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Inhaltsverzeichnis Einleitung .................................................................................. 6 I. Der Ursprung der russischen Geschichtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ................................ 15 II. Die klassische russische Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts ................................................................ 45 III. Die Geschichtsphilosophie der Eurasischen Schule ....... 75 IV. Das russische Selbstverständnis am Anfang des 21. Jahrhundert ............................................................................ 136 Schlussbemerkungen............................................................. 181 Bibliographie ......................................................................... 185

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I n h a l t s v e r z e i c h n i s

Einleitung ..................................................................................6 I. Der Ursprung der russischen Geschichtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ................................15 II. Die klassische russische Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts................................................................45 III. Die Geschichtsphilosophie der Eurasischen Schule .......75 IV. Das russische Selbstverständnis am Anfang des 21. Jahrhundert............................................................................136 Schlussbemerkungen.............................................................181 Bibliographie.........................................................................185

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Einleitung Die Diskussion über den Platz Russlands in der modernen

Welt, die seit den 90er Jahren wieder in Gang gekommen ist, knüpft notwendiger Weise an Themen der russischen Geschichts-philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an. Deshalb ist es lehr-reich, die alten Quellen noch einmal aus heutiger Sicht zu untersu-chen und sie auf ihren Gehalt für die Gegenwart zu befragen. Die neue politische Situation, in welcher sich Russland heute befindet, gibt dazu Anlass.

Die alte Geschichtsphilosophie aus vorkommunistischer Zeit spielt für die ideologische Begründung aktueller politischer Ziele in Russland eine wichtige Rolle. Man greift in der Diskussion auf sie wie auf einen neuentdeckten Schatz zurück, die Lösungen für heu-tige Probleme zu bieten verspricht. In der heutigen Diskussion werden Probleme der russischen Geschichtsphilosophie zwar oft nicht direkt thematisiert. Diskutiert werden hauptsächlich Probleme des russischen Sonderweges, analysiert werden neue politische O-rientierungen für das Land. Trotzdem aber ist ein starkes Interesse an der Geschichtsphilosophie erhalten geblieben, was man an im-mer neu erscheinenden Publikationen zu diesem Thema sieht.1 In

1 Z. B.: M. Blok, Apologija istorii ili remeslo istorika, Moskva 1973; E. Loone, Sovremennaja filosofija istorii, Tallinn 1980; J. N. Semenov, Social´naja filosofija A. Toynbee, Moskva 1980; A. I. Rakitov, Istoričeskoje poznanie, Moskva 1982; V. P. Zolotarev, Istoriceskaja konzepcija N. I. Kareeva, Leningrad 1988; A. J. Gurevič, Teorija formacij i real´nost´ istorii, in: Voprosy filosofii, 11/1990, S. 31 - 41; B. L. Gubman, Smysl istorii: ocerki sovremennych zapadnych koncepzij, Moskva 1991;L. N. Karsavin, Filosofija istorii, St. Peterburg 1993; B. L. Gubman, Smysl i naznačenie istorii, Moskva 1994; P. S. Gurevič, Filosofija kultury I. Gerdera, in: Filosofskije nauki, 1-4/1996; V. M. Mežujev, Filosofija istorii i istoričeskaja nauka, in: Voprosy filosofii, 4/1996, S. 74 – 88; K. M. Kantor, Cetvertyj vitok istorii, in: Voprosy filosofii, 8/1996, S. 19 - 41; N. S. Mudragei, Filosofija istorii J. Wiko, in: Voprosy filosofii,1/1996, S. 101 - 109; dazu zählen auch Übersetzungen: L. Fevr, Boj za istoriju, Moskva 1991; K. Jaspers, Smysl i naznačenie istorii, Moskva 1991; Arnold J. Toynbee, Civilizacija pered licom istorii, Moskva 1995; Ortega y Gasset, Istorija kak sistema, in: Voprosy filosofii, 6/1996, S. 78 - 103; Oswald Spengler, Zakat Evropy, Moskva 1999, u.a. mehr.

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den Debatten über die Rolle Russlands in der Welt sind die alten Denkrichtungen durchaus wieder zu erkennen.

Nach dem Ende der Marxismus-Leninismus in Russland sind zwei ideologische Orientierungen dominant geworden. Eine davon ist die demokratische Ideologie, die ummittelbar nach Auflösung der Sowjetunion als quasi-offizielle Ideologie aufgetreten ist. Die „Demokraten“ vertreten darin typisch westlerische Positionen, sie fordern eine möglichst schnelle Demokratisierung Russlands nach westlichem Muster und seine Eingliederung in die moderne westli-che Zivilisation. Als zweite starke ideologische Strömung hat im Laufe der letzten Jahre die eurasische Ideologie an Einfluss ge-wonnen. Sie hat ihre Wurzeln in der slawophilen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Es sind heute die Neo-Eurasier, die diese Tradi-tion fortsetzen. Sie gehen auf Distanz zum Westen und kritisieren das moderne westliche Entwicklungsmodel.

Im heutigen Russland stehen diese beiden Denkrichtungen in Konkurrenz zueinander und kämpfen um die Vorherrschaft. Weil die von Europa übernommenen demokratischen Ideen relativ gut bekannt sind und die mit ihnen verbundene Geschichtsphilosophie keine original russische, sondern eher eine europäische Erschei-nung ist2, braucht diese im Zusammenhang mit der Darstellung der russischen Geschichtsphilosophie nicht noch einmal vorgestellt zu werden. So bleibt für eine systematische Untersuchung der russi-schen Geschichtsphilosophie nur die slawophile und eurasische Gedankenwelt.

Die Verbundenheit der slawophilen Philosophie im 19. und der eurasischen im 20. Jahrhundert wird heute von vielen Autoren betont3. Zusammen bilden sie eine gemeinsame Denktradition. Dies bedeutet, dass alte Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von 2 Dasselbe kann man auch von der kommunistischen Ideologie während der Sowjetzeit sagen. Sie war vom Westen übernommen, stützte sich hauptsächlich auf die marxistische Philosophie und hatte nur in der Form des Marxismus-Leninismus einige russische Besonderheiten. Die Fremdheit dieser Ideologie in Russland kommt allein schon darin zum Ausdruck, daß sie ohne staatliche Unterstützung ihren dominanten Einfluß sehr rasch verloren hat. 3 Vgl. u.a. V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000, insbesondere Kapitel 2.

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neuen, jüngeren Generationen übernommen und konkretisiert wor-den sind. Die Grundgedanken und Einstellungen sind aber im we-sentlichen unverändert geblieben. Diese Ideen vorzustellen, ist ei-nes der Ziele dieser Arbeit. In ihr können jedoch nicht alle Prob-leme der slawophilen und eurasischen Philosophie dargestellt wer-den, sondern nur jene, die eine bestimmte Deutung der Weltge-schichte bieten.

Die Denker, deren Werke in dieser Arbeit untersucht werden, sind alle mehr oder weniger bekannt, aber sowohl in der russischen als auch in der deutschen philosophischen Literatur gibt es bisher keine Untersuchung, die sie, die slawophilen wie die eurasischen Geschichtsphilosophen, als zu einer gemeinsamen Traditionslinie gehörig vorstellt. Hier wird unternommen, die einzelnen Autoren insgesamt als Vertreter einer “Schule“ der russischen Geschichts-philosophie auszuweisen. Diese Tradition, das muss man von An-fang an sagen, ist mehr mit der slawophilen Philosophie verbunden als mit der westlichen; denn die Westler fanden die europäische Philosophie, sei es die von W. G. F. Hegel, A. Comte, K. Marx o-der auch die von F. Fukuyama und S. P. Huntington, für die Er-klärung der sie bewegenden geschichtlichen Probleme als ausrei-chend und haben sie durch selbständige Forschungen, abgesehen von ihrem ideologischen Gebrauch und Missbrauch, zwar berei-chert, nicht aber eine eigene westliche Philosophie entwickelt.

Für die russische Geschichtsphilosophie ist das Thema Russ-land und Europa von zentraler Bedeutung gewesen. Trotzdem kann ihr Inhalt nicht nur auf diese Thematik beschränkt werden, auch nicht auf die Frage nach der russischen Mission in der Weltge-schichte oder nach einem russischen Sonderweg; denn ähnliche Themen wurden im 19. Jahrhundert in ganz Europa diskutiert.

Einer der wichtigen Momente in der russischen Geschichts-philosophie ist die Lehre vom geschichtlichen Leben der Völker, das mit biologischen, genauer gesagt, mit pflanzlichem Leben ver-glichen wird. Natürliche Zyklen wie Wachstum und Absterben, die in der Welt des organischen Lebens existieren, werden zum Ver-ständnisschema der Geschichte gemacht. Bei vielen Vertretern der russischen Geschichtsphilosophie ist diese Sicht der Geschichte

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mehr oder minder anzutreffen. Aber auch dieses Element stellt kei-ne Besonderheit der russischen Geschichtsphilosophie dar; denn biologische (Darwin), geopolitische (Ratzel) und auch zyklische Theorien (Vico) sind ebenfalls in der Geschichte des europäischen Denkens anzutreffen.

Das wesentliche Merkmal der russischen Geschichtsphiloso-phie besteht in der partikularistischen Deutung der Weltgeschichte. Das unterscheidet sie von der europäischen Geschichtsphilosophie, die hauptsächlich universalistische Züge trägt. Die partikularisti-sche Deutung der Weltgeschichte bedeutet, dass die Weltgeschichte nicht als ein einheitlicher Prozess verstanden wird, sondern als Entwicklung von ganz verschiedenen Kulturen, die ich Kultur-Mo-naden nenne. Diese entwickeln sich relativ selbständig und haben eine eigene innere Dynamik, in der bestimmte Etappen, Phasen, Perioden oder Zyklen zu unterscheiden sind. Die Periodisierung ist bei den Vertretern der russischen Geschichtsphilosophie ebenso unterschiedlich wie die begrifflichen Bezeichnungen der Monaden.

Unter russischer Geschichtsphilosophie verstehe ich demge-mäß nicht eine Lehre, die ausschließlich von Russland handelt, sondern eine, die eine andere als die traditionelle westliche Sicht der Weltgeschichte präferiert, nicht eine universelle und lineare, sondern eine partikularistische und zyklische.

Mit dem Begriff „Geschichtsphilosophie“ sind nach Willi Oelmüller vor allem zwei Deutungen der Geschichte verbunden:

• der philosophische Versuch, „die eine Geschichte der Menschheit als einen mehr oder weniger einlinigen, monokausalen und europazentrierten Fortschrittsprozess zu denken“ sowie

• die philosophische Reflektion, „die nach Einsicht in das Ende der einen europazentrierten Geschichte versucht, die Vielzahl der Kulturen und Gesellschaften der Erde in verschiedenen Kultur übergreifenden Modellen zu denken.“4

Es wird in dieser Untersuchung zu zeigen sein, durch welche Besonderheiten sich die russische Geschichtsphilosophie, um die es hier einzig und allein geht, auszeichnet. 4 Willi Oelmüller, Geschichtsphilosophie, in: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Düsseldorf 1985, S. 90.

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Zur Darstellung der russischen Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert wurden außer Originalquellen vor allem die Arbeiten von Wilhelm Goerdt, Dieter Groh, Hans Kohn, Robert MacMaster, Thomas Masaryk und Alexander Schelting5 benutzt. Die russische Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert ist noch wenig erforscht. Das geschieht gegenwärtig hauptsächlich im Rahmen von Untersu-chungen des Eurasiertums. Der „eurasischen Schule“ sind in Deutschland neuerdings u. a. die Arbeiten von Otto Böss, Jens Fi-scher, Assen Ignatow und Leonid Luks gewidmet gewesen.6 Mit dem Nachlass von Lev Gumilev haben sich in Deutschland bisher nur wenige Autoren beschäftigt.7 In Russland gibt es dagegen zahl- 5 Wilhelm Goerdt, Vergöttlichung und Gesellschaft. Studien zur Philosophie von Ivan V. Kireevskij, Wiesbaden 1968; ders., Russische Philosophie: Zugänge und Durchblicke, München 1984; Dieter Groh, Russland und das Selbstverständnis Europas: Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961; Hans Kohn, Dostoyevsky and Danilevsky: Nationalist Messianism, in: Ernest Simmon (ed.), Continuity and Change in Russian und Soviet Thought, Cambridge, Massachusetts, 1955; ders., Die Slawen und der Westen, Wien 1956; Robert MacMaster, Danilevsky and Spengler: A New Interpretation, in: Journal of Modern History, 2/1954; ders, Danilevsky: A Russian Totalitarian Philosopher, Cambridge, Massachusetts, 1967; Tomas Masaryk, Russland und Europa, Jena 1913; ders., Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Frankfurt am Main 1992; Alexander Schelting, Russland und Europa, Bern 1948; ders., Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989; Dmitrij Tschizewskij / Dieter Groh (Hrsg.), Europa und Russland, Darmstadt 1959. 6 Otto Böss, Die Lehre der Eurasier: Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961; Jens Fischer, Eurasismus: Eine Option russischer Außenpolitik?, Berlin 1998; Assen Ignatow, Das “Eurasiertum“ und die Suche nach einer neuen russischen Kulturidentität, in: Berichte des BIOst, 15/1993; Annet Jubara, Russlands neue Eurasier, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 163 – 174; Leonid Luks, Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 3/1986, S. 374 - 395; ders., Evrazijstvo, in: Voprosy filosofii, 6/1993, S. 105 - 114; ders., Evrazijstvo i konsrwativnaja revolutija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 57 - 69. 7 Mit ihm befassen sich zum Beispiel die Arbeiten von Hildegard Kochanek, Die Ethnienlehre Lev N. Gumilevs, in: Osteuropa, 5/1998, S. 1184 - 1197, und von Bruno Naarden, “I am a genius, but no more than that“ - Lev Gumilev (1912 - 1992): Ethnogenesis, The Russian Past and World History, in: Jahrbücher für

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reiche neuere Publikationen zu diesem Thema.8 Ziel dieser Arbeit ist es, eine vergleichende Analyse der unter-

schiedlichen Konzeptionen innerhalb der russischen Geschichts-philosophie vorzunehmen und ihre gemeinsamen Züge festzustel-len. Bei der Analyse der russischen Geschichtsphilosophie werden insbesondere folgende Fragen behandelt werden:

• Inwiefern handelt es sich bei der russischen Deutung der Weltgeschichte um eine partikularistische oder zyklische?

• Inwieweit werden biologische und andere naturwissen-schaftliche Theoreme zur Deutung der Geschichte herangezogen?

• Welche Vorstellungen über die besondere geschichtliche Rolle Russlands hat es gegeben?

• Wie wird Russlands Verhältnis zu anderen Kulturen, vor al-lem zur europäischen, dargestellt?

Im philosophischen Sinn des Wortes hat, nachdem Voltaire den Terminus „philosophie de l’histoire“ geprägt hatte, zuerst Jo-hann Gottfried Herder von einer Geschichtsphilosophie gespro- Geschichte Osteuropas, 1/1996, S. 54 - 82. 8 R. F. Its, Neskolko slov o knige L. N. Gumileva, in: L. N. Gemilev, Etnogenez i biosfera zemli, Leningrad 1989, S. 3 – 13; A. Kuz´min, Propeller passionarnosti, ili teorija privatizacii istorii, in: Molodaja Gwardija, 9/1991, S. 256 - 276; I. A. Isaev (ed.), Puti Evrazii, Moskva 1992; A. Janov, Ucenie L’va Gumileva, in: Svobodnaja mysl´, 17/1992, S. 104 - 116; P. Paramonov, Sovetskoje , in: Zvezda, 4/1992; A. Turin, Etika etnogenetiki, in: Neva, 4/1992, S. 223 – 246; V. J. Paščenko, Evrazijci i my, in: Vestnik MGU, Seria 12, 3/1993, S. 79 - 89; Leonid Luks, Evrazijstvo, in: Voprosy filosofii, 6/1993, S. 105 - 114; A. Janov, Veimarkskaja Rossija, in: Neva 5/1994, S. 256 - 268; T. Ochirova, Geopolitičeskaja kontsepcija evrazijstva, in: Obščestvennye nauki i sovremennost´, 4/1994; A. Ignatov, „Evrazijstvo“ i poisk novoj russkoj kulturnoj identičnosti, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 49 – 64; Evrazijstvo: za i protiv, včera i segodnja, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 3 - 45; I. A. Isaev, Evrazijstvo i konservativnaja revolucija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 57 - 69; A. Janov, Posle Jelcina: Vejmarskaja Rossija, Moskva 1995; L. I. Novikova / I. N. Sizemskaja, Evraziskij iskus, in: Filosofskije nauki, 12/1991; ders. , Vvedenije, in: L. I. Novikova / I. N. Sizemskaja (ed.), Rossija mejždu Evropoj i Aziej: Evrazijskij soblasn, Moskva 1993, S. 4 - 23; S. N. Puškin, Evrazijskije vzglady na civilizaciju, in: Sociologičeskije issledovanija, 12/1999, S. 24 - 33; V. I. Zubov, Osnovy etnologii: Učebnoje posobije po teorii etnogenesa L. N. Gumileva, Moskva 1999; V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000.

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chen.9 Er verstand darunter die „Reflexion über Plan und Ablauf der Geschichte“ und hat den Sinn der Weltgeschichte in der Ent-wicklung der Menschheit in allen ihren Teilen, den Völkern wie den Einzelnen, zur “Humanität“ erblickt. Für Immanuel Kant be-wegte sich die Geschichte der Menschheit auf einen „weltbürgerli-chen Zustand“ hin, der sich durch eine das “Recht verwaltende bürgerliche Verfassung“ auszeichnete und sich auf einen „ewigen Frieden zwischen den Staaten“ gründete.10 Und Hegel hat die Ge-schichtsphilosophie nachgerade als „Theodicee“, also als Rechtfer-tigung Gottes, und die Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewusst-sein der Freiheit“ begriffen.11 In dieser Tradition, der Weltge-schichte einen tiefen Sinn zu geben, steht auch die russische Ge-schichtsphilosophie.

