konsens. Die Anerkennung der Vorstellung, dass keine Alternativen zur jeweiligen Form der Vergesell-schaftung existieren, ist dabei eines der entscheidenden Momente von He-gemonie. Alltägliche Handlungsfähigkeit bleibt in individuellen Strategien verhaftet, findet kaum Formen kollektiver Verallgemeinerung.

Ein Beispiel: In den jüngeren Generationen ist der Konservativismus wie-der chic. Individuelle Leistung und das Streben nach beruflicher Anerken-nung haben insbesondere bei Studenten die alte Gleichung von Jung-Sein gleich irgendwie diffus Links-Sein aufgehoben. Es ist nicht selbstverständ-lich und gar nicht chic, sich für Protestbewegungen zu engagieren oder für bessere Studienbedingungen einen Uni-Streik zu organisieren. Viele Stu-

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denten wissen nichts mehr von Marx oder anderen linken Theoretikern, noch verfügen sie über eine kritische innere Haltung gegenüber dem, was die Lernfabrik Universität ihnen heute vermittelt. Die formalen Leistungsstan-dards sind weitgehend verinnerlicht. Der Raum für selbstbestimmtes Ler-nen ist eingeschränkt. Gesellschaftsveränderung? Geht doch sowieso nicht! Dem Feminismus geht es nicht besser: Junge Frauen distanzieren sich häufig reflexhaft davon, weil sie nur mehr das Zerrbild Emma und die Ablehnung der »Emanzen« von Seiten der Männer kennen. Auf diese Weise reprodu-zieren auch sie unter den veränderten gesellschaftlichen Zwängen täglich die alten Verhältnisse. Protest, der sich dann doch immer wieder regt, limitiert sich auf den privaten Raum.

Wenn dann doch Alternativen von links formuliert werden, ist damit oft eine Vorstellung von Politik verbunden, die sich auf gute Argumente und Appelle an aufgeklärte Eigeninteressen in Wirtschaft und Politik konzent-riert (Brand 2005). Meist wird ein imaginäres Allgemeininteresse angerufen: »Es wäre doch für alle besser, wenn die Binnennachfrage gesteigert wird... usw.« Es werden dann die besseren Reformprojekte formuliert, manchmal fast als Gesetzgebungsvorschläge. Damit ist zwar ab und an das Interesse der Medien zu erringen, zugleich wird aber eine bestimmte Vorstellung von Politik als »große Politik« reproduziert, die sich an den »Staat« richtet, des-sen vermeintliche Aufgabe es doch wäre, für alle, für das »Volk« Politik zu machen - wobei man sich dann schon fragen muss, wen dieses »alle« meint. Dieser Anrufung des Staates entspricht ein enger, traditioneller Begriff von Politik - Politik ist dann, was man in der Tagesschau sieht: Parlamentsdebat-ten vor leeren Rängen, Parteien, Regierung, die großen Verbände, natürlich die Medien selbst. Der Versuch, auf diesem Terrain mitzuspielen, ist selbst schon Teil von Hegemonie. Das Formulieren von besseren Vorschlägen er-fordert Expertise, Expertenwissen. Viele NGO haben da Erstaunliches ge-leistet, verstärken aber den Trend zur Entpolitisierung von Politik, indem sie diese an eben jene Experten delegieren, reproduzieren Kompetenz/In-kompetenz-Verhältnisse (Haug 1993) innerhalb der Bewegungen. Die Be-schränkung auf inhaltliche Kritik lässt die herrschenden Formen von Politik unberührt. Zudem lässt man sich zu sehr darauf ein, dass Kritik oder Protest nur als legitim gelten darf, wenn doch bitte schön gleich ein konstruktiver Vorschlag gemacht wird (TobinTax, Einfachsteuer, Bürgerversicherung). Damit wird die alte Form der Stellvertreterpolitik reproduziert, ohne dass die Gruppen, für die man sprechen möchte, zu Wort kämen. Dagegen steht erst einmal die legitime Äußerung des Unmuts, des Protests mit der Formu-

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lierung eines deutlichen »Nein !« (einfache Negation), die dann verbunden werden muss mit einem anderen Verständnis von Politik - denn umfassende gesellschaftliche Veränderung erschöpft sich nicht in »großer Politik«, muss vielmehr im Alltag der Menschen ankommen, diesen selbst als Sphäre der Politik begreifen (wie Gramsci früh gezeigt hatte, aber auch die zweite Frau-enbewegung dann nochmal überdeutlich machte). Das zielt dann auf indivi-duelle und kollektive Handlungsfähigkeit und die Frage der alltäglichen Or-ganisierung. Sonst werden die linken Angebote zu Recht nicht als wirkliche Alternativen angenommen (vgl. Candeias 2007).

4. Risse in Gebälk

Die Zustimmung zum radikalen gesellschaftlichen Umbau basierte in ers-ter Linie auf einem Versprechen zukünftiger gesellschaftlicher Prosperi-tät bzw. auf der Positionswahrung im verschärften globalen Wettbewerb. Eine solche Position kann jedoch niemals gewahrt werden ohne fortgesetz-te Mobilisierung aller Ressourcen. Das Ziel wird nie erreicht, während die Konkurrenz und generische Krisen immer weiteren Verzicht, neue noch ra-dikalere Einsparungen und heftigere Sozialkürzungen erforderlich machen. Die verschärften Ungleichheiten produzieren Verunsicherungen und Un-zufriedenheit. Zugleich finden letztere im Moment der hegemonialen Ver-allgemeinerung des Neoliberalismus keine adäquate Form der Artikulation innerhalb des bestehenden Rahmens. Es kommt zu einem Bruch zwischen Repräsentierten und Repräsentanten.

Poulantzas greift diese Figur Gramscis auf und führt eine solche Situation zurück auf Widersprüche innerhalb des herrschenden Machtblocks. Keine seiner Fraktionen ist in der Lage, die anderen Gruppen des Machtblocks unter ihre Führung zu bringen, was »zur charakteristischen Inkohärenz der gegenwärtigen Regierungspolitik [...], zum Fehlen einer deutlichen und langfristigen Strategie des Blocks an der Macht, zur kurzsichtigen Führung und auch zum Mangel an einem globalen politisch-ideologischen Projekt oder einer >Gesellschaftsvision<« führt (Poulantzas 1978: 226f.). Sowohl die orthodox-konservative als auch die sozialdemokratische Form des Neoli-beralismus haben sich als nicht ausreichend erwiesen, um den Gegensatz zwischen der Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und dem Be-dürfnis nach Orientierung und Existenzsicherung in für die Mehrheit befrie-digender Weise zu bearbeiten. Der orthodoxe Neoliberalismus steht zu deut-

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lich für eine Umverteilung von unten nach oben - der sozialdemokratische wird unglaubwürdig: An eine Verbindung von neoliberalen Reformen und »Sozialverträglichkeit« glaubt kaum noch jemand. Die neoliberale Ideolo-gie gerät in die Krise, verliert an Überzeugungskraft. In solchen Momenten deuten sich Risse in der hegemonialen Apparatur an (was keineswegs gleich-bedeutend ist mit einem Hegemonieverlust).

Zum einen manifestiert sich darin eine Krise traditioneller Ideologieele-mente und Werte wie (Industrie-)Arbeit, Familie, Nation, Geschlecht, ohne dass eine neue Artikulation gesellschaftlicher Formen eine vergleichbare identitäre Sicherheit böte. Der subjektiv erfahrenen Ungerechtigkeit kann individuell nicht begegnet werden, was Ohnmachtsgefühle verstärkt. Da die Funktion jeder Ideologie darin besteht, gesellschaftliche Individuen als Sub-jekte zu konstituieren, verwandelt sich diese ideologische Krise notwendig in eine »Identitätskrise« der sozial Handelnden (Laclau 1981: 90). Es erwächst eine Sehnsucht nach Selbstkohärenz, die sich zum Teil gewaltsam äußern kann. Je stärker die Überforderung, desto heftiger der Affekt. Die mangeln-de Repräsentation ihrer Interessen bringt wachsende Teile der Bevölkerung, insbesondere die bedrohten »Mittelschichten« in Gegnerschaft zur vorhan-denen Form der Vergesellschaftung. Diese diffusen »Mittelschichten« weisen trotz ihrer unterschiedlichen Stellungen in den ökonomischen Beziehungen einen gemeinsamen Grundzug auf: ihre Trennung von den zentralen Posi-tionen im herrschenden Machtblock. Nach Heitmeyer u.a. (2002) glauben z.B. 57% der deutschen Bevölkerung, dass eine politische Einflussnahme als Bürger nicht möglich ist. Auch an der abnehmenden Wahlbeteiligung und dem Wegbrechen der Mitgliederbasis von Parteien und Verbänden zeigt sich die Krise der politischen Repräsentationsmechanismen. Und natürlich an den verbreiteten Protesten der letzten Jahre oder den schlechten Ergebnissen der großen »Volksparteien« bei den jüngsten Wahlen.

Werden diese Verunsicherung und Interessen nicht von links aufgegriffen, kann diese Situation schnell nach rechts umschlagen - in Neofaschismus und Islamismus. Die herrschenden Gruppen reagieren mit einer Beschleunigung des immer gleichen. Darüber hinaus werden Zwangselemente stärker betont, Sicherheitsdispositive in den Vordergrund gerückt, Nationalismus und Stand-ortkonkurrenz hervorgekehrt. Besonders sichtbar bei Asylgesetzgebung und Migrationsregime, Schengen-Abkommen, polizeilicher Aufrüstung und allgemeiner Ausdehnung der staatlichen und privaten Sicherheitsapparate, der Militarisierung von Außenpolitik bis hin zu Angriffskriegen. Beson-ders an der nordafrikanischen Grenze wird zurzeit mit Hochdruck an der

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»Festung Europa« gearbeitet. Das Autoritäre zeigt sich aber auch bei der Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien und Zwang zu Niedriglohnarbeit, Abbau von Sozial- und Arbeitsrechten, Leistungskürzungen, verschärften Kontrollen, vermeintlichen Haushaltszwängen und allgemeiner Entdemo-kratisierung. Soziale Rechte werden eingeschränkt und an die Erfüllung von Pflichten gebunden -fordern statt fördern, könnte man sagen. Wohlgemerkt sind dies keineswegs Prozesse, die einfach von »oben« kommen, sondern von großen Teilen der Bevölkerung in höchst widersprüchlicher Weise pas-siv und aktiv gestützt werden, etwa durch Ressentiments gegen Ausländer, Asylanten, Arbeitsfaule, Sozialschmarotzer. Die vom früheren rot-grünen (Super-)Wirtschaftsminister Clement losgetretene Missbrauchsdebatte bei ALG Ii-Bezug zielte auf eben jene Ressentiments und die Spaltung zwi-schen Beschäftigten und Arbeitslosen.

Meiner Einschätzung nach wird es nicht gelingen, auf diese Weise die Risse im Gebälk der neoliberalen Hegemonie glatt zu spachteln. Wir tra-gen zwar alle zur Reproduktion dieser Hegemonie bei, aber die zahlreichen Widersprüche, die sie produziert und in denen wir uns bewegen müssen, öffnen immer wieder Räume für eine erneuerte Kritik und Organisation ge-gen- bzw. anti-hegemonialer Projekte.

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Literatur

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Bourdieu, Pierre,(1998): Gegenfeuer, Konstanz Brand, Ulrich (2005): Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer

Strategien, Hamburg Candeias, Mario (2004): Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grund-

risse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, Ber-lin/Hamburg

Candeias, Mario (2007): »Handlungsfähigkeit durch Widerspruchsorientierung: Kritik der Analysen von und Politiken gegen Prekarisierung«, in: Roland Klautke/Brigitte Oehrlein (Hrsg.), Prekarität - Neoliberalismus - Deregulie-rung, Hamburg

Gorz, Andre (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. Hayek, Friedrich August von (1944): The Road to Serfdom/Der Weg zur Knecht-

schaft, Zürich/München 1972 Haug, Frigga (1996): Frauen-Politiken, Berlin/Hamburg Haug, Wolfgang Fritz (1993): Umrisse einer Theorie des Ideologischen«, in: ders.,

Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg, 46-76 Heitmeyer, Wilhelm u.a. (2002): »Feindselige Mentalitäten. Zustandsbeschrei-

bungen zur angetasteten Würde von Menschen in Deutschland«, dokumentiert in: FR v. 8. November 2002, 20

Laclau, Ernesto (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschis-mus, Populismus, Berlin

Marcuse, Herbert (1964): Der Eindimensionale Mensch, Darmstadt/Neuwied 1982

Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. lff., Berlin 1957ff. Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie, Hamburg 2002 Poulantzas, Nicos (1979): »Es geht darum, mit der stalinistischen Tradition zu bre-

chen!«, Interview in: Prokla 37, zit. n. A. Demirovic, Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung, Berlin 1987

ver.di Bundesvorstand, Bereich Wirtschaftspolitik (2005): »Nachholbedarf bei den Löhnen«, Wirtschaftspolitik aktuell, Nr. 17, Juni 2005

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Christina Kaindl

Die extreme Rechte in Europa Teil des herrschenden Blocks oder Gegenhegemonie?

In den 1980er Jahren traten die Parteien der extremen Rechten in Europa überwiegend als Vertreter neoliberaler Positionen auf. In den 1990er Jahren wandelten sich die Programme und nahmen - in unterschiedlichem Ausmaß - Globalisierungs- und Kapitalismuskritik auf. Wie kann die Stellung von Programmen, Parteien und Politikoptionen der extremen Rechten im Rin-gen des Neoliberalismus um Hegemonie verstanden werden? Sind sie Teil des »geschichtlichen Blocks« oder sein Gegenspieler?

Ich möchte im folgenden beleuchten, wie Teile der extremen Rechte ihre inhaltliche Position zur neoliberalen Globalisierung gewandelt haben und so Erfahrungen der Einzelnen mit der neuen Produktionsweise artikulieren und gleichzeitig in rechte Erklärungsmuster einbetten konnten.

Rechte Parteien in Europa -Globalisierungskritik im herrschenden Block

In Deutschland ist den Parteien der extremen Rechten bislang kein Erfolg im bundesweiten Maßstab gelungen. In vielen europäischen Ländern da-gegen waren extrem rechte Parteien1 bei Wahlen erfolgreich mit einer Ver-bindung von Globalisierungskritik und Mobilisierung gegen Ausländer. In den 1980er Jahren waren dieselben Parteien Vorreiter einer »Befreiung der Wirtschaft« (Front National/FN), »radikaler Deregulierung der Wett-

1 Die Parteien werden oft als »rechtspopulistisch« bezeichnet. Der Begriff ist pro-blematisch, indem er suggeriert, dass die Inhalte bloß zufällig und an unmittelbaren Stimmungen ausgerichtet entstünden. Es wird nahegelegt, dass die Parteien inhaltlich weniger problematisch sind als die traditionell rechtsextreme Bewegung. Gleichzei-tig delegitimiert der Begriff potenziell das Aufgreifen der Interessen »der Unteren« als undemokratische Anbiederei. Die inhaltliche Nähe von extremer Rechter und rechtspopulistischen Parteien lässt sich so wenig abbilden wie die Verbindungen zur gesellschaftlichen Mitte.

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bewerbsordnung« (FPÖ), des »liberalistischen Föderalismus« (Lega Nord) und von »Entstaatlichung« (FN). Das politische Bündnis von extremer Rechter und Neoliberalismus wandte sich vor allem gegen eine Sozialdemo-kratie, die die fordistischen Regulationsweisen gegen den aufkommenden Neoliberalismus verteidigte. Inhaltliche Berührungspunkte zwischen Neo-liberalismus und extremer Rechter liegen im Ethnopluralismus, in Staats-kritik, Demokratieverachtung und sozialdarwinistischen Argumentationen. Das neoliberale Menschenbild von Hayek u.a. behauptet die natürliche Un-gleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen. Sie denken gesellschaft-lichen Fortschritt lediglich als Ergebnis des Zusammenspiels verschiedener Selektionsvorgänge, die über den Markt vermittelt sind (»Katalaxie«). Ein planender, steuernder (staatlicher) Eingriff in diesen Prozess ginge auf Kos-ten der bestmöglichen Lösung, die sich so nicht durchsetzen könne. Da von den Einzelnen der gesamte Prozess nicht zu durchschauen ist, müssten sie sich ihm in Demut unterstellen. Wie gut diese Auffassungen sich mit extrem rechten Politikoptionen vertragen, zeigte sich erstmals 1973 beim Putsch in Chile. Der gewaltsamen Niederschlagung der gewählten Regierung und ih-rer Demokratisierungsprojekte folgte die Umkonzipierung von Ökonomie und Gesellschaft nach Maßgabe der Chicago Boys; Pinochets »Verfassung der Freiheit« zitiert ein Buch Hayeks.

Im weiteren Aufstreben des Neoliberalismus ermöglichte »autoritärer Po-pulismus« (Hall 1982: 104-124) die Einbindung kapitalferner Bevölkerungs-schichten. Neoliberale Konzepte versprachen in einer Situation von Krise und Stagnation einen funktionierenden Kapitalismus - sofern dieser sich von den überholten Positionen zu lösen bereit war. Gesellschaftlicher Fortschritt und rechte Positionen wurden über neoliberale Theorien verbunden - und konnten im Bündnis mit den konservativen und rechten Parteien und her-ausgebrochenen Teilen der unteren Klassen zu einem geschichtlichen Block (Gramsci) werden. Für das England der 1970er und 1980er Jahre analysierte Stuart Hall diese Entwicklung: Die staatsinterventionistische Sozialdemo-kratie (an der Regierung 1966-1970, 1974-1979) orientierte auf einen Klas-senkompromiss, den sie für die Arbeiterklasse herauswirtschaftete. Dieser Prozess hatte desorganisierende Wirkung auf den politischen und ökono-mischen Kampf. Dagegen stand die Rechte mit »Anti-Etatismus«, »Anti-Kollektivismus« und »gegen schleichenden Sozialismus« und organisierte damit gegen den herrschenden Machtblock. Den Rechten gelang es, die Er-fahrungen der Krise des fordistischen Kompromisses, die Unzufriedenheit und das Wissen, »dass es so nicht weitergehen kann«, zu artikulieren. Die-

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se »neue Kraft« bindet die Unteren über rassistische Mobilisierungen; mit Gramsci kann dieser Prozess verstanden werden als »transformismo«, ein Prozess, durch den die »großen Massen von ihren traditionellen Ideologien losgelöst werden und nicht länger glauben, was sie gewohnt waren zu glau-ben ... das Alte stirbt und das Neue (kann) nicht geboren werden« (GH 3: §34). Der Sozialdemokratie, die am überholten Regulationsmodell festzu-halten versucht, fällt hier die Rolle des »Alten« zu, während die Rechte als Geburtshelfer des »Neuen« auftritt.

Mit dem Schwenk der Sozialdemokratie auf eine Politik, die innerhalb neoliberaler Rahmenbedingungen »sozialverträgliche« Alternativen suchte, zerfiel die »Front« von Neoliberalen und extremer Rechter. Statt mit der Ver-teidigung des fordistischen Regulationsmodells war die Sozialdemokratie bei den Wahlen mit dem Versprechen erfolgreich, den neoliberalen Umbau der Gesellschaft sozialverträglich zu gestalten. Sie ließ den Eindruck des »Rück-wärtsgewandten« hinter sich und bemühte sich um Regulationskonzepte, die die »Sachzwänge« von Globalisierung und Standortkonkurrenz zum Aus-gangspunkt und unhinterfragten Rahmen dessen machten, worin nach poli-tischen Alternativen zum konservativ-neoliberalen Kurs gesucht wurde.

Als geschichtlicher Block (an der Macht) bezeichnet Gramsci eine kon-krete hegemoniale Konstellation, in der es einer führenden Gruppe unter Kooptation eines Teils der »Unteren« gelingt, ihre Interessen als die allge-meinen auszugeben und eine bestimmte politische Regulation der Produk-tionsweise durchzusetzen. Ein wichtiger Aspekt der »passiven Revolution« besteht in dem Vermögen eines hegemonialen Projekts, »sich einen Teil der Antithese selbst einzuverleiben« (GH 7: 1728). Mit der sozialdemokratischen Reartikulation des Neoliberalismus gelang die Einbindung von nicht-kon-servativen, alternativen Milieus, die auch für eine Kritik der fordistischen Lebensweise standen. Der Neoliberalismus erweiterte so seine soziale Basis und schien sich zu stabilisieren.

Zunächst war diese Strategie erfolgreich, fast ganz Europa wurde eine Zeit lang sozialdemokratisch regiert. Allerdings hat sich gezeigt, dass die sozialdemokratische Strategie des dritten Weges keinen langfristigen Erfolg hat; die Verbindung von Neokorporatismus und Deregulierung stärkt die gesellschaftlichen Spaltungslinien zu Lasten eines Teils der abhängig Be-schäftigten. Die gezielte Schaffung eines Niedriglohnsektors, der auch die Ausgestoßenen der bisherigen Kernbelegschaften betrifft, die mit staatlicher Unterstützung beförderte Ausweitung von Leiharbeitsverhältnissen, die Zunahme von Konkurrenz und Arbeitsbelastung, der Anforderungsdruck

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selbsttätiger Qualifizierung wie auch die Privatisierung und Inwertsetzung immer weiterer Teile der privaten Existenzsicherung erhöhen den Druck auf die Einzelnen und diskreditieren bisherige Werte von »guter Arbeit« und die damit verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Diskussionen der bis-herigen gesellschaftlichen Vertreter der Lohnabhängigen sind, auch wenn sie kritisch intendiert sind, von Anpassungs- und Gestaltungsvorschlägen ge-prägt (vgl. Greven/Grumke 2006: 16), die die Belastungen und Zumutungen der veränderten Produktionsweise für die Betroffenen kaum angemessen zum Ausdruck bringen können. Es gelingt bisher nicht, neue Formen der Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten zu finden. Gramsci fasst die-se Entwicklung als Krise der Repräsentation: Es kommt zu einer Loslösung gesellschaftlicher Gruppen »von ihren traditionellen Parteien, das heißt, die traditionellen Parteien in dieser gegebenen Organisationsform, mit diesen bestimmten Männern, die sie bilden, sie vertreten oder führen, werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt« (GH 7: 1577f.). In der Krise der Repräsentation wird das Feld frei »für die Gewaltlösungen, für die Aktivität obskurer Mächte, repräsentiert durch die Männer der Vorsehung oder mit Charisma« (ebd.).

In der Folge verlieren neoliberale Forderungen der rechtspopulistischen Parteien an Bedeutung »zugunsten einer verstärkten Betonung antilibera-listischer und antiliberaler politischer Diskursmuster« (Betz 2001: 168). So stellt sich etwa der FN bereits seit 1993 zunehmend als Schutzmacht der französischen Arbeiter dar, gegen den »libre-echangisme mondial«, die »mondialisme économique« oder den »mondialisme«, die als Hauptfeind angegriffen werden und mit protektionistischen Maßnahmen begrenzt wer-den sollen (ebd. 171). 1995 kündigt der FN eine »soziale Wende« an, die den Staat als Bollwerk gegen die Globalisierung rehabilitieren will. Haider wandelt sich in den 1990er Jahren vom Anwalt der Leistungseliten hin zur Verteidigung derjenigen österreichischen Arbeitnehmer, die es »hart haben im Wettbewerb« (23. FPÖ-Parteitag 1996, zit. ebd. 174).2

Die gesellschaftlichen Verwerfungen des Neoliberalismus werden als »von der Migration verursachte Probleme übersetzt« (Scharenberg 2006:

2 In den 1980er Jahren bestand die Wählerschaft des FN v.a. aus Selbständigen, La-denbesitzern, Geschäfts- und Handwerksleuten, in den 1990er Jahren wählten 30% der Handarbeiter (Männer und Frauen) den FN, 2002 sanken die Zahlen, jeder 4. Arbeiter wählte FN, 30% der Ladenbesitzer und Handwerker wählten die extreme Rechte. In Österreich wählten 1995 30% der »blue collar«-Arbeiter FPÖ, 1999 kamen 50% der Wählerschaft aus der Arbeiterklasse (Hentges u.a. 2003: 63).

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77). »Die Ausländer« werden zum Sinnbild der Globalisierung und bieten dem Alltagsverstand Reibungsfläche. Damit können gesamtgesellschaftliche Probleme reartikuliert und gleichzeitig denk-bar gemacht werden. Die dage-gen gestellte »Homogenität« des Volkes, die es (zurück) zu gewinnen gelte, ermöglicht eine imaginäre Vergemeinschaftung, die die real erfahrenen so-zialen Spaltungen und Partikularisierungen bewältigen lässt (ebd. 78). Das im Alltagsverstand implizite Wissen, dass »die Anderen«, die flexiblen Mi-granten, in der Konkurrenz um Arbeit und im Kampf um den »gesellschaft-lich durchschnittlichen« Wert der Ware Arbeitskraft die eigenen Positionen bedrohen, wird artikuliert. Ihr Zurückdrängen in die Peripherie, in das »au-ßen«, ist Gegenstand rechter Mobilisierungen wie staatlicher Abschottungs-politik, was ein Vordringen der Rechten in die Mitte erleichtert.

Die rechten Parteien treten als »neue Arbeiterparteien« auf und werden auch so wahrgenommen: »Ich bin zur Dänischen Volkspartei gewechselt, weil sie [die Sozialdemokraten] ihre Politik änderten - ich aber meine nicht.« (Dänischer Busfahrer in Hentges u.a. 2003: 126; Übers. CK) Widersprüch-liche Positionierungen innerhalb des rechten Lagers - stärker neoliberal oder stärker »gegen Globalisierung« - sind dabei nicht unbedingt ein Hindernis, wie die langjährig erfolgreiche Konstellation unter Berlusconi in Italien ge-zeigt hat. Die Nähe der Rechten zur politischen Gewalt gefährdet einerseits latent die Blockbildung, andererseits ermöglicht das Bündnis mit ihnen, Zwangs- und Gewaltaspekte neoliberaler Politik einer politischen Kraft zu-zuweisen, die nach dem Transformismus, nach Einbindung und Kooptation oppositioneller Milieus und Kräfte in den geschichtlichen Block, wieder fal-lengelassen werden kann.