Ich bin bei meiner Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, dass die russische Geschichtsphilosophie die Geschichte der Menschheit nicht universell, sondern partikularistisch und nicht linear, sondern zyklisch interpretiert hat. Anders ausgedrückt, dass sie Geschichte aus besonderen, gleich zu erläuternden Gründen als einen Prozess begreift, das dem ewigen Gesetz des Werdens und Vergehens unterworfen sind.

Die zentrale These von der Eigenständigkeit der russischen Kultur lässt sich damit erklären, dass mit ihr das Gefühl und das Bewusstsein der Andersartigkeit zum Ausdruck gekommen, dass mit ihr die Absonderung von der europäischen Kultur und die Aufwertung der eigenen Kultur bezweckt worden ist. Dieser Zu-sammenhang ergibt sich allein schon daraus, dass ursprünglich die eigene russische Kultur der “westlichen“ entgegengesetzt, nicht aber die Existenz einer Vielzahl von ganz verschiedenen Kulturen angenommen worden ist.

Die Annahme einer multizivilisatorischen Geschichte ist erst 9 Hier und im folgenden halte ich mich an die Darstellung von U. Dierse / G. Scholtz, Geschichtsphilosophie, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörter-buch der Philosophie, Bd. 3, Basel / Stuttgart 1974, S. 420ff. 10 Vgl. dazu Kurt Rossmann, Philosophie und Geschichte - Zur Geschichte der Geschichtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, München / Basel 1967, S. XLIII f. 11 Vgl. U. Dierse / G. Scholtz, a. a. O., S. 428f.

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später, durch Danilevskij und Leontjev, begründet worden. Von Oswald Spengler und Arnold Toynbee auf je verschiedene Weise vertieft, ist diese Sichtweise in Gestalt der von Samuel Huntington aktualisiert und popularisiert worden.12 Insofern gebührt der russi-schen Geschichtsphilosophie in der Tat der Ruhm, zuerst mit dem westlichen Monopol einer universellen Geschichtsdeutung gebro-chen zu haben.

Anders steht es mit der These, dass der russischen Geschichts-philosophie insofern ein zyklisches oder organisches Geschichts-verständnis eigen ist, als sie Völker und Kulturen einem gesetzmä-ßigen Prozess des Entstehens, der Reife und des Unterganges un-terworfen sieht. Die europäische Kultur als im Übergang zur „Zivi-lisation“ dargestellt worden ist, was mit ihrem Altern und Verfall gleichgesetzt wurde, während die russische Kultur als jung und dy-namisch hingestellt worden ist, deren wahre Blüte erst noch bevor-stand.

Nikolaj Berdjaev hat von der russischen Geschichtsphiloso-phie einmal gesagt, dass sie im Unterschied zum westlichen Den-ken dem „eschatologischen Problem des Endes zugewandt, ... apo-kalyptisch gefärbt“ gewesen sei.13 Er hat dafür den spezifisch reli-giösen Gehalt der russischen Geschichtsphilosophie verantwortlich gemacht. Ich bin bei meiner Untersuchung zu dem Ergebnis ge-langt, dass sie zusätzlich auch partikularistisch, zyklisch und orga-nisch angelegt gewesen ist. Die partikularistische Geschichts-deutung ist durch Danilevskij und Leontjev in klassischer Weise formuliert, später dann von Oswald Spengler und Arnold Toynbee auf je verschiedene Weise vertieft worden. Es ist also die russische Geschichtsphilosophie gewesen, die als erste mit dem Monopol der universellen Geschichtsdeutung gebrochen hat.

Anders steht es mit der These, dass der russischen Geschichts-philosophie ein zyklisches und organisches Geschichtsverständnis eigen ist, dass Völker und Kulturen einem gesetzmäßigen Prozess

12 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, New York 1996, p. 40 - 48. 13 Vgl. Nicolai Berdiajew, Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschickes, Tübingen 1950, S. 12.

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des Entstehens, der Reife und des Unterganges unterworfen sind. Diese Geschichtsdeutung hat einen stark politisch-ideologischen Gehalt, weil die europäische Kultur als im Untergang begriffen be-trachtet, während die russische Kultur als jung und dynamisch dar-gestellt worden ist, deren wahre Blüte noch bevorsteht.

Was das 19. Jahrhundert betrifft, wird vor allem die sla-wophile Geschichtsphilosophie, darunter die von mir als “klas-sisch“ bezeichnete Geschichtsphilosophie von Nikolaj Danilevskij und Konstantin Leontjev, näher betrachtet. Im dritten Teil wird die Philosophie der Geschichte von Nikolaj Trubezkoj, Lev Gumilev und Alexandr Panarin eingehend analysiert.

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I. Der Ursprung der russischen Geschichtsphilo-sophie in der ersten Hälfte

des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das russische Kaiserreich seine größte Ausdehnung erreicht: Es erstreckte sich vom Baltikum bis nach Alaska, vom Nordmeer bis zu den Grenzen der Türkei, Persiens und Chinas. Es war einer der größten Staaten der Weltgeschichte. Die Beteiligung Russlands im Krieg gegen Napoleon hatte zum Einmarsch russischer Truppen in Paris geführt. Durch diesen Vorstoß ins Herz Europas hatte sich die Kenntnis der russischen Eliten über Europa vermehrt und verbreitert. Die Offi-ziere, die damals meistens Adlige waren, brachten neue, westliche Gedanken mit nach Hause. Die revolutionären europäischen Ideen waren für die damalige russische Gesellschaft Anklage und Provo-kation zugleich. Zu dieser Zeit entstanden jene gesellschaftlichen Protestbewegungen, die sich zuerst im Jahre 1825 zeigten und da-nach immer wieder erneut ernsthafte Krisen des Staates ausgelöst haben. Sie sind der Anlass für gesellschaftlich erzwungene bzw. von der jeweiligen Staatsmacht initiierte Reformen oder auch Re-volutionen gewesen.

Die größte geographische Ausbreitung Russlands fand zeit-gleich mit einer Krise der alten europäischen Ordnung statt. Die Revolution von 1848 in Europa hatte weltgeschichtliche Bedeu-tung, weil sie die traditionelle politische Ordnung in ganz Europa erschütterte und unterminierte. Sie zeigte die scharfen sozialen Ge-gensätze in der europäischen Gesellschaft und offenbarte die Unfä-higkeit der alten Regime, ihre Macht zu erhalten. Trotz der Nie-derlage der revolutionären Bewegungen wurden die Grundlagen der „alten“ dynastischen Ordnung Europas in Frage gestellt.

Im 19. Jahrhundert war Russland ein integraler Bestandteil der europäischen Ordnung. Die großen Ereignisse der europäischen Geschichte waren gleichzeitig wichtige Ereignisse der russischen Geschichte. Das riesige konservative Potential Russlands hatte den Sieg der Reaktion zumindest in den zentraleuropäischen Staaten unterstützt. Russland spielte damals somit die Rolle eines „ge-

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schichtlichen Dämpfers“, der den Verlauf der Revolution in Europa verlangsamte. Die Revolution bot für Russland eine Chance, sich nach den Koalitionskriegen in die europäischen Angelegenheiten aktiv einzumischen. Dies führte einerseits zur Angst vor Russland aufgrund der Verbesserung seiner strategischen Lage und seiner Transformation zu einer selbständigen politischen Großmacht. An-derseits zeigten sich im Laufe der Zeit deutlich die inneren Prob-leme der russischen Gesellschaft. Die Zersplitterung der russischen Gesellschaft destabilisierte das Imperium. Bereits in dieser Zeit setzte der Prozess seiner Auflösung ein, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Die Schwächung der inneren politischen Kräfte des Imperiums führte aber zur Aktivierung des geistigen und intel-lektuellen Lebens in Russland. Einer der ersten russischen Denker, der sich mit den großen geschichtlichen Fragen der Zeit auseinan-dersetzte, ist Pjotr Caadajev (1794 - 1856) gewesen.

Wilhelm Goerdt schreibt über ihn: „Peter J. Caadajev (1794 - 1856) ist eine der bedeutenden Gestalten der russischen Philoso-phie, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit äußerst per-sönlicher Betroffenheit und letzter Entschiedenheit sich der Auf-gabe gestellt haben: ’zu sagen, was Russland ist; was sein Ort im Leben der Menschheit ist, sein Wert, seine Bestimmung’ - und die damit der immer starken ’geschichtsphilosophischen Tendenz’ des russischen Denkens zum Durchbruch verholfen haben. So sehr Caadajev diese Charakteristik des Auftrages russischer Geschichts-philosophie für sich auch akzeptieren würde, er hat sich niemals als ’Spezialist’ für Geschichtsphilosophie verstanden“.14

Pjotr Caadajev war einer der ersten, der die Frage nach der ge-schichtlichen Bestimmung Russlands gestellt hat. Er wagte offen zu sagen, dass Russland im Vergleich mit den europäischen Staaten eine geringere kulturelle Bedeutung habe. Das reichte, um lange Debatten in der russischen Gesellschaft zu entfachen. Besonders heftige Reaktion kam von Seiten der Slawophilen, die Russlands kulturelle Selbständigkeit betonten.15 Trotzdem lässt sich Caadajev

14 Wilhelm Goerdt, Russische Philosophie: Zugänge und Durchblicke, München 1984, S. 272. 15 Viele Autoren rechnen Caadajev zu den Westlern, weil er den Vorschlag ge-

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den Slawophilen zuordnen, weil er ein überzeugter Gläubiger war und in seinen philosophischen Briefen16 immer wieder die Bedeu-tung der Religion im Leben der Völker hervorgehoben hat.17

Mit Pjotr Caadajev beginnt das geschichtsphilosophische Denken in Russland. Er war der erste, der die Frage nach der Selb-ständigkeit der russischen Philosophie gestellt hat. „Caadajev gibt in seinen Schriften die Skizze einer Geschichtsphilosophie. In vol-lem Bewusstsein der Tragweite verlangt Caadajev für die Russen eine ganz neue philosophische Betrachtung der Geschichte, um sich über ihre Stellung in der geschichtlichen Entwicklung und die zu leistenden Aufgaben klar zu werden ... .“18 Nach Caadajevs Mei-nung hat Russland keine philosophische Tradition, keine leitende Idee. Russland hat der Welt keinen einzigen Gedanken gegeben, die Welt hat von den Russen nichts lernen können. So äußerte sich Caadajev zur Frage über den Platz Russlands unter den anderen Völkern: „Das kommt daher, dass wir niemals mit den anderen Völkern Schritt gehalten haben; wir gehören zu keiner der großen Familien des Menschengeschlechtes; wir gehören weder zum Osten noch zum Westen, haben weder die eine noch die andere Tradition. macht hat, die russische orthodoxe Kirche der europäischen katholischen Kirche zu unterstellen. Im diesem Sinne war er ein Vorläufer von Vladimir Solovjev. Kuznecov schreibt: „Die Persönlichkeit Caadajevs kann man nur mit zwei auch so einzigartigen Figuren vergleichen – mit Vladimir Solovjev und Konstantin Leontjev.“ Vgl. P. V. Kuznecov, Metafiziceskij narcis: P. J. Caadajev i syd´ba filosofii v Rossii, in: Voprosy filosofii, 6/1997, S. 177. 16 Im Jahre 1836 hatte Caadajev seinen ersten ”Philosophischen Brief“ in der Zeitschrift ”Teleskop“ in russischer Übersetzung veröffentlicht. Alexander Herzen beschreibt die Wirkung des Briefes folgendermaßen: „Die Zeitschrift wurde sofort verboten; Boldyrjev, der greise Rektor der Moskauer Universität und zugleich Zensor, wurde verabschiedet, Nadjeshdin, der Herausgeber, nach Ustj-Syssolsk verbannt; Caadajev wurde auf Befehl Nikolajs für verrückt erklärt und durch seine Unterschrift verpflichtet, nichts mehr zu schreiben.“ Vgl. Alexander Herzen, Mein Leben: Memorien und Reflexionen, Bd.1, Berlin 1962, S. 694. 17 Der Hauptunterschied zwischen Slawophilen und Westlern liegt m. A. nach in ihrem Verhältnis zur Religion. Alle Westler waren mehr oder weniger Atheisten, und alle Slawophilen waren mehr oder weniger Gläubige. 18 Thomas Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 196.

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Wir leben gleichsam außerhalb der Geschichte, die allgemeine Er-ziehung des Menschengeschlechtes ist spurlos an uns vorüberge-gangen.“19

Pjotr Caadajev hat im Geschichtsverlauf schon bestimmte Pe-rioden unterschieden. So beschreibt er die erste Periode des ge-schichtlichen Lebens eines Volkes, die sogenannte “Jugendzeit“: „Jedes Volk erlebt eine Periode heftiger Bewegung, leidenschaftli-cher Unruhe, ziellosen Tatendranges. In einer solchen Zeit sind die Menschen Weltenwanderer, körperlich wie geistig. Es ist die Epo-che großer Gefühle, großer Unternehmungen, großer Volksleiden-schaften. ... Ihr verdanken sie ihre lebendigsten Erinnerungen, ihre Mythen, ihre Dichtung, ihre größten und fruchtbarsten Ideen. Das ist die notwendige Grundlage jeder geschichtlichen Gemeinschaft. Ohne sie hätten sie in ihrer Erinnerung nichts, an das sie sich halten und an dem sie ihr Gefühl entzünden könnten. ... Die interessantes-te Phase in der Geschichte der Völker ist ihre Jugendzeit, es ist die Epoche, in der sich ihre Fähigkeiten am stärksten entfalten und die die Freude und Belehrung ihres reifen Alters bildet.“20 Diese Cha-rakterisierung ist einer der ersten Versuche in der russischen Ge-schichtsphilosophie, die Geschichte einzelner Völker zu periodisie-ren.

Pjotr Caadajev benutzt in seiner Geschichtsphilosophie oft Vergleiche zwischen einzelnen Menschen und einzelnen Völkern, was für die russische Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts typisch ist. Zum Beispiel schreibt er: „Die Völker sind im gleichen Maße geistige Wesen wie die einzelnen Menschen. Die Jahrhun-derte bilden die Stufen ihrer Erziehung, genau wie beim Menschen die Jahre. Man kann gewissermaßen sagen, dass wir ein Ausnah-mevolk sind. Wir gehören zu jenen Völkern, die gleichsam von der Menschheit ausgeschlossen sind und die nur leben, um der Welt irgendeine große Lehre zu erteilen.“21

Hieran sieht man auch, dass Caadajev in seinen Überlegungen

19 P. J. Caadajev, Polnoje sobranie sočinenij i isbrannye pis´ma, Bd. 1, Moskva 1991, S. 323. 20 Ebd., S. 324. 21 Ebd., S. 326.

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immer wieder auf das Thema Russland kommt. Als Vorbild für Russland nimmt er die europäischen Völker, die ihre geschichtliche Reife hinter sich, alle Seiten ihres gesellschaftlichen Lebens bereits voll entwickelt haben: „Die Völker Europas haben eine gemeinsa-me Physiognomie und eine gewisse Familienähnlichkeit. Obwohl man im allgemeinen diese Völker in lateinische und germanische Rassen, Süd- und Nordländer aufteilt, gibt es ein Verbindendes, das sie alle umschließt und das jedem sichtbar wird, der sich in ihre Geschichte vertieft. Sie wissen, dass es noch nicht lange her ist, dass ganz Europa sich Christenheit nannte und dass dieser Begriff im Staatsrecht gebraucht wurde. Außer diesem alles Umfassenden hat noch jedes Volk seine besondere Eigenart, aber alles, was sie sind, sind sie nur auf Grund von Geschichte und Tradition. Diese bilden das ideelle Erbgut eines jeden dieser Völker.“22 „Ich will keineswegs behaupten, dass die Laster nur auf unserer Seite und die Tugenden nur auf Seiten der europäischen Völker liegen. Gott bewahre!“23

Einer der charakteristischen Züge der Philosophie Caadajevs ist die Hoffnung auf Russlands große Zukunft. Im Jahre 1835 schrieb er: „Nach meiner Meinung ist Russland zu einer großen geistigen Tat berufen: es muss die Lösung der Fragen geben, die heute in Europa diskutiert werden.“24 Georgij Florowskij hat sogar gemeint, dass Caadajevs Glaube an Russland und an dessen Zu-kunft der wichtigste Bestandteil seiner Philosophie gewesen sei.25 Alles das, seine Kreativität wie sein Einfluss, macht Pjotr Caada-jev, der für die russische Philosophie von großer Bedeutung ist, zu einem Wegbereiter.26

22 Ebd., S. 327. 23 Ebd., S. 329. 24 Zitiert nach: G. Florovskij, Herzen v sorokovye gody, in: Voprosy filosofii, 4/1995, S. 94. 25 Vgl. G. Florovskij, Herzen v sorokovye gody, in: Voprosy filosofii, 4/1995, S. 95. 26 Das Interesse an der Philosophie Caadajevs hat sich in Russland erhalten. Das zeigen neue wissenschaftliche Publikationen in der Fachliteratur: L. V. Sčeglova, Nacionalnyj i kulturnyj projekt v idejnom mire P. J. Caadajeva, in: Vestnik MGU, Serija 7, 1/2000, S. 36 - 45; P. W. Kusnezow, Matafisiceskij narziss: P. J.

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Die Geschichtsphilosophie der Slawophilen

Im Rahmen der slawophilen Geistesströmung sind viele Ideen

entstanden, die eine zentrale Rolle in der russischen Geschichtsphi-losophie gespielt haben. Die Slawophilen waren diejenigen, die als erste wichtige Themen der russischen Geschichtsphilosophie for-muliert haben. Großes Interesse an der russischen Geschichte, Ver-gleiche zwischen russischer und europäischer Kultur, Gedanken über die Zukunft Russlands – das sind die Fragen, die die russische Geschichtsphilosophie später immer wieder behandelt hat. Aber im Rahmen der slawophilen Tradition sind nicht nur diese damals ak-tuellen Fragen aufgeworfen, sondern auch einige Grundprinzipien der russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts formu-liert worden.

Drei Grundsätze möchte ich schon an dieser Stelle hervorhe-ben: Die Religion wird als Grundlage jeder Kultur betrachtet. Da-her kommt, zweitens, die Betonung der großen Rolle der orthodo-xen Kirche für die russischen Kultur. Und aus dieser Identifizie-rung erwächst, drittens, die Annahme, dass die russische Kultur eine eigenständige ist, die sich von der europäischen, welche durch den Katholizismus und den Protestantismus geprägt worden ist, fundamental unterscheidet.

Vor dem Hintergrund dieser Grundeinstellung wird es ver-ständlich, dass die Slawophilen insbesondere das Problem des Ver-hältnisses zwischen Kirche und Staat thematisiert, im Streit mit ka-tholischen und protestantischen Theologen die Orthodoxie vehe-ment verteidigt und auf negative Einstellungen Europas gegenüber Russland besonders allergisch reagiert haben, weil die dahinter, zu recht oder auch zu unrecht, stets einen Angriff auf die russische Religiosität vermutet haben.

Die slawophilen Ideen werden hier am Beispiel von drei Auto-ren dargestellt: von Ivan Kirejevskij, Alexej Chomjakov und Fjo-dor Tjučev. Sie haben eine zentrale Rolle in der slawophilen Partei Caadajev i sydba filosofii w Rossii, in: Voprosy filosofii, 6/1997, S. 175 - 191; u. a. mehr.

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gespielt, aber in ihren Werken ganz unterschiedliche Themen be-handelt. Während Kirejevskij das Verhältnis zwischen europäischer und russischer Kultur untersucht hat, interessierte Chomjakov in erster Linie das Verhältnis zwischen römisch-katholischer und rus-sisch-orthodoxer Kirche. Tjučev hat dagegen den Schwerpunkt sei-ner Studien auf die politischen Verhältnisse zwischen Russland und Europa gelegt.

Ivan Kirejevskij (1806-1856), ein einflussreicher Vertreter der slawophilen Strömung27, hat sich als einer der ersten mit den Be-ziehungen zwischen der russischen und europäischen Kultur be-schäftigt. Sein programmatischer Aufsatz “Über den Charakter der Bildung Europas und sein Verhältnis zur Bildung Russlands“ er-schien 1852 in der Zeitschrift “Moskowskij Sbornik“.28

Während andere Slawophile die positiven Werte Europas an-erkannt und geschätzt haben, betonte Kirejevskij vor allem die Ge-gensätze zwischen der europäischen und der russischen Kultur.29 Er schreibt: „Eine chinesische Mauer steht zwischen Russland und Europa ... .“30 Kirejevskij hat geglaubt, folgende Unterschiede zwi-

27 Ivan Kirejevskij studierte im Jahre 1830 an den deutschen Universitäten Berlin und München, bei Hegel und Schelling. Im Herbst 1831 gründete er die Zeit-schrift “Der Europäer“. Im ersten Heft veröffentlichte Kirejevskij einen Leitarti-kel “Das neunzehnte Jahrhundert“, in dem er die Frage stellte, ob „wir aus dem Innern unseres eigenen Lebens unsere Bildung schöpfen oder sie von Europa empfangen sollen?“ Vgl. W. Goerdt, Vergöttlichung und Gesellschaft. Studien zur Philosophie von Ivan V. Kirejevskij, Wiesbaden 1968, S. 16. 28 Der Aufsatz kann als Programmschrift des Slawophilentums gelten. Nach Ger-schensons Meinung sind in den Arbeiten Kirejevskijs die Grundlagen der sla-wophilen Lehre entwickelt worden. Vgl. M. O. Geršenson, Slavjanofilstvo, in: Voprosy filosofii, 12/1997, S. 78. 29 Ivan Kirejevskij schätzte das zeitgenössische Europa insgesamt negativ ein: „In Westeuropa herrscht überall Zersplitterung, eine Zwiespältigkeit erfasst den Geist, das Denken, die Wissenschaft, den Staat, die Stände, die Gesellschaft, das Familienleben mit seinen Rechten und Pflichten, die moralische und seelische Verfassung, die Gesamtheit aller Daseinsformen des öffentlichen und privaten menschlichen Lebens; in Russland dagegen überwiegt das Streben nach Kon-zentration des inneren und äußeren Daseins, des öffentlichen und privaten ..., des künstlerischen und des moralischen Lebens.“ Vgl. I. Kirejevskij, Russland und Europa, Stuttgart 1946, S. 34. 30 I. V. Kirejevskij, Polnoje sobranije sočinenij, Bd. 1, Moskva 1911, S. 95.

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schen Europa und Russland feststellen zu können: „Das Christen-tum drang in die Gemüter der westeuropäischen Völker durchweg in der Form der römischen Kirchenlehre ein - in Russland entzün-dete es sich an dem Leuchten der gesamten orthodoxen Kirche. Im Westen nahm die Theologie einen verstandesmäßig abstrakten Charakter an - in der orthodoxen Welt bewahrte sie die innere Ge-schlossenheit des Geistes. Dort beobachten wir eine Spaltung der Vernunftskräfte - hier ein Streben zu deren lebendiger Zusammen-fassung; dort ein Streben des Verstandes, die Wahrheit durch logi-sche Verkettung der Begriffe zu erreichen - hier der Drang, sie durch eine gesteigerte Verinnerlichung der Selbsterkenntnis, durch Verschmelzung der Kräfte des Gemüts und durch das Vordrängen zum Mittelpunkt des Geistes zu erfassen; dort das Suchen einer äu-ßeren toten Einheit, hier das Streben nach einer inneren lebendigen. Dort hat sich die Kirche mit dem Staat vermischt, hier hielt sich die Kirche den irdischen Zielen und einer Einmischung in weltliche Einrichtungen fern.“31

Die Entwicklung der europäischen Kultur hat sich nach Kire-jevskijs Meinung im Zeichen einer zunehmenden Rationalisierung vollzogen. Abstrakte Verstandesmäßigkeit bestimmte immer mehr auch das soziale Leben. Sie führte zu einer Atomisierung der Ge-sellschaft, natürliche, organisch gewachsene Gemeinschaftsformen sind durch mechanische, künstliche ersetzt worden. Die jahrhun-dertelang angewandte rein rationale analytische Methode habe die Fundamente der europäischen Kultur zerstört. Die kritische Philo-sophie habe in Europa nach Kirejevskijs Meinung die Grundlagen der Kultur und damit den Glauben zersetzt, welcher nach slawophi-ler Einstellung die zentrale Voraussetzung einer gesunden und dy-namischen kulturellen Entwicklung sei.

Ivan Kirejevskij, wie andere Slawophile auch, meinte, dass sich Europa im kulturellen Sinne erschöpft und die lebendigen Kräfte für die weitere historische Entwicklung verloren habe. „Die europäische Kultur erreichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ei-nen Höhepunkt ihrer Entwicklung ... . Aber als Ergebnis dieser Rei-fe der Entwicklung und dieser Klarheit des Erreichten stellte sich 31 Ebd., S. 217.

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ein fast überall verbreitetes Gefühl der Unzufriedenheit und der be-trogenen Hoffnung ein."32 Hier sieht man im Hintergrund eine zyk-lische Deutung der Weltgeschichte, die von Kirejevskij allerdings noch nicht klar ausformuliert worden ist.

Ivan Kirejevskij hat es unternommen, einige typische Züge der europäischen Kultur namhaft zu machen. Diese sah er im Ein-fluss der antiken römischen Welt, der römischen Kirche und der aus Eroberungen hervorgegangenen Staatlichkeit verkörpert.33 Er suchte gleichermaßen auch nach den Besonderheiten der russischen Kultur und fand sie auf dem Gebiet der Religion. Die Beschäfti-gung Kirejevskijs mit der orthodoxen Theologie führte in seinen späteren Arbeiten zu der bekannten Aussage, dass alle Fragen der modernen Politik mit den Überlieferungen der alten Paternalistik übereinzustimmen hätten.34 Die Besonderheiten bei der geschicht-lichen Entwicklung reichten für Ivan Kirejevskij aus, die Gegensät-ze zwischen der europäischen und russischen Kultur zu betonen. Er meinte, dass die Grundlagen der russischen Kultur sich grundsätz-lich von jenen Elementen unterscheiden würden, die für die europä-ischen Völker bestimmend geworden sind. Dies habe er nach sei-nen Angaben selbst bei seinem Besuch in Europa erlebt. Als Ver-treter der russischen Elite fühlte sich Kirejevskij in Europa, wie er sagte, fremd: „Engländer, Franzosen, Italiener und Deutsche blie-ben trotz ihrer nationalen Eigentümlichkeiten immer Europäer. Der Russe war, um sich dem Westen bildungsmäßig angleichen zu können, dagegen gezwungen, seine persönliche und damit nationa-le Eigenart fast ganz aufzugeben.“35

Den Russen fehlte in Europa nach seiner Darstellung die geis-tige Freiheit, welche sich in Russland im Laufe der Geschichte in Form einer relativen Unabhängigkeit der Kirche vom Staat entwi-ckelt hatte. „Obwohl sie die persönlichen Überzeugungen der Men-schen leitete, trat die orthodoxe Kirche doch niemals mit dem An- 32 Ebd., S. 250. 33 Ebd., S. 185 - 186. 34 Horudžij nennt diese seine Vorstellung eine ”neopaternalistische Idee“. Vgl. S. S. Horudžij, Transformazii slawophilskoj idei XX veke, in: Voprosy filosofii 3/1996, S. 74. 35 I. V. Kirejevskij, Polnoje sobranije sočinenij, Bd. 1, Moskva 1911, S. 182.

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spruch auf, ihren Willen gewaltsam zu lenken oder weltlich-staatliche Macht zu erwerben. ... Der Staat stützt sich natürlich auf die Kirche: seine Grundlagen waren umso fester gefügt, sein inne-res Leben um so einheitlicher, je mehr er von ihr durchdrungen war. Aber die Kirche strebte niemals danach, Staat zu werden, so wie der Staat, der seine weltliche Bestimmung demütig anerkannte, sich niemals als ein ’heiliger’ bezeichnete. ... Während die ortho-doxe Kirche die Gesellschaft auf dieselbe Weise lenkte wie der Geist den Körper, versuchte sie niemals, weltlichen Einrichtungen den Geist einer kirchlichen aufzuprägen, wie er den mönchischen Ritterorden, den Inquisitionsgerichten und anderen weltlich-geistlichen Institutionen des Westens anhaftete.“36

Die friedliche Koexistenz des russischen Staates und der russi-schen Kirche schätzte Ivan Kirejevskij sehr. Für die natürliche Entwicklung eines Volkes hielt er harmonische Beziehungen zwi-schen beiden gesellschaftlichen Institutionen für notwendig. Leider hätten sich diese Beziehungen im weiteren Ablauf der europäischen Geschichte verselbständigt und zu einem Existenzkampf miteinan-der geführt. Eine „friedliche Grundhaltung“ gab es nach Kire-jevskijs Meinung nur in der russischen Gesellschaft, während sie in der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Völker verloren gegangen sei. „In Russland gab es weder Eroberer noch Unterwor-fene. Das Land kannte weder eine eiserne Trennung starrer Stände, noch Bedrückung für die einen, Vorrechte für die anderen, noch hieraus entstehende politische und geistige Kämpfe, noch die Ver-achtung, den Hass und den Neid der Stände untereinander. Infolge-dessen waren auch die Folgen dieser Kämpfe unbekannt, nämlich die künstlich-formalen gesellschaftlichen Beziehungen und der krankhafte Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung.“37

Bei Kirejevskij wie auch bei anderen Slawophilen findet man zwar oft eine gewisse Idealisierung der Zustände im alten Russ-land, aber die Besonderheit der russischen Kultur, die sie in ihren Arbeiten zutage förderten, ist von vielen russischen Zeitgenossen ähnlich gesehen worden. „Kirejevskijs Geschichtsphilosophie ist 36 Ebd., S. 205. 37 Ebd., S. 206.

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gewiss verfehlt, ... aber das kann und muss man auch von Kire-jevskijs deutschen Lehrern sagen, und trotzdem kann man die Be-deutung und das Bedeutende seiner Leistung anerkennen. ... Kire-jevskij untersucht nicht, wie und wann das antike Griechentum sich im Byzantinismus fortentwickelt hat, man begreift nicht, warum die Russen und Slawen ihrem Volkscharakter nach den Griechen näher stehen als den Germanen und Romanen, und selbstverständlich ist auch der Begriff des Westens und Ostens recht ungegliedert.“38

Die Bedeutung der orthodoxen Kirche für die geschichtliche Entwicklung Russlands haben fast alle Slawophilen hervorgeho-ben.39 Viele Slawophile haben an Europa kritisiert, daß es sich vom wahren Christentum abgespalten habe. Für sie sind religiöse Prob-leme oftmals sogar wichtiger als politische und soziale Fragen ge-wesen. Das kann man am Beispiel der Lösung des Problems, wie sich Staat und Kirche zueinander verhalten, bei Alexej Chomjakov (1804–1860) deutlich erkennen.

Chomjakov betrachtete die Religion als die treibende Kraft der Geschichte. Er sieht die Notwendigkeit der Existenz des Staates in enger Verbindung mit der Kirche, was für viele Slawophile typisch ist. Nach Chomjakovs Meinung ist nur die Kirche in der Lage, ei-nen Ausgleich zwischen staatlichen und privaten Interessen zu leis-ten. Den russischen Staat sieht er als vorbildlich an, weil er, im Ge-gensatz zu den europäischen Staaten, ohne Gewaltanwendung ent-standen ist und von der Kirche immer unterstützt wurde. Der Staat muss nach der Meinung Chomjakovs mit der Kirche im Einklang stehen. Weil die katholische Kirche zu hierarchisch organisiert ge-wesen sei, habe sie sich von der “Gesamtkirche“ getrennt, während

38 Tomas Masaryk, Russische Geistes- und Religionsgeschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 220. 39 T. I. Blagova und O. S. Pugačev schreiben folgendes dazu: „Frühere oder klas-sische Slawophile (A. S. Chomjakov, I. V. Kirejevskij, K. S. Aksakov, J. F. Sa-marin) meinten, daß das hohe moralische Potential der Orthodoxie Russland und anderen slawischen Völkern eine führende Rolle in der geschichtlichen Entwick-lung garantieren würde.“ Vgl. T. I. Blagova / O. S. Pugačev, Predislovie k publikacii, in: Voprosy filosofii, 1/1996, S. 147. Das ist eine der Besonderheiten der russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, dass sie der Religion in der Geschichte eine große Rolle zugeschrieben hat.

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deren Ostteil der wahren Lehre treu geblieben sei. Der Westen würde die Religion als bindende Verpflichtung betrachten, während für die orthodoxen Russen der Glaube eine Sache des Herzens sei, die auf Freiwilligkeit beruhe.

Alexej Chomjakov war der erste russische Philosoph, der ein großes Interesse an der Weltgeschichte hatte.40 Im Laufe seines Le-bens hat er ein umfassendes Werk41 über den Gang der Geschichte verfasst. Die Arbeit ist nach seinem Tod unvollendet geblieben. In dieser Darstellung der Weltgeschichte versuchte Chomjakov eine leitende Linie zu finden, aber nicht die absolute Idee, wie bei He-gel, sondern eine geistige Tradition. Er sah in der Weltgeschichte zwei Hauptrichtungen, die im Laufe der Jahrhunderte immer vor-handen gewesen seien: die “iranische“ und die “kuschitische“. Die eine ist auf geistige Werte bezogen gewesen, die andere auf mate-rielle. Russland gehörte nach Chomjakovs Meinung zur Tradition der ersten, Europa aber zur zweiten.

Die Geschichtsphilosophie von Fjodor Tjučev (1803–1875)42 konzentrierte sich auf den politischen Kampf zwischen Russland und dem Westen. Er hat das Problem der Revolution in den Mittel-punkt seiner Geschichtsdeutung gestellt. Nach seiner Meinung war der Hauptgegenstand der modernen Geschichte der Kampf zwi- 40 Viele Arbeiten von Chomjakov sind noch nicht publiziert worden, besonders seine philologischen und ethnographischen Abhandlungen. In jüngster Zeit sind aber neue Publikationen erschienen, die die Lücke teilweise ausfüllen. In den letzten Jahren ist eine Reihe von Forschungen durchgeführt worden, die den Nachlaß von Slawophilen noch einmal untersuchen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der heutigen politischen und weltanschaulichen Probleme. Vgl. Jurij Stennik, O nacionalnych istokach slavjanofilstva, in: Moskva, 11/1991; A. D. Suchov, Chomjakov, filosof slavjanofilstva, Moskva 1993; T. I. Blagova, O. S. Pudačev, Predislovije k publikacii, in: Voprosy filosofii, 1/1996; S. S. Horudžij, Transformazii slavophilskoj idei v XX veke, in: Voprosy filosofii, 3/1996; V. G. Sčukin, Dom i krov v slavjanofilskoj konzepzii, in: Voprosy filosofii, 1/1996, S. 135 - 146; M. O. Geršenson, Slavjanofilstvo, in: Voprosy filosofii, 12/1997; A. Janov, Slavjanofily i vnešnaja politika Rossii v XIX veke, in: Političeskije issledovanija, 3/1999, S. 158 – 171. 41 A. Chomjakov, Sočinenija, Moskva 1995, Bd. II. 42 Fjodor Tjutschev war einer der bekannten russischen Dichter des 19. Jahrhun-derts. Während seines diplomatischen Dienstes in Deutschland hat er sich beson-ders mit politischen und philosophischen Themen beschäftigt.