»Nazitum bildet [...] einen Schutzraum für die widersprechende Unruhe, damit sie ja nicht erwache«, sagte Bloch (1934: 60) über die Widersprüche des aufziehenden deutschen Faschismus, der den Kampf gegen veraltete Le-bensweisen mit der Sehnsucht nach dem Gewesenen verband. Die Bildung des geschichtlichen Blocks gelang damals mit der Bei- und Unterordnung der völkisch-antikapitalistischen Fraktion - »der Kleinbürger sieht darin Sozialismus, der Großbürger besitzt daran Kulisse, und für beides war dem Kapitalismus höchste Zeit« (ebd. 75) - unter die Fraktion des Großkapitals.3

Die rechten Regierungsparteien erfüllen dieselbe Funktion: Sie binden die Kritik an der Globalisierung und den Kosten der neuen Produktionsweise

3 Die erstere wurde in Deutschland allerdings bereits 1934 kaltgestellt und die Ideo-logieelemente im völkischen Rassismus des NS reartikuliert.

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für die Einzelnen und ordnen sie gleichzeitig dem herrschenden Block bei. Die Kritik ist damit weitgehend still gestellt.4

Antikapitalismus als soziale Bewegung von rechts

Radikaler, weil von Regierungsbeteiligungen weit entfernt, tritt die ex-treme Rechte in Deutschland auf: »Antikapitalismus von rechts« kann als neue strategische Ausrichtung der wichtigsten Strömungen in der deut-schen extremen Rechten aufgefasst werden.5 Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und »prekäre Beschäftigungsverhältnisse« werden als Krisenerscheinungen des Kapitalismus aufgerufen und zum Ausgangspunkt für »notwendige Al-ternativen« gemacht.6 Die extreme Rechte inszeniert sich als revolutionäre Opposition, inhaltlich und in Bezug auf die politischen Formen. Zentral ist dabei ein Aufgreifen und Verschieben linker Argumentationen, Strategien und Ästhetiken.

Der »Antikapitalismus« der JN (Junge Nationaldemokraten) grenzt sich von der »Falschlehre« von Marx ab. »Privatisierungswahn, Monopolbil-dung, Steuererhöhung und Hartz IV« seien allerdings nicht das Grundübel »unserer Probleme«, sondern »die herrschende Zinswirtschaft des Kapitalis-mus.« Der Zinseszins zwinge die Wirtschaft zum endlosen Wachstum und führe so zu »Umweltzerstörung, Lohnsklaverei, Globalisierung, Massenent-lassungen und Armut«. »Linke Wirrköpfe«, die diesen Zusammenhang nicht in den Mittelpunkt stellen, werden von den JN einer »verkürzten Kapitalis-muskritik« bezichtigt - eine Umkehrung linker Kritiken an personalisierten und verschwörungstheoretischen Charakterisierungen des Kapitalismus. Zwar wird in diversen Schulungsbroschüren der JN Ausbeutung als Aneig-nung von Mehrwert referiert, daraus folgt aber keine grundsätzliche Ab-lehnung von Eigentum oder gar Klassenkampf. Propagiert wird eine sozial-partnerschaftliche Marktwirtschaft,7 die Eigentum schützt, »solange es dem

4 Aber nicht immer »systemkonform« und vollständig. So muss das Scheitern der europäischen Verfassung in Teilen auch den nationalistischen Mobilisierungen der Rechten zugerechnet werden.

5 www.antikap.de 6 Bei den Wahlen 2004 erhielt die NPD mit ihrem auf Kritik der Sozialreformen

ausgerichteten Programm in Sachsen 9,2% der Stimmen. 7 Das ist nicht unumstritten; so distanziert sich der JN-BuVo explizit von einer Un-

terscheidung in »guten und schlechten Kapitalismus«.

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Volk dient«. Dagegen sei der aktuelle Kapitalismus von »Händlertum« und »Karawanserei« gekennzeichnet. Dabei bedient die Ablehnung des »Mam-monismus« antisemitische »Kritiken« des Kapitalismus, die in der »Natio-nalzeitung« oder in »Nation und Europa« durch Karikaturen mit einschlä-gigen antisemitischen Stereotypen untermalt werden. »Volkseigentum« wird gegen die »Ausplünderung« durch Privatisierung verteidigt.8

Das Gegenkonzept ist »völkischer« oder »nationaler« Sozialismus. Er wird unterschieden vom Kommunismus, der zusammen mit linken Frei-heitsvorstellungen als Kehrseite neoliberaler Ideologien gilt: Durch die Ver-herrlichung »hedonistischer Triebe« machten sie sich zu Helfern des »ideo-logischen Rinderwahns« der Globalisierung. »Freiheit« wird als Kehrseite des »Liberalismus« und damit ideologische Schützenhilfe der Globalisierung angegriffen. Dagegen stehe einzig das Nationale: »Weil der Kapitalismus in-ternational ist, muss der Sozialismus national sein«. So kann es gelingen, an einen Alltagsverstand anzuknüpfen, in dem »die Globalisierung« als externe Bedrohung nationaler Standards gedacht wird. Die Vorstellung eines »na-tionalen Schutzraums« ist die abstrakte Negation eines Diskurses, der mit Verweis auf die internationale Konkurrenz Mobilisierung, Aktivierung und Verzicht bei den Einzelnen einfordert (vgl. etwa Hartz 2001: 8).

Ein Wahlspot der NPD ruft mit Bezug auf Lafontaines »Fremdarbei-ter-Rede« auf, nicht die Raubkopie, sondern das Original zu wählen: Zwar scheine jener ähnliche Punkte aufzugreifen und Interessen deutscher Arbei-ter zu verteidigen, die restlichen Programmpunkte der Linkspartei zielten aber auf die Erweiterung individueller Freiheiten, Drogenfreigabe und Frei-zügigkeit gegenüber Flüchtlingen und konterkarierten die scheinbar »na-tionale« Orientierung. Die Widersprüchlichkeit von Lafontaines Versuch einer »linkspopulistischen« Anknüpfung an die Verwerfungen verschärfter Konkurrenz und Freizügigkeit der Arbeitskraft wird hier deutlich. Wo La-fontaines Einsatz in Schwierigkeiten gerät - wie lässt sich ein Konzept der Verteidigung von Lohnstandards unter den Bedingungen der Standortkon-kurrenz entwickeln, das nicht die jeweils ärmeren, auf niedrigere Standards gezwungenen Lohnabhängigen zu Personifizierungen der Konkurrenz und damit als Gegner artikuliert? -, wirft sich die rechte Position ungebrochen auf die Seite der »deutschen Arbeiter«. Lafontaine ringt um eine Perspektive

8 Schulungsbroschüren »Privatisierung - Wirtschafts- und Plünderungsstandort Deutschland«, hrsg. v. Initiative für Volksaufklärung, Http://snbp.info/files/Privatisie-rung.pdf.

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des nationalen Wohlfahrtsstaates und will die ausländischen Arbeitnehmer in Deutschland explizit eingeschlossen wissen, erteilt völkischem Nationa-lismus eine Absage. Dennoch argumentiert er von einem Standpunkt »pri-vilegierter Solidarität« (Nachtwey 2005: 908). Eine angestrebte europäische Perspektive kann diese Probleme nur begrenzt aufheben: Die Billigarbeits-kraft, gegen die Lafontaine sich wendet, kommt ja gerade aus Staaten inner-halb der Europäischen Union.

Die extreme Rechte muss sich in solchen Widersprüchen nicht bewegen. Sie macht die Volkgemeinschaft als einziges Solidarprojekt stark. Die Frage der Grenzen der Solidarität wird mit Rekurs auf den »natürlichen« Bezugs-raum geklärt: »Der Nationalismus erstrebt soziale Gerechtigkeit und natio-nale Solidarität.«9 Versorgt wird, wer zum Volk gehört. Gleichzeitig ist der nationale Schutzraum Voraussetzung dafür, dass das geeinte Volk zu großen Gemeinschaftsleistungen befähigt werde. Wie im historischen Faschismus sol-len hier zwei Bedeutungsaspekte des »Volkes« zusammengebracht werden: Die »kleinen Leute«, die Mehrheit, die unter die Herrschaft Gestellten wer-den angerufen und gleichzeitig als völkische Gemeinschaft konstruiert. Die Anknüpfungspunkte im Alltagsverstand finden diese Formulierungen gerade in der ehemaligen DDR, wo der emanzipatorische Bezug auf das »Volk« in der Tradition der Arbeiterbewegung stärker präsent war als im Westen, wo leicht mit Verweis auf die völkische Begriffsgeschichte die klassenspezifischen Inter-essen delegitimiert wurden.10 Hier kann das Sprechen vom »Volk« womöglich aufgreifen, was Heitmeyer u.a. im Konzept der »Gruppenbezogenen Men-schenfeindlichkeit« als »Anomia« bezeichnen (Heitmeyer 2002). Orientie-rungslosigkeit, das Gefühl, dass »früher alles besser war, weil man wusste, was man zu tun hatte«, hängt mit Ängsten vor sozialem Abstieg zusammen, die sich seit der Einführung von Hartz IV verstärkt haben (Hüpping 2006). Eine Abwertung schwächerer Gruppen ist bei diesen Befragten wahrscheinlicher: Besonders die Aussage, »wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken«,

9 www.jn-buvo.de/index.php?option=com_content8aask=view8dd=108&Itemid=33 10 Dabei gibt es für eine Aufgabe des Volksbegriffs im deutschen Sprachgebrauch

von links gute Gründe, nicht nur wegen der Schwäche im Kampf gegen rechte Kon-notationen, sondern auch aufgrund analytischer Schwäche. Als Begriff in Mobilisie-rungen »von unten« soll der Volksbegriff Bündnisse ermöglichen (etwa im Sinne der »Volksfront«); unterschiedliche Teilinteressen sollen hintangestellt werden. Die Gefahr besteht, dass bei sich verschiebenden Kräfteverhältnissen grundlegende Interessensdif-ferenzen und -antagonismen unsichtbar oder verschoben (etwa auf eine äußere Bedro-hung) werden.

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erzielt deutliche Zustimmung. Bei aller Zurückhaltung in der Deutung von Daten, die die subjektiven Begründungszusammenhänge nicht aufklären,11

kann doch gesagt werden, dass hier völkische Solidarkonzeptionen am All-tagsverstand ansetzen können: Die Abstiegsängste werden adressiert und mit einer »Ermächtigung« des Volkes beantwortet.

Inhaltlicher Bezugspunkt der rechtsextremen Argumentationen ist der »Ethnopluralismus«,12 der ein völkisches Verständnis von Nation transpor-tiert, basierend auf der Vorstellung eines einheitlichen Volkes mit gemein-samer Abstammungsgeschichte. Alle Völker sollen sich in ihrem »Sied-lungsgebiet« frei entwickeln, eventuelle Unterschiede in den Wertigkeiten könnten sich nur bei freier Entfaltung der Völker zeigen. Von hier aus wird die rechte Opposition u.a. gegen den Irakkrieg, ihr Engagement beim An-tikriegstag für ein »Selbstbestimmungsrecht der Völker« verständlich. Die extreme Rechte tritt hier als »antiimperialistisch« auf:13 Gegen das US-Impe-rium gelte es einen »Eurasischen Block der Völker« als Element einer anti-imperialistischen Abwehr und einer neuen völkerorientierten Weltordnung herzustellen. In völkischer Reartikulation der zapatistischen Losung - »Eine Welt, in der viele Welten Platz haben« - ruft die Rechte zur Ablösung der »einen Welt des Kapitals« durch eine »Welt der tausend Völker« auf. Der »europäische Nationalismus erstrebt ein gemeinsames Europa der Vaterlän-der und Völker, das seine Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Freiheit und Einheit gemeinsam gegen die Großmächte, falsche Ideologien, die multinati-onalen Konzerne und kleinkarierte Chauvinisten durchsetzen wird« (ebd).

Angegriffen werden supranationale (»raumfremde«) Organisations-formen, die nicht auf Grundlage des Ethnopluralismus existierten, wie EU oder NATO. Die EU sei nichts als ein »Zusammenschluss der Großkon-zerne«, regiert von Technokraten,14 und somit Feind der freien Völker. Die

11 Es kann nicht umstandslos davon ausgegangen werden, dass die Befragten hiermit ein völkisches Modell im Sinn haben, wohl aber, dass es sich um verschärfte Ausgren-zungsforderungen handelt.

12 Ein ursprünglich aus der französischen Neuen Rechten stammendes Konzept, vgl. u.a. Alain Benoist: Schöne vernetzte Welt. Eine Antwort auf die Globalisierung, 2001

13 »Wer andere Völker oder Stämme seines Volkes spaltet, unterdrückt, knechtet oder ausbeutet, ist ein Imperialist. Der Nationalismus ist der größte und stärkste Feind des Imperialismus: Nationalismus ist antiimperialistischer Kampf.« Siehe www.jn-buvo. de/index.php?option=content&task=view&id=7&Itemid=32, 18.3.2005

14 »Technokraten« und Bürokraten dienen auch zur Kennzeichnung der repräsen-tativen Demokratie, der die »Volksherrschaft« - »wahre Demokratie« - gegenüberge-stellt wird. Sie basiert auf der Volksgemeinschaft; nur aus ihr könnten »sich die Per-

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so gekennzeichneten äußeren Fremdeinflüsse, die die »Selbstbestimmung« des deutschen »Volkes« untergraben, werden ergänzt durch innere: Vertreter »fremder Kulturen«, die durch die Durchmischung die Kultur »des Volkes« und damit seine Existenzkräfte insgesamt vernichten. Die Fremdeinflüsse sind zwei Seiten derselben Medaille - Imperialismus -, die auf politischer, ökonomischer und kultureller Ebene agierten und dort zu bekämpfen seien.15 Der Imperialismus findet seinen Niederschlag in kultureller Vielfalt und Durchmischung; diese werden als Vernichtung der Kultur und damit »des Volkes« gesehen und sind die komplementäre Entwicklung zur »One-World-Ideologie«.

Werden multinationale Konzerne und die Anwesenheit von Flüchtlingen und ausländischer Wohnbevölkerung in Deutschland als zwei Seiten der gleichen Medaille gedacht, kann das eine unmittelbar im anderen bekämpft werden. Rassistische Gewalt ist hier unmittelbar Antiglobalisierungs-Po-litik, dem imperialistischen Kampf gegen das Volk wird Nationalismus als »Befreiungsbewegung« gegenübergestellt. Dies ermöglicht eine in sich ko-härente Begründung von Aktivismus und praktischen Politikoptionen; Er-fahrungen von politischer Hilflosigkeit angesichts globaler Prozesse können in Handlungen umgesetzt werden.16 Dabei werden die Passivierungseffekte der Sachzwangargumentationen aktiv aufgegriffen: »Stoppt die Demonta-ge Deutschlands! Es gibt Alternativen«. Die Slogans werden ergänzt durch ein alltägliches Ringen um (kulturelle) Hegemonie: Kinderfeste, Nachbar-

sönlichkeiten entwickeln, die Volk und Staat benötigen«, und die durch Egoismus und Materialismus immer weiter auseinanderdriftenden Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenfinden. Vgl. www.jn-buvo.de/index.php?option=content&task=view&id=l 18dtemid=36, 18.3.2005

15 »Der Nationalismus ist nicht gleich mit Imperialismus; er ist vor allem dessen Gegenspieler: Sprenger multinationaler und kolonialer Gefüge. Der Nationalismus be-kämpft jedes Fremdherrschaftsstreben (Imperialismus), gleichgültig ob es militärische, wirtschaftliche, politische oder kulturelle Mittel benutzt.« JN, Thesen zum Nationa-lismus. Die Abschaffung der »wirtschaftlichen und kulturellen Grenzen« seien Teil der Durchsetzung des globalen Marktes zugunsten eines »hemmungslosen grenzüber-schreitenden Warenhandel«, www.gegen-globalisierung.de/texte.htm, 18.3.2005

16 In der GMF(Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit)-Studie von 2003 stimmen etwa 50,3% der Befragten voll und 29,5% eher der Aussage zu, dass »gegen soziale Missstände in Deutschland zu wenig protestiert wird«; 46% stimmen voll und 35,5% eher zu, dass »letztendlich die Wirtschaft in unserem Land [entscheidet] und nicht die Politik«; 58% stimmen voll, 31,4% eher zu, dass »die demokratischen Parteien alles [zerreden] und die Probleme nicht [lösen]«; und 65,1% stimmen voll, 28,6% eher zu, dass »Politiker mehr dafür tun [sollten], Zweifel an der Demokratie auszuräumen« (Heitmeyer/Mansel 2003: 43f.).

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schaftshilfe, Aufgreifen kommunaler Probleme, kulturpolitische Offensiven auf Schulhöfen etc. hinterlassen den Eindruck, »die tun wenigstens was« . Seit den 1990er Jahren arbeitet die NPD am »3-Säulen-Konzept«: Kampf um die Köpfe, um die Straße und um die Parlamente.17 Es gelte an »veränderte Lebenswelten«18 der Menschen anzuknüpfen, die von »nationalen Ideologen in ihren Elfenbeintürmen« nicht erreicht würden: »Sie erleben heute eine riesige Betonwüste. Sie erleben Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Verwahr-losung, trostlose Supermärkte und eine völlig gleichgeschaltete Gesellschaft. Sie erleben eine Ellenbogengesellschaft, von welcher entfernt anonym und weit weg die >Bonzenschweine< hausen und über ihre Köpfe regieren.« Hier zeigt sich ein gutes Gespür für die Bedeutung der Politik um Lebensweisen in Verbindung mit einem gesellschaftlichen »Großkonzept« für den Kampf um kulturelle Hegemonie.

Bloch analysierte in den 1930er Jahren, wie die faschistische Bewegung ihre Propaganda mittels »Entwendungen aus der Kommune« mit revoluti-onärem Schein ausstaffierte: »denn selbst die herrenrassig-nationalistische Parole zöge nicht, wenn sie sich - scheinbar dem wirklichen Bedürfnis des Volkes entsprechend - nicht vorab als eine antikapitalistische gäbe« (Bloch 1934: 70). Den revolutionären Schein entleiht die faschistische Bewegung den linken, damals kommunistischen Bewegungen: Fahnen, Aufmärsche, gefährliche Lieder.

Die Strategien der extremen Rechten versuchen Ähnliches: Seit Udo Voigt 1996 Parteivorsitzender der NPD wurde, wil l man »den Linken die soziale Frage entwinden«. »Die Positionen des Antikapitalismus« seien »aus den Traditionsbeständen der beamteten APO-Opas herauszubrechen, um sie mit nationalen Inhalten aufzuladen. Entweder es kommen endlich die >linken Leute von rechts< oder es kommen keine Leute von rechts.«19

Entsprechend hat sich das Auftreten der Neonazis stark gewandelt: Klei-dung, Webseiten, Transparente zitieren und kopieren linke, globalisierungs-

17 Bereits der NHB (Nationaldemokratische Hochschulbund) hatte mit dem Stra-tegiepapier »Schafft befreite Zonen« die Kampfzone erweitert: Die befreiten Zonen basieren auf einem Zueinander von Konsens und Zwang, das durch die Straßengewalt (»Sanktionsmacht«), Durchsetzen von Definitionsmacht »was cool ist« und alltäglicher Lebenshilfe bestimmt ist.

18 JN-Bundesvorstand, »Nationalismus heißt Kapitalismuskritik«, www.junge-na-tionaldemokraten.de

19 Aus den Reihen des Nationaldemokratischen Hochschulbundes (NHB), in: Na-tion und Europa, 48. Jg., 10/98, 13-15, hier 15 (Thor von Waldstein: »16 Thesen zum Kapitalismus: Dem Geld dienen oder dem Volk?«)

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kritische und antifaschistische Codes. Palästinenser-Tuch und schwarzes Kapuzenshirt verdrängen die »klassische« Skinhead-Kultur.20 »Antikapita-lismus von rechts« behauptet Anknüpfungspunkte an die Revolutionen in Kuba, Vietnam und bebildert den Artikel mit Che Guevara: »Vaterland oder Tod«. »Mögen auch viele dieser Bewegungen der Geschichte angehören, so geht von ihnen bis auf den heutigen Tag eine große Faszination aus. Ange-sichts der Globalisierung könnten aus den Funken der Erinnerung lodernde Flammen des nationalen und sozialen Widerstands emporschießen.«21 In die revolutionären Bewegungen werden Nationalsozialisten und »Nationalsyn-dikalisten«, Faschisten, Falangisten, Peronisten, die Bewegung von Hugo Chavez und die DDR eingereiht.

70 Jahre nach Blochs Äußerung ist es mit einer Denunziation der »Ent-wendungen« nicht getan - wenn sie nicht schon damals die widersprüch-liche Konstellation unterbelichtet ließ:22 Im Bereich der Reklamationen des Sozialen gibt es kein geistiges Eigentum. Ob die aufgerufenen Elemente von Kapitalismuskritik rechts oder links verortet werden, ist Gegenstand aktu-eller Kräfteverhältnisse: Wem gelingt es, die aktuellen Krisendiagnosen im Rahmen unterschiedlicher geschichtlicher und theoretischer Bezüge zu ar-tikulieren? Als Katalysator für rechts dienen dabei die von links beschwie-genen Widersprüche. Hierzu legt Bloch wiederum die Spur: »Wohl aber sind im nationalsozialistischen Dunstbau, wie zu merken war, gewisse unterir-dische Keller enthalten, auch gewisse versunkene Uberbauten, deren selbst kommunistisch noch nicht völlig >aufgehobener< Inhalt ernsthaft zu prüfen bleibt.« (Bloch 1934: 67)

20 Wobei auch die weitgehende Gleichsetzung von Skinhead-Bewegung mit Neo-nazis Ergebnis eines - weitgehend erfolgreichen - kulturellen Unterwanderungs- und Hegemoniebestrebens war.

21 »Antikapitalismus von rechts«, hrsg. AG Zukunft statt Globalisierung/Sachsen, 3/2006, 16, www.antikap.de

22 Der von den JN aufgerufene Peronismus ist geradezu Musterbeispiel für das Zu-sammenspannen gewerkschaftlicher, volks-bezogener und faschistoider Elemente und wird bis heute von beiden Seiten reklamiert.

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Kampf um Lebensweisen als Kampf um Hegemonie

Die SIREN-Untersuchung23 konnte das Ineinandergreifen von subjektiven Erfahrungen neoliberaler Umstrukturierungen und dem Hinwenden zu rechtsextremen Argumentationen zeigen. Dazu wurden besonders Personen interviewt, die von den Umarbeitungen der neuen Produktionsweise beson-ders betroffen waren. Zentral scheint die Erfahrung, dass die Einzelnen ihre Position in der sozialen Welt auf Grund der veränderten gesellschaftlichen Anforderungen überdenken müssen. Dabei konnten unterschiedliche Typo-logien herausgearbeitet werden, die die jeweils sehr unterschiedlichen Erfah-rungen von prekarisierten Putzfrauen bis hoch qualifizierten IT-Arbeitern formulieren.

Einige gemeinsame Punkte können formuliert werden: Seit den 1990er Jahren wird ein starker Anstieg der Arbeitsbelastung wahrgenommen, eine Aufkündigung der Unternehmenspolitik, die auf Klassenkompromisse ge-setzt hat; diese werden nun als unnötige Kostenlast im Wettbewerb aufge-fasst. Der Kampf zwischen Alten und Jungen und zwischen Migranten und Etablierten zieht sich durch die Interviews. Dabei bringen die Interview-ten oft eine deutliche Wahrnehmung des eigenen Status als »Arbeiter« zum Ausdruck, die Wahrnehmung eines kollektiven Schicksals ist präsent. Als »Schuldige« des Prozesses werden Politiker und ein bürokratisiertes Ma-nagement genannt, die sich von den Bedürfnissen und Realitäten der Pro-duktion entfernt hätten.

Die neoliberalen Versprechen, die Aufrufe zur mehr Leistung, die sozi-ale Sicherheit bringen soll, scheitern an den alltäglichen Erfahrungen: Trotz schwerer Arbeit und schmerzlicher Unterordnung sind die Betroffenen nicht in der Lage, die angestrebte Position zu erreichen; es entstehen Gefühle der Ungerechtigkeit und persönlicher Verletzung. Das Gefühl des »aufgekün-digten Vertrages« bezieht sich auf die implizite Vorstellung, dass sich »harte Arbeit gegen gesellschaftliche Absicherung, Lebensstandard und Anerken-nung tausche«; die Interviewten äußern durchaus Bereitschaft, härter zu ar-beiten, mehr zu leisten, müssen aber feststellen, dass legitime Erwartungen in Bezug auf verschiedene Aspekte von Arbeit, Beschäftigung, sozialen Status oder Lebensstandard dauerhaft frustriert werden: Der Vertrag ist »einseitig

23 Europaweite qualitative Untersuchung »Socio-Economic Change, Individual Re-action, and the Appeal of the Extreme Right« (SIREN) zur Veränderung der Anfor-derungen in der Arbeit und rechtspopulistischen Denkweisen, vgl. www.siren.at und Flecker/Hentges 2004.

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gekündigt« worden. Dies führt zu Ungerechtigkeitsgefühlen und Ressenti-ments in Bezug auf andere soziale Gruppen, die sich den Mühen der Arbeit anscheinend nicht in gleichem Maße unterziehen müssten und für die bes-ser gesorgt werde oder die ihre Sachen (illegal) selbst arrangierten: einerseits Manager, Politiker mit hohem Einkommen, die sich großzügige Pensionen zusprächen, andererseits Menschen, die von der Wohlfahrt lebten statt zu arbeiten oder Flüchtlinge, die vom Staat unterstützt würden. Die »gestörte Balance in ihrem Bezug zur Arbeit bei gleichzeitigem Mangel an legitimen Ausdrucksformen für das Leiden scheint in vielen Fällen der Schlüssel für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen sozioökonomischem Wandel und politischen Reaktionen zu sein« (Flecker/Hentges 2004: 142).

Die gestörte Balance ist dabei nicht auf die unteren Segmente von Arbeit und Gesellschaft beschränkt. Dörre u.a. haben gezeigt, dass nicht nur Pre-karisierungsängste ähnliche Orientierungen nach sich ziehen können wie tatsächliche Erfahrungen von Prekarisierung und Ausgrenzung (Dörre/Krae-mer/Speidel 2004: 94); darüber hinaus hat der Niedergang der Start-up-Öko-nomien viele mit Gefahr und Realität eines plötzlichen sozialen Abstiegs bekannt gemacht. Die Angestellten und freelancer des IT-Sektors »tendieren zu individualistischen Bearbeitungsweisen ihrer Probleme mit Stress, Druck und enormen Arbeitslasten: verlass dich auf dich selbst in einer mitleidlosen und konkurrenziellen Welt mit ihren Unsicherheiten, Risiken und Unwägbar-keiten« (Hentges u.a. 2003: 51; Übers. CK). Diese Bewältigungsweisen gehen mit verschärften Ausgrenzungsforderungen gegen solche einher, die sich in der sozialen Sicherheit auszuruhen scheinen und ihr Leben nicht an densel-ben Normen von Wettbewerb und Erfolg orientieren. »Diese Normen bilden Wahrnehmungsweisen heraus, die zu neoliberalen, mitleidlosen oder sozialdar-winistischen Haltungen führen.« (ebd. 58; Übers. CK) Da die Durchsetzung der neuen flexiblen Anforderungen auch ein Projekt der hochtechnologischen Spezialisten war, liegen rechte Kapitalismuskritiken hier nicht unmittelbar nahe. Verbindungen zu den Denkformen der extremen Rechten finden sich über sozialdarwinistische Vorstellungen und die Konstruktion, dass gerade ausländische Menschen eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme dar-stellten, die von den hart arbeitenden »Inländern« zu finanzieren seien. Dabei klingen auch die Anrufe an die Leistungsbereitschaft an, die untergründig mit dem Konzept der Volksgemeinschaft artikuliert werden: Wer sich hier nicht einfindet, gerät schnell auf die Seite der »inneren Feinde« des Volkes.

Im Medium welcher gesellschaftlichen Denkformen werden die Erfah-rungen »gemacht« und verarbeitet? Politische Botschaften und Ideologien

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des Rechtspopulismus, die die zweifache Abgrenzung »des Volkes« von Eli-ten oben und Ausgestoßenen unten in Anschlag bringen, finden hier Reso-nanz.

Die Abgrenzung von angeblich untätigen Leistungsempfängern, also Flüchtlingen, Sozialhilfeempfängern, Kranken und Behinderten, findet sich dabei bis in die höchsten Hierarchieebenen der Beschäftigten (oft auch als Wohlstandschauvinismus bezeichnet) und ist auch in gewerkschaftlichen Kreisen verbreitet (vgl. Fichter u.a. 2004). Die in Deutschland vollzogenen Hartz-Reformen setzen ähnliche Gefühle von Ungerechtigkeit frei: Mit dem Wechsel zu ALG II und den erweiterten Zumutbarkeitskriterien kön-nen auch langjährig Beschäftigte eine Deklassierung nicht abwehren. Jahre-lange Abgaben gehen den Einzelnen verloren und nähren das Ressentiment gegen gesellschaftliche Gruppen, die »stattdessen« finanziert werden. Die völkischen Sozialstaatskonzepte greifen diese Erfahrungen auf; aufgrund der verschärften Konkurrenzerfahrungen in der Arbeitswelt gelingt ihnen hier das Anknüpfen am Alltagsverstand.

Angst vor Deklassierung, Unsicherheit und Ohnmachtgefühle, die mit industriellem Niedergang, prekärer Beschäftigung und Entwertung von Fähigkeiten und Qualifikationen verbunden sind, sind das zweite Begrün-dungsmuster der SIREN-Untersuchung. Auch hier werden Erfahrungen von Seiten der extremen Rechten systematisiert und artikuliert: Die Erfah-rung, Spielball der ökonomischen Entwicklung oder anonymer Mächte zu sein, wird verbunden mit rechtspopulistischen Mobilisierungen, die die Be-völkerung als passives Opfer von übermächtigen Gegenspielern ansprechen. Die Anrufung der »Arbeiter«, des »Volkes« spricht die Erfahrungen kollek-tiver Schicksale an und verspricht Handlungsfähigkeit. Ähnlich »funktio-niert« die nostalgische Wertschätzung der guten alten (Arbeiter-)Zeiten und die populistische Glorifizierung von traditionellen Gemeinschaften. Ebenso vermag ihre Thematisierung von nationalen oder subnationalen Einheiten als Träger kollektiver Interessen die Ohnmachtgefühle anzusprechen, die sich nicht nur auf die individuelle Ebene beziehen, sondern auch auf kollek-tive Einheiten wie Regionen - »der Osten«, »Padanien« -, die Arbeiterklas-se, die Nation.

Die extreme Rechte thematisiert die Alltagserfahrung der Subjektanfor-derungen der neuen Produktionsweise und löst sie vorgeblich durch eine Verschiebung in Richtung einer Volksgemeinschaft: Die »völkische Identi-tät« birgt das Versprechen von sozialer Sicherheit und Gleichheit, Solidarität und Zugehörigkeit. Die Aufwertung entlastet von der Sorge, ob man selbst

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»dazu« gehören wird, ob die im neuen Sozialstaat geforderte eigene »Ak-tivierung« ausreichen wird. Gleichzeitig wird das Prinzip der Konkurrenz für den verschärften Kampf um gesellschaftliche Ressourcen gegen »undeut-sche« Elemente genutzt.

Rechtsextremes Denken ermöglicht also ein widersprüchliches Bewe-gen in den neoliberalen Subjektanforderungen: Einerseits werden sie zu-rückgewiesen und im rechtsextremen Modell von volksgemeinschaftlichem Sozialstaat aufgelöst; andererseits werden ihre Formen der Ausgrenzung, Brutalisierung, Mobilisierung des Subjekts aufgegriffen und gegen die ge-sellschaftlich Marginalisierten gewendet. Es ermöglicht damit ein »Denken in den Formen«, das sich inhaltlich dennoch als Opposition geriert, mithin die Grundlagen gesellschaftlicher Konkurrenz und Verwertung affirmiert.

Linke Gegenhegemonie?

Die Zustimmung zu rechten Politikoptionen kann also als »völkisches Wohlfahrtsstaatsbewusstsein« gefasst werden. Um die »Entwendungen aus der Kommune« in emanzipatorische Konzepte zu überführen, muss es der Linken gelingen, diese Aspekte neu einzubetten. Zentral sind dabei die Mo-mente sozialer Sicherheit ebenso wie die Fähigkeit, ein »Gesamtkonzept« zu bieten, vor dessen Hintergrund die gesellschaftlichen Entwicklungen inter-pretiert und veränderndes Handeln begründet werden können. Die Linke stößt hier immer wieder auf Grenzen: Wie lässt sich die Verteidigung sozi-aler Rechte der Bevölkerung in den ehemaligen »Zentren« in eine emanzi-patorische Konzeption einbetten, die den Korporatismus nicht einfach von Deutschland auf die EU ausweitet? Andererseits wird eine globale Perspek-tive kaum vermitteln können, dass sie auch für die alltäglichen Probleme Verbesserungen zu bieten hat.

Die Passivierungseffekte der fordistisch-sozialdemokratischen Regierungen wie der neoliberalen Sachzwangdebatten können nicht einfach »von oben« be-antwortet werden. Nicht alle Interviewten der SIREN-Untersuchung haben die gesellschaftlichen Umarbeitungen rechts verarbeitet: Andere, die aufgrund von Umstrukturierungen sich plötzlich in Konkurrenz mit gesellschaftlich unterlegenen Gruppen wiedergefunden haben, haben sich trotzdem nicht dem Rechtsextremismus zugewandt. Sie konnten auf andere theoretische Verarbei-tungsformen, eine Biografie des politischen Engagements, Erfahrungen mit Organisation von Demonstrationen und Widerstand etc. zurückgreifen.

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Holzkamp verweist auf die Notwendigkeit einer »kooperativen Integra-tion« (Holzkamp 1983: 373), damit für die Subjekte überhaupt ein Denken funktional wird, in dem nicht das ideologisch Nahegelegte sich einfach re-produziert, ein »Denken über die Formen« möglich wird. Diese kooperative Integration kann neu gefasst werden als Formen von gegenhegemonialen Bewegungen, Diskursen, als gesellschaftliche Repräsentation von Kritik und Utopie, die aber »stark«, »wahrnehmbar« genug sein müssen, um über-haupt potenziell in die Prämissen von Handlungsbegründungen eingehen zu können. Als »subjektive Seite« der Repräsentationskrise kann verstanden werden, dass die Menschen, die aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Anforderungen sich gezwungen sehen, ihre Position in der Welt zu überden-ken und neu zu begründen, kaum Denk- und Deutungsangebote finden. Die hegemoniale Sichtweise beleuchtet vor allem die Hochglanz- und Erfolgsge-schichten der neuen Produktionsweise. Das Leiden an den Anforderungen ist in der »Mitte« kaum repräsentiert, die linken Thematisierungen sind viel-fach schwach.

Teile der Linken rufen in Kritik an der neoliberalen Globalisierung den fordistischen Wohlfahrtsstaat auf. Die extreme Rechte ihrerseits wuchert mit dem »repressiven Subtext« fordistischer Lebensweisen und verspricht gleichzeitig den radikalen Bruch mit dem Bestehenden.

Indem die extreme Rechte Kritik an Produktionsweise, Globalisierung, Kapitalismus und politischer Passivierung »revolutionär« artikuliert, ist sie zwar für aktuelle Einbindung in den Block an der Macht unbrauchbar. Dennoch leistet sie eine passive Hilfe, indem sie diese Kritik absorbiert und kanalisiert und emanzipatorische Perspektiven schwächt. Der Erfolg der Linkspartei bei der letzten Wahl zeigt, dass die Kritik von Sozialstaatsre-formen, Globalisierung und Kapitalismus nicht per se rechts kodiert ist. Daraus ergibt sich die Anforderung an linke Politik, die Entwicklung po-pular-demokratischer Positionen voranzubringen, in denen die alltäglichen Erfahrungen, das Leiden und die Widersprüche der Produktionsweise re-präsentiert sind und Perspektiven auf eine nach-kapitalistische Gesellschaft eröffnet werden.

Eine abstrakte und ausschließliche Fundamentalkritik oder eine Orientie-rung auf realpolitisch mögliche, kleine Schritte, die notwendig im Rahmen des Bestehenden argumentiert, werden es nicht vermögen, Perspektiven auf eine veränderte Gesellschaft mit den Erfahrungen der Umarbeitung von Le-bensweisen bei den Menschen zu verbinden und wird ihnen so auch keinen Grund geben, dieses politische Projekt als ihr eigenes zu übernehmen.

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Literatur

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Dieter Plehwe/Bernhard Wa lpen

Neoliberale Denkkollektive und ihr Denkstil

It's true that many people do not know where certain ideas come from, but the important thing is that they agree with them.

Michael Joyce, Bradley Foundation1

The most potent weapon in the hands of the oppressors is the mind of the oppressed.

Stephen Bantu Biko (zit. Wa Bofelo 2005)

Die beiden Motti - vom neokonservativen Michael Joyce und dem ermor-deten Antiapartheidaktivisten Steve Biko - weisen auf einen zentralen As-pekt hin, wie in einer Gesellschaft, in der Macht und Einfluss asymmetrisch verteilt sind, die Zustimmung ihrer Mitglieder (resp. der Unterdrückten) er-langt wird, nämlich über die Durchsetzung von Ideen und die Beeinflussung des Verstandes/der Gedanken/des Geistes (mind) im Sinne der dominanten Klasse(n). Allerdings zeigen die beiden Zitate auch einen je unterschiedlichen Blickwinkel auf die Problemstellung. Das erste ist aus einer Herrschaftsper-spektive formuliert, weil es die Übereinstimmung mit und den Prozess der Durchsetzung von Ideen nicht in gesellschaftlichen Zusammenhängen pro-blematisiert, Intransparenz geradezu begrüßt. Im zweiten Zitat wird über die Bedeutung der Ideen und des Verstandes in einem Herrschaftsverhält-nis gesprochen, indem Unterdrücker und Unterdrückte explizit benannt werden. Es wird darauf hingewiesen, dass der Verstand eine der wirkungs-vollsten Waffen der Unterdrücker ist. Damit rückt eine besondere Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft in den Vordergrund, die sich soziologisch insgesamt weder notwendig der herrschenden noch der beherrschten Klas-se zuordnen lassen (vgl. Plehwe/Walpen 2001). Gramsci bemerkte im 12. Gefängnisheft: » J e d e gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökono-

1 http://exile.ru/118/finktanks.php.

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348 Dieter Plehwe/Bernhard Walpen

mischen Produktion entsteht, zugleich organisch eine oder mehrere Schich-ten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewußtheit der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben« (GH 12, §1: 1497; Hvh. DP/BW). Auf den besonderen Wert der Integration der besten Köpfe aus den unteren Klassen in die Reihen der herrschenden Klasse hat Karl Marx im Dritten Band des Kapitals aufmerksam gemacht:

»Selbst wo ein vermögensloser Mann als Industrieller oder Kaufmann Kredit erhält, geschieht es in dem Vertrauen, daß er als Kapitalist fungiren, unbezahlte Arbeit aneignen wird mit dem geliehenen Kapital. Es wird ihm Kredit gegeben als potentiellem Kapitalisten. Und dieser Umstand, der so sehr bewundert wird von den ökonomischen Apologeten, daß ein Mann ohne Vermögen, aber mit Energie, Solidität, Fähigkeit und Geschäftskennt-niß sich in dieser Weise in einen Kapitalisten verwandeln kann - wie denn überhaupt in der kapitalistischen Produktionsweise der Handelswerth eines jeden mehr oder weniger richtig abgeschätzt wird -, so sehr er beständig ge-genüber den vorhandnen einzelnen Kapitalisten eine unwil lkommene Reihe neuer Glücksritter ins Feld führt, befestigt die Herrschaft des Kapitals selbst, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften aus der ge-sellschaftlichen Unterlage zu rekrutiren. Ganz wie der Umstand, daß die katholische Kirche im Mittelalter ihre Hierarchie ohne Ansehn von Stand, Geburt, Vermögen aus den besten Köpfen im Volk bildete, ein Hauptbefes-tigungsmittel der Pfaffenherrschaft und der Unterdrückung der Laien war. Jemehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der be-herrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft.« (MEGA 11.15: 590f.; MEW 25: 614)

Umgekehrt bieten neben Karl Marx z.B. auch Friedrich Engels, Rosa Lu-xemburg oder Georg Lukács hervorragende Beispiele für bürgerliche Ge-sellschaftsmitglieder, die sich auf die Seite der unterdrückten Klasse gestellt haben. Im »Kampf« um die Köpfe verfügen die jeweiligen Klassen zwar über sehr ungleiche Ressourcen, deswegen ist es aber nicht schon vorentschieden, wie die Auseinandersetzung ausgeht, was ein Blick in die Geschichte der letzten 200 Jahre zu zeigen vermag.2

2 Dabei ist nicht zu übersehen, wie es der prokapitalistischen Seite gelang (und nach wie vor gelingt), Intellektuelle für sich zu gewinnen. Einige der radikalsten und lau-testen 68er-Kämpfer (es sind vor allem Männer) sind heute vehemente Fürsprecher des Kapitalismus. Prozesse der Kooptierung verlaufen selten geradlinig und kurzfristig.

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Susan Strange (1988: 115) hat in ihrer Analyse primärer globaler Machtstrukturen festgehalten, dass die »Macht, die sich von der globalen Machtstruktur in Bildung und Wissenschaft (Wissensmachtstruktur) herlei-tet, jene ist, die am häufigsten übersehen und am meisten unterschätzt wird. Sie ist nicht weniger wichtig in der internationalen politischen Ökonomie als die anderen drei primären Quellen von struktureller Macht [Militär, Pro-duktion, Finanz], aber sie ist viel weniger gut begriffen.« Das sei u.a. so, weil sie Glauben, Überzeugungen, Utopien, Wissens- und Wahrnehmungsfor-men sowie die (selektiven) Kommunikationskanäle umfasse.

Wir möchten uns in diesem Beitrag näher mit den Wissensmachtverhält-nissen im Neoliberalismus auseinandersetzen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Mont Pèlerin Society (MPS) und neuartige parteiische Think Tanks in ihrem Umfeld. Die auf diesem Weg erkennbare Artikulation von Wissenschaf-ten, Theorien, Denkformen, Intellektuellennetzwerken, Organisationsformen u.a.m. ermöglicht eine Analyse von wissenspolitischen Zusammenhängen, die nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen dringend erforderlich ist. Kritische Analysen der »Rolle der Ideen« und ihrer nicht einfach zu bestimmenden Wirkmacht können nicht auf ein schon fix ausgearbeitetes theoretisches Instrumentarium zurückgreifen. Eini-ge struktur- und handlungstheoretische Fragen haben wir im Hinblick auf die Entwicklung der Intellektuellentheorie generell (vgl. Plehwe/Walpen 2001) und der intellektuellentheoretischen Konzepte im Kontext der (neograms-cianischen) Theorie der Internationalen Politischen Ökonomie (Plehwe/ Walpen/Neunhöffer 2006) bereits vorgelegt, wobei insbesondere die häufig vernachlässigte relative Autonomie intellektueller Akteure betont wurde. Im folgenden erläutern wir die intellektuellentheoretische Fragestellung genauer. Danach gehen wir kurz auf das empirische Beispiel des neoliberalen Intellek-tuellen- und Think Tank-Netzwerks der MPS ein, um abschließend den wis-senssoziologischen Ansatz von Ludwik Fleck vor dem Hintergrund der dezi-diert neoliberalen Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zu erörtern. Flecks wissenschaftshistorische Arbeiten rückten generell die sozialen Zusammen-hänge von »Denkkollektiven« und »Denkstilen« ins Zentrum der Erklärung von wissenschaftlichen Innovationen, die sich mit linearen Entwicklungen und »paradigmatischen« Brüchen (Thomas Kuhn; als grundlegende Kritik vgl. Ful-ler 2000) nicht hinreichend erklären lassen. Um Flecks verdienstvollen Ansatz für eine umfassendere herrschaftskritische Analyse der Wissensproblematik nutzbar zu machen, ist aus verschiedenen Gründen eine Weiterentwicklung seines Ansatzes unabdingbar.

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1. Wissensgemeinschaften im High-Tech-Kapitalismus

In den Sozialwissenschaften wird in jüngerer Zeit intensiv über die Frage diskutiert, welche Rolle Ideen (und damit Intellektuelle) im Hinblick auf ge-sellschaftliche Veränderungsprozesse spielen. Einflussreich sind dabei sozi-alkonstruktivistische Ansätze, bei denen die Erklärung der Entstehung von Akteurspräferenzen im Mittelpunkt steht. Diese Präferenzen wurden zuvor meist als gegeben betrachtet, oder als direkter Ausdruck materieller Inte-ressen begriffen (vgl. z.B. Katzenstein/Keohane/Krasner 1998). In diesem Kontext wuchs das Forschungsinteresse an sozialen Akteuren und Organi-sationszusammenhängen, die neue Ideen, Konzepte und sonstiges sachdien-liches Wissen generieren, z.B. (transnationale) epistemische Gemeinschaften, Diskurskoalitionen und Think Tanks. Im Rahmen dieser Forschung konnte die Bedeutung kognitiver Aspekte bei der Entstehung und Umsetzung neuer politischer Ansätze und Programme nachgewiesen werden. Kaum erforscht wurde bisher unterdessen die Frage, wie die grundlegenden Normen und Denkprinzipien entstehen, deren Existenz als entscheidende Voraussetzung für das erfolgreiche Wirken von Intellektuellen in wissenspolitischen Zu-sammenhängen erachtet wird.

Die Beschäftigung mit der MPS sowie den neoliberalen und neokonserva-tiven Think Tanks ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, weil die sozialphi-losophische und normative Grundlagenarbeit in diesem Kreise selbst als in-tellektuelle Kernaufgabe begriffen wird. Sie führt somit umfassender auf das Feld der Beziehung von Wissen und Macht, wissenschaftlicher Produktions-weisen, der Wissenspolitik und seiner strukturellen wie organisatorischen Grundlagen. Eine enge Perspektive auf die Theorien und wissenschaftlichen Arbeiten im Neoliberalismus muss vom spezifischen Gegenstand her über-wunden werden, weil auch die Transformation wissenschaftlicher Arbeiten in mediale, politische oder populäre Diskurse von Anfang an beabsichtigt war und danach systematisch durchgeführt wurde.3 Dabei ist man mit den

3 Das lässt sich schon bei Hayek genau verfolgen. Nach seiner »Transformation« (Caldwell 2004: Kap. 10), d.h. nachdem Hayek sich vom Ökonomen zum Sozialphi-losophen - u.a. aufgrund der Kalkulationsdebatte, der Kritik von Oskar Morgenstern und der sehr scharfen und präzisen Kritik von Piero Sraffa (darauf geht Caldwell nicht ein, sondern er erwähnt Sraffa nur, insofern er eine »harsh review« [ebd. 177, Fn. 10] von Hayeks Prices and Production verfasst hat; die kurze Debatte zwischen beiden, und bes. Sraffas Erwiderung auf Hayek bleiben unerwähnt) - gewandelt hat, begann Hayek sich mit der Wissensproblematik theoretisch zu beschäftigen. Ein erster Beitrag dazu war sein Artikel Economics and Knowledge (1937), dem danach das »Abuse of

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Fragestellungen über den Zusammenhang von Gesellschaft und Individu-um, Struktur und Handlung, von Interessen und Ideen (bzw. Materiellem und Ideellem) und der Bedeutung der Ideen insbesondere konfrontiert. In mancher Hinsicht eint die Erkenntnis der zumindest bisweilen besonderen Rolle von Ideen das Werk so disparater Autoren wie Karl Marx, Max We-ber, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek. Wir sind aber auch mit dem Verhältnis von Wissen und Wissenschaft und insbesondere dem Charakter wissenschaftlichen Arbeitens selber konfrontiert, weil ent-gegen der Identifikation von (bzw. schon dem normativen Anspruch nach) Wissenschaft und Wahrheit stets zu bedenken und zu untersuchen ist, ob bzw. inwiefern Wissenschaft ideologisch überdeterminiert (oder gar durch-drungen) ist. Als Intellektuelle sind wir selbst mit der kritischen Beurteilung und den Wirkungen unserer Arbeiten konfrontiert: Wie verstehen wir unse-re Arbeit? Welche Wirkung nehmen wir wahr und messen wir ihr zu? Wie denken wir über unsere Einflussmöglichkeiten? Wem nutzen unsere Arbei-ten und Erklärungen? Wie ist unser Denken beschaffen? Berufen wir uns, implizit wenn nicht explizit, auf Gründe oder auf eine Autorität? Neben der wichtigen (Selbst-)Verständigung über wissenschaftsphilosophische Grund-lagen erfordert der reflexive Umgang mit dem Problem (und dem Anspruch) wissenschaftlicher Objektivität einen Ansatz der politischen Soziologie, wie ihn etwa Wolfgang Abendroth in der Politikwissenschaft vertreten hat.4

Reason Project« (Caldwell 2004: Kap. 11) folgte. Die in diesem Zusammenhang ge-wonnenen Erkenntnisse setzte Hayek in sein populärwissenschaftliches Werk Der Weg zur Knechtschaft (1944) um, das wiederum in einer noch weiter vereinfachten Form als Artikel in Reader's Digest publiziert wurde und schliesslich seine einfachste Form in der Publikation eines Comic fand.

4 Abendroth zufolge untersucht die politische Wissenschaft die Bedingungen der Entstehung politischer Macht, ihre Institutionen sowie deren Wirksamkeit. Im Zentrum stehen Probleme der politischen Willensbildung, wobei diese in engem Zusammenhang mit der politischen Theorie steht, weil die Menschen die Resultate ihres Handelns den-kend antizipieren können. Als politisch wird dabei im Gegensatz zum Alltagsverständ-nis jede gesellschaftliche Aktivität verstanden, die die Struktur der Gesellschaft und da-mit die Machtverteilung zwischen sozialen Gruppen verändern oder stabilisieren will. Mit diesem nicht auf den Staat und den politischen Willensbildungsprozess im engeren Sinne reduzierten Verständnis wird der gesellschaftswissenschaftliche Charakter der Politikwissenschaft begründet, der im Begriff der politischen Soziologie zum Ausdruck kommt. Eine so verstandene politische Soziologie ist praxisbezogen, weil die politische Praxis ihren Gegenstand bildet, in deren Dienst sie sich mit ihrer Analyse stellt oder auf deren Veränderung sie zielt. Dabei ist Politik »ihrem Wesen nach kontrovers, weil sie auf Herrschaftserhaltung oder Herrschaftsaufhebung gerichtet ist« (Abendroth 1967: 11). Ein wissenschaftlicher Objektivitätsanspruch kann daher nicht durch (fiktive oder

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Während die intellektuelle Führungsrolle von organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse ein bisweilen heiß diskutierter Gegenstand linker (Partei-bzw. Bewegungs-)Theorie darstellt, herrscht im Hinblick auf die Bourgeoi-sie bzw. das Kapital eine instrumenteile Sicht der Intellektuellen vor, mit der kein hinreichendes Verständnis der relativen Autonomie der (bürgerlichen) Intellektuellen zu erlangen ist. Anhand einer kritischen Analyse neoliberaler Intellektueller und ihrer Organisationen in der Zivilgesellschaft (societd ci-vile) - Klubs, Netzwerke, Stiftungen, Think Tanks u.a. - kann demgegen-über gezeigt (und reflektiert) werden, wie dezidiert und selbstbewusst neo-liberale Akteure kontinuierlich in gesellschaftliche Transformationsprozesse eingreifen und diese mitgestalten. Längst ist die Zeit vorbei, in der »selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesell-schaft kein fester Krystall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.«5 Weil und seit diese Erkenntnis sowie die Einsicht in die Grenzen einer bloß repressiven Gewalt in den Köpfen der Herrschenden sowie der bürgerlichen Intellek-tuellen immer klarer wurde, bildeten die selbstbewusst herrschenden Klas-sen und ihre organischen Intellektuellen ein zunehmend professionelleres Verständnis dessen aus, was im intellektuellen Feld zu leisten ist, um den gesellschaftlichen Wandel in ihrem Sinne zu beeinflussen oder diesen zu lenken. Das neoliberale Verständnis solcher Interventionen ist dabei nicht mit dem konservativen zu verwechseln, weil im Ersteren die Einsicht reifte, dass vieles, wenn nicht alles verändert werden muss, damit alles so bleibt

fingierte) Neutralität, wohl aber durch Kennzeichnung des Standortes und unverhüllte Parteinahme, die sich damit zur Diskussion und der Kritik stellt, reklamiert werden.