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schen der Revolution und Russland: „Zum Verständnis der unge-heuren Krise, in die Europa eingetreten ist, ließe sich sagen, dass es seit langem in Europa im Grunde nur zwei Mächte gibt: die Revo-lution und Russland.“43 Und im gleichen Sinne: „Russland ist vor allem das christliche Reich; das russische Volk ist nicht allein durch seine Rechtgläubigkeit christlich, sondern durch etwas, das noch tiefer liegt als der Glaube, durch seine Fähigkeit zu Verzicht und Opfer, die gleichsam die Grundlage seines sittlichen Seins bil-det. Die Revolution ist vor allem antichristlich. Der antichristliche Geist ist die Seele der Revolution“.44

Fjodor Tjučev betrachtete Europa als den Schauplatz der Re-volution. Die Revolution von 1848 bedeutete für Tjučev den An-fang vom Ende Europas. In seinem Aufsatz “Russland und die Re-volution“ (1848) interpretierte er die zwei geschichtlichen Erschei-nungen als absolute Feinde: „Zwischen beiden kann es weder Ver-träge noch Unterhandlungen geben. Das Leben des einen bedeutet den Tod des anderen. Die politische und religiöse Zukunft der Menschheit hängt für Jahrhunderte von dem Ausgang dieses Kampfes ab, dem größten Kampf, den die Welt je erlebt hat.“45 Die Revolution lehne das Christentum ab und setze das menschliche Ego an die Stelle Gottes. An Stelle der Bruderschaft im Namen Gottes wolle die Revolution eine Bruderschaft gründen, zu der das souveräne Volk nur durch Furcht gezwungen werde.

Nach Tjučevs Meinung hat die Revolution nicht nur in Frank-reich, sondern auch in Deutschland46 stattgefunden: „Deutschland ist sicher das Land, über das man sich die längste Zeit die seltsams-

43 F. I. Tjučev, Sočinenija, S.-Petersburg 1900, S. 474. 44 Ebd., S. 475. 45 Ebd., S. 474. 46 Fjodor Tjučev hat bei seiner Analyse der deutschen Politik auch das nationale Problem bemerkt. „Aber dem revolutionären Deutschland wird bald in dieser Hinsicht eine noch bedeutsamere und ernstere Lehre erteilt werden. Als man all die alten Mächte stürzte oder schwächte, als man die ganze politische Ordnung des Landes bis in ihre Grundlagen erschütterte, hatte man tatsächlich außer acht gelassen, dass man damit in Deutschland die furchtbarste aller Verwicklungen heraufbeschwören würde, eine Frage auf Leben oder Tod für seine Zukunft - das nationale Problem.“ Vgl. F. I. Tjučev, Sočinenija, S.-Petersburg 1900, S. 485.

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ten Illusionen gemacht hat. Weil es ruhig war, vermutete man in ihm ein Land der Ordnung, und man hatte keinen Blick für die schreckliche Anarchie, die dort eingedrungen war und die Geister zerrüttete. Sechzig Jahre zerstörerischer Philosophie hatten hier je-den christlichen Glauben aufgelöst und in dieser Leere den Geist der Revolution zur vollen Entfaltung gebracht: geistiger Stolz mag zur rechten Stunde angebracht sein, aber in unserem Jahrhundert ist er eine Plage und vielleicht nirgendwo größer und weiter verbreitet als in Deutschland. Der Hass Deutschlands auf Russland wird also notwendigerweise in dem Maße wachsen, wie die Revolution auf seinem Boden Fuß fasst.“47 „Sollte sich diese letzte Vermutung bestätigen, dann würde die Möglichkeit eines Kreuzzuges gegen Russland, der immer schon der Lieblingstraum der Revolution war und jetzt ihr Feldgeschrei geworden ist, beinahe zur Gewissheit; der Tag des Entscheidungskampfes wäre nahe, und Polen würde als Schlachtfeld dienen. Das wenigstens ist die Sehnsucht der Revolu-tionäre aller Länder.“48

Je revolutionärer Deutschland geworden sei, desto mehr hasste es nach Meinung Tjučevs Russland. Die deutschen Revolutionäre wollten das Bündnis mit Russland preisgeben und in einem Krieg gegen Russland mit den französischen Republikanern gemeinsame Sache machen. Die orthodoxen Slawen außerhalb Russlands aber wären durch die gemeinsame Gefahr vom Westen mit Russland verbunden. „Die Absichten der zahlreichen Agitatoren, die gegen uns arbeiten, die katholische Propaganda, die revolutionäre Propa-ganda usw. durchkreuzen sich, aber sie sind durch den gemeinsa-men Hass gegen Russland vereint. ... Der Okzident stirbt, alles bricht zusammen, alles wankt in einem allgemeinen großen Brand, das Europa von Karl dem Großen und das Europa der Verträge von 1815; das Papsttum von Rom und alle Königreiche des Westens; Katholizismus und Protestantismus; der längst verlorene Glaube und der so absurd beschränkte Verstand; Ordnung und Freiheit sind von jetzt an unmöglich, und auf den Trümmern dieses Untergangs

47 F. I. Tjučev, Sočinenija, S.-Petersburg 1900, S. 479. 48 Ebd., S. 484.

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begeht die Kultur Selbstmord.“49 Hier sieht man in dichterischer Darstellung die slawophilen politischen Ideen, die sich auf eine be-sondere Geschichtsdeutung stützen. Diese Vorstellungen sind zum großen Teil im 20. Jahrhundert von den Eurasiern übernommen worden. Hierher stammt auch eine Besonderheit des politischen Programms der Eurasier: die Aggressivität gegenüber der “zugrun-degehenden“ europäischen Kultur.

Hans Kohn hat Fjodor Tjučevs Weltanschauung folgenderma-ßen beschrieben: „Wie Dante glaubte er an die Notwendigkeit eines Universalreiches, das in einem universalen Glauben begründet war. Diese Weltordnung konnte nicht, wie Dante meinte, ihren Mittel-punkt in der Hauptstadt des alten irrgläubigen Reiches haben, son-dern nur in Konstantinopel, wo Konstantin nach dem von Daniel vorhergesagten Fall der vier heidnischen Reiche, des assyrischen, des persischen, des mazedonischen und des römischen, das fünfte und endgültige christliche Reich errichtet hatte. Gegen dieses wah-re Reich stand das illegitime: der Westen. ... Im Westen fochten der schismatische Papst und der gewalttätige Kaiser einen erbitterten Kampf gegeneinander, der in der Reformation, der Verneinung der Kirche, und in der Revolution, der Verneinung des Reiches, ende-te.“50

Nach der Abspaltung Roms von der universalen Kirche wur-de, nach Meinung Tjučevs, die Christenheit in zwei verschiedene Welten geteilt. Der Protestantismus unterdrückte die Kirche zu-gunsten des individuellen Ego, dagegen saugte Rom die Kirche in das römische Ego auf. Für Fjodor Tjučev war Rom eine politische Macht. Er hielt die Reformation in ihrem Kampf gegen Rom für gerechtfertigt, aber er wünschte, sie hätte an das wahre Tribunal, nämlich die orthodoxe Kirche, appelliert, statt sich selbst zum Richter in eigener Sache zu machen. Die Reformation zerstörte das Autoritätsprinzip und bereitete so den Weg für die Französische Revolution mit ihrer Theorie der Volkssouveränität vor.

Fjodor Tjučev meinte, dass es keine politische Allianz zwi-schen Russland und dem Westen geben könne. Es bestehe kein In- 49 Ebd., S. 491. 50 Hans Kohn, Die Slawen und der Westen, Wien 1956, S. 136.

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teresse, keine Regung im Westen, die sich nicht gegen Russland und seine Zukunft richten würde. Deshalb gebe es nur eine natürli-che russische Politik gegenüber dem Westen: „Wir dürfen kein Bündnis mit der einen oder anderen dieser Mächte eingehen, son-dern müssen ihre Uneinigkeit und Zwietracht schüren, weil sie, nur wenn sie uneins sind, uns nicht schaden können - natürlich nicht, weil sie das etwa nicht wollten, sondern nur deswegen, weil sie dann dazu nicht fähig wären. Diese ernste Wahrheit mag empfind-same Seelen empören, aber sie ist das Lebensgesetz des Daseins unseres Reiches, und wenn wir es verkennen, würden wir nicht länger Russen sein.“51

Russland als Beschützer der Orthodoxie in der ganzen Welt würde, nach Tjučevs Meinung, die symbolische Kontrolle über Konstantinopel benötigen. „Moskau, Peters Stadt und Konstantins Stadt - dies sind die heiligen Hauptstädte des russischen Reiches.“52 Außerdem kann Russland nur dann seine historische Aufgabe erfül-len, wenn eine enge Verbundenheit von Regierung und Volk exis-tiert. Im Jahre 1853 schrieb er an Pjotr Caadajev: „Nach vielen Prüfungen und Wechselfällen wird Russland das letzte Wort haben, das weiß ich gewiss ..., aber es wird ein ganz anderes als das heuti-ge Russland sein. ... Es wird nicht länger ein Reich sein, sondern eine Welt.“53

Den letzteren Gedanken kann man auf zweierlei Weisen inter-pretieren. Einerseits betont Fjodor Tjučev damit noch einmal die These von der politischen Selbständigkeit und historischen Rolle Russlands, andererseits gibt er damit zu verstehen, dass er das Auf-gehen des Russischen Imperiums in einer von Russland bestimmten Welt erwartet. Im einen wie im anderen Falle haben seine politi-schen Ideen Zustimmung nicht nur im damaligen Russland gefun-den, sondern im 20. Jahrhundert auch bei den Eurasiern, die seine kritische Einstellung gegenüber Europa beibehalten und wissen-schaftlich zu begründen versucht haben.

Fjodor Tjučev war der erste russische Denker, der das Prob-

51 Literaturnoje Nasledstvo, Bd. 19-21, S. 205. 52 Zitiert nach: Hans Kohn, Die Slawen und der Westen, Wien 1956, S. 141. 53 Russkij Archiv, 1900, III, S. 415.

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lem der Beziehungen zwischen Russland und Europa insgesamt in einem zugespitzten, extremen politischen Sinne aufgefasst hat. Sein Standpunkt war, dass es zwischen beiden Kulturen keinen politi-schen Kompromiss geben könne. Doch nicht alle seine Zeitgenos-sen waren in dieser Frage so kategorisch. Die Westler drängten auf eine vollständige Eingliederung Russlands in Europa. Die Boden-ständigen waren bereit, Kompromisse einzugehen, nicht nur im kulturellen, sondern auch im politischen Sinne.

Geschichtsphilosophische Ansätze der Westler

Obwohl der größte Teil der Ideen der russischen Geschichts-

philosophie im Rahmen der slawophilen Geistesströmung entstan-den ist, sind manche Vertreter der Westler für uns ebenfalls interes-sant, weil sie sehr klar formuliert haben, was die Grundprinzipien der russischen Geschichtsphilosophie sind. Zu diesen Autoren kann nicht nur Pjotr Caadajev gezählt werden, sondern auch Alexander Herzen54 und Michail Bakunin. Beide waren Vertreter der Westler, sind aber in ihrer geistigen Entwicklung zu Überzeugungen ge-langt, die mit den slawophilen übereinstimmen. Zu solchen Ideen gehört vor allem die Kritik der modernen, bürgerlich-europäischen Gesellschaft und die Hoffnung auf die Zukunft der slawischen Na-tionen.

Alexander Herzen (1812–1870) galt als guter Kenner der Zu-stände in Europa, der mit seltenem Engagement und tiefer Klarheit seine politischen Überzeugungen vorgetragen hat. Nach dem Sieg der Reaktion, nach 1848, verlor Herzen die letzte Hoffnung auf ei-ne bessere Zukunft Europas.55 „Wird der verbrauchte, europäische

54 Alexander Herzen nahm schon während seines Studiums an der Moskauer Universität an Zirkeln teil, die unter dem Einfluss der Ideen französischer Sozia-listen standen. Zusammen mit Nikolaj Ogarev (1813 - 1877) leistete er einen Schwur, sein ganzes Leben lang gegen die Tyrannei zu kämpfen. Als Gegner der russischen Monarchie kritisierte er in seinen zahlreichen Werken die politischen Zustände in Russland. Nach 1855 gab er zusammen mit Ogarev und Bakunin den Almanach “Polarstern“ und die Zeitung “Glocke“ heraus. 55 Vgl. V. V. Afanasjev, Die zeitgenössische russische Reaktion auf die 1848er Revolution in Europa, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), 1848 Revolution in

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Organismus eine ähnliche Krise aushalten können, wird er die Kraft zu seiner Wiedergeburt finden? Wer kann es wissen? Europa ist sehr alt, es hat nicht Kraft genug, um sich zur Höhe seines eige-nen Gedankens aufschwingen zu können, es hat nicht Haltung ge-nug, um seinen eigenen Willen auszuführen.“56 Seine Kritik der modernen europäischen Gesellschaft ist sehr anschaulich. Herzen benutzt die Parallele mit Organismen, die für die russische Ge-schichtsphilosophie insgesamt typisch ist. Auch die Vorstellung eines “sehr alten“ Europas klingt sehr slawophilisch.

Ungeachtet der kritischen Einstellung anerkennt Herzen die großen geschichtlichen Verdienste Europas: „Seine (Europas, V. A.) Vergangenheit ist reich, es hat viel erlebt, und was die Zukunft betrifft, so kann es auf der einen Seite Amerika oder auf der andern die slawische Welt als seine Erben einsetzen“.57 Daran sieht man, daß Herzen, wenn er von Europa spricht, mehr an dessen Vergan-genheit denkt, als an seine Zukunft, und den Slawen einen domi-nanten Platz in den nächsten Jahrhunderten einräumt, was ebenfalls ein typisch slawophiler Gedanke ist.

Nach der Meinung von Georgij Florovskij hat Herzen im Streit zwischen Westlern und der Slawophilen eine besondere Posi-tion eingenommen: „In der Interpretation der russischen Geschichte folgte (er, V. A.) weder Westlern noch den Slawophilen. ... Seine Ansichten ähnelten denen von Caadajev.“58 Das machte es mög-lich, dass Herzen eine bedeutende Rolle nicht nur im Rahmen der westlichen Partei, sondern in der ganzen russischen Philosophie gespielt hat. Diese Meinung vertritt auch I. Berlin, der in einem Aufsatz über Herzen geschrieben hat: „Herzens Ideen waren immer im Zentrum des russischen Denkens: Liberale und Radikale, Volkstümler und Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten - alle haben ihn zu ihrem Vorläufer erklärt.“59 Europa: Verlauf, politische Programme, Folgen und Wirkungen, Berlin 1999, S. 383 - 389. 56 A. I. Herzen, Briefe aus Italien und Frankreich (1848 - 1849), Hamburg 1850, S. 218. 57 Ebd. 58 G. Florovskij, Herzen v sorokovye gody, in: Voprosy filosofii, 4/1995, S. 94. 59 I. Berlin, Alexandr Herzen i ego memuary, in: Voprosy literatury, 2/2000, S.

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Wie die Slawophilen kritisierte Herzen die moderne Entwick-lung in Europa, durch welche die alten mittelalterlich aristokrati-schen Formen abgeschafft werden würden. In diesem Sinne ist Herzen kein Revolutionär, eher ein Konservativer, was sich mit seinem Kampf gegen die russische Monarchie allerdings schwer vereinbaren läßt. „Die Staatsformen Frankreichs und aller europäi-schen Mächte sind ihrem Begriff nach unverträglich mit der Frei-heit, Gleichheit und Verbrüderung. Jede nicht rhetorische, sondern wirkliche Realisation dieser Ideen wird zu einer vollkommenen Negation und zum Tode des europäischen Lebens führen. Keine Konstitution, keine Regierung ist imstande, der feudal-monarchischen Gesellschaft eine demokratisch-soziale Gestaltung zu geben. ... Nun aber ist das europäische Leben durch und durch christlich und aristokratisch, unsere Zivilisation, unsere Lebenswei-se, die ganze Staatsorganisation entwickelte sich aus diesen christ-lich-aristokratischen Zuständen, und alle Abweichungen und Ent-wicklungen ... waren doch ihrem Ursprünge treu: das katholische Rom, das blasphemierende Paris, das philosophierende Deutsch-land, so verschieden sie sind, so sind sie doch christlich feudal. In dem einen oder anderen Teil Europas können die Menschen etwas freier und etwas gleicher, nirgends aber ... frei und gleich sein.“60

Die negative Einstellung Herzens zur europäischen Revolution war so groß, dass er sie mit einer Krebskrankheit verglichen hat: „Die bestehende Welt kann dem Sozialismus keinen Widerstand leisten. In wessen Namen wird sie sich verteidigen? Ihre Religion ist schwach, ihr Staatsprinzip hat keine Autorität mehr, die politi-sche Revolution zerfrisst sie, wie ein Krebs im Innern ihrer eigenen Brust. Was für eine Impotenz, etwas zu schaffen, zu organisieren! Jeder Mensch beginnt, diese dumpfe Schwere des Lebens zu füh-len! Alle sind müde, für alle wird die Existenz schlechter.“61 Solche medizinischen Analogien wie auch den Begriff “Formen des Staa-tes“ kann man in Leontjevs Geschichtsphilosophie finden, der sich

140. 60 A. I. Herzen, Briefe aus Italien und Frankreich (1848 - 1849), Hamburg 1850, S. 192. 61 Ebd., S. 194 - 195.