5 Die Passage aus dem Vorwort zum ersten Band Das Kapital von Marx sei hier aus-führlich zitiert: »Die auswärtigen Vertreter der englischen Krone sprechen es hier mit dürren Worten aus, daß in Deutschland, Frankreich, kurz allen Kulturstaaten des euro-päischen Kontinents, eine Umwandlung der bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich ist als in England. Gleichzeitig erklär-te jenseits des atlantischen Oceans Herr Wade, Vicepräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, in öffentlichen Meetings: Nach Beseitigung der Sklaverei trete die Umwandlung der Kapital- und Grundeigenthumsverhältnisse auf die Tagesordnung! Es sind dies Zeichen der Zeit, die sich nicht verstecken lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten. Sie bedeuten nicht, daß morgen Wunder geschehen werden. Sie zei-gen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung -aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Krystall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.« (Das Kapital, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage [1867], MEGA II.5: 14; MEW 23: 16)

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wie es ist.6 Allerdings gibt es viele Berührungspunkte und z.T. große Über-lappungen zwischen neokonservativem und neoliberalem Denken. Einen breiten gesellschaftlichen Durchbruch konnte jedoch nur die neoliberale Weltanschauung schaffen, weil in der Hervorhebung des Individuums auch durchaus progressive Elemente aufgehoben sind (z.B. Toleranz gegenüber Homosexualität, Abtreibung und »Drogen«).7

Organisierte Wissensgemeinschaften und Think Tanks versuchen immer stärker, politische und gesellschaftliche Debatten zu beeinflussen. Seit den 1970er Jahren richten Think Tanks und Public Relations-Agenturen ihre Aktivitäten vermehrt auf die Einflussnahme und z.T. Steuerung politischer Entscheidungsprozesse im engeren Sinne. Es ist ein erklärtes Ziel dieser Ak-teure, die Distanz zwischen Wirtschaft und Politik zu »überwinden«. Aus der Sicht kapitalistischer Interessen ist das Verwischen der Grenzen zwi-schen den Bereichen Wirtschaft und Politik gewollt, vor allem auch des-wegen, weil unter neoliberalem Einfluss Wirtschaftskräfte weitreichender bestimmen können, was zu tun bzw. zu unterlassen ist. Bezüglich des insbe-sondere im Globalisierungsdiskurs immer wieder konstatierten Sachzwangs, dem gemäß sich die Politik kapitalistischer Rationalität zu fügen habe, wäre von kritischer Seite zu erwidern, dass eine klarere Trennung beider Bereiche erst wieder demokratische Einflussmöglichkeiten begünstigen kann. Denn wenn die Politik weitgehend ökonomischen Rationalitäts- und Erfolgskri-terien unterworfen wird, wird die ihr eigene Logik alternativer Gestaltungs-optionen trotz Beibehaltung demokratischer Institutionen und Prozeduren erheblich eingeschränkt. Der demokratische politische Prozess wird desar-

6 Tancredi, der Neffe des Fürsten Bendicö, sagt seinem Onkel in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo - der deutsche Titel Der Leopard ist eine falsche Übersetzung und führt zu falschen Assoziationen von einer mächtigen und erhabenen Fürstenfamilie; richtig wäre mit Der Serval oder Der Ozelot zu übersetzen, also einer kleinen Raubkatzenart - die oft zitierten Worte: »Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« (Tomasi di Lampedusa 1958: 21)

7 Bei der Analyse der gegenwärtig herrschaftssichernden intellektuellen Allianz in den Vereinigten Staaten (Bush-Administration), die neoliberale Kräfte und die religiöse Rechte umfasst, wird in dieser Hinsicht der strategische Charakter von Diskurskoaliti-onen offensichtlich. Obwohl die neoliberalen Positionen zu Drogen- und Geschlech-terfragen den Positionen der religiösen Rechten mitunter diametral entgegengesetzt sind, werden diese von den säkular-neoliberalen Kräften in der Öffentlichkeit (vor allem in Wahlkampfzeiten) bestenfalls sehr zurückhaltend vertreten, um eine Massen-mobilisierung für die neoliberale Wirtschaftspolitik durch die Mobilisierung von Geg-nern von Abtreibung und Homo-Ehe nicht zu gefährden.

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tikuliert, und das Gefühl der Ohnmacht verstärkt sich gerade bei denen, die ohnehin schon über wenig gesellschaftliche Macht verfügen. Letzteres ist u.a. ein Nährboden für sexistische, nationalistische oder rassistische Ressen-timents. Letzten Endes gipfeln die Auswirkungen neoliberaler Politik in der Aushöhlung demokratischer Prozeduren und Beteiligungsformen (im Sinne von Hayeks Verständnis einer »beschränkten Demokratie«). Behaupten und durchsetzen kann sich dann letztendlich nur, wer über entsprechendes Kapi-tal, mit diesem verbundene Kompetenzen und Beziehungsnetze verfügt.

2. »Ideen haben Konsequenzen« (Richard Weaver)

Die Durchsetzung neoliberaler Hegemoniekonstellationen und die in diesen Zusammenhängen erheblich erweiterte Wirkmächtigkeit der neoliberalen Ideologien während der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte (vgl. Plehwe/ Walpen/Neunhöffer 2006) stellt die Frage nach der Macht der Wissensstruk-turen (Ideen) und verweist auf das Problem des Verhältnisses von Wissen-schaft und Ideologie. Ähnlich wie im Marxismus nimmt auch im Neolibe-ralismus die wissenschaftliche Arbeit eine wichtige Stelle ein. Zahlreiche Ideologeme werden im Neoliberalismus wissenschaftlich bearbeitet oder gar in die Wissenschaften transferiert. Zugleich werden aber ernsthafte Probleme durchaus wissenschaftlich und mitunter sehr aufwendig und anspruchsvoll behandelt. Von diesen Arbeiten sind wiederum einige selber ideologieförmig (vgl Plehwe/Walpen 1999). Dem Neoliberalismus generell Wissenschaftlich-keit abzusprechen und ihn einfach auf eine Ideologie zu reduzieren, wird der Problematik unterdessen kaum gerecht.

Eine solche Abwehr trägt wenig dazu bei, das Ideologische der neoliberalen Wissenschaft genauer herauszuarbeiten und stellt dann und deshalb letzt-lich nur eine Behauptung dar. Zudem muss geklärt werden, welche Wis-senschaft der neoliberalen Wissenschaft gegenüber zu Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. Letztlich geht kein Weg an der Er-kenntnis vorbei, dass es sich immer um ein Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftspolitischem Standpunkt im Sinne Wolfgang Abendroths (1967) handelt, dem sich jede Wissenschaft reflexiv stellen muss, selbst wenn Wis-senschaftlerinnen kaum umhinkommen, andere von ihrer Wahrheit zu über-zeugen. Jedenfalls ist es wenig hilfreich, im Rahmen einer Dichotomie von Ideologie und Wissenschaft (= Wahrheit) zu arbeiten, weil damit der prinzi-pielle politische Charakter des Wissens und der Wissenschaft verkannt wird

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bzw. der oft leicht geäußerte Vorwurf der Ideologie als hilfloser Vorwurf verwendet wird. Theoriegeleitete empirische Analysen sind u.E. notwendig, um zu einem besseren Verständnis des Neoliberalismus zu kommen, was wiederum ein wichtiges Moment emanzipativer Praxis ist. Daher wenden wir uns nun einem weltanschaulich und letztlich gesellschaftspolitisch ziel-strebigen neoliberalen Netzwerk von Intellektuellen und Think Tanks zu. Dabei sind nicht zuletzt die hochgradig organisierten Zusammenhänge einer Vielzahl von zum Teil sehr unterschiedlichen Personen, Organisationen und Institutionen von Interesse, mit und über die wissenschaftspolitischer Ein-fluss entwickelt werden konnte.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg von William E. Rappard, Friedrich Au-gust von Hayek, Milton Friedman und anderen gegründete Mont Pelerin Society spielte eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung von Organisationen, die die Bereiche des Wissens, des Alltagsverstandes und schließlich der Po-litik in neoliberaler Perspektive verändern wollten. Am Beispiel MPS und der von vielen MPS-Mitgliedern gegründeten Think Tanks kann allgemei-ner erörtert werden, inwiefern normative Grundlagen und Denkprinzipien als Hintergrundwissen von Wissenschaftlern und Intellektuellen bewusst und kollektiv entwickelt werden, um darauf aufbauendes Wissen in einem breiten Themenspektrum (z.B. der Wirtschaftspolitik und der Europäischen Integration) bisweilen mehr, bisweilen weniger erfolgreich in die öffentliche Diskussion einzubringen.

Die Genese des Neoliberalismus lässt sich bis in das Jahr 1938 zurück-verfolgen. Das philosophische und wissenschaftspolitische Vorhaben wurde erstmals auf einer Konferenz konkretisiert, die anlässlich des Erscheinens von Walter Lippmanns Buch The Good Society in Paris organisiert wurde. Es richtete sich sowohl gegen die traditionelle liberale Vorstellung des Lais-ser-faire als auch gegen kollektivistische Ansichten und wurde dort auf den Begriff des Neoliberalismus gebracht. Im Anschluss an das Walter-Lipp-mann-Kolloquium wurde der Aufbau eines internationalen Netzwerks von Intellektuellen geplant, dessen organisatorische Infrastruktur über einen Think Tank bewerkstelligt werden sollte: dem Centre International d'Études pour la Renovation du Libéralisme mit Büros in New York, London und Genf. Der Zweite Weltkrieg setzte diesem ersten Anlauf zur Gründung ei-ner neuartigen »neoliberalen Internationale« indes ein jähes Ende. Konfe-renzteilnehmer in Paris waren unter anderen Hayek, Wilhelm Röpke, Louis Rougier, Jacques Rueff, Michael Polanyi und Ludwig von Mises, die führen-den Köpfe der schließlich 1947 ins Leben gerufenen Mont Pelerin Society.

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Intellektuell und programmatisch stand von Hayek im Zentrum der Ini-tiative. In seiner Schrift aus dem Jahr 1949 Die Intellektuellen und der Sozia-lismus begründete er die Notwendigkeit , den Kampf um die Köpfe der Eli-ten aufzunehmen. Beeindruckt von Keynes' Verdikt, wonach die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen einflussreicher sind als gemeinhin angenommen, weil die Politiker »Sklaven des Denkens längst verblichener Ökonomen« (Keynes 1936: 323) seien, konstatierte von Hayek zunächst ei-nen Niedergang der Rolle von echten Experten, deren autoritative Rolle in Wissenschaft und Politik durch eine neue Klasse von intellektuellen »second hand dealer in ideas« (Hayek 1949: 222) beschränkt werde.

Hayek erläuterte und beklagte zugleich die mit der Multiplikation von Organisationen in Wissenschaft, Publizistik und Medien einhergehende Ver-schiebung der Kontrolle über autoritatives Wissen. Weil das intellektuelle Personal der Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen im Zuge der Aus-weitung der höheren Bildung zunehmend aus den Mittelklassen rekrutiert werde, gelangten ihm zufolge Intellektuelle, die dem Sozialismus nahe stan-den, an die Schaltstellen der gesellschaftlichen Diskurse. Sie seien aufgrund ihrer beruflichen Positionen einflussreicher als die klassischen Experten und als die liberalen Eigentümer der Medienkonzerne. Hayek stellte darüber hinaus aber auch einen inhaltlichen Kompetenzverlust der liberalen Exper-ten fest, denen sozialistische Experten in vielen Fragen den Rang abgelaufen hätten. Im Kern begründete er mit seiner Analyse das, was sich als offizielles Kernprogramm der MPS herauszuschälen begann: Es galt zunächst, in einer internationalen Akademie neoliberale Akademiker und ausgewählte Prak-tiker aus vielen Disziplinen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Insti-tutionen zu versammeln. Das Ziel bestand darin, fern vom tagespolitischen Geschehen kollektives Debattieren und Lernen in neoliberalem Rahmen zu ermöglichen, um wieder Anschluss an die sozialistische Konkurrenz zu fin-den.

Auch dem in der Schweiz lehrenden deutschen Ökonomen Wilhelm Röp-ke kam eine Schlüsselfunktion zu. Röpke begründete die neoliberalen Or-ganisationsanstrengungen inhaltlich mit der unumkehrbaren Politisierung der Wirtschaftswissenschaft in der Massengesellschaft. Röpke benannte das zweifache inhaltliche Anliegen der neoliberalen Gruppierung besonders deutlich. Es galt zum einen, den »Kollektivismus« wirksam zu bekämpfen. Zum anderen war der klassische Liberalismus zu überwinden, dessen na-turalistisches Marktverständnis, harmonisches Gleichgewichtsdenken und dualistische Konzeption von Markt und Staat im Gefolge der Großen De-

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pression nach dem Börsenkrach von 1929 als gescheitert angesehen werden mussten (vgl. Zmirak 2001).

Das Neue des Neoliberalismus bestand somit im Kern in einem politischen Verständnis der Zusammenhänge von Staat und Markt, das mit der Akzep-tanz einer erweiterten Funktion des Staates einherging. Dessen Hauptauf-gabe wurde von neoliberaler Seite im Gegensatz zur Laisser-faire-Doktrin darin gesehen, die kapitalistische Marktökonomie, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Mobilitätschancen positiv zu sichern. Dies indiziert eine deutliche Abkehr vom klassisch liberalen Staats- und Freiheitsverständnis (»negativ«: nicht Einmischung), das wiederum nur vor dem Hintergrund des Kampfes des aufstrebenden Bürgertums gegen den absolutistischen Feu-dalstaat verständlich wird. Das neue positive Verständnis begründete und implizierte jedenfalls einen keineswegs marginalen Staatsinterventionismus. In diesem Kontext werden die vielfach geäußerten Vorbehalte von Neoli-beralen gegen die parlamentarische Demokratie ebenso interessant wie die feinsinnige Unterscheidung Hayeks zwischen einem autoritären Staat, den er bisweilen für erforderlich hielt, und einem totalitären Staat, den er in jeder Hinsicht ablehnte. Die parlamentarische Demokratie und die Koalitions-freiheit gehören jedenfalls nicht zum schriftlich fixierten neoliberalen Mi-nimalkonsens des auf dem Gründungstreffen 1947 verabschiedeten und bis heute nicht geänderten Statement of Aims der MPS. Dieses vom britischen Ökonomen Lionell Robbins verfasste (wissens-)politische Grundsatzpro-gramm der MPS verdient Beachtung, weil es die normativen Grundlagen und Denkprinzipien der neoliberalen Intellektuellen fixierte, auf deren Basis sich die weit verzweigten Aktivitäten des neoliberalen Lagers innerhalb und außerhalb der MPS entwickelt haben.

Vor diesem Hintergrund ist die weit verbreitete Kritik am Neoliberalis-mus unzutreffend, der häufig auf Marktradikalismus und Anti-Etatismus reduziert wird. Unter Punkt 2 der Grundsatzerklärung wird demgegenü-ber die Aufgabe der »Redefinition der Funktionen des Staates zur klareren Unterscheidung zwischen totalitären und liberalen Ordnungen« zum Pro-gramm erhoben, also keineswegs die Abschaffung oder einfache Minimie-rung des Staates propagiert. Unter Punkt 4 wird die Verständigung über sozi-ale Mindeststandards angemahnt, die in neoliberalem Grundsatzverständnis allerdings nicht in Gegensatz zur »Initiative« und zur »Funktionsweise des Marktes« geraten dürfen.

Philosophische Grundsatzfragen nahmen kontinuierlich einen großen Raum auf den 32 General Meetings ein, die zwischen 1947 und 1998 statt-

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fanden. Die bemerkenswerte Themenvielfalt, aber auch -kontinuität lassen sich leicht anhand der vom Liberaal Archief in Gent verfassten Dokumenta-tion der MPS-Konferenzen nachvollziehen (http://www.liberaalarchief.be/ MPS2005.pdf). Immer wieder ging es darum, die erarbeiteten neoliberalen Grundlagen auf konkrete wissenschaftliche Disziplinen und Themenfelder zu beziehen (zum Beispiel Liberalismus und unterentwickelte Länder, Libe-ralismus und Christentum, Liberalismus und Europäische Integration; vgl. Plehwe/Walpen 2006: 33-40). So schloss der Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung Carlo Mötteli seine Zusammenfassung der Diskussion über das Thema Liberalismus und unterentwickelte Länder auf der 1951 im franzö-sischen Beauvallon abgehaltenen MPS-Konferenz folgendermaßen: »But while the old system of laisser faire, laisser aller is as much out of the questi-on in underdeveloped areas as elsewhere, hope exists that the principles and policies of neoliberalism will find a promising field of activity and develop-ment there.«

In den 1950er Jahren wurde in der MPS heftig über die Frage gestritten, ob die Organisation sich in der Öffentlichkeit politisch enthalten sollte, wie es die Grundsatzerklärung vorgesehen hatte. Anfang der 1960er Jahre hatte sich eine Mehrheit für die Einschätzung gefunden, die von Walter Lippmann in den 1930er Jahren formuliert und von Hayek aktualisiert worden war, wonach ein grundlegendes neoliberales Umdenken in der Gesellschaft nur in einer langfristigen, sich über mehrere Generationen erstreckenden Perspek-tive erreicht werden könne (vgl. Walpen 2004: Kap. III). Eine Strategie zur öffentlichen Intervention existierte gleichwohl; sie sollte aber mittelbar und dezentral erfolgen und sich nicht im politischen Alltagsgeschäft erschöpfen. So kristallisierte sich im Laufe der Zeit als zweiter, inoffizieller Aufgabenbe-reich der MPS die Gründung und Entwicklung eigenständiger Institutionen heraus, die zur Verbesserung der öffentlichkeitswirksamen Vermittlungs-chancen neoliberaler Perspektiven beitragen sollten.

Von Mitte der 1950er Jahre an gelang es, über den britischen Geschäfts-mann aus dem Kreis der MPS, Sir Anthony Fisher, neoliberale Think Tanks zu gründen. Diese stellen sich als unabhängige und überparteiliche quasi-wissenschaftliche Institutionen dar, unterscheiden sich aber in vieler Hin-sicht von der wesentlich pluralistisch verfassten akademischen Forschung. In Deutschland werden von mit MPS-Mitgliedern verbundenen Think Tanks, wie dem Kronberger Kreis/Frankfurter Institut-Stiftung Markt-wirtschaft, die Ergebnisse der neoliberal ausgerichteten akademischen For-schung unter Marketing-Gesichtspunkten verbreitet, also zielgruppen- und

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medienspezifisch publiziert. Der Kronberger Kreis griff zum Beispiel mit prägnanten Mehr Mut zum Markt-Traktaten seit den 1980er Jahren in die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über verschiedene Themen ein, wie Sozialversicherung, Arbeitsmarkt und Steuerpolitik. Nach dem Einstieg mit dem Institute of Economic Affairs in London stieg die Zahl bis heute auf weltweit mehr als 100 Think Tanks, an deren Arbeit MPS-Mitglieder in führenden Positionen beteiligt sind. Knapp 150 Mitglieder der bis heute insgesamt mehr als 1.000 Mitglieder umfassenden Organisation sind oder waren bei einem Think Tank beschäftigt.

Die weltweite Vernetzung neoliberaler Intellektueller und ihre organisa-torische Infrastruktur können mit den bisherigen Konzepten zur Diskussi-on wissenspolitischer Akteure nicht hinreichend erfasst werden, weil sie so-wohl grundsätzlicher als auch umfassender angelegt sind. Zur Erforschung von Reichweite und Grenzen der wissenschaftlichen und wissenschaftspo-litischen Einflussnahme der MPS schlagen wir daher die Kategorie einer transnationalen Weltanschauungsgemeinschaft bzw. einer Meta-Diskursge-meinschaft vor. Verschwörungstheoretische Deutungen und Einschätzun-gen verbieten sich für das präzise erfassbare neoliberale Lager. Das Gleiche gilt für die mit dem Neoliberalismus konkurrierenden Zusammenschlüsse. Im Lager der linken Globalisierungskritiker und bei kommunitaristisch in-spirierten Intellektuellen-Netzwerken lassen sich ähnliche Entwicklungen beobachten. Den Organisationsanstrengungen der neoliberalen MPS kann jedoch eine Vorreiterrolle attestiert werden. Die Messung des Einflusses von Ideen im Allgemeinen und von weltanschaulich geprägten »Denkkol-lektiven« (Ludwig Fleck) im Besonderen stellt die vergleichende Sozialfor-schung vor schwierige Aufgaben. Während der Erfolg einer »epistemischen Gemeinschaft« in einem Themengebiet mit sozialwissenschaftlichen Metho-den mitunter anschaulich dokumentiert werden kann (vgl. Haas 1992 zum Ausstieg aus der FCKW Produktion), verbietet sich im Hinblick auf viel breiter arbeitende weltanschauliche Denkkollektive eine themenunspezifi-sche Generalisierung aufgrund der Vielzahl von bearbeiteten Sachthemen, Konflikt- und Akteurskonstellationen. Gleichzeitig reicht der Einfluss von Weltanschauungsgemeinschaften zweifelsohne viel weiter, weil deren Arbeit viel breiter, umfassender und langfristiger angelegt ist, jedenfalls nicht auf die wissenschaftliche Arbeit beschränkt wird.

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3. Das neol ibera le Denkkol lek t iv

Einem individuell-erkenntnistheoretischen Standpunkte bleibt unser Pro-blem [der wissenschaftlichen Entdeckungen] unlösbar. Will man eine Ent-deckung als solche untersuchbar machen, so muß man sich auf den sozialen Standpunkt stellen: d.h. sie als soziales Geschehen betrachten.

Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935: 102)

Um die neoliberalen Intellektuellen zu analysieren, kann prinzipiell auf eine ganze Reihe von Forschungsansätzen und -arbeiten zurückgegriffen werden. Einen Ansatz im Marxismus liefert Leo Kofler. Er hat auf den kritischen Aspekt marxistischer Forschung über die Intellektuellen und Eliten hinge-wiesen: »Es gehört zur kritisch-marxistischen Arbeit, die Schicht der herr-schenden bürgerlichen Klasse zu analysieren, ohne die die Entwicklung und Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft nur unzureichend verstan-den werden kann: die bürgerliche E[lite]. Darunter versteht man keineswegs eine fest organisierte Schicht der Bourgeoisie, sondern eine in einem weit-läufig vermittelten Verhältnis zur scheinbar allein herrschenden politischen Führungsschicht stehende, sich durch Reichtum und Muße auszeichnende amorphe Gruppe.« (Kofler 1997: 270) Diese Aufgabenstellung ist wichtig, um den gesellschaftlichen Ort der neoliberalen Intellektuellen zu bestimmen und dabei genauer hinzusehen, wo sie sich selbst positionieren, was für einen Lebensstil sie führen und an wen sie sich in ihren Texten und Reden richten, wo sie öffentliche Reden halten und wie sie insbesondere über ausgebeutete, unterdrückte und arme Menschen sprechen. Adressaten sind mehrheitlich die Mitglieder der herrschenden Klasse (seien das neokonservative oder ne-oliberale Toppolitiker/-innen, die Oberaufsicht (sprich: Management) der Firmen und Konzerne, Konzernbesitzer, Grossaktionäre, wichtige Funktio-näre internationaler Organisationen u.a.), Intellektuelle und Studierende (als Zukunftsgeneration). Alltagsprobleme werden kaum thematisiert und wenn, dann meist sehr abstrakt. Strukturell bedingte Ungerechtigkeit wird be-schwiegen und immer wieder als je individuelles Problem - insbesondere als eines der Leistungsbereitschaft resp. -Verweigerung - reartikuliert und damit als persönliches Verschulden abgetan. Die individualistische Perspektiven-verengung bringt es auch mit sich, dass gerne einzelne Erfolgsgeschichten nach der Vom-Tellerwäscher-zum Mil l ionär-Szenographie dargeboten wer-den. Die Welt, die die meisten neoliberalen Intellektuellen bereisen und

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bewohnen, sind inzwischen Nobelhotels und -ferienorte, die »gated cora-munities«, die Topwohnlagen usw. Slums, Favelas, städtische »Problem«-Quartiere und das entsprechende Alltagsleben der Menschen dort kennen sie von den Medien her, kaum aus eigener Erfahrung.8 Das Komplementär-stück zur individualistischen Perspektive ist der Massen-Diskurs (vgl. Orte-ga y Gassets Aufstand der Massen). Die Masse vereinigt Bedrohung, Chaos, Revolution, Gier, Neid usw. Kurz: Die neoliberalen und neokonservativen Intellektuellen positionieren sich selber im Bereich der herrschenden Klasse im Sinne Kofiers und üben ihre Tätigkeiten organisch für diese aus (oder streben dies an), was nicht heißt, dass sie unkritisch alles gutheißen, rechtfer-tigen oder schönreden, was diese tut und sagt.