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in seinen Arbeiten auf Herzens Ideen gestützt hat. Alexander Herzen hat sich intensiv mit dem Problem “Russ-

land und Europa“ beschäftigt. Er hat dazu die folgende interessante Bemerkung hinterlassen: „Ganz Europa hat mit den mannigfaltigs-ten Stimmen und mit den mannigfaltigsten Gefühlen, in den Parla-menten und Klubs, auf den Straßen und in den Journalen den Schrei des Berliner Krakeelers wiederholt: ’Die Russen kommen, die Russen kommen!’ Und in der Tat kommen sie nicht nur, son-dern sind sogar schon gekommen. ... Genau weiß indessen nie-mand, wer diese Russen, diese Barbaren, diese Kosaken sind, was das für ein Volk ist, dessen jugendliche Kraft von Europa so ge-schätzt war in jenem Kampfe, aus dem es als Sieger hervorging. Was will dieses Volk, was bringt es mit sich? Wer weiß etwas da-von? Cäsar kannte die Gallier besser als Europa die Russen. So lange das okzidentale Europa den vollen Glauben an sich hatte und so lange die Zukunft sich ihm nicht anders darstellte als die Fort-setzung seiner Entwicklung, konnte es sich mit der orientalischen Frage nicht beschäftigen; jetzt befindet es sich in einer ganz ande-ren Lage. ... Europa wird niemals frei sein ohne ein freies Russ-land.“62 Hieran sieht man die Akzente, welche Herzen in seiner Ge-schichtsphilosophie setzte. Er schätzte das starke, das junge russi-sche Volk, erwartete von ihm, dass es in der Zukunft eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte spielen würde. Diese seine Äußerun-gen zeigen, dass Herzen einzelnen Hauptideen der Slawophilen sehr wohl zugestimmt hat.

Herzen hat zu der Entwicklung der politischen Weltanschau-ung der russischen Elite viel beigesteuert. Viele seine Ideen sind später von anderen Vertretern der russischen Geschichtsphilosophie weiterentwickelt worden. Herzen nahm auch an den politischen Er-eignissen seiner Zeit aktiv teil, d.h. er agierte nicht nur als ein Den-ker und Propagandist, sondern auch als Politiker. Ein anderes Bei-spiel einer solchen ungewöhnlichen Persönlichkeit in der russi-schen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist Michail Bakunin (1814 - 1876) gewesen, der sowohl als Publizist als auch als praktischer Politiker bekannt geworden ist. 62 Ebd., S. 201 - 202.

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Bakunin war ein Westler, aber in seiner Weltanschauung gibt es auch Ideen, die eigentlich als slawophile gelten. Bakunin galt als ein Vertreter der unteren Schichten der russischen Gesellschaft, deshalb waren seine Ideen besonders während der Revolution und der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Europa äußerst populär. Rolf Ulbricht schreibt über ihn: „Bakunin als Anarchist liebte die Räuber, weil sie unversöhnliche Feinde des Staates waren und weil sie in der freien Natur lebten wie einst die Kosaken. Er nannte das Räuberwesen eine der ehrenhaftesten Formen des russi-schen Volkslebens, eine aktive Protestbewegung gegen die ’nieder-trächtige Ordnung des Staates’. Das Aufhören des Räuberwesens in Russland würde den Tod des Volkes oder seine Befreiung bedeu-ten.“63

Die revolutionären Ideen Bakunins waren mit solchen des Panslawismus vermischt. Alle Monarchien Europas, so auch die russische, sah er als Tyranneien der slawischen Völker an. Nur die Revolution könnte den Slawen die Freiheit geben. „Die slawischen Völker sind verglichen mit den degenerierten Nationen Westeuro-pas die einzigen, die geborene Kommunisten sind, auch dem gan-zen Charakter nach. Ihre richtige Gruppierung vermag eine wun-derbare, neue Machtfülle hervorzuzaubern, ein neues ’Reich des Ostens’ mit der Hauptstadt Konstantinopel (Zaregrad). Damit Russ-land sich an die Spitze einer solchen machtvollen panslawistischen Bewegung zu stellen und die ihm zukommende Mission zu erfüllen vermag, bedarf es tiefgreifender Veränderungen.“64

Bakunin hat die Behauptung zurückgewiesen, dass er und Herzen zwei “panslawistische Agenten“ seien und vom panslawis-tischen Komitee, das von der russischen Regierung eingerichtet worden war, große Geldsummen erhalten hätten.65 Aber seine pan-slawistischen Äußerungen gaben natürlich Anlass zu solchen Be-hauptungen, obwohl er zwischen Slawen und Russland große Un-terschiede sah, wie er sie zum Beispiel in der folgenden Passage

63 Rolf Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, Frankfurt am Main 1996, S. 220. 64 Michael Bakunin, Die Bekämpfung des Zarismus, Berlin 1925, S. 6. 65 Vgl. Michail Bakunin, Gott und der Staat, Reinbek 1969, S. 171.

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benannt hat: „... ich bemühte [mich], den Slawen zu beweisen, dass sie weit entfernt davon waren, ihre Befreiung durch das russische Kaiserreich zu erreichen, diese Befreiung nur durch seine vollstän-dige Zerstörung erreichen könnten, da dieses Reich nur ein Zweig des deutschen Kaiserreichs ist, nichts anderes als die verhaßte Herrschaft der Deutschen über die Slawen. ‚Es ist ein Unglück für euch’, sagte ich ihnen, ‚wenn ihr auf das kaiserliche Russland, auf dieses tatarische und deutsche Reich baut, das nie etwas Slawisches hatte. Es wird euch verschlingen und quälen, wie es Polen erfährt, wie es alle russischen Völker erfahren, die in ihm gefangen sind.’“66 Aktiv nahm Bakunin an der panslawistischen Bewegung in Österreich teil. Sogar der russische Zar forderte von Bakunin ei-nen Bericht über die slawischen Angelegenheiten an.67

Bakunin galt als ein besonders guter Kenner der Philosophie von Hegel.68 Der Begründer des russischen Anarchismus sah in der hegelianischen Dialektik die theoretische Basis der Revolution. Bakunin gab folgende Definition der Revolution: „Wir verstehen unter Revolution die radikale Umwälzung, eine Ersetzung aller Formen des zeitgenössischen europäischen Lebens ohne Ausnahme durch neue, ihnen gänzlich entgegengesetzte.“69

Hierzu ist zu bemerken, dass sich bei Bakunin die revolutionä-ren Ideen mit antieuropäischen vermischt haben, was für die West-ler nicht gerade typisch gewesen ist. Dieses scheinbare Paradox hat

66 Ebd., S. 171 - 172. 67 Vgl. Michael Bakunin, Michael Bakunins sozialpolitischer Briefwechsel mit Alexander I. Herzen und Ogarev, Stuttgart 1895, S. LXIII. 68 Die Vertreter der hier behandelten russischen Geschichtsphilosophie haben sich alle mehr oder weniger auf deutsche Quellen berufen. Bei Kirejevskij ist es die Philosophie von Schelling, bei Herzen und Bakunin die Hegels, bei Dani-levskij sind es die Werke von Heinrich Rückert etc. etc. Die deutsche Philoso-phie hat wichtige Anstöße zur Entwicklung der russischen Geisteswissenschaften gegeben. So war es nicht nur im 19., sondern ist es auch im 20. Jahrhundert ge-wesen: Für Pitirim Sorokin war Oswald Spengler von großer Bedeutung, für A-lexander Dugin die deutsche geopolitische Schule. Dabei hat sicher auch eine Rolle gespielt, dass manche deutsche Gelehrte unter den Romantikern und Le-bensphilosophen große Hoffnungen auf Russland gesetzt haben. 69 Michael Bakunin, Michael Bakunins sozialpolitischer Briefwechsel mit Alexander I. Herzen und Ogarev, Stuttgart 1895, S. 385.

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Fjodor Dostojevskij erklärt. Er hat die Tatsache festgestellt, dass viele Westler die destruktiven Kräfte in Europa unterstützen und damit, entgegen ihrer Intention, den Untergang Europas befördern würden. Dostojevskij war der Meinung, daß Slawophile und West-ler vieles gemeinsam hätten und im Grunde genommen ein und dieselbe Einstellung gegenüber Europa einnehmen würden.

Geschichtsphilosophie der Vermittlung

Ein anderes Beispiel einer Synthese von slawophilen und

westlichen Ideen kann man bei Fjodor Dostojevskij (1821-1881) beobachten. Dostojevskij war einer der “Bodenständigen“, zu deren Ideenführern auch Apollon Grigorjev und Nikolaj Strachov gehör-ten70. In seiner Zeitschrift “Tagebuch eines Schriftstellers“, die Dostojevskij seit 1873 publiziert hat, entwickelte er seine Ideen ü-ber aktuelle politische und geschichtsphilosophische Fragen, die damals aufgrund der Reformen der russischen Gesellschaft disku-tiert wurden.

Wie andere Bodenständige hat auch Fjodor Dostojevskij die Spaltung zwischen Slawophilen und Westlern als Missverständnis bezeichnet. Er wollte die Auseinandersetzung zwischen den West-lern und Slawophilen beenden, weil sich die Standpunkte beider Parteien seinem Verständnis nach im Grunde genommen ähnelten. Sie sorgten sich beide um die Zukunft Russlands, waren im Prinzip gegen Europa: die Slawophilen - direkt, die Westler - indirekt, in dem sie die linken Reformkräfte in Europa unterstützten. Er hat dies dazu zu sagen gehabt: „Gerade unsere feurigsten Westler, ge-rade unsere Kämpfer für die Reform wurden zu gleicher Zeit zu Verneinern Europas....“71 Fjodor Dostojevskij kritisierte die West- 70 Die Ideen von Dostojevskij und Nikolaj Gogol sind ähnlich, besonders was Gogols Gedanken über die russische Geschichte in seinem Buch ”Auszüge aus dem Briefwechsel mit Freunden“ (1847) betrifft. Vgl. P. Mjasojed, Gogol: jisnj na peresecenii kultur, in: Filosofskaja i soziologitscheskaja mysl, 5-6/1997, S. 141. Nikolaj Gogol könnte man seiner Überzeugung nach zu den Bodenständigen rechnen, obwohl er an den politischen Polemiken nicht teilgenommen hat. 71 F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije sočinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 11, S.

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ler, die „Russland mit Europa verwechseln, im Ernst zu Europa hielten, ... während Russland durchaus nicht Europa war, sondern nur eine europäische Uniform trug, unter ihr aber ein vollkommen anderes Wesen verbarg.“72 Obwohl er die Slawophilen im allge-meinen unterstützt hat, ging er doch auf Distanz zu ihnen: „Die Slawophilen wussten natürlich hundertmal mehr als die Westler (von Russland, V. A.); doch auch sie handelten fast nur tastend und tappend, apriorisch und abstrakt, indem sie sich mehr auf ihren bloßen Instinkt verließen.“73

Für Fjodor Dostojevskij spielte Europa eine wichtige Rolle in der russischen Geschichte.74 Zum einen, weil die Europäer mit den Slawen zur Völkerfamilie der Arier gehörten – und Dostojevskij offenbar bestimmte Verwandtschaftsgefühle mit diesen Beziehun-gen verbunden hat – , und zum anderen, weil Europa mit seiner entwickelten Kultur für Russland ein Beispiel sein würde. In seiner bekannten Puschkin-Rede hat er folgendes gesagt: „Einem echten Russen ist Europa ... ebenso teuer wie Russland selbst. Die Völker Europas wissen ja nicht einmal, wie teuer sie uns sind!“.75 Nach Dostojevskijs Meinung kann es dem russischen Volk nicht gleich-gültig sein, wenn in Europa soziale Konflikte stattfinden. Alles, was in Europa passiert, ist für Russland wichtig. Die Russen wollen dabei sein, sie wollen eine Befriedung Europas. Gerade deshalb bedeutet für Dostojevskij, „ein echter Russe zu sein, nichts anderes als sich zu bemühen, die europäischen Widersprüche in sich end-gültig zu versöhnen, der europäischen Sehnsucht in der russischen allmenschlichen und vereinenden Seele den Ausweg zu zeigen.“76

Aber trotz vieler Gemeinsamkeiten sind für Fjodor Dosto-jevskij Russland und Europa zwei verschiedene Welten gewesen. Er meinte, dass Russland etwas vollkommen Selbständiges und Be- 199. 72 Ebd., S. 199. 73 Ebd., S. 200. 74 Vgl. V. V. Afanasjev, Europa in der Sicht Dostojevskis, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die Kontinentwerdung Europas, Berlin 1995, S. 59 – 62. 75 F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije socinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 12, S. 430 - 431. 76 Ebd., S. 431.

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sonderes ist. Russland sei eng mit Asien verbunden. Dabei dachte Fjodor Dostojevskij vor allem an Sibirien als an das russische A-merika, wo die Russen Reichtum produzieren und mit Hilfe der modernen Wissenschaft alle Möglichkeiten ausschöpfen könnten, ihre Bevölkerung zu vermehren, Industrien aufzubauen und da-durch ein neues Gefühl für Macht, Würde und schöpferische Freu-de zu erwerben. Mit der gewaltigen Produktionskraft und der Be-völkerung seines asiatischen Gebietes würde Russland materiell und moralisch stark genug sein, um seine Weltmission erfüllen zu können.

Fjodor Dostojevskij bedrückte und enttäuschte die westliche Orientierung der russischen Politik. Nach seiner Meinung war A-sien für Russland wichtiger, „weil Russland nicht nur in Europa liegt, sondern auch in Asien; weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist. Und außerdem: weil in Asien vielleicht noch mehr unserer Hoffnung liegt als in Europa. ... Wir müssen die knechtische Furcht, Europa könnte uns asiatische Barbaren nennen und von uns sagen, wir seien doch mehr Asiaten als Europäer, end-lich zum Teufel jagen.“77

Heinrich Stammler hat dazu die folgende Anmerkung ge-macht: „Dostojevskij ... suchte seinen Glauben an Russlands mes-sianische Berufung in Asien wieder zu finden. ... Das nunmehr Eu-ropa den Rücken kehrende, mit dem Gesicht nach Osten gewandte neue Russland (erblickte, V. A.) seine geschichtliche Bestimmung in der Erschließung und Durchdringung Asiens.“78 Dostojevskij war der Meinung, dass Europa die Russen als Asiaten verschmähe und sie niemals als Gleiche behandeln würde. Nach Asien jedoch würden die Russen als Kultivierer kommen.

Dostojevskij lehnte das moderne Europa ab. Er sah in ihm ei-nen Verrat an den Traditionen echter europäischer Kultur. Das sei-nerzeitige Europa erschien ihm wie ein Friedhof, dessen Denkmä-ler von einer früheren reichen Kulturentfaltung zeugten. Er war der Überzeugung, dass die bevorstehenden sozialen Revolutionen auch die letzten Reste der europäischen Geisteskultur hinwegfegen 77 Ebd., S. 496 - 497. 78 Heinrich Stammler, Europa-Russland-Asien, in: Osteuropa, 8,9/1962, S. 523.

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könnten. Auch über den römischen Katholizismus äußerte sich Dostojevskij sehr kritisch. Die Schuld der katholischen Kirche er-blickte er im Verrat der Christusidee zugunsten der weltlichen Macht, die der Papst mit Hilfe des Jesuitenordens ausübe.79 „Der römische Katholizismus bedarf nicht Christi, sondern der Weltherr-schaft.“80 Allein Russland hätte die Wahrheit des Christentums noch erhalten, deshalb sei es zurzeit der einzige Träger der Idee der Gerechtigkeit, der göttlichen Wahrheit für die ganze Welt.

Dostojevskij kritisierte seinerseits die negative Einstellung Eu-ropas gegenüber Russland: „Ich sagte, man liebe die Russen in Eu-ropa nicht. Dass man sie nicht liebt, wird, glaube ich, niemand bestreiten, aber man wirft uns, fast allen Russen ohne Ausnahme, in Europa vor, wir seien furchtbar liberal, sogar revolutionär und immer, sogar mit einer gewissen Leidenschaft, bereit, uns eher den destruktiven als den konservativen Elementen Europas anzuschlie-ßen ..., weil sie unsere Zugehörigkeit zu der ’Zivilisation’ nicht an-erkennen.“81

Dostojevskij hat auch viel über Deutschland geschrieben. Ein Kapitel in seinem “Tagebuch eines Schriftstellers“ ist mit “Die deutsche Weltfrage“ überschrieben. In diesem Kapitel weist Dosto-jevskij darauf hin, dass Deutschland immer ein protestierendes Land gewesen sei und dass diese Proteste sich nicht zuletzt gegen den römischen Katholizismus, der die Grundidee der ganzen euro-päischen Zivilisation darstellt, gerichtet hätten. Zum Schluss merkt er an, dass die Deutschen Russland in ihrem Kampf gegen die ka-tholische Welt noch brauchen würden. „Die Abhängigkeit von dem Bündnis mit Russland ist allem Anschein nach die schicksalhafte

79 Besonders deutlich zeigt das Dostojevskij in seiner Legende vom Großinquisitor. Die Legende stellt ein Bild oder Fragment des letzten großen Romans von Dostojevskij ”Die Brüder Karamasoff“ (1880) dar. In der Legende beschreibt der Autor einen Diskurs zwischen Jesus Christus und dem Großinquisitor und zeigt darin auf subtile Weise zwei ganz verschiedene christliche Einstellungen auf. 80 F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije socinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 11, S. 196. 81 Ebd., S. 212.

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Bestimmung Deutschlands.“82 Deutschland könne nach dem Sieg über die katholische Idee in Europa herrschen sowie Russland nach der Eroberung Konstantinopels in Asien. Das sind Perspektiven, die in der Gedankenwelt Dostojevskijs einen festen Platz gehabt haben.

Wenn Dostojevskij von der weltgeschichtlichen Mission Russ-lands spricht, meinte er zuerst das geistige Potential des russischen Volkes. Russland könnte der Welt ganz neue Idee geben. Dosto-jevskij sah in der Beschaffenheit des russischen Volkes Gründe für dessen besondere Mission. „Das ist unser Bedürfnis, der ganzen Menschheit zu dienen, zuweilen sogar zum Nachteil des eigenen, wichtigsten und nächsten Interesses, das ist unsere Aussöhnung mit ihren Zivilisationen, unser Begreifen und das Entschuldigen ihrer Ideale, selbst dann, wenn sie sich mit den unsrigen nicht vertra-gen.“83 Dostojevskij war gemäß Gedeonoff der Ansicht, dass „alle Russen die Befreiung und Erhebung der Slawen, ihre Freiheit, ihre geistige und kulturelle Wiedererweckung wünschten und sie alle politisch für Russland zu gewinnen trachteten. ... Dostojevskij war nicht für ein Aufgehen der einzelnen slawischen Nationalitäten im russischen Imperium, wie dies seinerzeit Puschkin andeutete, als er meinte, dass alle slawischen Bäche in das russische Meer einmün-den würden, sondern er forderte für alle slawischen Völker ein ent-sprechendes Verhältnis zu Europa und zur ganzen Menschheit, da-mit sie kraft ihrer freien Entwicklung ihren Beitrag zur Weltkultur geben könnten.“84

Über die Slawen Mitteleuropas hat sich Dostojevskij in dem Sinne geäußert, dass sie für Russland nur viele neue Probleme und keine Vorteile brächten. Obwohl viele damals die Meinung vertra-ten, Russland solle die Slawen unbedingt und ohne Vorbehalt un-terstützen, versuchte Dostojevskij nachzuweisen, dass Slawen auch Russlands Feinde sein könnten. Er betone aber gleichzeitig einer-seits die große Verantwortung, die Russlands gegenüber den slawi-schen Völkern habe, und andererseits, dass diese Völker ohne

82 Ebd., S. 364. 83 Ebd., S. 227. 84 A. Gedeonoff, Panslawismus - eine Weltgefahr? Münster 1950, S. 39 - 40.

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Russland nicht existieren könnten. Russland habe daher die morali-sche Pflicht, sich um diese Völker zu kümmern, obwohl diese oft nicht dankbar seien. Die slawischen Länder in Mittel- und Osteuro-pa würden durch die Unterstützung Russlands nur profitieren. Russland verbinde damit nämlich keine eigenen Interessen, sondern habe dadurch nur Nachteile.

Dostojevskij hat für die zukünftige Vereinigung aller slawi-schen Länder „unter den Fittichen Russlands“85 plädiert, was frei-lich nicht zur Aneignung fremden Besitzes, nicht zur Vergewalti-gung, nicht zur Vernichtung der einzelnen slawischen Völkerper-sönlichkeiten durch den russischen Koloss führen dürfte, sondern um „ihnen endlich die Möglichkeit zu geben, friedlich zu leben und sich nach ihren unzähligen, jahrhundertlangen Leiden zu erholen, um die Gemeinsamkeit zu pflegen und, nachdem ihnen neue Kräfte erwachsen sind, auch ihr Scherflein in die Schatzkammer des menschlichen Geistes beizusteuern, auch ihren Beitrag zur Kultur der Menschheit zu leisten.“86

Nach der Lösung der “slawischen Frage“, d.h. nachdem sich die slawischen Völker unter Russlands Schutz vereinigt hätten, würde die “orientalische Frage“87, d.h. die Einigung der orthodoxen Völker, auf die Tagesordnung der Weltgeschichte kommen. Das bedeutete für Dostojevskij, dass dann auch Konstantinopel in russi-schen Besitz gelangen würde.88 Er hat in diesem Zusammenhang auch gesagt, dass Konstantinopel ausschließlich den Russen gehö-ren solle, weil nur sie darauf ein Anrecht hätten.89 Er lehnte den 85 F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije socinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 12, S. 207. 86 Ebd. 87 Zur Rolle der “orientalischen Frage“ in der russischen Geschichte vgl. A. Stökl, Russische Geschichte, Wien 1972, S. 245 - 267. 88 Alexander von Schelting schreibt: „Tjučev und Dostojevskij (wollten, V. A.) in Konstantinopel nur die Hauptstadt Russlands sehen ...“ Vgl. Alexander Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 100. Das widerspricht aber der fol-genden Darstellung Dostojevskijs: „Konstantinopel uns gehören kann, auch ohne dabei die Hauptstadt Russlands zu sein.“ Vgl. F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije socinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 12, S. 209. 89 Nikolaj Danilevskij meinte, dass Konstantinopel denjenigen zufallen solle, die

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Vorschlag ab, dass Konstantinopel allen orthodoxen Völkern gehö-ren und dass Russland es zu gleichen Teilen mit den anderen Sla-wen teilen sollte. „Konstantinopel, das Goldene Horn, der wichtigs-te politische Punkt der Welt! - und das soll keine politische Erobe-rung sein? Jawohl, das Goldene Horn und Konstantinopel - all das wird dereinst unser sein, doch nicht zwecks Eroberung und um es zu vergewaltigen, antworte ich. Und vor allen Dingen: das wird ganz von selbst geschehen, wenn die Zeit dazu kommt.“90 Nach Dostojevskij gab es für Russland einen besonderen Grund, in den Besitz von Konstantinopel zu kommen: um der “universalen katho-lischen Verschwörung“ und dem von ihr erzeugten “Ungeheuer Sozialismus“ erfolgreich widerstehen zu können.

In Dostojevskijs Konzeption91 ist das politische Programm der Slawophilen besonders deutlich zu erkennen, und das, obwohl er einer derjenigen war, die eine große Sympathie für die europäische Kultur hegte. Er sieht die Einheit von Russentum, Slawentum und Orthodoxie als geschichtlich notwendig an und formuliert das in seinen Werken mit zwingender Logik. Er hat sein literarisches Ta-lent und seine Berühmtheit dafür eingesetzt, die russische Öffent-lichkeit mit aktuellen politischen Fragen bekannt zu machen. Seine Ausführungen sind von beiden Seiten, sowohl von Slawophilen als auch von Westlern, heftig kritisiert worden. Trotz dieser Kritik sind

die Idee des oströmischen Reiches fortführen könnten. Aber nur die Russen und unter ihrer Führung die Slawen seien dazu in der Lage. Die militärischen Gründe für Russland bzw. der Slawen, Anspruch auf Konstantinopel zu erheben, be-stimmte Danilevskij folgendermaßen: „Der Besitz des ganzen Schwarzen Meeres würde die russische Grenze erheblich verkürzen und damit ihre Verteidigung erleichtern und verbilligen.“ Vgl. N. J. Danilevskij, Rossija i Evropa, Moskva 1991, S. 384. 90 F. M. Dostojevskij, Polnoje sobranije socinenij, S.-Peterburg 1883, Bd. 12, S. 208. 91 Hans Kohn betrachtet Dostojevskij neben Danilevskij als einen der wichtigsten Vertreter des russischen nationalen Messianismus. Vgl. Hans Kohn, Dostoyevsky and Danilevsky: Nationalist Messianism, in: Ernest Simmon (ed.), Continuity and Change in Russian und Soviet Thought, Cambridge, Massachusetts, 1955, S. 502. Auf Übereinstimmungen beider Autoren weisen auch andere Forscher hin. Vgl. J. S. Pivovarov, Nikolaj Danilevskij v russkoj kulture i mipovoj nauke, in: Mir Rossii, 1/1992, S. 208.

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viele seiner Gedanken und Einschätzungen auch heute noch von Interesse.92

In die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt die Gründungs-phase der russischen Geschichtsphilosophie. Es wurden seinerzeit von den Slawophilen, und nicht nur von ihnen, vor allem folgende Fragen thematisiert: Was ist Europa? Was ist Russland? Wie ist das Verhältnis zwischen beiden? Wie sehen deren geschichtliche Per-spektiven aus?

Noch hat es keine klaren Antworten auf diese Fragen, sondern nur Andeutungen gegeben. Den Slawophilen ist es aber immerhin gelungen, Grundprinzipien ihrer Position zu benennen. Es sind dies: die Orthodoxie und das russische Volk. Die Westler traten dagegen für einen universalen Liberalismus nach europäischem Muster ein. Die Bodenständigen setzten sich für eine Beendigung des Streits zwischen den beiden Parteien ein und propagierten ei-nen Mittelweg, der sowohl national als auch liberal sein sollte. Die Position der Slawophilen zeichnete sich durch ihre religiöse und nationale Gesinnung aus, die beide im philosophischen Sinne keine allgemeinen, sondern spezifische, d. h. relative Werte darstellen, die von ihnen indes verabsolutiert worden sind.

In der slawophilen Geschichtsphilosophie lassen sich erste Hinweise auf eine spezifische Geschichtsdeutung finden. Diese be-steht darin, dass junge Völker ihre Zukunft noch vor sich haben, alte Völker dagegen von der weltgeschichtlichen Bühne abtreten würden. Die Tatsache, dass diese slawophilen Ideen heute in Russ-land erneut starke Beachtung finden, hängt sicherlich damit zu-sammen, dass aufgrund der kommunistischen Indoktrination ein Nachholbedarf für original russisches Gedankengut existiert und dass die eurasische “Schule“ sich gegenwärtig explizit auf diese Tradition beruft.93

92 Vgl z. B. V. A. Bacinin, Sociologija i metafisika v tvorčestve F. M. Dostojevskogo, in: Sociologičeskije issledovanija, 3/2000, S. 94 - 103. 93 Vitalij Pascenko weist darauf hin, daß viele slawophilen Ideen in das Arsenal der Eurasier übergegangen sind. Vgl. V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000, S. 164.

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II. Die klassische russische Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts

Von Alexander von Schelting stammt das folgende Urteil:

„Vor dem oben dargestellten politischen, soziologischen und geis-tigen Hintergrund heben sich als Höhepunkte drei mehr oder min-der gewichtige, einigermaßen geschlossene und systematische Ver-suche zu einer Geschichtsphilosophie ab, die dem zentralen Thema des russischen Geschichtsdenkens, d.h. dem Verhältnis zwischen Russland und Europa und der geschichtlichen Rolle Russlands bzw. des Slawentums, durch eingehende theoretische und ge-schichtliche Begründung gerecht zu werden sich bemühen. Diese drei Versuche stammen von Nikolaj Danilevskij (1822 - 1885), Konstantin Leontjev (1831 - 1892) und Vladimir Solovjev (1853 - 1900), die als die bedeutendsten Figuren der russischen, d.h. der einigermaßen spezifisch und original russischen Geschichtsphilo-sophie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu gelten haben.“94

Die genannten Autoren haben, das ist auch meine Meinung, die Grundlagen geschaffen, auf die sich die russische Geschichts-philosophie stützt. Trotz der spezifisch sozialen und politischen Problematik des 19. Jahrhunderts sieht man, dass bei Danilevskij und Leontjev alle jenen Grundeinstellungen schon angelegt sind, die im 20. Jahrhundert von den Eurasiern eingenommen worden sind.

Die Geschichtsphilosophie von Nikolaj Danilevskij

Von den späteren Slawophilen hat Nikolaj Danilevskij am

meisten öffentliches Aufsehen erregt und internationale Beachtung gefunden. Sein politisches Credo hat er in dem Buch “Russland und Europa: Ein Überblick über die politischen Beziehungen der slawischen und der germano-romanischen Welt“ (1869) niederge-legt.95 Alexander von Schelting hat diesem Werk Danilevskijs nicht 94 Alexander von Schelting, Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern 1948, S. 66. 95 Das Buch wurde später von Vladimir Solovjev als “Bibel des Slawentums“

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nur für die russische Geschichtsphilosophie große Bedeutung bei-gemessen: „Sein System der außenpolitischen Postulate zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit dem, was sich später als die außen-politischen Tendenzen der Sowjetunion96 abzeichnete, während seine Geschichtstheorie nicht nur gewisse Grundgedanken der Os-wald Spenglerschen und der damit verwandten Geschichtsphiloso-phie, sondern auch eine Reihe von Grundbegriffen, einschließlich derjenigen der sogenannten Wissensideologie, vorwegnahm, die späteren kultursoziolo-gisch-geschichtsphilosophischen Erörterun-gen, vor allem in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg (bei Alf-red Weber, Max Scheller u. a.), eigentümlich werden sollten.“97

Nach einer Bemerkung von A. I. Schewljakow ist ein wesent-liches Merkmal der Geschichtsphilosophie von Nikolaj Dani-levskij, dass er darin die Vorstellung der Weltgeschichte als eines “diskreten Prozesses“ entwickelt

hat.98 Für ihn ist charakteristisch, dass „die Gesamtgeschichte der Menschheit nicht eine lineare Bewegung längst eines Pfades oder in einer einzigen Richtung ist, ... sondern dass sie tatsächlich aus mehrseitig gerichteten Bewegungen zusammengesetzt ist, die sich längst verschiedener Linien entwickeln und verschiedene As-pekte oder Werte durch verschiedene Kulturtypen zur Darstellung bringen.“99

Im Zuge der Kritik an englischen Fortschritts-Theorien ge-langte Danilevskij zu der Ansicht, dass es in der Weltgeschichte bezeichnet, und nach der Meinung von Pitirim Sorokin ist es heute „lebendiger, als es achtzig Jahre zuvor war“. Vgl. P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesell-schaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kul-turen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953, S. 63. 96 Vgl. V. V. Afanasjev, Die Sowjetunion als Schöpfer und Garant der auf der Potsdamer Konferenz festgeschriebenen Jalta-Ordnung, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Potsdam 1945: Konzept, Taktik, Irrtum? Berlin 1997, S. 231 - 258. 97 Alexander von Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 79. 98 A. I. Schevljakov, Kniga N. J. Danilevskogo ”Rossija i Evropa“ v polemike 80-ch godov XIX veka, in: Sociologičeskije issledovanija, 12/1998, S. 127. 99 P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953, S. 68.

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auch Perioden des Niedergangs gibt und alle Zivilisationen einem natürlichen Gesetz des Unterganges unterliegen. Dieses wichtige Merkmal aller zyklischen Geschichtsinterpretationen ist auch der russischen Geschichtsphilosophie eigen. Hans Kohn hat die Haupt-ideen der Geschichtsphilosophie Danilevskijs wie folgt beschrie-ben: „In Wirklichkeit war die europäische Kultur nur ein Ergebnis der Geschichte, nichts Endgültiges, sie war so einseitig, wie andere Zivilisationen vorher es auch gewesen waren und wie diese dem Gesetz von Entstehung und Niedergang der Kulturen unterworfen. Man konnte die Geschichte nicht als ein ununterbrochen sich fort-entwickelndes Ganzes sehen, das in Antike, Mittelalter und Moder-ne geteilt war und in der gegenwärtigen Kultur kulminierte. Man musste in der Geschichte vielmehr mehrere kulturhistorische Typen oder ursprüngliche Kulturformen unterscheiden, von denen jede unabhängig ein Prinzip herausstellte, das von ihrer besonderen geistigen Natur und ihren besonderen Lebensbedingungen geprägt wird. Jeder Kulturtypus hat nur eine relativ kurze Periode, in der er auf der Höhe seines Wachstums Früchte trägt; dann beginnt der Zerfall. Es gibt keinen unendlichen Fortschritt in einer Richtung; wenn eine Kultur anfängt unterzugehen, folgt die Menschheit neu-en Pfaden.“100

Danilevskijs Theorie von den Kulturtypen hat eine neue Epo-che in der Geschichtswissenschaft eingeleitet. Er lehnte die übliche Einteilung der Menschheit, sowohl die geographische als auch die historische, ab. Er sieht in der Weltgeschichte statt einer Mensch-heit „natürliche“101 Gruppierungen: „kulturhistorische Typen“ als Akteure am Werk.102 Diese Typen sind in chronologischer Reihen-

100 Hans Kohn, Die Slawen und der Westen, Wien 1956, S. 199. 101 Eines der wichtigen Elemente in der Methodologie von Danilevskij ist die Vorstellung von fünf Etappen in der Entwicklung jeder Wissenschaft, deren höchste Stufe das “natürliche System“ der jeweiligen Wissenschaft darstellt. Dieser Begriff widerspiegelt den Zustand der Wissenschaft, wenn ihre innere Struktur den realen Verhältnissen des Objekts entspricht. Dasselbe gilt auch für die Geschichtswissenschaft. 102 Für die Bezeichnung der kulturhistorischen Typen verwendet Danilevskij die Begriffe “Kulturtyp“, “Typus“, “Kultur“ und auch “Zivilisation“ im gleichen Sinne.