Herrschaftskritisch wären die oben gemachten Ausführungen empirisch noch ausführlich darzulegen. Diese Blickrichtung auf die neoliberalen Intel-lektuellen bestimmt vor allem ihren spezifischen gesellschaftlichen Ort, den Bezug zu den Klassen und die materiellen Vorteile, die aus ihren spezifischen Tätigkeiten als Tuis (Bertolt Brecht) entstehen. Genauso wichtig ist es aber, das wissenschaftliches Denken, den Alltagsverstand und das neoliberale Imaginäre zu analysieren. Die genauere Beschäftigung mit dem neoliberalen Denken erfolgt der praktischen (Aus-)Wirkungen wegen. »Zu jedem Denk-stil parallel verläuft dessen praktische Auswirkung: die Anwendung.« (Fleck 1935: 137) Um solche Zusammenhänge untersuchen zu können, bietet sich Ludwig Flecks Arbeit Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache an. Sie wurde in jüngster Zeit z.B. von Jürgen Nordmann (2005) als zentraler Bezugspunkt kritischer Neoliberalismusforschung gewählt. Fleck bietet sich für eine wissenschaftstheoretische und wissenssoziolo-gische Reflexion des Neoliberalismus an, weil er nicht nur die wissenschaft-liche Innenperspektive verfolgt, sondern Wissenschaft auch in Beziehung zur Gesellschaft untersucht. Das wird u.a. dort deutlich, wo er über einen »kleine[n] esoterische[n] und ein[en] größere[n] exoterische[n] Kreis« (Fleck 1935:138) schreibt und auch auf die Wirkung der öffentlichen Meinung (139)

8 Aufgrund des von uns gesichteten Archivmaterials gelangen wir zu dieser Schluss-folgerung. Am Beispiel der MPS-Mitglieder kann beobachtet werden, wie sich diese in den ersten beiden Jahrzehnten schnell in die gesellschaftlichen Regionen von »Reich-tum und Muße« (Kofler) bewegten. Die Anfangszeit zeichnete sich für etliche Mit-glieder noch durch einen »bescheideneren« Lebensstil aus. Es ist u.a. diese Welt des Renommees, der Annehmlichkeiten, Muße und des Reichtums, die auf zahlreiche junge Intellektuelle eine Attraktionskraft ausübt. Durch die Einübung des »richtigen« Denk-stils, Fleiß und das Bekenntnis zu den neoliberalen Zielen können Intellektuelle in diese Welt gelangen. Verallgemeinerungsfähig ist diese Welt nicht.

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eingeht. Zudem werden auch die Medien in ihrer Wirkungsweise behandelt: »das gedruckte Wort, das Kino und das Radio ermöglichen die gedankliche Wechselwirkung innerhalb der Denkgemeinschaft und den Zusammenhang zwischen den esoterischen und exoterischen Kreisen, trotz aller Entfernung und trotz geringen persönlichen Verkehres.« (141) Was Fleck gerade für die Analyse der MPS interessant macht, ist sein klarer Blick auf Aspekte wie das »Gefühl der Denksolidarität im Dienste einer überpersönlichen Idee«, die »gemeinsame Stimmung« oder gar die »Stimmungskameradschaft« (140).9

Zudem ist, wie Steve Füller (2000: 19, Fn. 40) richtig bemerkt, Flecks Ansatz hervorragend geeignet, um Mentalitätsfragen zu untersuchen.

Im Rahmen dieses Artikels möchten wir uns daher, aber auch aufgrund von einigen uns problematisch erscheinenden Aspekten von Flecks Konzep-tion, eingehender mit seinem Ansatz beschäftigen. Fleck verdeutlichte seine Theorie an einem Beispiel aus der medizinischen Forschung zur Syphilis. Dabei konnte er zeigen, wie die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Gesellschaft verknüpft ist und auch, dass ein naturwissenschaftlicher Denkstil durchaus von mythologischen Diskursen oder vom »Aberglau-ben« abhängen kann. Insofern unterscheiden sich Natur- und Sozialwis-senschaften nicht grundsätzlich. Gleichwohl kommen aber die Sozialwis-senschaften nicht umhin, Flecks Arbeit auf ihre spezifischen Bedingungen hin kritisch durchzuarbeiten. Z.B. müsste die Bedeutung von Experimenten genau untersucht und bestimmt werden.

Fleck ordnet einem Denkkollektiv genau einen Denkstil zu. Anknüpfend an Fleck kann im Hinblick auf die Mont Pélerin Gesellschaft von einem neo-liberalen Denkkollektiv, das einen neoliberalen Denkstil entwickelt, gespro-chen werden. Diese Bestimmung ist tragfähig, wenn weiterhin im Anschluss an Fleck der Denkstil weiter gefasst ist als eine Wissenschaft (vgl. 1935: 137) und die inhaltliche wie begriffliche Bestimmung relativ abstrakt gefasst wird. In dieser Perspektive umfasste der neoliberale Denkstil den Markt, das Kon-kurrenzprinzip und das Preissystem als jene Stilelemente, die zur Auflösung von Problemstellungen führen. Weil sich darüber hinaus weitere Elemente des Neoliberalismus bestimmen lassen, z.B. »individuelle Freiheit«, rule of law und »beschränkte Demokratie«, so zeigt sich schnell, dass Fleck folgend eine exakte Zuordnung von Denkkollektiv und Denkstil problematisch ist, wenn wir einige weitere Ausführungen Flecks zum Denkstil in Betracht zie-

9 So betont z.B. das MPS Mitglied und Haushistoriker Ronald Max Hartwell mehr-fach die »camaraderie« in der MPS (1995: 216, 218, 226).

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hen. Die Wahrheit ist Fleck zu Folge »innerhalb eines Denkstils vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektiv an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschie-denen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.« (131) Wird der Denkstil so eng gefasst, dass er auf den einzelnen Gedanken bezogen genau zu einer Auflösung des Wahr-Falsch-Kriteriums führt, so vermag er wiederum nicht den Diskussionsprozess und die soziohistorische Dimension des Denkkollektivs zu erfassen, wie sie Fleck selbst eingeführt hat: »Definieren wir >Denkkollektiv< als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besit-zen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonde-ren Denkstiles.« (55)

Um vom (neoliberalen) Denkkollektiv und Denkstil sprechen zu können, ist es wichtig, den Widerspruch zwischen Flecks statischen Identitätsannah-men einerseits und seinen Einsichten in dynamische Entwicklungsprozesse andererseits aufzulösen. Dazu muss erstens die insgesamt engräumige Be-trachtungsweise von Fleck überwunden (vgl. Füller 2000: 19, Fn. 40) und zweitens neben den zentralen Begriffen auch der Erkenntnisprozess genauer untersucht werden, der auch bei Fleck selbst die Individuen A und B über-steigt: »Ob Erkenntnisse vom individuellen Standpunkte Wahrheit oder Irr-tum, ob sie richtig oder mißverstanden scheinen, sie wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten.« (Fleck 1935: 58; vgl. 85) Die Lehren, die den Denkstil bilden, unterliegen »fortwährender Veränderung« (85). Gerade weil Denken und Erkennen »soziale Gebilde katexochen« (58) sind, ist das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1845, 6. These über Feuerbach, in: MEW 3: 6) in der je spezifischen Ausprägung mit seinen Antagonismen und Widersprüchen genauer zu analysieren. Fleck verstand zudem das Indivi-duum, ähnlich wie Brecht, durchaus als komplex verfasst: »Ein Individuum gehört eben mehreren Denkkollektiven an« (Fleck 1935: 61). Die Bestim-mung des Denkstils durch Fleck ist aber insgesamt zu wenig kohärent, wenn er z.B. sagt: »Denkstil ist nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden. Er ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für sol-

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ches und nicht anderes Sehen und Handeln.« (85) Erst durch die genauere Untersuchung und Bestimmung der jeweiligen Begriffsfärbung und -verbin-dung sowie durch das Herausarbeiten der spezifischen (hier: neoliberalen) Bereitschaft für das Sehen und Handeln der Akteure wird es letztlich mög-lich, den Neoliberalismus trotz unterschiedlicher Ansätze und Strömungen unter einem Begriff zu fassen, ohne dass damit vieles oder gar alles zu grob über denselben Kamm geschoren wird (vgl. zum bisweilen großen Dissens innerhalb des neoliberalen Denkkollektives Walpen 2004).

Die aufgezeigten Widersprüche in Flecks Verständnis, vor allem den Denkstil betreffend, können paradoxerweise mit dem wissenschaftssoziolo-gischen Denkstilverständnis von Karl Mannheim überwunden werden, ob-wohl dieser in seiner späteren Wissenschaftssoziologie hinter das bei Fleck entwickelte soziale Verständnis von Wissenschaft und Intellektuellen zu-rückfällt (Konrad/Szelenyi 1979, vgl. Hull 2006 zu Mannheims Begründung eines »freischwebenden« Intellektuellen u.a. als Reaktion auf die Begründung eines marxistischen Rationalitäts- und Wahrheitsanspruches durch Lukäcs). Karl Mannheim beschäftigte sich mit der Thematik Stil und Denkstil früher als Fleck. Dieser erwähnt alle bedeutenden Wissenssoziologen seiner Zeit - außer Mannheim (Füller 2000: 19, Fn. 40). Schon in seinem 1922 geschrie-benen, aber nicht publizierten Artikel Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis setzte sich Mannheim mit dem Stil-Begriff auseinander:

»Nicht individual-genetisch, sondern soziogenetisch sind die Gebilde und die dazugehörigen Erkenntniszusammenhänge erfaßt, wenn sie überhaupt als einem Stil angehörig bezeichnet werden. Unter dem Aspekt des >Stiles< einen Formzusammenhang und einen dazugehörigen Erlebniszusammen-hang zu erfassen bedeutet soviel, wie die betreffenden Momente des Werkes und die dazugehörigen Erlebniszusammenhänge nicht dem schöpferischen Individuum, sondern dem dazugehörigen Gruppenerlebnis zuzurechnen.« (Mannheim 1922: 97)

Der von der Rhetorik und Poetik herkommende Stilbegriff (Müller 1998) wurde von Mannheim auf den wissenschaftlichen Bereich übertragen, wobei er eine Verschiebung weg vom Individuum und hin zur Gruppe bzw. dem Sozialen vornimmt. Vom Denkstil spricht Mannheim 1925 (vgl. 1925a) in Anwendung des Begriffes bei seiner Analyse des Konservatismus, geht also weit über das engere wissenschaftliche Feld hinaus:

»Wir sprechen von einem Denkstil im Gegensatz zur bloßen Differenz der Denkrichtungen, wenn es sich bei der wahrnehmenden Verschiedenheit im Denken nicht nur um theoretische Differenzen handelt, sondern wenn

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hinter der aufweisbaren theoretischen Verschiedenheit eine Verschiedenheit der dahinterstehenden Weltanschauungstotalität steht; und wenn, was noch wichtiger ist, eine verschiedene Einstellung und eine verschiedene seinsmä-ßige Beziehung zu dem zu erkennenden Gegenstand aufweisbar ist.« (Mann-heim 1925b: 227, Anm. 5)

Ein Denkstil zeichnet sich durch eine je spezifische Perspektive aus. Das zeigt sich im Diskurs daran, dass bestimmte charakteristische Begriffe, aber auch deren Gegenbegriffe verwendet werden. Ähnlich wie Althusser in seiner symptomatischen Lektüre auf die Leerstelle im Text geachtet hat, so lenkte auch Mannheim bei der Untersuchung eines Denkstils die Auf-merksamkeit auf das Fehlen bestimmter Begriffe.10 Diese Bestimmung von Denkstil erfasst u.E. den Neoliberalismus viel genauer, als es die letztlich auf den wissenschaftlichen Bereich eingeengte Begriffsverwendung von Fleck tut. Ausgehend von Mannheim kann ein Denkstil durchaus mehrere Denkrichtungen mit unterschiedlichen Theorien und Methoden umfassen, solange eine Weltanschauungstotalität besteht. So können Friedman und Hayek also trotz der z.T. scharfen wissenschaftlichen Differenzen (z.B. im Hinblick auf Geldtheorie und Monetarismus) durchaus ebenso zum neo-liberalen Denkstil gezählt werden wie der deutsche Ordoliberalismus und die Österreichische Schule für Nationalökonomie, obwohl zwischen diesen beiden ökonomischen Denkrichtungen erhebliche Differenzen im Hinblick auf neoklassische Grundlagen (z.B. der Wettbewerbstheorie) bestehen.

Zweifellos ist ein kritischer Rückgriff auf die Arbeiten von Mannheim und Fleck bei den Bemühungen um eine theoretisch genauere Fassung von Denkstilen insgesamt und der spezifischen Analyse des neoliberalen Denk-kollektives, das den neoliberalen Denkstil entwickelt und reproduziert hat, im Besonderen außerordentlich ergiebig. Darüber hinaus sind aber auch Be-griffe und Theorien von Louis Althusser (Überdetermination, das Imagi-näre), Benedict Anderson (imaginäre Gemeinschaft), Cornelius Castoriadis (das Imaginäre) sowie Gramsci (organische Intellektuelle, Alltagsverstand, Weltanschauung u.a.) wichtig, um ein besseres und genaueres Verständnis neoliberaler Diskurse zu erarbeiten. Eine über Fleck und Mannheim hin-ausgehende herrschafts- und kapitalismuskritische Perspektive kommt nicht umhin, sich intensiv mit den vielfältigen Wissensstrukturen (Strange 1988: 115) zu beschäftigen, also neben der Wissenschaft im engeren Sinne u.a. mit

10 Mannheims Denkstil-Ansatz bietet sich deshalb für eine Verknüpfung mit Dis-kurs-/Texttheorien an.

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Überzeugungen, Glauben, Utopien, Wahrnehmungs- und Wissensformen und ihrer spezifischen Artikulation.

Was die wissenschaftlichen Aktivitäten im Neoliberalismus kennzeich-net, sind nicht nur der hohe Stellenwert, der insgesamt den Wissenschaften zukommt, sondern auch die Versuche, über sie Intellektuelle zu rekrutie-ren und von dem neoliberalen Statement of Aims zu überzeugen. Insofern kommt den Einführungen in die Wissenschaften (von den textbooks über Kurzfassungen und Lexikonartikel bis zu den Einführungsseminaren) eine eminente Bedeutung zu:

»Die Einführung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wis-senschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar. Dies ist die Wirkung der Aneignung eines Denkstils.« (Fleck 1935: 137)

Neoliberale Intellektuelle nutzen die mit dem etablierten wissenschaft-lichen Objektivitätsverständnis verbundene Autorität der »Wahrheit« für ihren weltanschaulichen Denkstil. Eine vorgeblich sachlich-neutrale Wis-senschaft dient als Mittel zum Überzeugen, Imponieren und Einwirken auf den Alltagsverstand und die »Masse«. Über zahlreiche Kanäle (Journalismus, Politikberatung, NGOs, Verlage, Parteienvertreter, Medienverantwortliche, Aktivisten, Prediger, Schriftsteller, Feministinnen, Richter usw.) werden neo-liberale Selbstverständlichkeiten in den Gesellschaften vielförmig erarbei-tet und vielstimmig verkündet. Den MPS-Intellektuellen gelang es in den 1950er und 1960er Jahren, den neoliberalen Denkstil - sowohl nach innen als auch nach außen - auszuarbeiten und zu formieren (vgl. Mirowski/Pleh-we). Spätestens seit den 1970er Jahren wurden die engen Grenzen der MPS überschritten. Es entstand ein »stabile[s] oder verhältnismäßig stabile[s]« Denkkollektiv (Fleck 1935: 135)11 des Neoliberalismus. Die Wirkung dieses vielstimmig verkündeten Denkstils werden ab Mitte der 1980er Jahre zu-nehmend »manifester«: »Dieses zusammenhängende Geflecht verleiht der >Tatsachenwelt< massive Beharrlichkeit und erweckt das Gefühl fixer Wirk-lichkeit, selbständiger Existenz der Welt.« (Fleck 1935: 135) Im Gegensatz zu Fleck verortete Gramsci diese Problemstellung innerhalb der Antagonis-men der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Für eine Klasse ist es entscheidend, dass sie »permanent und organisiert den eigenen Glauben

11 Nach F

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unterhält, unermüdlich dessen Apologie wiederholt, jeden Augenblick und immer mit ähnlichen Argumenten kämpft und eine Hierarchie von Intel-lektuellen aufrechterhält, die dem Glauben wenigstens den Anschein der Würde des Denkens verleihen.« (GH 11, § 12: 1390) Die Phase der Apologie ist dann erreicht, wenn »ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem« etabliert ist, »das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht«. Ist es einmal geformt, »so beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechen-den« (Fleck 1935: 40).12 Der Widerstand gegenüber der Kritik ist bei den heutigen neoliberalen Intellektuellen nicht nur denkstilmäßig bestimmt, sondern auch durch den eigenen Glauben und nicht zuletzt durch die gesell-schaftliche Position, die sie als organische Intellektuelle der herrschenden Klasse einnehmen. Was ihr Denken heute, bei aller Vielfalt, auszeichnet, ist der herrschaftsförmige Ansatz zur Durchsetzung ihres Denkens. Diskur-siv wird versucht, einen Marktradikalismus oder gar Marktabsolutismus mit allen möglichen Mitteln als eine fixe Bezugsgröße im Alltagsverstand zu verankern, nur nicht mit partizipatorischen, die betroffene Bevölkerung einbeziehenden Methoden.13 Demokratischen Verfahrensweisen und Politi-ken stehen Neoliberale generell skeptisch gegenüber. Sei es z.B., weil sie da-durch die kapitalistische Ordnung insgesamt bedroht sehen, oder sei es, weil sie den »Massen« zutiefst misstrauen. Modisch gesprochen sind neoliberale Ansätze top-down-orientiert.

12 Ein gutes Beispiel dafür bietet die Beharrungskraft der Angebotsökonomie: Der Ökonom Harry G. Johnson sagte in seinem Vortrag The Keynesian Revolution and the Monetarist Counter-Revolution 1971 (Johnson/Johnson 1978: 183-202) aufgrund von Widersprüchen der monetaristischen Lehre und der ungelösten Arbeitsmarktpro-bleme vorschnell eine Assimilation des Monetarismus mit der keynesianischen Lehre vorher. James Tobin hat versucht, den Gründen für die falsche Vorhersage Johnsons auf die Spur zu kommen: »The flaws Johnson detected have not yet proved fatal. The problems remain, but the failure to solve them has never been an embarrassment. To the contrary, it has become a virtue. In the ten-year interim monetarists, instead of be-ing absorbed into a bland and messy synthesis, have pulled the centre of gravity of the profession toward their positions and their methodology. The credit goes to a second wave of monetarism, a second counter-revolution that has absorbed and breathed new life into the first, a movement both more reactionary and more revolutionary than its precursor« (Tobin 1981: 30). Tobin zufolge liegt diese Entwicklung darin begründet, dass der Monetarismus ein Teil der umfassenderen konservativen Ideologie wurde, die entgegen seiner Einschätzung als wichtiges Element des neoliberalen Denkstils erkannt werden kann.

13 Es ist wichtig anzumerken, dass individuell und z.T. bisweilen gruppenspezifisch auch materielle Zugeständnisse (Stellen, Löhne, Vergütungen, Vergünstigungen u.a.m.) gemacht werden.

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Um ihr Ziel, dem Marxismus und den sozialistischen Parteien und Be-wegungen die (wissenschaftliche) Legitimation zu entziehen, zu erreichen, kamen auch die vehementesten neoliberalen Individualisten - im Bereich der Wissenschaften insbesondere die methodologischen Individualisten - nicht darum herum, Kollektive zu bilden. Ob sie es wollen oder nicht, gilt gerade auch für sie, was Fleck generell zum Denken bemerkte, es ist »eine sozi-ale Tätigkeit katexochen, die keineswegs innerhalb der Grenzen des Indi-viduums vollständig lokalisiert werden kann.« (1935: 129; vgl. Mannheim 1922) Intellektuelle Arbeit ist stets »Gemeinschaftsarbeit« und sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie »eigentliche Kollektivarbeit [ist], bei der es nicht auf die Summation der individuellen Arbeiten ankommt, sondern ein spezielles Gebilde entsteht« (Fleck 1935: 129). Das unterscheidet sie von einer zweiten Form gemeinschaftlicher Arbeit, der additiven, z.B. dem »gemeinsame[n] Heben einer Last« (ebd.).

Die neoliberale Weltanschauung besitzt neben den core principles ei-nen festen Bestand an Denkmustern (principled beliefs), die häufig in bild-haften Formen bzw. metaphorisch zum Ausdruck gebracht werden. James Buchanan (1986) hat das neoliberale Staatsverständnis in seinem Presidential talk auf der MPS-Konferenz in Saint Vincent (Italien) z.B. als unentrinn-bares Sklavenverhältnis zwischen Individuum und Staat veranschaulicht, um für eine neoliberale Reorganisation der Staatlichkeit zu argumentieren, welche die Versklavung des Individuums möglichst gering hält (eher 10 Pro-zent als 50 Prozent). Er wies damit die in der MPS ebenfalls existierenden utopistischen Vorstellungen von libertären und anarchokapitalistischen Strömungen zurück, die seines Erachtens naive Vorstellungen haben von der Möglichkeit einer Vereinigung der Individualisten aller Länder, die nichts zu verlieren haben als ihre Staaten. Solche neoliberalen Denkmuster (eben-so wie die marxistischen, auf die wir hier anspielen) sind offensichtlich im Imaginären verankert. Sie wurden im neoliberalen Denkstil nicht nur zu einer »Denkgewohnheit« , sondern entwickeln trotz manifester Kontrover-sen (z.B. in der staatstheoretischen Debatte) einen »Denkzwang« und ei-nen »ausgesprochene[n] Widerwil le[n] gegen denkstilfremdes Denken« aus (Fleck 1935: 137). Sie sind den Neoliberalen »selbstverständlich« (evident; Althusser) und gerade deshalb schwer kritisierbar. Wissenschaftliche Arbei-ten im Neoliberalismus sind nicht kurzerhand ideologisch, sondern - um einen Begriff Althussers zu verwenden - ideologisch überdeterminiert. Die besten Arbeiten zeigen ein sehr klares Verständnis des Zusammenhangs der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Daraus werden handlungsrele-

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vante Konsequenzen gezogen, gerade auch für die eigene Arbeit der Intel-lektuellen. Weitere theoretische und konzeptionelle Arbeiten sind u.E. daher dringend erforderlich, um den Neoliberalismus und dessen Intellektuellen-Netzwerke und Diskursgemeinschaften und -koalitionen in der spezifischen Artikulation von Wissenschaft, Alltagsverstand und dem Imaginären ge-nauer zu analysieren und besser zu verstehen. Insbesondere auch von litera-tur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten können hierzu wichtige Beiträge geleistet werden, um die kulturellen Dimensionen der neoliberalen Durch-staatlichung (die neoliberal bestimmte Versklavung des Individuums im Sinne Buchanans) bzw. die Reichweite der gesamtgesellschaftlichen Durch-dringung des Neoliberalismus zu ermessen.

Literatur

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Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bde. 1-10, hrsg. v. Klaus Bochmann u.a., Ber-lin/Hamburg 1991 ff. (zit. GH)

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Christoph Lieber Gouvernementalität und Neoliberalismus bei Foucault Zur »Agenda und Non-Agenda« des bürgerl ichen Staates

Nach Gramsci erwies sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beim komplizierten und krisenhaften Übergang zum Fordismus der Staat als der »große Rationalisierer«. Auch seit dem zweiten Strukturbruch des Ka-pitalismus Mitte der 1970er Jahre sind erneut Veränderungen des Staates, der »Staatsaufgaben« unverkennbar. Sprach man in den 1980ern noch vom »schlanken Staat«, kam in den 1990ern das »New Public Management« hin-zu, die neue Sozialdemokratie setzt auf einen »aktivierenden, vorsorgenden Staat« und der Neoliberalismus changiert zwischen einem »market State« und einem »starken« Staat. Auch die Linke versucht seit den 1980er Jah-ren bis heute in immer wieder neuen Anläufen und auch Rückgriffen auf Debatten der 1970er Jahre zu einer modernen, zeitgemäßen marxistischen Staatstheorie zu kommen, die den neoliberalen Umbau von Staat und Politik auf den Begriff bringt. Und in den Reihen kritischer Sozialwissenschaft wird seit geraumer Zeit Michel Foucaults Ansatz der »Gouvernementalität« als ein zentraler Schlüssel zur Erklärung neoliberaler Politikformen gehandelt. Anhand seiner Vorlesungen von 1978/19791 kann die Reichweite dieses An-satzes zur Erklärung des Neoliberalismus ausgelotet werden. Im Zentrum stehen dabei die Vorlesungen von 1979, die unter dem etwas irreführenden Titel »Geburt der Biopolitik«2 veröffentlicht wurden, sich aber zentral um

1 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Sicherheit, Territori-um, Bevölkerung (Vorlesungen 1978), Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik (Vorlesungen 1979), Frankfurt/M 2004. Im folgenden beziehen sich Seitenangaben in Schrägstrichen // auf Bd. 2. Vgl. auch Susanne Krassmann/Michael Volkmer (Hrsg.), Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften. Internationale Bei-träge, Bielefeld 2007.

2 Schon in der ersten Vorlesung vom 10. Januar 1979 spricht Foucault davon, »dass die Analyse der Biopolitik nur dann durchgeführt werden kann, wenn man die all-gemeine Funktionsweise [der] gouvernementalen Vernunft verstanden hat« /43/ Die Vorlesungen des Jahres 1979 drehen sich dann auch zentral um diese Funktionsweise der Gouvernementalität und in der 12. Sitzung vom 4. April 1979 resümiert Foucault

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die Untersuchung liberaler und »neoliberaler« Regierungsformen drehen, u.a. am Beispiel des westdeutschen Nachkriegsliberalismus, des »Ordolibe-ralismus« der Freiburger Schule und der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards.