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folge: 1) der ägyptische, 2) der chinesische, 3) der assyro-babylonisch-phönikische, chaldäische oder alt-semitische, 4) der indische, 5) der iranische, 6) der jüdische, 7) der griechische, 8) der römische, 9) der neu-semitische oder arabische und 10) der germa-no-romanische oder europäische Typus.103 In den Kulturtypen sieht Danilevskij die jeweils höchste Form geschichtlich kollektiver Ein-heiten.

Für Danilevskij war die “Menschheit“ ein abstrakter Begriff. „’Menschliche Zivilisation’, der man sich anschließen könnte, exis-tiert nicht und kann gar nicht existieren, weil sie ein unerreichbares Ideal ist.“104 Die Kulturtypen dagegen würden jedoch real als Gruppierungen von Völkern existieren, die verwandte Sprachen sprechen. Damit im Rahmen eines Kulturtyps auch eine originelle Kultur entstehen kann, sei allerdings die politische Selbständigkeit dieser Völker unbedingt notwendig. Der Reichtum der originellen Kulturen sei von der Menge ihrer ethnographischen Elemente ab-hängig.

Jeder Kulturtyp macht in seiner Entwicklung vier Perioden durch: die ethnographische, die staatliche, die Periode der Zivilisa-tion und die der Apathie, d. h. der Selbstzufriedenheit oder der Verzweiflung. Die “ethnographische Periode“ ist relativ lang. Ihr folgt die “staatliche Periode“, deren Dauer ca. 500 Jahre beträgt. Die Periode der “Zivilisation“ ist relativ kurz. Sie dauert ca. 300 Jahre. Die letzte Periode, die der “Apathie“ bedeutet nicht anderes als Stagnation. Sie kann eine relativ lange Zeit dauern oder aber sehr kurz ausfallen, je nach der Aktivität der Nachbarvölker. Dani-levskij hat die Periodisierung der Kulturen nach dem Muster der Entwicklung einer Pflanze vorgenommen. Die “Blütezeit“ ist dabei für ihn mit der Periode der “Zivilisation“ identisch.

Danilevskij hat für die Kulturtypen folgende Gesetzmäßigkei-ten definiert: „1. Jeder Stamm oder jede Völkerfamilie, deren Sprachgruppen so nahe bei einander stehen, dass ihre Verwandt-schaft ohne philologisch tiefe Forschungen deutlich wird, bildet einen eigenständigen Kulturtypus, sofern sie nach ihren geistigen 103 N. J. Danilevskij, Rossija i Ewropa, Moskva 1991, S. 107. 104 Ebd., S. 107.

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Anlagen überhaupt zu einer historischen Entwicklung fähig und schon über das Kindesalter hinaus ist. 2. Ein Volk muss sich politi-scher Unabhängigkeit erfreuen, wenn seine potentielle Kultur tat-sächlich ins Leben treten und zur Entfaltung kommen soll. 3. Die Grundlagen der Zivilisation eines Kulturtypus können nicht weiter-gegeben werden. Jeder Typus erarbeitet sie (die Zivilisation, V. A.) für sich selbst unter größerem oder geringerem Einfluss fremder, ihm vorausgegangener oder gleichzeitiger Zivilisationen.“105 Die Grundwerte eines Kulturtyps können also den Völkern eines ande-ren Typs nicht einfach überstülpt werden. Jeder Kulturtyp erarbei-tet sie für sich selbst aus dem Nachlass vorangegangener oder zeit-genössischer Zivilisationen.

Über seine Theorie der Kulturtypen kommt Danilevskij zu ei-ner neuen Einteilung der Weltgeschichte. Gegenüber dem traditio-nell europazentristischen “künstlichen“ Schema in Altertum, Mit-telalter und Neuzeit hat er eine neue, “natürliche“ Periodisierung der Kulturen vorgeschlagen. „Die Gliederung der Geschichte in altertümliche, mittlere und neue Zeit, selbst unter Hinzufügung ei-ner prähistorischen und modernen Zeitgeschichte, reicht nicht aus. Die Formen des historischen Lebens der Menschheit, wie die der pflanzlichen und tierischen Welt, die der menschlichen Kunst (die Stile in der Architektur, die Schulen der Malerei), die der Sprachen, die des Geistes, der die Verwirklichung der Prinzipien der Güte an-strebt, die der Wahrheit und der Schönheit unterscheiden sich nicht nur nach dem Alter, sondern auch nach den Kulturtypen. ... Die Hauptgliederung soll in der Unterscheidung von Kulturtypen lie-gen, die die selbständigen, eigentümlichen Pläne der religiösen, so-zialen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, künstleri-schen, mit einem Wort, der historischen Entwicklung darstellen.“106

Die Sprache ist für Danilevskij das wesentliche Merkmal, das die selbständige Existenz eines Kulturtyps in erster Linie bestimmt. „Von zehn Kulturtypen deren Entwicklung den Inhalt der Weltge-schichte bildet, gehören drei den Stämmen der semitischen Rasse an, und jeder Stamm, der durch eine der drei Sprachen der semiti- 105 Ebd., S. 94. 106 Ebd., S. 85.

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schen Gruppe charakterisiert ist, durch die chaldäische, hebräische und arabische, hatte seine eigene selbständige Zivilisation.“107 Die Völker der germanischen Sprachgruppe haben ihre Zivilisation in Europa geschaffen, während die slawische Sprachgruppe ihren Kulturtyp noch nicht ausgeformt habe, dies zu tun, erst noch im Begriffe sei.

Völker spielen in der Geschichtsphilosophie Danilevskijs eine zentrale Rolle. „Völker sind die Organe der Menschheit, mittels deren ihre Idee in ihrer Vielfältigkeit und Vielseitigkeit in Raum und Zeit verwirklicht wird.“108 Die Geschichte ist für ihn die Ent-stehung und das Verschwinden von Völkern. Alle Völker werden nach ihrer Rolle in der Weltgeschichte von Danilevskij in drei Gruppen eingeteilt: in „I. Positive (schöpferische) Kulturen; II. Ne-gative (destruktive) Völker und Stämme: Solche, die vergreisten und sterbenden Kulturen den Gnadenstoß geben. III. Ethnographi-sches Material.“109

Um eine positive geschichtliche Rolle zu spielen, muss ein Volk einen eigenen Staat gründen. Der Staat wird zum Zwecke des Schutzes des nationalen Lebens, der Ehre und des Eigentums der Bürger geschaffen. Aber nicht jedes Volk kann einen eigenen Staat besitzen. Vor seiner Staatsgründung muss das Volk ein Selbstbe-wusstsein seiner selbst entwickeln. Ein fehlendes Selbstbewusst-sein verhindert die Überwindung des Zustandes der natürlichen Wildheit und Zersplitterung. Außer Selbstbewusstseins müsse ein Volk eine Periode der äußeren Abhängigkeit durchmachen, um ei-nen eigenen Staat zu erlangen. Nikolaj Danilevskij erwähnt drei Hauptformen solcher Abhängigkeit: die Sklaverei, die Kontribution und den Feudalismus.110

107 Ebd., S. 95. 108 Ebd., S. 222. 109 P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953, S. 71. 110 Die Sklaverei trägt zur Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins nicht bei und führt nicht zur Bildung eines eigenen Staates. Kontribution ist eine Form der kollektiven Sklaverei, die den Völkern aber eine innere Organisation gestat-tet und ihnen erlaubt, einen Staat zu gründen. Im Feudalismus wird dem unter-

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Im Laufe seiner Untersuchungen ist Danilevskij zu der Ein-sicht gelangt, dass Europa keine geographische Einheit darstellt, weil es keine geographische Grenze gibt, die es eindeutig von A-sien trennt. Er hat Europa nichtsdestotrotz als kulturgeschichtliche Einheit betrachtet und sie den romano-germanischen Kulturtyp ge-nannt. Ihm zufolge gehörte Russland nicht zu Europa, weil es keine gemeinsamen Wurzeln in der europäischen Kultur habe. „Es war kein Teil des übernationalen, wahrhaft europäischen Heiligen Rö-mischen Reiches Karls des Großen und seiner Nachfolger; es besaß nicht das übernationale und allgemeine europäische Feudalsystem, nahm auch daran nicht teil und war auch an seiner Auflösung im Namen der bürgerlichen und politischen Freiheit nicht beteiligt. Russland hat auch weder den Katholizismus noch den Protestan-tismus angenommen. Russland gehört weder auf Grund seiner Ab-stammung noch durch Adoption zu Europa.“111

Europa und Russland sind für Danilevskij zwei verschiedene kulturelle Welten. Europa ist älter und stärker als Russland. Europa betrachtet nach seiner Überzeugung Russland nicht als einen Teil von sich selbst. Es sieht in Russland und überhaupt in den Slawen etwas, was ihm völlig fremd ist und gleichzeitig etwas, das als blo-ßes Material zum Vorteil Europas ausgebeutet werden kann. Es er-blickt in Russland nicht nur eine fremde, sondern eine feindliche Macht. Russland und das Slawentum werden von allen europäi-schen Parteien gehasst.112 Das ist jedenfalls die Sicht von Dani-levskij.

Diese Annahmen benutzt Danilevskij zur Begründung von zwei Hauptthesen seines politischen Programms. Die erste ist der unvermeidliche Gegensatz der politischen Interessen Russlands und Europas, von Ost und West, der zu einem langen geschichtlichen Kampf führen werde. Diesen Kampf hat Danilevskij als die so ge-nannte “Orientalische Frage“ bezeichnet. Um im Kampf mit dem

worfenen Volk eine eigene, besondere Stellung eingeräumt, was ihm die Chance zur Staatsgründung eröffnet. Vgl. N. J. Danilevskij, Rossija i Evropa, Moskva 1991, S. 234. 111 Ebd., S. 352. 112 Vgl. ebd., S. 352.

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Westen, der im Laufe der Geschichte immer wieder seinen aggres-siven Charakter gezeigt habe, diesem etwas Gleichwertiges entge-gensetzen zu können, brauchen die slawischen Völker unbedingt einen politischen Bund, den von ihm so genannten “Slawischen Bund“. Dieser Bund ist das zweite wichtige Moment in Dani-levskijs politischem Programm. Deutschland sei im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten relativ jung und spiele deshalb die Hauptrolle in der europäischen Politik. Nach Danilevskijs Mei-nung stellen die Deutschen deshalb die Hauptgefahr für Russland und die slawische Welt dar. Gefahren hat er nicht nur im militäri-schen Bereich gesehen, sondern auch im kulturellen. Er fürchtete eine Germanisierung der Slawen.113

Als Antwort auf die Ideen des Pangermanismus hat Dani-levskij seine panslawistische Konzeption entwickelt. Er hat dabei viele gängige europäische Vorurteile gegen Russland als grundlos zurückgewiesen, so z. B. die Aggressivität der Russen.114 Und er hat in diesem Zusammenhang auch die These vertreten, dass die westslawischen Völker wegen ihrer Abhängigkeit von Europa nicht imstande seien, ihr eigenes politisches Leben zu organisieren. Sie brauchten dazu die Hilfe der Russen, die seiner Meinung nach al-leiniger Träger der politischen Idee des Slawentums sein würden.

Nach Danilevskijs Meinung würde die nächste Etappe der Weltgeschichte von der “Orientalischen Frage“ bestimmt werden. Das Wesen dieser Frage sei der Kampf zwischen dem sterbenden Kulturtyp der “romano-germanischen Zivilisation“ und dem neuen, aufstrebenden slawischen Kulturtyp.115 Das Resultat dieses Kamp-fes werde einerseits das Entstehen eines neuen, einheitlichen Euro-pas und andererseits die Bildung einer “Slawischen Union“ sein.

113 Diese Einschätzung hat die Geschichte teilweise bestätigt. Ängste vor Deutschland und Europa haben auch bei der Planung des Potsdamer Abkommens und bei der Sowjetisierung Osteuropas in der Nachkriegszeit eine Rolle gespielt. 114 So hat er z. B. geschrieben, daß die Vergrößerung des russischen Staates weitgehend aufgrund spontaner Besiedlung erfolgt sei: “Gewiß, Russland ist nicht klein, aber den größten Teil seines Raumes hat das russische Volk durch eigene Siedlung, nicht durch staatliche Eroberung gewonnen.” Vgl. N. J. Danilevskij, Rossija i Evropa, Moskva 1991, S. 24. 115 Vgl. N. J. Danilevskij, Rossija i Evropa, Moskva 1991, S. 329.

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Diese Union wäre die politische Organisation der slawischen Staa-ten auf der Basis ihrer sprachlichen, ethnischen und religiösen Verwandtschaft. Diese politische Organisation sollte ihm zufolge die Bedingungen schaffen, die für die weitere historische Entwick-lung des zukünftigen slawischen Kulturtyps notwendig sind. Das Ziel des Projekts von Danilevskij bestand in der Bildung einer sla-wischen Konföderation mit Konstantinopel als Hauptstadt. Dieser Plan, der die Aufteilung Österreichs und der Türkei vorsah, würde nach seiner Vision in unvermeidbaren Kämpfen zwischen Russland und Europa verwirklicht werden.

An dieser Stelle scheint mir ein Hinweis notwendig, der die “Orientalische Frage“ zeitgeschichtlich einordnet. Was dem heuti-gen Leser absonderlich und vollkommen irreal vorkommen muss, hatte zu Danilevskijs Zeit durchaus realistische Züge. Im russisch-türkischen Krieg (1877 - 1878) kamen russische Truppen bis in die Nähe von Konstantinopel. Das Osmanische Reich verlor nahezu gänzlich seine europäischen Randgebiete. Wem Konstantinopel in der Zukunft gehören sollte, schien zeitweilig tatsächlich auf der politischen Tagesordnung der damaligen Zeit zu stehen. Aber die russischen Erwartungen haben sich bekanntlich nicht erfüllt. Und das, obwohl seit Peter dem Großen Konstantinopel schon immer als historisches Zentrum der orthodoxen Religion in der russischen Po-litik eine beachtliche Rolle gespielt hat. Auch deshalb, weil die auf dem ehemaligen türkischen Territorium neugegründeten slawi-schen Staaten einer politischen Heimat, zumindest jedenfalls einer Anlehnung und Stützung bedurften, lag die Idee einer “Slawischen Union“ damals, zur Zeit von Danilevskij, gewissermaßen in der Luft.

Hans Kohn hat die Organisationsform seiner “Slawischen U-nion“ folgendermaßen beschrieben: „Danilevskij arbeitete bis ins Detail die Zusammensetzung und Grenzen dieser panslawistischen Union aus. Dazu würde das Russische Reich in seinen Grenzen von 1869 (das heißt einschließlich Polens) gehören, unter Hinzufügung von Österreichisch-Galizien, der nördlichen Bukowina und der un-garischen Karpato-Ukraine; das Königreich Böhmen, Mähren und die Slowakei; das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen,

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einschließlich Montenegros, Bosniens, der Herzegowina und Nord-albaniens von der Türkei; die Woiwodina und das Banat von Un-garn; Dalmatien, Istrien, Triest, Görz und Gradiska, Krain, zwei Drittel von Kärnten und ein Fünftel der Steiermark von Österreich; das Königreich Bulgarien mit dem größeren Teil von Mazedonien; das Königreich Rumänien mit Teilen der österreichischen Bukowi-na und der Hälfte des ungarischen Transsylvaniens; das Königreich Griechenland mit Thessalonien, dem Epyros, Südwestmazedonien, Kreta, Rhodos, Zypern und der anatolischen Küste des Ägäischen Meeres; das Königreich Ungarn, das der Teile, die an Russland, an Böhmen, Serbien und Rumänien abgetreten wurden, beraubt sein würde; und endlich Konstantinopel und Umgebung.“116

Diese Pläne, die schon den alten Slawophilen im Kopf herum-gingen und die nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise verwirklich worden sind, finden manche Autoren sehr gefährlich oder, wie A-lexander Janow es ausgedrückt hat, „halbverrückt und völlig grund-los“.117 Aber, wie Hans Kohn schreibt, „zwei Tatsachen sind im Zusammenhang mit Danilevskijs panslawischer Union bemer-kenswert. Die Grenzen, die er vorschlug, wurden im ganzen 1945 erreicht, Stalin ging nur noch einen Schritt weiter und annektierte auch Königsberg. (Dass Griechenland und Konstantinopel 1945 nicht zu Stalins Erwerbungen gehörten, war nicht sein Fehler.) Po-len, ‘das seine slawische Seele verloren hatte’, wurde von Dani-levskij nicht zu seiner panslawischen Union zugelassen, doch be-stand immerhin noch eine Möglichkeit, falls Polen sich von Europa abwenden und auf seine Ostgebiete verzichten würde. Beide Be-dingungen waren 1945 offensichtlich erfüllt, und so wurde Polen als Mitglied zugelassen, eine zweifellos glückliche Wendung, die Danilevskij nicht voraussah.“118 Das Ende des Kalten Krieges hat der „Orientalischen Frage” eine ganz und gar andere Lösung be-schert .

Nach Danilevskijs Meinung befand sich Russland zu seiner

116 Hans Kohn, Die Slawen und der Westen, Wien 1956, S. 195 - 196. 117 A. Janov, Slavjanofily i vnešnaja politika Rossii v XIX veke, in: Političeskije issledovanija, 3/1999, S. 170. 118 Hans Kohn, Die Slawen und der Westen, Wien 1956, S.196.