1. Kurzer Rückblick auf das »Zeitalter der Extreme«

Der Neoliberalismus ist weit mehr als neoklassische ökonomische Wirt-schaftstheorie. Er ist vor allem auch Gesellschaftspolitik. Im Zentrum steht das ökonomische Postulat der »Entfesselung der Märkte« und der Imperativ »Führe dich selbst!«. In der Ausstrahlung und Hegemoniefähigkeit dieser Markt-Topoi auf die Vorstellung von politischer Steuerung liegt ein Kern-element im Transformationsprozess auch der ehemals »fordistischen« Sozi-aldemokratie: Sie verabschiedete sich von ihrer geschichtlich gewachsenen staatszentrierten Politikauffassung. Damit bricht ein politisches Kontinuum des 20. Jahrhunderts auf, das beide Hauptströmungen der politischen Lin-ken, Sozialdemokratie wie Kommunisten, prägte: Gesellschaftsgestaltung und -Veränderung mit Hilfe des bürgerlichen bzw. sozialistischen Staates. Diese Geschichte birgt zugleich die Tragik in sich, dass sich die Marxsche Konzeption, die von Anbeginn auf eine nicht-staatsfixierte, zivilgesellschaft-liche Sozialismuskonzeption zielte, in den beiden politischen Großorgani-sationen der Arbeiterbewegung nicht durchsetzen konnte und auch alle »dritten Wege« - oft initiiert von reformkommunistischen und linkssozia-listischen Zwischengruppen, die bei entscheidenden Umbruch- und Krisen-perioden des 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise für eine Rücknah-me des Staates plädierten - im kommunistischen, sozialdemokratischen und linksbürgerlichen Lager keinen durchschlagenden Erfolg hatten. Mit dem neoliberalen wie neu-sozialdemokratischen Umbau des Staates ist damit die Linke mit einem schwelenden Geburtsfehler ihrer eigenen Geschichte kon-frontiert. Eine eigentlich originäre Option der Linken für Formen umfas-sender gesellschaftlicher Selbstbestimmung jenseits des Staates droht ideo-logisch von der Gegenseite als ein exklusives Projekt einer »Selbstregierung des Bourgeois ohne Staat« eingemeindet zu werden. Dagegen wird die Linke nur mit einem zivilgesellschaftlichen Gegen-Projekt der Gesellschaftsverän-derung bestehen können.

diese Vorlesungen: »Hier scheint mir der Geburtsort der Politik zu liegen. Gut, das war's. Dankeschön.« /430/

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Die zwei großen Epochenbrüche im 20. Jahrhundert , die Zwischen-kriegszeit als kr isengeschüttel ter Übergang zu e inem knappen Viertel jahr-hundert Nachkr iegsprosper i tä t und die Krise des Fordismus seit Mit te der 1970er Jahre , waren in je spezif ischer Weise verbunden mit zwei zentralen gesel lschaftspolit ischen Herausforderungen: mit der Staatsfrage und mit der pol it ischen Regul ierung von »Massengesel lschaften«,3 die sich im Verlauf des Jahrhunder ts zu Gesel lschaften massenhafter Individual is ierung trans-formierten. Robert Castel u.a. sehen in dieser Entwick lungs tendenz das Paradox begründet , »dass der wachsende Einfluss des Sozialstaates als ein mächtiger Individualisierungsfaktor gewirkt hat, indem er dem Indiv iduum beträchtl iche kol lekt ive Sicherungsle istungen zur Verfügung stellte.«4

Der ital ienische und deutsche Faschismus, der N e w Deal in Amer ika und der sowjet ische Staatssozial ismus stehen gle ichermaßen für die Aus-prägung eines »s tarken« bis » tota len« Staates und für die Entstehung neuer,

3 Walter Lippmann (1889-1974), ein großer amerikanischer Kolumnist in der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zugleich zentrale »Drehpunktperson« vom auf-geklärten (links)bürgerlichen zum konservativen (Neo)Liberalismus in den 1930er Jahren, goss dieses Strukturproblem der kapitalistischen Moderne 1914 in folgende Worte: »Die eigentliche Macht, die heute im Bereich der demokratischen Politik zum Vorschein kommt, ist eben die Masse der Leute, die sich lauthals über die >hohen Le-benshaltungskosten beschweren. Das ist der Aufschrei der Konsumenten. Er ist alles andere als ohnmächtig, ja er ist meiner Meinung nach dazu bestimmt, stärker zu sein als die Interessenvertretung der Arbeiter oder des Kapitals.« (zit. in: Fritz Fiehler, Die Ge-sellschaft der Vermögensbesitzer. Über Geld, Chicago und Milton Friedman, Hamburg 2000, S. 32) Nach Lippmann ist ein Symposium von 1939 benannt - der Gründungsakt des Neoliberalismus -, bei dem Lippmanns in den USA und Europa vielbeachtetes Buch »The Good Society« (1937) ein erstes Programm lieferte und das den Auftakt zur späteren Gründung der Mont Pèlerin Society (1947) bilden sollte. Dieses »Walter-Lipp-mann-Colloque« spielt auch in Foucaults Vorlesung eine zentrale Rolle, der hier zen-trale gesellschaftstheoretische Grundlegungen einer (neo)liberalen Gouvernementalität ausmacht: »Es wird sich also nicht um eine ökonomische Regierung handeln wie jene, von der die Physiokraten träumen, d.h., daß die Regierung nur die Gesetze der Wirt-schaft zu erkennen und zu beachten braucht. Es wird keine ökonomische Regierung, sondern eine Regierung der Gesellschaft sein. Übrigens sagte einer der Teilnehmer des Lippmann-Symposiums 1939, als er immer noch nach der neuen Charakterisierung des Liberalismus suchte: Kann man das nicht einen soziologischen Liberalismus< nennen? Jedenfalls wollen die Neoliberalen eine Regierung der Gesellschaft, eine Gesellschafts-politik. Übrigens hat Müller-Armack der Politik Erhards den bezeichnenden Begriff der Gesellschaftspolitik gegeben.« /207/

4 Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Ham-burg 2005, S. 93. In diesem Zusammenhang verweist Castel auf Emile Dürkheim, der schon 1899 davon spricht, dass »Individualismus und Etatismus Hand in Hand (gin-gen).« (ebd.)

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massenkultureller Formen der Bildung oder Erzwingung von gesellschaft-licher Zustimmung und Konsens. Die mehr oder weniger dominante Bour-geois-Ideologie des langen 19. Jahrhunderts - der politische Liberalismus

die sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Schlachtfeldern von Verdun desavouiert hatte, wurde durch diese gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung des Kapitalismus nach dem 1. Weltkrieg ein weiteres Mal in die Defensive gedrängt. Dem mehr oder weniger »idealtypischen« Bestre-ben des Liberalismus im 19. Jahrhundert, den bürgerlichen Staat auf eine sog. »Nachtwächterrolle« zu begrenzen, »bereitete das 20. Jahrhundert mit seinem monumentalen Comeback des Staates ein Ende: der sich bereits vor 1914 anbahnenden Annäherung von Staat und Wirtschaft; der totalen staats-wirtschaftlichen Mobilisierung im 1. Weltkrieg; und schließlich der Wie-dereinsetzung des Staates in eine fast absolute Macht durch die Weltwirt-schaftskrise, die ja nichts anderes war als die große Niederlage des liberalen Kapitalismus und der Revanchesieg des Staates.«5 In den kapitalistisch-de-mokratisch reparierten Gesellschaften nach dem 1. Weltkrieg glaubte man, einem neuen Zeitalter von aufgeklärtem »democratic collectivism« entgegen-zugehen. »Laisser-faire ist tot. Lang lebe die Planung (social control) - nicht nur für den Krieg, sondern zugleich als Grundlage für den Frieden und das kommende Reich der Brüderlichkeit.« (zit. ebd., S. 51) Der Eintritt in ein solches »golden age« allerdings führte durch eine gesellschaftsgeschichtliche Katastrophe. Denn »nimmt man die heute unbestrittene Tatsache (dazu), dass die USA erst durch den 2. Weltkrieg die Wirtschaftskrise überwanden, so ergibt sich ein weiterer wundersamer Parallelismus zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal. Alle drei bedurften zur Überwindung ihrer Wirtschaftskrise einer Rüstungskonjunktur und letztlich des Krieges.« (ebd., S. 31) Diese politischen Antworten auf kapitalistische Modernisie-rungskrisen bürgerlicher Massengesellschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erschütterten auch die festgefügten politischen Lager, machten Grenzen fließend und produzierten Grenzgänger, die sich auch mit den z.T. totalitären staatlichen Lösungen arrangierten. So waren nicht nur Teile der liberalen Mitte von der staatlichen Planungseuphorie angezogen und ließen sich sogar in den Faschismus einbinden, auch ehemalige Sozialisten erblick-

5 Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialis-mus, New Deal 1933-1939, München 2005, S. 10. Schivelbusch versucht Gemeinsam-keiten dieser post- und antiliberalen »Regime« vor allem in städtischen Raumgestaltun-gen, neoklassizistischer Architektur, massenmedialen Formen politischer Propaganda und charismatischen Politikstilen nachzuweisen.

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ten darin revolutionäres Potenzial.6 Hier soll vorerst auf drei Zeitdiagnosen abgestellt werden, die für später von Interesse sein werden.

Walter Eucken, politisch-theoretischer Mitbegründer des westdeutschen »Ordoliberalismus« in den 1940er Jahren und der »Freiburger Schule«, schrieb 1932 einen zentralen »Aufsatz gegen die mögliche Anwendung der keynesianischen Methoden in Deutschland zur Lösung der Krise« /150/, der auch in Foucaults Vorlesungen einen bedeutsamen Referenzpunkt markiert: »Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus«.7 Darin heißt es: »Während die ältere antikapitalistische Bewegung nämlich, die auf Marx fußt, das Ziel einer staatenlosen sozialistischen Gesellschaft sieht, zu deren Durchsetzung der Staat lediglich vorübergehend wichtig ist, will der moderne Antikapitalismus gerade im totalen, die Wirtschaft umfassenden, möglichst autarken Staat den Kapitalismus überwinden.«8 Diese Umwand-lung eines liberalen in den »Wirtschaftsstaat« ist dem Kapitalismus nicht zwangsläufig immanent, sondern ereignet sich unter dem »Druck der Mas-sen« und offenbart die Diskrepanz fehlender »politischer Voraussetzungen« für einen voll entwickelten Kapitalismus. Der Faschismus entspringt nicht dem Kapitalismus, sondern ist Folge der Schwäche des politischen Liberalis-mus. Die politisch entscheidende Alternative besteht mithin für die Freibur-ger Schule nicht im Dualismus von Kapitalismus und Sozialismus, sondern in der Differenz zwischen Liberalismus und den verschiedenen Formen des

6 Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch die kurze biographische Skizze über einen frühen Propagandisten des »bürokratischen Kollektivismus« und späteren »li-beralsozialistischen« Elitetheoretiker von Karl Heinz Roth, Brückenschlag zwischen Mussolini, Stalin, Hitler und Roosevelt? Bruno Rizzi und die Katastrophen soziali-stischer Politik im 20. Jahrhundert, in: Stephan Moebius/Gerhard Schäfer (Hrsg.), So-ziologie als Gesellschaftskritik. Wider den Verlust einer aktuellen Tradition, Hamburg 2006, S. 128-139.

7 Euckens Aufsatz gilt als bedeutendster Gründungstext für die Entstehung des Ordoliberalismus. Noch im ORDO-Jahrbuch 1997, das sich im Schwerpunktthema dem 50-jährigen Jubiläum der Sozialen Marktwirtschaft widmet, ist zu lesen: »Die wirtschaftlichen Reserven aus der Wiederaufbauphase Ludwig Erhards erlauben es einstweilen noch, ähnliche Krisenerscheinungen zu überbrücken, wie sie 1932 in den Vordergrund gerückt waren, nämlich eine auf Dauer unerträgliche Arbeitslosigkeit und eine Krise des Fiskal- und Sozialstaates. Trotzdem sind die Aussagen Euckens bei allem zeitgebundenen Kolorit für die nicht mehr länger hinwegzudisputierende Ordnungs-krise der Bundesrepublik Deutschland im Grundsatz ebenso zutreffend wie für seine Zeit.« (zit. in: Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Statio-nen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, S. 33).

8 In: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, Jena 1932, S. 305.

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Staatsinterventionismus wie Keynesianismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus.

Demgegenüber bestand der Horkheimer-Kreis - wie aus dem berühmten Diktum seines gleichnamigen Leiters bekannt - auf einer Kausalbeziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus, was sich auch noch in seiner zeitge-nössischen Liberalismus-Kritik zeigt: »Die rohe Skizze der liberalistischen Gesellschaftstheorie hat gezeigt, wie viele Elemente der totalitären Staats-auffassung in ihr schon angelegt sind. Von der ökonomischen Struktur aus enthüllt sich eine fast lückenlose Kontinuität in der Entwicklung der the-oretischen Interpretation der Gesellschaft. Die ökonomischen Grundlagen dieser Entwicklung von der liberalistischen zur totalitären Theorie müssen hier vorausgesetzt werden (Marcuse verweist hier auf Pollocks Analyse des Staatskapitalismus9 - C.L.): sie liegen im wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkur-renz der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und In-dustriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus...«10

Die im Hinblick auf Foucaults Behandlung liberaler Gouvernementalität in ihren beiden Varianten des nachkriegsdeutschen Ordoliberalismus und des amerikanischen Neoliberalismus der Chicagoer Schule der 1960er und 1970er Jahre interessanteste Zeitdiagnose aus der Zwischenkriegszeit stammt aus der Feder von John Maynard Keynes. Nachdem er in seinem Essay »Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirt-schaft« (1926) die überschwänglichen Freihandels- und Harmonielehren im fast Marxschen Sinne als popularisierte »Religion der Nationalökonomen« destruiert hat, kommt er zum politischen Kern seines Anliegens: »Wir müs-sen unterscheiden zwischen dem, was Bentham in seiner vergessenen, aber nützlichen Nomenklatur Agenda und Non-Agenda genannt hat, aber ohne die Annahme Benthams, daß jede Staatseinmischung sowohl >ganz zwecklos< als >ganz schädlich< sei. Es ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der heutigen Nationalökonomen, von neuem zwischen den Agenda und den Non-Agen-da des Staates zu unterscheiden; parallel damit geht die Aufgabe der Politik,

9 Zur zeitdiagnostischen Einordnung der Kapitalismusanalyse der Frankfurter Schu-le vgl. die Ausführungen »Globalisierung und die amerikanische Herausforderung«, in: Joachim Bischoff, Entfesselter Kapitalismus. Transformation des europäischen Sozi-almodells, Hamburg 2003, S. 7ff.

10 Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staats-auffassung, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris 1934, S. 174, (Photomechanischer Nachdruck München 1980).

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im Rahmen der Demokratie Staatsformen zu finden, welche der Übernahme der Agenda gewachsen sind.«11 Keynes deutet auch die Richtung an, in der seines Erachtens politische Lösungsformen zu finden sind. Er plädiert für zivilgesellschaftliche politische Formen: »Daher glaube ich, dass der Fort-schritt in der Richtung der Entwicklung und der Anerkennung halb-auto-nomer Körperschaften im Rahmen des Staates liegt...« (ebd.)12 Foucault wird in seiner Eröffnungsvorlesung vom 10. Januar 1979 diese Benthamsche Un-terscheidung erneut aus dem Vergessen holen und zu einem zentralen Ge-sichtspunkt liberaler Gouvernementalität - »ihrem Prinzip zur Begrenzung der Regierungskunst« /25/ - machen.

Foucaults Vorlesungen von 1978/1979 Diese kurze Reminiszenz liefert den Übergang zum zweiten großen Epo-chenbruch im Zeitalter der Extreme: die 1970er Jahre. Dass dieses Jahrzehnt als die »Periode der >Entkeynesianisierung< der Wirtschaftstheorie und Wirt-schaftspolitik bezeichnet werden (kann)«,13 ist nur die halbe Wahrheit. Da-neben spielte sich in dieser Zeit auch so etwas wie eine politisch-ideologische Auseinandersetzung um die Rolle des Staates ab - auf der Linken wie der Rechten.14 Es bahnte sich - entgegen der Aufbruchstimmung auf Seiten der Linken - der »Anfang vom Ende« (Dahrendorf) an.15 Symptomatisch für das kommende neokonservative Jahrzehnt eines »Kapitalismus als sozialer Uto-pie« mag der deutsche Buchtitel einer Arbeit aus Frankreich sein, 1979 bei Campus (Frankfurt/M) in deutscher Übersetzung erschienen: »Der Kapita-lismus von morgen« von Henri Lepage, der Europa mit der ideologischen Revolution aus Amerika bekannt machen will. Ein damals führender Kon-

11 In: Harald Mattfeldt, Keynes. Kommentierte Werkauswahl, Hamburg 1985, S. 111.

12 Keynes verkörpert damit innerhalb des bürgerlichen Lagers gegenüber einem ra-dikalisierten Liberalismus einen »Dritten Weg«, nicht unähnlich Gramscis Stellungs-krieg. Auf dem »langen Marsch« zum Neoliberalismus gelang es aber insbesondere in der Frage des Staatsinterventionismus den Keynesianismus weitestgehend von der liberalen Landkarte zu verbannen (vgl. dazu Jürgen Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus. Vom Roten Wien zum freien Markt - Popper und Hayek im Diskurs, Hamburg 2005).

13 Harald Mattfeldt, Einführung in Keynes' Theorie und Politik, in: ders., Keynes..., a.a.O., S. 13.

14 »Eine der Krisen der siebziger Jahre war die des Staates.« (Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, engl. 1988, dt. Stuttgart 1992, S. 198)

15 Wie langwierig Anfang und Ende (Krise des Fordismus) sein können, ist aller-dings eine Erkenntnis post festum.

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servativer, Wolfram Engels, übersetzt im Vorwort Dahrendorfs Diktum ins Ideologische: »Die marxistische Bewegung Ende der sechziger Jahre traf die meisten unvorbereitet. Zumindest rückblickend sollte sie verständlich sein. Es war die Elite der jungen Generation, die die Frage der gesellschaftlichen Moral und der gesellschaftlichen Relevanz radikal neu stellte. Der Marxis-mus ist zunächst eine Wirtschaftstheorie. Am Beginn der Revolution stand Kapitalismuskritik. Darüber ging der Neo-Marxismus hinaus; er entwickelte sich zur Anti-Ökonomie. Unter dieser Herausforderung brach die Verkrus-tung der Wirtschaftswissenschaften auf. Die Revolution im ökonomischen Denken war weniger spektakulär als Demonstrationszüge und Straßen-schlachten. Heute aber finden wir, verglichen mit 1960, eine Ökonomie vor, die wieder zur Gesellschaftswissenschaft geworden ist.« (ebd., S. 7) Dieser gesellschaftstheoretische Anspruch neoliberaler Wirtschaftstheorie schon zu Beginn ihres hegemonialen Aufstiegs ist die Kernbotschaft von Lepages Buch und auch Foucault wird seinen Blick auf diesen gesellschaftspolitischen Ge-halt des westdeutschen Ordo- und amerikanischen Neoliberalismus richten. Es ist sicher kein Zufall, dass das Buch von Lepage (Demain le capitalisme, Paris 1978) eine hintergründige Rolle in Foucaults Vorlesungen spielte.16 Le-page charakterisiert die wissenschaftliche und ideologische Revolution der »neuen amerikanischen Ökonomen« als eine Art Zeitdiagnose: »Nach der Auffassung dieser Schule besteht die Herausforderung unserer Epoche nicht etwa in ökonomischen Problemen (indem man beispielsweise neue Wunder-mittel zur Lösung des fatalen Konflikts zwischen Inflation und Arbeitslosig-keit findet), sondern eher in institutionellen und politischen Konflikten. Uns fehlt vor allem eine neue politische Technologie17 bzw. neue Formen der De-mokratie, die die Ungleichgewichte der gegenwärtigen Systeme vermeiden und dem unaufhörlichen Wachstum der bürokratischen Verwaltung Einhalt gebieten.« (ebd., S. 28) Und »staatstheoretisch« zugespitzt: »Die Logik des Staates ist immer - egal ob rechts- oder linksorientiert ->korporativ<, d.h. sie

16 »Dieses Buch stellt eine der Quellen dar, die von Foucault für die letzten Vorlesun-gen dieser Reihe verwendet wurden.« /217/ So die Anmerkung des Herausgebers der Foucault-Vorlesungen. Lepage ist Mitglied des internationalen Intellektuellen-Netz-werkes der Mont Pelerin Society, gründete mit anderen französischen MPS-Mitgliedern in den 1970er Jahren den Think Tank »Institut Economique de Paris« und »machte sich einen Namen als Popularisator des >neuen Kapitalismus< und ist als Ökonom an der Universität tätig.« (Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pelerin Society, Hamburg 2004, S. 362.)

17 Auch Foucault spricht von der neoliberalen Gouvernementalität als neuer politi-scher Technologie, C.L.

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führt auf jeden Fall zur gegenseitigen Ausbeutung.« (ebd., S. 35) Resümee der Neoliberalen: »Unsere Gesellschaft war nie wirklich kapitalistisch.«

In Frankreich wird hier früher (1970er Jahre) etwas formuliert, was zeit-versetzt später (1980er Jahre) die Diskussion in der BRD erreichen sollte. Der zeitgeschichtliche und politische Hintergrund in Frankreich für Fou-caults Vorlesungen über liberale und neoliberale Gouvernementalität ist zudem vielschichtig (das Auf und Ab im »programme comune« von Sozi-alisten und Kommunisten, sowjetische Dissidentenproblematik, Bruch der »Meisterdenker« Glucksmann u.a. mit dem Marxismus etc.). Foucault gerät im damaligen linken Lager zwischen die Fronten. Die Linksradikalen und Autonomen hatten sich mehr Militanz von seiner »Mikrophysik der Macht« versprochen und sind dann aber von seiner Abkehr von der »Repressionshy-pothese« des kapitalistischen Staates enttäuscht. Und die traditionelle Linke, »der zentralen Stellung des Staates in der marxistischen Analyse verhaftet, hat Vorbehalte gegen den Begriff der Mikromächte; sie wirft ihm eine nihi-listische Haltung vor, in der kein Platz für Widerstand oder Freiheit sei.«18

Foucault selbst reflektiert seinen politisch-theoretischen Neuansatz in der »Machtfrage« gegenüber seinen früheren Texten: »Ich kann sagen, dass da sicherlich ein Unvermögen war, das freilich mit der politischen Situation zu-sammenhing, in der wir uns befanden. Es ist nicht zu sehen, von welcher Seite aus - von rechts oder von links - man dieses Problem der Macht hätte stellen können. Rechts wurde es nur in Begriffen wie Verfassung, Souverä-nität usw., also in Begriffen des Rechts gestellt, von Seiten des Marxismus in der Begrifflichkeit von Staatsapparaten. Wie sie konkret und im Einzelnen in ihrem spezifischen Charakter und in ihren Techniken und Taktiken ausgeübt wurde, danach forschte man nicht...«19 Damit ist auch die Absetzbewegung von Louis Althusser angedeutet, dem seinerseits das historische Verdienst zukommt, innerhalb der kommunistischen Bewegung die Krise des Marxis-mus offen auszusprechen und ihr Zentrum in der Staatsfrage zu lokalisie-

18 Vgl. die Zeittafel zu Foucault, in: Michel Foucault, Schriften 1, Frankfurt/M 2001, S. 72ff. Einen charakteristischen Zusammenhang von politischer Zeitgeschichte und »Staatsdiskussion« auf Seiten der Linken veranschaulicht der Parteitag der Sozialisti-schen Partei im Juni 1979, auf dem »Michel Rocard seine Unterscheidung zweier po-litischer Kulturen innerhalb der Linken (entwickelt), einer jakobinisch-etatistischen, die zu einer Allianz mit den Kommunisten bereit ist, und einer auf Dezentralisierung und Regionalisierung bedachten, die gegen diese Allianz ist und schon bald die »zweite Linke< genannt werden wird.« (ebd., S. 80ff.)

19 Gespräch mit Foucault im Juni 1976, in: Michel Foucault, Schriften 3, Frankfurt/ M 2003, S. 194.

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ren. In einer Zeit, in der der Mainstream der kommunistischen Bewegung trotz eurokommunistischer Erneuerungsversuche immer wieder in gewen-deten Kostümen überkommener »Imperialismustheoreme«20 die sich verän-dernden politischen Kräfteverhältnisse zu erklären versuchte, konstatierte Althusser auf dem von »il manifesto« 1977 organisierten Kongress »Macht und Opposition in den postrevolutionären Gesellschaften«: »Wir können es offen sagen: Es gibt keine tatsächliche >marxistische Staatstheorie<...«21

Wie beim ersten Epochenbruch im 20. Jahrhundert reibt sich die Linke auch in den 1970er Jahren die Augen, ist mit Aufräumarbeiten geschlagener (und verlorener) Schlachten befasst und verheddert sich in Stamokap-Debat-ten, wo viel weiterreichende politische Transformationsprozesse zu analysie-ren wären. In Ansätzen wurde dies bei Nicos Poulantzas in einer erneuerten marxistischen Staatstheorie22 oder von linkssozialistischer Seite in der Kritik an der »passiven Revolution« des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates versucht: »Ausgehend von unserer theoretischen und konkreten Analy-se des keynesianischen Staates und des >Krisenstaates< haben wir gesehen, daß die Erweiterung des Staates eine Produktivität des Politischen erzeugt, Formen und Spielregeln hervorbringt, die keinen gemeinsamen Nenner mit dem vorkeynesianischen Staat haben. Wann wird sich die Linke von ihren überkommenen Illusionen der Identifikation des Politischen mit dem Staat im allgemeinen oder mit dem parlamentarischen Staat im speziellen lösen? Wann wird sie erkennen, daß die Wirklichkeit der kapitalistischen Gesell-schaft bis ins Unendliche teilbar, widersprüchlich ist? Daß auf diesem Gebiet das >Einfache das Vereinfachte< ist, wie Bachelard sagt...«23

Hilft Foucaults damaliger Ansatz, Vereinfachungen zu vermeiden, und erlaubt er, die veränderten und erweiterten politischen Formen bürgerlicher Hegemonie zu erfassen? Auch wenn Foucault seine Vorlesungen über libe-

20 »Wie >Macht<, deren umfassendster Ausdruck er ist, ist >Imperialismus< kein Be-griff, der sich als Gegenstand aus ökonomischen Konzepten ableiten und explizit de-finieren ließe. Der Imperialismus kann nur auf der Grundlage einer voll entwickelten Staatstheorie begriffen werden.« (Michel Aglietta, Regulation et crises du capitalisme: l'expérience des Etats-Unis, Paris 1976, S. 30.)

21 Louis Althusser, Die Krise des Marxismus, Hamburg 1978, S. 65f. 22 Vgl. Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer

Etatismus, Hamburg 1978 (frz. Originaltitel: L'État, Le Pouvoir, Le Socialisme). Er-weiterte Neuausgabe mit einer Einleitung von Alex Demirovic/Joachim Hirsch/Bob Jessop, Hamburg 2002.

23 Christine Buci-Glucksmann/Göran Therborn, Der sozialdemokratische Staat. Die »Keynesianisierung« der Gesellschaft, Hamburg 1982, S. 284.

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rale und neoliberale Gouvernementalität mit einem Rekurs auf die klassische politische Ökonomie, präziser auf ihre Gründungsväter, die Physiokraten, eröffnen wird, ist sein Ausgangspunkt nicht die Kritik der politischen Öko-nomie: »Das Charakteristische unserer Generation...ist der Mangel an poli-tischer Einbildungskraft...Eine Sache ist dabei bestimmend, nämlich dass der Marxismus zur Verarmung der politischen Einbildungskraft beigetragen hat und immer noch beiträgt. Das ist unser Ausgangspunkt.«24

2. Das »Zeitalter der Politik« bei Foucault

Einen für seine Staats-, Politik- und Regierungsanalyse grundlegenden methodischen Gesichtspunkt übernimmt Foucault aus seinem ersten Vor-lesungszyklus: »Man muss aus der Institution heraustreten, um sie durch den globalen Gesichtspunkt der Machttechnologie zu ersetzen.« (Bd. 1, S. 176) Letztere bildet dabei den Fluchtpunkt einer Analyse, in der versucht werden soll, »die Instanz der Reflexion in der Regierungspraxis und auf die Regierungspraxis zu erfassen« /14/ — also so etwas wie das Selbstbewusstsein des Regierens. Damit bricht der moderne bürgerlich-kapitalistische Libera-lismus mit jeder frühneuzeitlichen festgefügten »Staatsräson«. Diese hegte gegenüber dem Territorium und der Bevölkerung immer den Verdacht: »Es wird zuwenig regiert.« Dagegen ist der Liberalismus von dem Kritik-Prinzip durchdrungen: »Es wird stets zuviel regiert...Warum muss man überhaupt regieren?« Daher lässt sich für Foucault diese »liberale Kritik nur schwer von einer für die Epoche neuen Problematik der >Gesellschaft< trennen.« /437/ Diese Problematik verortete der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi 1944 - zeitdiagnostisch bezeichnenderweise in einem Rückblick von der fa-schistischen Katastrophe auf die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft - in einer »Great Transformation« »eines Zeitalters, das mit den Schöpfern des Staates, Thomas More, Machiavelli, Luther und Calvin begonnen hatte... zu jenem 19. Jahrhundert, in dem Ricardo und Hegel, aus verschiedenen Richtungen kommend, die Existenz einer Gesellschaft entdeckten, die nicht den Gesetzen des Staates unterworfen war, sondern im Gegenteil, den Staat ihren eigenen Gesetzen unterwarf.«25

24 Gespräch mit Foucault im April 1978, in: Schriften 3, a.a.O., S. 752f. 25 Karl Polanyi (1944), The Great Transformation. Politische und ökonomische

Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M 1978, S. 156f.; Herv. C.L.

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Die Physiokraten - Politische Ökonomie als wissenschaftliche Regierungskunst Die wahren Entdecker dieser »Gesetze« sind die Vertreter der klassischen politischen Ökonomie. Die klassische politische Ökonomie ist diejenige Wissensform, in der der Übergang der modernen bürgerlichen Gesellschaft in das »Zeitalter der Politik« /36/ ausgesprochen wird. Hier wird das gan-ze »Problem der kritischen gouvernementalen Vernunft« /29/ - das sich ab diesem Zeitpunkt immer wieder um die Frage drehen wird, »wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren« /ebd./ - als liberale Regierungskunst zum erstenmal »wissenschaftlich« /36/. Denn die politische Ökonomie befragt die sozialen Praktiken der Individuen und die gesellschaftlichen Verhält-nisse nicht mehr nach irgendwelchen (mythologischen) Ursprüngen oder naturrechtlichen Legitimationen, sondern nach den »Wirkungen« /32/ und »begründeten Zusammenhäng(en)« /37/ in der Gesamtheit ihrer Reproduk-tionsbeziehungen von der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion über den Markt und die Zolltarife bis hin zu den Löhnen und Steuern und ihren Erhöhungen oder Senkungen. Diesen spezifischen »Diskurstyp« /37/ be-kommt Foucault bei den Physiokraten zu fassen, den Gründungsvätern der politischen Ökonomie.26 Hier entdeckt die politische Ökonomie nach Fou-caults Lesart von Turgot und Quesnay »eine bestimmte Natürlichkeit, die der Regierungspraxis selbst eigentümlich ist. Es gibt eine Natur, die den Ge-genständen des Regierungshandelns eigen ist. Es gibt eine Natur, die diesem Regierungshandeln selbst eignet, und die politische Ökonomie wird diese Natur erforschen. Dieser Begriff der Natur bewegt sich also gänzlich um die Erscheinung der politischen Ökonomie.« /33/

Diese »Naturgesetze« durchziehen sowohl die »Selbstregulation« öko-nomischer Prozesse wie die »Selbstbegrenzung« der Politik. Sie erweisen ihre »Vernünftigkeit« durch ihr eigenes und gegenseitiges Wechselspiel von Erfolg und Misserfolg, und nicht durch irgendwelche Formen von Legitimi-tät oder Illegitimität. Foucault verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Utilitarismus in Jeremy Benthams (1748-1832) ökonomischen Schriften über die »Genesis of the Matter of Wealth«, wo Bentham seine berühmte Unterscheidung zwischen sponta acta, agenda und non agenda einführt: »Die sponta acta sind die ökonomischen Aktivitäten, die die Mitglieder einer Gemeinschaft spontan entwickeln, ohne dass eine Regierung einzugreifen

26 Schon in seiner früheren Archäologie der Humanwissenschaften von 1966, »Die Ordnung der Dinge« (dt. Frankfurt/M 1971), geht Foucault in seiner dortigen »Ana-lyse der Reichtümer« auf die Physiokraten ein. (Vgl. 6. Kapitel, Tauschen, V. Bildung des Werts, S. 239ff.)

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hätte...« /46, Anm. d. Hrsg./ Diese naturgesetzliche Spontaneität bestimmt das Wechselverhältnis von Politik und Ökonomie. Fragt der Citoyen in der politischen Person der Regierung: »Was kann ich für Sie tun?«, antwortet der Bourgeois in der ökonomischen Person des Unternehmers: »Was Sie für uns tun können? Lassen Sie uns nur machen.« Mit dieser Anspielung auf einen überlieferten Dialog zwischen dem französischen Staatsmann Colbert und dem Händler Le Gendre in der feudal-kapitalistischen Übergangszeit verweist Foucault auf den politischen Gehalt dessen, was die Physiokraten als Natur der ökonomischen Dinge und als Natürlichkeit der Regierungs-praxis propagieren: Laissez f a i r e !

Foucaults Bezugnahme gerade auf die Physiokraten für sein eigentliches Anliegen einer Analyse des modernen Ordo- und Neoliberalismus bestätigt die Marxsche These, dass auf der Passhöhe geschichtlicher Übergangsperi-oden oft weitreichende Einsichten in Grundstrukturen einer sich erst noch zu historischer Totalität ausbildenden Produktionsweise - des Kapitalismus - möglich sind: »Namentlich (bei) Turgot...stellt sich das physiokratische Sys-tem als die innerhalb des Rahmens der feudalen Gesellschaft durchdringende neue kapitalistische Gesellschaft dar. Es entspricht dies also der bürgerlichen Gesellschaft in der Epoche, worin sie aus dem Feudalwesen herausbricht. Der Ausgangspunkt ist daher Frankreich, in einem vorherrschend ackerbau-enden Land, nicht in England, einem vorherrschend industriellen, kommer-ziellen und seefahrenden Land.« (MEW, Bd. 26.1, S. 20) Die physiokratische Parole des »Laissez-faire, laissez-aller« beinhaltet, in wirtschaftspolitische Maßnahmen umgesetzt, die Beseitigung aller Staatseinmischung und unge-hinderte freie Konkurrenz für die Industrie. Damit wird eine durch staat-liche Intervention ungehinderte Entwicklung der kapitalistischen Industrie garantiert, obwohl in den theoretischen Anschauungen das »Laissez faire« für das Grundeigentum am wohlfeilsten und günstigsten gilt. »Die Emanzi-pation der bürgerlichen Gesellschaft von der auf den Trümmern der Feudal-gesellschaft errichteten absoluten Monarchie findet also nur im Interesse des in einen Kapitalisten verwandelten und auf bloße Bereicherung bedachten feudalen Grundeigentümers statt. Die Kapitalisten sind nur Kapitalisten im Interesse des Grundeigentümers, ganz wie die weiter entwickelte Ökonomie sie nur Kapitalisten im Interesse der arbeitenden Klasse sein läßt.« (ebd., S. 23) So werden noch unter feudaler Hülle die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise geschaffen.

Für Foucault ist nun mit der Naturgesetzlichkeit gesellschaftlicher Re-produktionszusammenhänge, dem Laissez faire der Physiokraten, die »ei-

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gentümliche (Grund)Form« der bürgerlich-kapitalistischen Moderne schon gefunden, die »die Entstehung jener asymmetrischen Zweipoligkeit der Politik und Ökonomie markiert.« /39/ Weitergehende Ideologiekritik tut nicht not.27 Politik und Ökonomie sind in seinen Augen »weder existieren-de Dinge...noch Irrtümer noch Illusionen noch Ideologien. Sie sind etwas Nichtexistierendes und doch etwas, das an der Wirklichkeit teilhat, das aus einer Herrschaft der Wahrheit hervorgeht, die das Wahre vom Falschen un-terscheidet.« /ebd./

Diese Unterscheidung von Wahr und Falsch wird in der liberalen Gouver-nementalität nicht mehr durch staatliche Souveränität, Rechtsprechung oder Verfassung getroffen. »Dieser Ort der Wahrheit ist wohlgemerkt nicht der Kopf der Ökonomen sondern der Markt.« /52/ Neben dem ersten Kritik-Prinzip des Liberalismus, dem Laissez faire, in dem »das Erscheinen der poli-tischen Ökonomie und das Problem der minimalen Regierung...miteinander verbunden (waren)« /52/ markiert der Markt als ein »Ort des Wahrspruchs oder der Veridiktion« /56/ ein weiteres. Hier werden (Wahrheit)Standards gebildet. »Insofern der Markt durch den Tausch ermöglicht, die Produktion, den Bedarf, das Angebot, die Nachfrage, den Wert, den Preis usw. miteinan-der zu verknüpfen, stellt er in diesem Sinne einen Ort der Entscheidung über die Wahrheit dar, ich meine einen Ort der Verifikation und Falsifikation der Regierungspraxis. Folglich ist es der Markt, der bestimmen wird, dass eine gute Regierung nicht einfach mehr nur eine Regierung ist, die sich nach der Gerechtigkeit richtet...Der Markt wird bestimmen, dass die Regierung sich jetzt nach der Wahrheit richten muss, um eine gute Regierung sein zu kön-nen.« /56/ Der Markt betreibt mit Foucault gesprochen sozusagen »Wahr-heitspolitik« und gewinnt dadurch seine Mächtigkeit. Dieses Eindringen des Marktes in Politik und Gesellschaft als Prinzip der Veridiktion verändert auch eine an staatliche Souveränität und Verfassung gebundene Rechtspre-chung, das »System Wille-Gesetz«. Darin wird das Gesetz noch als »Aus-druck eines Willens aufgefasst, eines kollektiven Willens, der den Anteil des Rechts darstellt, den die Individuen einzuräumen akzeptiert haben, und den Anteil, den sie behalten wollen.« /69/ Auf dem radikal anderen Weg nun, der sich wesentlich auf die neue Ökonomie der gouvernementalen Vernunft

27 Hier besteht zu Foucault die ideologietheoretische Differenz der Marxschen Kri-tik der politischen Ökonomie, in der die von Foucault fixierten Wissens- und Dis-kursformen der bürgerlichen Ökonomie schon viel tiefergehender als sozial bestimmte Denk- und Differenzierungsprozesse von wissenschaftlicher Kritik, Vulgärökonomie und gewöhnlichem Alltagsbewusstsein dechiffriert sind.

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gründet, wird in utilitaristischer Perspektive das Gesetz als »Wirkung einer Transaktion aufgefasst, die das Interventionsgebiet der öffentlichen Gewalt einerseits von der Sphäre der Unabhängigkeit der Individuen andererseits trennt.« /69/ Der Zusammenhang von gesellschaftlichen Willensverhältnis-sen und Gesetz, Recht und Politik wird unterminiert und aufgelöst.

An seiner Stelle erweist sich die Funktionsweise dieser gouvernementalen Vernunft des Liberalismus durch alle ihre Kritik-Prinzipen - Laissez faire, Markt, Veridiktion, Utilitarismus - als so etwas wie eine gesamtgesellschaft-liche Transaktionskostenökonomie: »Schließlich ist der Liberalismus die Or-ganisation der Transaktionsverfahren, die geeignet sind, die Begrenzungen der Regierungspraktiken zu bestimmen: Verfassung, Parlament - Meinung, Presse - Kommissionen, Erhebungen.« /41/

Krise des Liberalismus - »Staatsphobie« und »Weberismus« in Deutschland Foucault resümiert die Grundprinzipien liberaler Gouvernementalität in einem spezifischen Verständnis von Freiheit, das nicht einfach auf Re-spektierung von (individuellen) Freiheitsrechten abzielt und sich mit ihrer Garantie begnügt, sondern sich vielmehr verpflichtet sieht, Freiheitsräume immer wieder neu zu schaffen und die gesellschaftlichen Individuen zu ihrer Handlungsfreiheit anzuhalten und sie darin politisch zu aktivieren, sie also neu-sozialdemokratisch gesprochen zu »fordern und fördern«: »Die neue Regierungskunst stellt sich also als Manager der Freiheit dar...Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, dass man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützt Verpflichtungen usw. einführt.« /97f./ Die Freiheit auf verschie-denen gesellschaftlichen Ebenen, insbesondere auf den (Arbeits)Märkten, markiert somit im System des Liberalismus eine Zielorientierung, deren Herstellung »Kosten« mit sich bringt. Foucault sieht das »Prinzip dieser Kostenrechnung der Produktion der Freiheit« /99/ in dem Aufwand an Si-cherheitsdispositiven, Kontrollmechanismen, Disziplinarmaßnahmen und Staatsinterventionen gerade für die Aktivierung und Ausdehnung von Frei-heit. Dieser Zusammenhang stellt aber eine Gefährdung und Bedrohung der Freiheit dar, die immer wieder zu einer Krise der liberalen Gouvernementa-lität selbst fuhren können. Und genau dies markiert »die gegenwärtige Krise des Liberalismus, d.h., dass die Gesamtheit der Mechanismen, die ungefähr seit den Jahren 1925, 1930 versucht haben, ökonomische und politische For-meln vorzuschlagen, die die Staaten vor dem Kommunismus, dem Sozia-lismus, dem Nationalsozialismus, dem Faschismus bewahren sollten, dass

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diese Mechanismen. . . a l l e von der Ar t wi r t schaf t l i cher Intervent ionen waren , d.h. Zwangsmaßnahmen oder jedenfa l l s Zwangse ingr i f fe in den Bere ich des Wir t schaf t shande lns . « /105/

Diese Kehrsei te des L ibera l i smus - der Staats intervent ionismus, gespeist aus den Erfahrungen des Rooseve l t schen Weifare , des deutschen Faschis-mus , des Bever idge-P lans in Eng land nach dem 2. Weltkr ieg2 8 und des Staatssoz ia l i smus - ist der Grund eines Ant i -Eta t i smus und immer w i e -derkehrender »S taa t sphobie« im Verlauf der pol i t i schen Geschichte des 20. J ahrhunder t s . Foucau l t begründet h ier in auf or ig ine l le Weise die Resonanz einer bes t immten Zei td iagnose . Er verortet im pol i t i schen Exil der 1930er u n d 1940er Jahre , im »pol i t i schen Diss idententum des 20. J ah rhunder t s « /113/, den Ans toß zur Kr i t ik am Staats intervent ionismus und zur Verbre i -tung eines Ant ie ta t i smus . Die pol i t i sch- theoret i schen Träger b i lden dabei eine »e igenar t ige Nachbarscha f t bzw. den Para l le l i smus zw i schen der Fre i -burger Schule oder den Ordo l ibera l en (vom österre ichischen Neo l ibera l en L u d w i g von Mises über Wal te r Eucken und Wi lhe lm R ö p k e bis Fr iedr ich Augus t von H a y e k und Lu ig i Einaudi - C .L . ) und ihren Nachba rn von der Frankfur te r Schule (Horkhe imer , Adorno , Marcuse , Po l lock - C .L . ) . Ein Para l le l i smus der Daten u n d auch des Schicksals , da zumindes t ein Teil der

28 Hier versuchten die Neo- und Ordoliberalen schon in den 1940er Jahren insbe-sondere in einer Kritik am Beveridge-Plan eine antiliberale Invariante in allen diesen politischen Formen des ökonomischen Interventionismus auszumachen. Dabei finden sich schon alle auch heutzutage gängigen neoliberalen Topoi der Sozialstaatskritik ver-sammelt. Dieser ganze sozialpolitische »Sicherungs- und Versorgungsapparat (bleibt) immer nur ein dürftiges Surrogat des gerissenen Eigentumsankers (der Mittelschichten, C.L.)...die das ganze Uhrwerk in Gang haltende Sprungfeder der Selbstverantwortung (wird immer schwächer)...Ein Ende ist erst in der völligen Katastrophe von Staat und Gesellschaft abzusehen...« (Wilhelm Röpke, Der Beveridgeplan, in: Schweizer Mo-natshefte Juni-Juli 1943, S. 159-173). Auch Foucault verweist auf diesen Aufsatz von Röpke /vgl. 160/. Für ihn selbst hat der Beveridge-Plan einen großen »Symbolwert« in Bezug auf eine qualitative Veränderung im Verhältnis von Individuum, Körper und Staat. Er markiert gegenüber staatlicher Fürsorgepolitik im 18. und 19. Jahrhundert einen neue Stufe der »Gouvernementalisierung«, in der sich die Durchsetzung sozial-staatlicher Strukturen des Fordismus reflektiert, die Foucault aber in seiner Sichtweise auf die Körperlichkeit sozialstaatlicher Klienten fokussiert: »Mit dem Beveridgeplan verwandelt sich die Gesundheit in einen Gegenstand, um den sich die Staaten nicht um ihrer selbst, sondern um der Individuen willen zu kümmern haben. Das Recht des Menschen, seinen Körper bei guter Gesundheit zu erhalten, wird so zum Gegenstand staatlichen Handelns.« (Michel Foucault, Krise der Medizin oder Krise der Antimedi-zin ? - Foucaults erster Vortrag über die Geschichte der Medizin vom Oktober 1974, in: Schriften 3, a.a.O., S. 54-76.)

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Freiburger Schule, wie der Frankfurter Schule, verstreut und gezwungen war, ins Exil zu gehen.« /153/29 Der gemeinsame Ausgangs- und Bezugs-punkt ihrer politisch-theoretischen Erfahrungen war eine »politisch-univer-sitäre Problematik..., die in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschte und die man gewissermaßen den Weberismus nennen könnte.« /ebd./ Max Weber fungiert dabei für Foucault als derjenige, der die gesell-schaftstheoretische Anlage einer Kapitalismusanalyse und -kritik mit weit-reichenden Folgewirkungen von Marx wegverschoben hatte. Plädierte Marx noch in der Kritik der politischen Ökonomie dafür, auf rationelle Art und Weise die »widersprüchliche Logik des Kapitals« auf ihre progressive Ge-sellschaftlichkeit hin zu dechiffrieren, trennt Weber diese Logik des Kapitals von der bürgerlichen Gesellschaft und führt als zentrale Referenz für alle nachfolgenden sozialwissenschaftlich gestützten Zeitdiagnosen in Soziolo-gie, Ökonomie und Politik »das Problem der irrationalen Rationalität der kapitalistischen Gesellschaft« ein. »Dieser Übergang vom Kapital zum Ka-pitalismus, von der Logik des Widerspruchs zur Teilhabe am Rationalen und Irrationalen kennzeichnet, glaube ich, ...Max Webers Problem.« /154/ Nur implizit arbeitet Foucault heraus, dass diese zeitdiagnostische Problemver-schiebung das Zusammenfallen von Staatsfrage und Massengesellschaft spä-testens nach dem 1. Weltkrieg reflektiert. Wird dies mitbedacht, gewinnen die konträren zeitdiagnostischen Antworten der »Frankfurter« und »Frei-burger« ihre ganze Tragweite. Die Frankfurter begeben sich auf die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Rationalität, um die ökonomische Irrati-onalität aufzuheben,30 wohingegen die Freiburger für eine ökonomische Ra-tionalität plädieren, um die gesellschaftliche Irrationalität zu regulieren und in den Griff zu bekommen. Beide »zeitdiagnostischen« Strömungen entfal-teten ihre Relevanz allerdings nicht zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, in der

29 Foucault geht allerdings nicht näher darauf ein, dass im Unterschied zum Hork-heimer-Kreis Vertreter des deutschen Ordoliberalismus und der späteren Freiburger Schule in (wirtschafts)politische Strukturen des deutschen Faschismus involviert waren (vgl. dazu den »Exkurs: Neoliberalismus im Faschismus und Nazismus«, in: Walpen, a.a.O., S. 93-98) und sich so eine ganz andere Kontinuität zum Nachkriegsdeutschland ergab (vgl. dazu Karl Heinz Roth, Klienten des Leviathan: Die Mont Pélerin Society und das Bundeswirtschaftsministerium in den fünfziger Jahren, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2/2001, S. 13-42).

30 Für diese Position kommt erschwerend hinzu, dass ihr mit der Niederlage der Arbeiterbewegung zu Beginn des Faschismus ein potentieller Träger einer solchen neu-en sozialen Rationalität abhanden gekommen ist und sie so selbst Gefahr läuft, in ge-schichtsphilosophischen Pessimismus umzukippen.

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Zwischenkriegszeit und in der Hochphase des Keynesianismus unmittel-bar nach dem 2. Weltkrieg, sondern zeitversetzt in den 1950er und 1960er Jahren, bei den ersten Krisenerscheinungen des keynesianisch überformten Liberalismus. Foucault fängt diese Eigentümlichkeit pointiert in einem zeit-geschichtlichen Bonmot ein und liefert noch eine ganz andere Variante der Lesart der »Flaschenpost«, die mit 1968 entkorkt wurde:

»Die Geschichte ergab, dass die letzten Schüler der Frankfurter Schule 1968 mit der Polizei einer Regierung zusammenstießen, die von der Frei-burger Schule inspiriert war: Sie haben sich auf beiden Seiten der Barrika-den verteilt, denn das war schließlich das doppelte, zugleich parallele, über-kreuzte und antagonistische Schicksal des Weberismus in Deutschland.« /154, Herv. C.L./

Jenseits eines Liberalismus vom Typ Adam Smiths Foucault fokussiert die immer wiederkehrenden Probleme liberaler Gou-vernementalität in den wirtschaftspolitischen Konstellationen seit der Zwi-schenkriegszeit im 20. Jahrhundert. »Man kann sagen, dass im Umkreis von Keynes, im Umkreis der interventionistischen Wirtschaftspolitik, die zwi-schen 1930 und 1960 umgesetzt wurde, unmittelbar vor dem Krieg und un-mittelbar danach, alle diese Interventionen etwas herbeigeführt haben, was man die Krise des Liberalismus nennen kann, und diese Krise des Libera-lismus manifestiert sich in einer Reihe von Neubewertungen, Neueinschät-zungen, in neuen Projekten der Regierungskunst, die in Deutschland vor dem Krieg und unmittelbar danach formuliert wurden und die in Amerika gegenwärtig (1978/79, C.L.) formuliert werden.« /105f./

Für den Fortgang seiner Untersuchung der Herausforderungen, Verände-rungen und Krisen neoliberaler Gouvernementalität in der Nachkriegszeit unterscheidet Foucault nun zwei zentrale Formen des neueren Liberalismus: den westdeutschen Ordoliberalismus und den amerikanischen Neolibera-lismus der Chicagoer Schule, und setzt davon nochmals eine Reihe anderer ökonomischer Experimente in Europa wie bspw. in Belgien ab.31 Warum er

31 Auch in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung findet sich eine Differenzie-rung sog. gemischter Wirtschaftsordnungen nach 1945. So unterscheidet H. van der Wee (Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum, Strukturwandel 1945-1980, Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert Band 6, München 1984) eine »neo-kollektivistische Variante der gemischten Wirtschaftsordnung« (ebd., S. 327ff.), wor-unter er Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan zählt, eine »neoliberale Vari-ante« (ebd., S.341ff.) mit den USA und der BRD, sowie eine »Variante der zentralen

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sich dann hauptsächl ich auf den »ers ten Neo l ibe ra l i smus« fokuss ier t , »den w i r sehr grob den deutschen nennen können« /117/, begründet Foucau l t damit , dass »er mir theoret isch für das Prob lem der Gouvernementa l i t ä t , das ich behandeln möchte , w ich t i ge r als die anderen zu sein sche int« /ebd./. Denn der Neo l ibe ra l i smus in der Konste l la t ion Mi t t e der 1970er J ah re ist für Foucau l t ke ineswegs das Wiede rau f l eben und die Wiede rkehr der alten Formen eines kapi ta l i s t i schen Wir tschaf ts l ibera l i smus des 18. und 19. J ahr -hunderts , sondern weis t »e ine absolut bedeutende Veränderung au f « /169/, deren Haup tp rob l eme sich gerade im Rückb l i ck auf den wes tdeutschen Ent-w i c k l u n g s w e g nach 1945 exemplar i sch s tudieren lassen. Der wes tdeutsche Neo l ibe ra l i smus ist ke inesfa l l s eine e infache Repr i se eines L ibera l i smus ä la A d a m Smith . Was v ie lmehr in den Jahren 1945ff. » in Frage steht, ist, ob eine Mark tw i r t s cha f t w i rk l i ch als Pr inz ip , als Fo rm und als Vorbi ld für ei-nen Staat d ienen kann, bezüg l ich dessen Mänge l j edermann hier und da aus dem einen oder anderen Grund gegenwär t ig Miss t rauen hegt. J ede rmann ist e inverstanden mit einer Kr i t ik des Staats und mi t der Festste l lung der zer-störer ischen und schädl ichen W i r k u n g e n des Staats. Kann der L ibera l i smus

wirtschaftspolitischen Abstimmung [bei] kleineren Ländern in Europa wie Schweden, Niederlande, Österreich und Belgien« (ebd., S. 350). »Die gemischte Wirtschaftsord-nung erwuchs also aus konvergierenden Weltanschauungen bei den verschiedenen Ge-sellschaftsgruppen und sollte sich allmählich institutionalisieren.« (ebd., S. 322) Das wiederum hatte zur Folge, dass sich für die 1970er Jahre auch unterschiedliche Reakti-onsweisen auf die Wirtschaftskrise 1974/75 und Krisenlösungen ergaben. »Nur Länder, die ihre Wirtschaft nach dem Krieg ursprünglich nach neoliberalen Grundsätzen aufge-baut hatten, gingen nach der Wende (in den 1970er Jahren, C.L.) ihren Weg zu stärkerer Planung und zu Zentralabsprachen noch länger weiter« (ebd., S. 361), wie bspw. die BRD unter Brandt und Schmidt. »In den Ländern, die sich beim Aufbau ihrer gemisch-ten Wirtschaftsordnung zunächst von neokollektivistischen Vorstellungen hatten leiten lassen, traten Planungsgedanken allmählich zurück« (ebd., S. 363), wie unter Giscard d'Estaing in Frankreich. Die Krise der »gemischten Wirtschaftsordnungen« erzeug-te eine sozialstrukturelle, kulturelle und politisch-ideologische Gemengelage, die van der Wee in drei große Strömungen sortiert: die Neoklassiker/Neoliberalen mit Hayek, Friedman u.a.; die Befürworter eine zentralgesteuerten Planwirtschaft in den Reihen der Labour-Linken und der traditionellen kommunistischen Parteien wie in Portugal nach der Revolution von 1974 oder in der Union de la Gauche in Frankreich; die Neue Linke. Van der Wee resümiert: »Doch insgesamt erwarben die Befürworter einer zen-tralgesteuerten Planwirtschaft während der siebziger Jahre keine wirksame politische Macht im Westen. Sie wurden von Neoklassikern wie Neoliberalen und auch von der jüngeren Generation der Neuen Linken leidenschaftlich bekämpft. Einer zentralge-steuerten Planwirtschaft und einer autoritären bürokratischen Staatsmacht waren diese nämlich ebenso abgeneigt wie der spätkapitalistischen gemischten Wirtschaftsordnung und der neoliberalen Marktwirtschaft.« (ebd., S. 382)

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innerhalb dieser allgemeinen und verworrenen Kritik - denn man findet sie von Sombart bis Marcuse32 ohne große Unterschiede wieder -, kann er trotz und gewissermaßen im Schatten dieser Kritik sein wirkliches Ziel durchset-zen, nämlich eine allgemeine Formalisierung der Staatsmacht und der Or-ganisation der Gesellschaft auf der Grundlage einer Marktwirtschaft? Kann der Markt wirklich die Kraft der Formalisierung sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft haben?« /169/

Und für diese Problemkonstellation stellt der westdeutsche Nachkriegs-(neo)liberalismus eine originelle Antwort dar. Für die Physiokraten und den Liberalismus des 18. Jahrhunderts vom Typ Adam Smith bestand das Problem darin, »wie man innerhalb einer schon gegebenen politischen Ge-sellschaft einen Freiraum des Marktes abgrenzen und einrichten könnte. Das Problem des Neoliberalismus besteht im Gegenteil darin, wie man die globale Ausübung der politischen Macht anhand von Prinzipien einer Marktwirtschaft regeln kann. Es geht also nicht darum, einen freien Raum zu schaffen, sondern die formalen Prinzipien einer Marktwirtschaft auf die allgemeine Regierungskunst zu beziehen oder abzubilden. Das ist glaube ich, der Einsatz...« /187/ Diesem Einsatz des Neoliberalismus kam die Si-tuation Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg insofern entgegen, als es keine intakte territorialstaatliche Souveränität und verfassungsrechtliche Legitimi-tät, »keinen Apparat, keinen Konsens, keinen kollektiven Willen gibt, der sich in einer Situation manifestieren könnte, in der Deutschland einerseits geteilt und andererseits besetzt ist. Also gibt es keine historischen Rechte und keine juridische Legitimität, um einen neuen deutschen Staat zu grün-den.« /121/ Das idealtypische »System Wille-Gesetz« des klassischen bür-gerlichen Staates war zeitgeschichtlich bedingt außer Kraft gesetzt. Damit haben wir in den Augen Foucaults »im zeitgenössischen Deutschland einen Staat, den man einen radikal ökonomischen Staat nennen kann, wenn man >radikal< im strengen Sinne des Begriffs versteht: Seine Wurzel ist vollkom-men ökonomisch.« /126/

32 Damit spielt Foucault einmal mehr auf die Konvergenz rechter (Werner Sombart) und linker (Herbert Marcuse) Kritik an staatlich regulierten Massengesellschaften an. Der eine betrauert den Untergang des Unternehmer-Bourgeois, der andere rebelliert gegen eine »repressiv-tolerante« Eingemeindung des Individuums im »eindimensiona-len« postliberalen Spätkapitalismus.

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Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft als »Alltagsreligion des golden age« Dem Leiter der Wirtschaftsverwaltung der englisch-amerikanischen Bizo-ne, dem späteren Wirtschaftsminister und sog. »Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders« kommt unter diesen Umständen die Aufgabe zu, die fehlende Legitimität des Staates und die Bildung einer neuen politischen Souveränität auf institutionalisierter wirtschaftlicher Freiheit aller Akteure innerhalb der Wirtschaftsprozesse zu gründen. Auch wenn der Einsatz der Erhardschen Wirtschaftspolitik nicht mit dem der Physiokraten vergleichbar ist, die in einem spätabsolutistischen staatlichen Umfeld dem Laissez-faire-Prinzip zum Durchbruch verhalfen, bezieht Foucault doch die Situation und das Agieren Erhards - exemplarisch am Beispiel einer Grundsatzrede vor dem Wirtschaftsrat 1948, in der Erhard die großen Leitlinien seiner zukünftigen Politik skizzierte, insbesondere die Aufhebung jeglicher Preiskontrollen - in gewisser Weise auf die Gründungsväter der politischen Ökonomien zurück: »Wir befinden uns auf einer Ebene von Vorschlägen, die in ihrer Schlichtheit durchaus an das erinnert, was die Physiokraten fordern konnten oder was Turgot im Jahre 1774 beschließen konnte.« /119/33 In Foucaults Augen hebt sich die Erhardsche Wirtschaftspolitik gerade im Politisch-Grundsätzlichen von anderen ökonomischen Herangehensweisen ab, die trotz eines dirigis-tischen, interventionistischen und keynesianischen Umfeldes in Europa nach 1945 bspw. in Belgien und Italien versucht wurden: »Sie sehen, dass hier (in Westdeutschland, C.L.) dieser Wirtschaftsliberalismus, dieses Prinzip der Achtung der Marktwirtschaft, das vom wissenschaftlichen Beirat formuliert wurde, sich in etwas viel Allgemeineres einfügt, nämlich in ein Prinzip, dem zufolge man die staatlichen Interventionen auf allgemeine Weise begrenzen

33 Der Herausgeber verweist in diesem Kontext auf ein Buch von Francois Bilger, La pensee economique liberale de l'Allemagne contemporaine, Paris 1964, das von Fou-cault, wie seine vorbereitenden Aufzeichnungen zu seinem Vorlesungszyklus belegen, ausgiebig verwendet wurde. Darin findet sich die These: »Wenn Erhard kein Mann einer Partei gewesen ist, dann war er der Turgot einer Wirtschaftsdoktrin.« (Bilger, a.a.O., S. 215.) Diese Einschätzung Bilgers von 1964 wird von Dahrendorf 2004 rückblickend bestätigt: »Ludwig Erhard und seine Freunde fanden das Ahlener Programm und die Sozialausschüsse der CDU fast unerträglich; für Sprecher der Sozialausschüsse wie den Abgeordneten Johannes Albers andererseits gehörte die >Brigade Erhard< eigentlich gar nicht zur Partei. Adenauer nahm das alles durchaus ernst, aber nur als ganzes, als nütz-liche Antinomie, deren Teile dabei relativiert werden. Das war der Kern der sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung.« (Ralf Dahrendorf, »Wie sozial kann die Soziale Marktwirtschaft noch sein?«, III. Ludwig-Erhard-Lecture der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin, 28. Oktober 2004.) - Bilgers Buch wird weder in der Arbeit von Walpen über Neoliberalismus noch in der von Ptak über Ordoliberalismus erwähnt.

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soll.« /119/ Das Problem der liberalen Wahlmöglichkeiten der »Agenda und Non-Agenda« eines bürgerlich-kapitalistischen Staates besteht im Fall Erhard - und damit der westdeutschen Nachkriegsordnung - nicht darin, innerhalb eines bestehenden Staates Raum für notwendige wirtschaftliche Freiheiten zu schaffen, die Agenda des Staates durch eine Non-Agenda zu begrenzen. »Die Deutschen mussten genau das umgekehrte Problem lösen. Angenommen, es gibt keinen Staat, wie sollen wir ihn im Ausgang von je-nem nichtstaatlichen Raum der wirtschaftlichen Freiheit schaffen?« /127/ Und genau dies leistet die »soziale Marktwirtschaft« der Jahre 1948ff. Sie realisiert die »Idee, dass man die Legitimität des Staates auf die garantierte Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit gründen kann« /122f./ und stellt darüber eine spezifische Legitimität eines radikal-ökonomischen Staates her. Foucault benennt auch den »zivilreligiösen Kern« derselben: »Die wirt-schaftliche Freiheit als gemeinsames Produkt des Wachstums sowohl des Wohlstands als auch des Staats als auch der Geschichtsvergessenheit.« /126/ Das deutsche Wirtschaftswunder - »die Bereicherung der Gesamtheit« - ist ein gewöhnliches Zeichen der Zustimmung der Individuen zu ihrem Staat.

Der Fordismus bringt damit eine veränderte politische Zivilreligion zuta-ge. Konnte bis dahin die Formel von Ernest Renan, formuliert zum Ende des 19. Jahrhunderts, gelten - »Eine Nation ist also eine große Solidargemein-schaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit vor-aus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist...ein täglicher Plebiszit...«34 -, so transformiert der Ordo-Liberale Franz Böhm (1895-1977) - »Dieser Franz Böhm wurde später [CDUJBundestagsabgeordneter und hatte bis in die 1970er Jahre einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Wirtschaftspolitik« /151/ — diese zivilreligiöse Formel in eine »ökonomische Alltagsreligion« (Marx): Für Böhm sind die Marktgesetze »eine tägliche und stündliche plebiszitäre Demokratie, ein das ganze Jahr hindurch vom Mor-gen bis in die Nacht währendes Volksreferendum, die technisch idealste Er-scheinungsform von Demokratie, die überhaupt existiert.«35 Dass aber eine

34 Ernest Renan, Was ist eine Nation? Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882, in: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Hrsg. von Michael Jeismann/Hen-ning Ritter, Leipzig 1993, S. 309.

35 Franz Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (Erstveröffentlichung 1950), in: ders., Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1980, S. 89.

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ökonomische Alltagsreligion nicht vollständig an die Stelle einer wie immer gearteten Zivilreligion treten kann, sondern einer zivilreligiösen Überhö-hung bedarf, belegen zentrale politische Kampagnen aus jüngerer Zeit.36

3. Fehlende sozialistische Gouvernementalität

Auch wenn Foucault in seinen Vorlesungen keine eingehende sozialge-schichtliche Betrachtung der deutschen Nachkriegsgeschichte vornimmt, sieht er durchaus die Widersprüche und auch sozialen Auseinanderset-zungen (z.B. Generalstreik vom November 1948) um den damaligen »ne-oliberalen« Kurs, geht er indirekt auf die Frage der »verhinderten Neuord-nung« (Eberhard Schmidt) und des »erzwungenen Kapitalismus« (Tilmann Fichter) ein - eine an Bekennertum grenzende Auseinandersetzung inner-halb der westdeutschen Linken in den 1970er Jahren - und liefert seiner-seits eine originelle Antwort am Beispiel der Nachkriegs-Sozialdemokratie. Ausgehend von einem Buch des späteren Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller von 1955 mit dem »immerhin bezeichnenden Titel Sozialismus und Wettbewerb...d.h. eben nicht Sozialismus oder Wettbewerb, sondern Sozialismus und Wettbewerb« /130/ diagnostiziert Foucault bei der ehe-mals »marxistischen« Sozialdemokratie eine kontinuierliche »Annäherung an etwas, das eine Art von Gouvernementalität ist, die eben das Mittel war, durch welches die deutsche Wirtschaft dem legitimen Staat als Grundlage

Böhm war schon 1936 mit Walter Eucken u.a. Mitunterzeichner eines »ordoliberalen Manifests« und später auch MPS-Mitglied. »Franz Böhm bezeichnete in einer umfang-reichen Arbeit in der Zeitschrift ORDO von 1951 mit dem Begriff Neoliberalismus ein Projekt zur Durchsetzung eines wirtschaftlichen Liberalismus. Trotz des >Erfolg[s] der Erhardschen Politik im Sommer 1948< sei die Zurückhaltung gegenüber der Markt-wirtschaft immer noch erheblich. Man versuche zu verhindern, >dass das wachsende Zutrauen zu marktwirtschaftlichen Formen zu einer politischen und sozialen Rehabi-litierung des wirtschaftlichen Liberalismus - auch in der Form des sogenannten Neo-Liberalismus - führen könnte.<« (Walpen, a.a.O., S. 73f.)

36 Vgl. »Die Ordnung der Freiheit«, Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Arbeitgeberforum »Wirtschaft und Gesellschaft« am 15. März 2005 in Berlin, in de-ren mündlicher Fassung der ehemalige IWF-Direktor für die Aktivierung entfesselter Marktkräfte und die geschichtsklitternde Beschwörung Erhardscher Zeiten auch noch »Gottes Segen« erbat. Auch für Dahrendorf ist in seiner Ludwig-Erhard-Lecture die soziale Marktwirtschaft »nicht aus einem Guss; sie ist eine Legierung«, die den Zeitum-ständen entsprechend ideologisch immer wieder neu aufgeladen werden muss, wie die PR-Kampagnen der »Initiative Neue Soziale Martwirtschaft« (Hervorhebung C.L.) für einen Klimawechsel zugunsten von »Unternehmergeist« zeigten.

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gedient hat.« /131/ Diese schrittweise Anbindung der Sozialdemokratie an Thesen, Praktiken und Programmatik des westdeutschen Ordolibera-lismus sieht Foucault in den spezifischen Anordnungen des »politischen Spiels um das neue Deutschland« selbst begründet. Gewerkschaften und Sozialdemokratie waren seit Bismarck darauf geeicht, in vorgegebene Ver-fassungsstrukturen des bürgerlichen Staates sozialistische Elemente zu im-plementieren. Aber in der »neo-liberalen« Konstellation nach 1945 geht es darum, sich einen ökonomischen Rahmen zu geben, und erst darüber und danach entsteht eine »radikal« ökonomisch begründete Legitimität des Staa-tes. »Wie soll eine sozialistische Partei, deren zumindest ferneres Ziel ein ganz anderes Wirtschaftssystem war, in dieses politische Spiel hineinpassen, da die Gegebenheiten in gewissem Sinne verkehrt waren, das Ökonomische die Wurzel des Staates bildete, und nicht der Staat dieser oder jener öko-nomischen Entscheidung als historisch-rechtlicher Rahmen vorgeordnet war.« /132/ Diese illusionäre Staatsfixiertheit reflektiert sich exemplarisch noch in der politisch-theoretischen Verarbeitung, dass »der Staat der BRD - ein Staat gegen die Vorstellungen der Gewerkschaften«37 wurde. Die Be-gründung Hans Böcklers zum Agieren der westdeutschen Gewerkschaften zeigt die Hilflosigkeit und Wirkungslosigkeit eines gewerkschaftlichen Ver-fassungsprogramms in diesem politischen Spiel mit seiner verkehrten An-ordnung: »Die Gewerkschaften haben davon Kenntnis genommen, daß die Fraktionen des Parlamentarischen Rates sich dahin geeinigt haben, in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes keine näheren Bestimmungen über die Wirtschafts- und Sozialverfassung des deutschen Volkes aufzunehmen. Die Gewerkschaften behalten sich vor, bei der Schaffung einer endgültigen Ver-fassung für Deutschland ihre grundlegenden Forderungen für diese Ord-nungen38 alsdann zu unterbreiten.«39 Die Hilflosigkeit, mit dieser verkehrten Anordnung von Staat und Ökonomie umgehen zu können, führt dazu, dass auch die Sozialdemokratie - um nicht vollständig aus dem wirtschaftlich-po-litischen Konsens des deutschen Liberalismus ausgegrenzt zu bleiben - sich »zumindest der allgemeinen Praxis als Regierungspraxis dieses Neolibera-

37 Richard Detje u.a., Von der Westzone zum Kalten Krieg. Restauration und Ge-werkschaftspolitik im Nachkriegsdeutschland, Hamburg 1982, S. 182ff. Auch hier wird von »der vorläufigen Struktur des politischen Überbaus« (ebd., S.183) gesprochen, ohne daraus jedoch solche prinzipiellen Thesen wie bei Foucault abzuleiten.

38 Ein charakteristischer Begriff des Neoliberalismus, in dem eine immer sozial be-stimmte Gesellschaftspolitik in »reine« Ordnungspolitik transformiert wird.

39 Zit. in: Detje u.a., a.a.O., S. 184.

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lismus (anschließt)« /132/. Das bedeutet nicht, dass nun alle marxistischen oder sozialistischen Programmpunkte mit Godesberg über Bord geworfen wären. Vielmehr hat sich die Sozialdemokratie damit »völlig demjenigen Typ von wirtschaftlich-politischer Gouvernementalität verschrieben, den sich Deutschland seit 1948 gegeben hat.« /133/ Das leitet über zum grundsätz-lichen Problem »der Beziehung des deutschen Sozialismus zur neoliberalen Gouvernementalität«, des Verhältnisses der Sozialisten zum politischen Feld überhaupt. Dabei greift die These einer taktischen Einschnürung zu kurz. »Man sagt oft, dass es bei Marx - nun, die Leute, die ihn kennen, sagen das - keine Analyse der Macht gibt, dass die Theorie des Staates ungenügend ist usw. und dass es an der Zeit sei, eine solche zu entwickeln. Aber ist es am Ende wirklich so wichtig, dass man eine Staatstheorie hat?« /133/ Foucault hält hier dagegen: »Ich meine jedoch, dass dem Sozialismus nicht so sehr eine Staatstheorie fehlt, sondern eine gouvernementale Vernunft, eine Defi-nition dessen, was innerhalb des Sozialismus eine Rationalität der Regierung wäre, d.h. ein vernünftiges und berechenbares Maß40 des Umfangs der Mo-dalitäten und der Ziele des Handelns der Regierung.« /134/ Die Geschichte des Verhältnisses von Sozialismus und Politik ist immer begleitet gewesen von der Frage nach dem »wahren oder falschen Sozialismus«. Das rührt nach Foucault daher, »weil dem Sozialismus eine intrinsische Regierungsrationa-lität fehlt und man diese Abwesenheit einer Regierungsrationalität,... dieses Problem der inneren Regierungsrationalität durch die Beziehung der Über-einstimmung mit einem Text ersetzt...Die Bedeutung des Textes entspricht im Sozialismus, glaube ich, der Lücke, die durch die Abwesenheit einer so-zialistischen Regierungskunst entsteht. Jedem wirklichen Sozialismus, der durch eine Politik umgesetzt wird, muss man also nicht die Frage stellen: Auf welchen Text beziehst du dich, verrätst du den Text oder nicht, stimmst du mit dem Text überein oder nicht, bist du wahr oder falsch? Sondern man sollte ihn ganz einfach immer fragen: Was ist denn diese notwendigerweise äußerliche Gouvernementalität, die dich in Gang hält und innerhalb wel-cher du allein existieren kannst?« /137/ Von dieser Übernahme bürgerlicher Gouvernementalität und der Leerstelle einer Selbstbestimmung der Hand-lungs- und Regierungsweise sozialistischer Politik legen die Geschichte des Staatssozialismus sowie die innerlinken Endlosdebatten um Reform oder

40 Auch Oskar Negt und Alexander Kluge fassen die Antwort auf die von ihnen selbst aufgeworfenen Fragen, »Wem schreiben wir die Macht zu, über uns zu bestim-men? Was ist an der Politik politisch?« in die These von den »Maßverhältnissen des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen«, Frankfurt/M 1992.

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Revolution und jüngst das rot-rote Jammerspiel in Berlin beredte Zeugnisse ab. Diese fehlende sozialistische Regierungskunst ist nicht im Inneren eines wahren Sozialismus und seinen Texten zu finden. »Man kann sie nicht dar-aus ableiten. Man muss sie erfinden.«41

Das verweist zurück auf Foucaults Eingangsthese von der »Verarmung der politischen Einbildungskraft.« Die Hinweise von Foucault auf eine Agenda und Non-Agenda sozialistischer Gouvernementalität sind nach der Seite hin produktiv, dass deren Rationalität auf die Erhöhung politischer Handlungs-fähigkeit und der Autonomie der Subjekte ausgerichtet sein muss. Aber sie greifen für eine moderne sozialistische Gouvernementalität noch zu kurz, da die zugrundeliegenden spontanen Akte und ökonomischen Regulierungen nicht näher in den Blick genommen werden.42 In der Tat kann es kein Zurück zu einem einfachen Etatismus geben. Die sozialistische Plan- und Komman-dowirtschaft stellte ihrerseits schon eine schlechte und unzulängliche Al-ternative zum Fordismus dar. Insofern heute an entwickeltere Formen von Selbstorganisation und Selbststeuerung angeknüpft werden kann, die sich inner- und außerhalb der Unternehmen herausgebildet haben, können zu-gleich politische Rahmenbedingungen, wenn sie mit einer bewussten Steu-erung und Regulierung der kapitalistischen Wertschöpfungsprozesse ver-knüpft werden, eine erhöhte Selbsttätigkeit der Individuen ermöglichen und Formen sozialistischer Gouvernementalität »erfunden« werden: In Kom-munikation und Zusammenarbeit der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure und politischen Strömungen der Linken wäre immer wieder ein vernünftiges und berechenbares Maß des Umfangs, der Modalität und der Ziele des Handelns gemeinsamer linker Politik auszuhandeln - ein Beitrag zu einer erneuerten politischen Kultur der Linken.

41 Foucault reflektiert mit seinen Ausführungen zu sozialistischer Gouvernemen-talität zeitgeschichtlich bedingt die Schwächen, Halbheiten und Krisen der sozialisti-schen Regierung in Frankreich, aber auch die gescheiterten Erneuerungsversuche des (Euro)Kommunismus. 1983, anlässlich eines Projekts zu einem Weißbuch über sozia-listische Politik, stellt er sich die Frage: »>Haben die Sozialisten ein Problem mit der Regierung oder nur ein Problem mit dem Staat?« Im Herbst fordert er seine Studenten in Berkeley auf, sich mit dem Staatsverständnis seit den 1930er Jahren auseinanderzu-setzen. Er liest Schriften von Jaures, Blum und Mitterand.« (Zeittafel zu Foucault, in: Schriften 1, a.a.O., S. 102)

42 Vgl. dazu weiterführend Joachim Bischoff/Hasko Hüning/Christoph Lieber, Von der neoliberalen zur sozialistischen Gouvernementalität - Anforderungen an eine Ri-fondazione der Linken, in: Prokla 141, Nr. 4/2005 (Die Zukunft ist links!), S. 521-540.

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Autorinnen und Autoren

Giovanni Arrighi ist Professor für Soziologie an der Johns Hopkins Univer-sity in Baltimore/USA; [email protected]

Andreas Boes ist Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München und lehrt als Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt; [email protected]

Alex Callinicos ist Professor für europäische Studien am King's College London in Großbritannien; [email protected]

Mario Candeias ist Referent für Kapitalismuskritik und Gesellschaftsana-lyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur der Zeitschrift »Das Argument« sowie des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus; [email protected]

Hyekyung Cho promovierte an der Freien Universität Berlin als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung und arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte in Seoul, Südkorea; [email protected]

Frank Deppe ist em. Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Uni-versität Marburg; [email protected]

Rolf Geffken ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg und Leiter des Instituts für Arbeit - ICOLAIR; [email protected]

Peter Gowan ist Professor für Internationale Beziehungen an der London Metropolitan University; [email protected]

Rosemary Hennessy ist Professorin für Anglistik und leitet das »Center for the Study of Women, Gender and Sexuality« an der Rice University in Houston/Texas; [email protected]

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Stefanie Hürtgen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial-forschung Frankfurt/M; [email protected]

Tobias Kämpf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwis-senschaftliche Forschung (ISF) München; [email protected]

Christina Kaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung »Helle Pan-ke e.V.«, Redakteurin der Zeitschrift »Das Argument« und Vorstandsmit-glied des BdWi; [email protected]

Hans Jürgen Krysmanski ist em. Professor für Soziologie an der Universität Münster; [email protected]

Christoph Lieber ist Lektor beim VSA-Verlag Hamburg und Redakteur der Zeitschrift »Sozialismus«; [email protected]

Ingo Malcher ist Politikwissenschaftler und Journalist, war Korrespondent in Südamerika und London und arbeitet als freier Autor; [email protected]

Kees van der Pijl ist Professor für Internationale Beziehungen und Poli-tikwissenschaften an der University of Sussex/UK; k.van-der-pijl@sussex. ac.uk

Dieter Plehwe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung »Internatio-nalisierung und Organisation« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozial-forschung; [email protected]

Rainer Rilling ist Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Mar-burg und arbeitet im Bereich Politikanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung; [email protected]

Frank Unger ist Privatdozent am John F. Kennedy-Institut für Nordameri-kastudien/Abteilung Politik an der Freien Universität Berlin; ungerf@zedat. fu-berlin.de

Bernhard Walpen ist Sozialwissenschaftler in Luzern/CH und Redakteur im Themenbereich Wirtschaftsgeschichte der Zeitschrift »Sozial.Geschichte«; [email protected]