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Zeit am Ende der “staatlichen Periode“. Sie sollte mit der Bildung der “Slawischen Union“ ihre Vollendung finden. Diese politische Organisationsform der slawischen Welt ist für Danilevskij eine wichtige Voraussetzung für die weitere Ausbildung des slawischen Kulturtyps gewesen.119

Die wissenschaftliche Forschung schenkt Danilevskijs Ideen auch heute noch ihre Aufmerksamkeit.120 Er wird dabei oft als Pan-slawist kritisiert121, wobei dieser Begriff negativ besetzt ist. Das kann man auch von der z. Z. umfassendsten Arbeit über Dani-levskij, der Monographie von Robert E. MacMaster122, sagen. Der Autor ist zu der folgenden Einschätzung von Danilevskij und seiner Philosophie gelangt: „He was a fanatical, totalitarian Panslawist, one without any reservation or sense of responsibility. ... Undoub-tedly he was to a marked extent a prisoner of his own fantasies a-bout God und world history. But only a rancorous, aggressive man could have worked out such a fantasy in the first place. He had mo-re than abandoned the idea he had spoken of so proudly to the Commission of Investigation, the idea that ends never justify means. He now markedly tended to dwell on forceful and violent actions for their own sake. From one point of view, his philosophy of the deed was a sign of an irrational fascination with force and aggression, in and for themselves.“123

Damit wird Danilevskijs politisches Programm verurteilt. Es ist dies jedoch nur ein Aspekt seines Werkes, den ich hier nicht 119 Diese Ideen von Danilevskij sind später von Konstantin Leontjev übernommen und konkretisiert worden. 120 Besonders viele Publikationen erschienen nach dem Erfolg der Buches ”Der Untergang des Abendlandes“ (1920) von Oswald Spengler. Seit dieser Zeit wird Danilevskij oft als einer der Vorläufer von Spengler genannt, obwohl ein direkter Nachweis einer solchen Beeinflussung bisher fehlt. Vgl. A. Luter, Russische Vorläufer Oswald Spenglers, Leipzig 1921. 121 Zum Beispiel von A. von Schelting, H. Kohn, F. Fadner, u. a. mehr. A. Gedeonow nennt Danilevskij den ”bekanntesten Systematiker der panslawistischen Weltanschauung“. Vgl. A. Gedeonow, Panslawismus - eine Weltgefahr?, Münster 1950, S. 41. 122 Robert E. MacMaster, Danilevsky: A Russian Totalitarian Philosopher, Cambridge, Massachusetts, 1967. 123 Ebd., S. 129.

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weiter verfolgen kann. In dieser Arbeit wird Danilevskij vor allem als Schöpfer der Kulturtypentheorie vorgestellt.

In Danilevskijs Geschichtsphilosophie findet man nicht nur eine systematische Darstellung vieler slawophiler Ideen, sondern auch Erwägungen, die später in der russischen Geschichtsphiloso-phie des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielen werden, weshalb man ihn getrost als Vertreter der klassischen russischen Geschichtsphi-losophie bezeichnen kann.124 Seine Geschichtsphilosophie stellt ein relativ geschlossenes System dar. Sie gibt nicht nur konkrete Ant-worten auf früher oft gestellte Fragen, sondern bietet auch allge-meine Grundlage für geschichtsphilosophische Analysen. Bei der Kritik der universalen Deutung der Weltgeschichte benutzt Dani-levskij den Begriff “Kulturtyp“. Sie, diese Kulturtypen, entwickeln sich in Laufe der Zeit zu einer gewissen kulturellen Reife, erleben eine “Blütezeit“ und lösen sich letztendlich wieder auf. Das ist sei-ne Vorstellung von natürlichen, organischen Geschichtszyklen. Mit ihrer Hilfe hat Danilevskij die Entwicklung der Kulturen in vier verschiedene Perioden eingeteilt. Seine Periodisierung ist in der weiteren Entwicklung der russischen Geschichtsphilosophie präzi-siert und vervollständigt worden.

Die Geschichtsphilosophie von Konstantin Leontjev Als weiterer bedeutender Vertreter der klassischen russischen

Geschichtsphilosophie wird von vielen Autoren Konstantin Leont-jev (1831 – 1891) angesehen, der teilweise unter dem Einfluss von Nikolaj Danilevskij gestanden hat. Er hat außer literarischen Wer-ken eine Reihe von politischen Schriften verfasst, von denen “By-zantinismus und Slawentum“ (1868) eine der wichtigsten ist. Seine Weltanschauung ist im Grunde tief pessimistisch, antiliberal und 124 Alexander Puškin wird oft der russische Dante genannt. Im gleichen Sinne könnte man Danilevskij den russischen Machiavelli nennen, weil er, wie es jener getan hat, die Politik von der Religion gelöst hat. Er war eine Figur des Über-gangs von der Epoche der religiösen Dominanz in der Politik zur “reinen“ Poli-tik, die keine “religiöse“ Legitimation mehr brauchte und sich ausschließlich für weltliche Fragen interessierte. Vgl. J. S. Pivovarov, Nikolaj Danilveskij v russkoj kulture i mirovoj nauke, in: Mir Rossii, 1/1992, S. 206.

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mit der orthodoxen Theologie eng verbunden. Viele seiner Ein-schätzungen und Voraussagen sind heute nach mehr als hundert Jahren, wenn auch nicht mehr aktuell, so doch nach wie vor zum Verständnis der russischen Geistesgeschichte im späten 19. Jahr-hundert sehr aufschlussreich.

In seinen politischen Abhandlungen behandelte Leontjev Probleme der Weltgeschichte und der Politik: die Rolle des Staates, der Religion und Kultur im Leben der Völker. Er erörterte die Fra-ge des geschichtlichen Fortschritts und seiner Kriterien, führte in den wissenschaftlichen Diskurs den Begriff “Formen des Staates“ ein, entwickelte seine Theorie der “sozialen Elemente“, hat sich jedoch auch über aktuelle politische Probleme verbreitet. Der Un-tersuchung von Leontjevs Nachlass haben sich so bekannte russi-sche Philosophen wie Vassilij Rosanov, Nikolaj Berdjaev, Vladi-mir Solovjev u. a. gewidmet.

Vassilij Rosanov war ein Zeitgenosse Leontjevs und ist ihm persönlich begegnet. Er ist der Auffassung gewesen, dass das äs-thetische Moment125 in Leontjevs Geschichtsphilosophie überwo-gen und alle anderen Facetten seines Talentes bestimmt hat. Die Lehre von den Grenzen, von den Besonderheiten und der Vielfäl-tigkeit der Formen als eine wichtige Bedingung der Kultur ist für Rosanov das Hauptmoment in Leontjevs Philosophie. Das ästheti-sche Kriterium in der Einschätzung der geschichtlichen Erschei-nungen ist für ihn überall anwendbar, sowohl für alle Naturerschei-nungen als auch für die Interpretation sozialer Prozesse. Leontjev stimmte insofern der bekannten Formel Dostojevskijs zu: „Schön-heit wird die Welt retten“. Die äußeren Formen, wie sie sich u. a. in der Architektur, in der Kleidung und Mode zeigen, sind für ihn die unvermeidlichen Konsequenzen organisch gesellschaftlicher Orga-nisation.

Leontjev war mit den Arbeiten der Slawophilen wohl vertraut,

125 Später ist Nikolaj Berdjaev in seinem Buch über Leontjev zu denselben Er-gebnissen gekommen. Aristokratisch und ästhetisch – diese beiden Merkmale haben Leontjevs Kritik der in seiner Zeit sehr verbreiteten kleinbürgerlich libe-ral-demokratischen und humanistisch-nationalen Ideale ausgezeichnet. Vgl. Ni-kolaj Berdjaev, Konstantin Leontjev, Paris 1926, S. 7 – 9.

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obwohl er sie oft kritisiert hat. Den Haupteinfluss auf ihn hatte aber zweifellos Danilevskij. Leontjev hat sich dazu wie folgt geäußert: „Danilevskij war ... der erste, der die Kulturtypen beachtet hat. Die alten Slawophilen haben die Ideen, die bei Danilevskij eine wichti-ge Rolle spielen, bereits erwähnt, aber bei ihnen ist es alles unklar. ... Beim Verfasser von ’Russland und Europa’ ist alles sehr klar.“126

Außer Danilevskij hat auch Vladimir Solovjev Leontjevs Weltanschauung beeinflusst. Leontjev schätzte einige Ideen von Solovjev sehr, insbesondere die Idee der Entwicklung der Kirche: „Er hat dem russischen Gedanken einen starken Impuls zur mysti-schen Tiefe gegeben.“127 Trotz der Hochachtung, die er Solovjev entgegenbrachte, hat er dessen spätere politische Ideen verworfen: „Politische Visionen von ihm wundern mich einfach, ich weiß aber nicht warum: Wegen ihrer Dummheit oder wegen ihrer frechen Schlauheit?“128 In den letzten Jahren seines Lebens diskutierte Le-ontjev heftig mit Solovjev, darunter auch über Danilevskij Theorie der Kulturtypen.129

In der historischen Entwicklung der Staaten wie auch in allen anderen Naturerscheinungen sieht Leontjev drei Phasen: “primäre Einfachheit“, “blühende Komplexität“, “spätere Vermischung“.130 Vassilij Rosanov nennt Leontjevs Idee das “Dreiphasengesetz“: „Es gibt nichts, was dem Gesetz dieser drei Phasen nicht unterge-ordnet wäre, und falls wir uns fragen werden, was in ihnen das We-sentliche ist, so werden wir sehen, dass es das Prinzip des Randes, der Grenze und der Absonderung ist.“131

Dieser dreiphasige Zyklus wird von Leontjev am Beispiel der europäischen Geschichte erläutert. Auf Grund dieses allgemeinen Ansatzes ging Leontjev zur Analyse der staatlichen Formen über und gelangte zum Schluss, dass sich die Staaten Europas in der Pe- 126 Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991, S. 420. 127 Ebd., S. 214. 128 K. N. Leontjev, Visantism i slavanstvo, in: Rossija glasami russkogo, St. Peterburg 1991, S. 15. 129 Vgl. seinen Aufsatz ”Vladimir Solovjev protiv Danilevskogo“, in: Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991. 130 Vgl. Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991, S. 73. 131 Ebd., S. 193.

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riode der Vermischung und der Vereinfachung ihrer politischen Formen befinden. Diesen Prozess bezeichnete er als Abkehr von den traditionellen Formen des staatlichen Aufbaus. Die unter-schiedlichen Stände bildeten nach seiner Auffassung die innere Struktur des Staates. Obwohl sie nicht für alle gerecht sein mag, ist eine solche jedoch für das Leben des Staates unbedingt notwen-dig.132

Auf Grund seiner Analyse der Arbeiten von bekannten euro-päischen Autoren133 ist Leontjev zu dem Ergebnis gelangt, dass sich an die Stelle vielfältiger Ideale, die im mittelalterlichen Europa existierten, als jeder Stand eigene Ideale und Werte hatte, sich im gegenwärtigen Europa ein einziges Durchschnittsideal für alle Schichten und jedes Volk durchgesetzt hat. Damit meinte Leontjev die Machtergreifung des Bürgertums und der Mittelklassen in Eu-ropa, deren Ideal der Liberalismus gewesen ist.

Für Leontjevs Geschichtsphilosophie ist eine organische Ge-sellschaftskonzeption charakteristisch. In der Gesellschaft sah er voneinander unabhängige Elemente am Werk, die genauso wie die Einzelteile eines Organismus, ihre spezielle Funktion, unverwech-selbare Eigenschaften haben. Er verstand das Leben der Gesell-schaft wie das eines Organismus. Er stellte sich die Gesellschaft als eine Einheit von acht selbständigen “realen Kräften“ (Elementen) vor: von Politik, Religion, Kapital, Grundbesitz, Arbeit, Kunst, Wissenschaft und Gemeindewesen (Städten, Ortschaften, Gemein-den). „Diese Elemente, oder die ewigen realen Kräfte sind: die Re-ligion und die Kirche mit ihren Vertretern; das Staatsoberhaupt mit der Armee und den Beamten; verschiedene Gemeinden (Städte, Dörfer usw.); der Grundbesitz; das bewegliche Kapital; die Arbeit und die Masse seiner Vertreter; die Wissenschaft mit ihren Perso-nen und Einrichtungen; die Kunst und ihre Träger.“134 Der Kampf 132 In “Byzantinismus und Slawentum“ entwickelte Leontjev die These vom Zwang der staatlichen Form, deren Wesen es nachgerade ist, Zwang auszuüben. Ihre Aufgabe ist es, die Auflösung der Gesellschaft zu verhindern. Leontjev spricht sich in diesem Zusammenhang für die Notwendigkeit des staatlichen Zwangsmonopols aus. Vgl. Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991, S. 76. 133 Z. B. der von Pierre-Joseph Proudhon und John Stuart Mill. 134 Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991, S. 152 - 153.

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zwischen diesen verschiedenen realen Kräften ist abhängig von Zeit und geographischer Lage, aber unvermeidlich. Die “Ewigkeit“ dieser realen Kräfte ist mit den Voraussetzungen sozialer Utopien nicht zu vereinbaren, die sich, wie die kommunistische, z. B. die Beseitigung des Kapitals zum Ziel setzen würden.

Eine andere These der Geschichtsphilosophie Leontjevs ist die Vorstellung von der Einmaligkeit der Staatsform. Ein Volk schafft am Anfang seines historischen Schicksals den Staat, wählt für ihn eine bestimmte Form, die es „bis zu seinem historischen Sarg“ bei-behält. Die Form bleibt im Grunde unverändert, nur einige ihrer Elemente verändern sich. Ihr gänzlicher Verlust kann für das jewei-lige Volk katastrophale Folgen haben und zum Untergang des Staa-tes führen. „Die Formen des europäischen Staatslebens, seine zivi-lisatorische Gestalt, seine guten und schlechten Seiten entsprechen der volklichen Substanz, haben sich aus eigentümlichen Begriffen entwickelt, aus eigenen Bedürfnissen gebildet. Bis zu einem gewis-sen Grade sind diese Formen, wie alles Lebendige, veränderbar, aber wie alles Lebendige sind sie dies nur bis zu einem gewissen Grade. Ein Organismus kann von seiner normalen Bestimmung abweichen, kann sich manchen Einflüssen fügen, kann zu man-chem erzogen werden, aber nur insoweit, als die Abweichung nicht seine Individualität, eben das negiert, was seine Persönlichkeit ausmacht. Wenn aber der Organismus solchen negativen Einflüssen ausgesetzt ist, gerät er notwendiger Weise in existentielle Gefahr und wird entweder Herr der fremden Einflüsse oder unterliegt ih-nen. Das Phänomen des Todes besteht nur darin, dass die konstitu-tiven Elemente des Organismus ein anderes Ziel einschlagen.“135

So wie für den einzelnen Menschen die maximale Lebensdau-er ungefähr hundert Jahre beträgt, so beträgt die maximale Lebens-dauer von Staaten nach Leontjev ein Jahrtausend. Die wenigsten Staaten in der Geschichte haben diese Frist allerdings erreicht. Das erklärt sich aus ihrem Schicksal sowie den Besonderheiten ihrer inneren Struktur. Demokratische Republiken leben zum Beispiel nach Leontjevs Meinung kürzer als aristokratische Monarchien. Außerdem erklärt sich die Lebensdauer eines Staates aus den Be- 135 Ebd., S. 69.

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ziehungen zwischen den konstruktiven und destruktiven Kräften der Gesellschaft.

Ein weiteres Problem, dem Leontjev seine Aufmerksamkeit hat zuteil werden lassen, ist das nationale. Er kritisierte die gegen-wärtigen politischen Bewegungen, die unter nationalen Vorzeichen antreten, weil sie, wie er glaubte, die allgemeine Vermischung und Gleichmacherei befördern würden. „Die Bewegung des gegenwär-tigen politischen Nationalismus ist nichts anderes als eine weitere Auswirkung der kosmopolitischen Demokratisierung.“136 Das Na-tionalitätenprinzip hält er schlichtweg für Betrug, weil der Begriff Nation für ihn allzu abstrakt ist, nicht mit religiösen, politischen, moralischen Ideen, Werten und Prinzipien verbunden. „Was ist ein Volk ohne eigene religiöse und staatliche Grundwerte? Wofür soll man es lieben? Für das Blut? ... Was ist reines Blut? Geistige Fruchtlosigkeit! Alle großen Nationen haben gemischtes Blut. Sprache? Aber was ist Sprache? Sprache ist notwendig, wichtige Ideen und Gefühle auszudrücken. Blut als solches zu lieben, ist Übertreibung und Verlogenheit.“137

Leontjev hat den politischen Nationalismus angegriffen, hat auf dessen Gefahr für den Staat und die Kultur aufmerksam ge-macht. „Die Idee der Nationalstaaten ist in der jetzigen modischen Art, in welcher Napoleon III. sie in die Politik eingeführt hat, nichts anderes als die liberale Demokratie selbst, die schon seit langem an der Zerstörung der großen kulturellen Welten des Westens arbeitet. ... Die Idee der Nationalitäten ist in der Art, in welcher sie im XIX Jahrhundert existiert, eine ganz kosmopolitische, staatsfeindliche, antireligiöse Idee, sie hat in sich viel zerstörerische Kraft und nichts Schöpferisches. ... Kultur ist nichts anderes als Originalität; und die Originalität geht jetzt durch die politische Freiheit zugrun-de. Der Individualismus tötet die Individualität der Bürger, der Ter-ritorien und der Nationen.“138

Leontjev hat die politischen Ideen von Danilevskij weiterent-wickelt, und zwar in Richtung einer Befreiung von liberalen Illusi-

136 Ebd., S. 309. 137 Ebd., S. 105. 138 Ebd., S. 106.

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onen. Die Idee des Panslawismus hat er abgelehnt, sie durch die Idee des “Byzantinismus“ ersetzt. Byzantinismus als Prinzip exis-tiert konkret, hat seinen Stil, seine eigenen historischen Wurzeln, ist durch orthodoxes Christentum, Autokratie und Pessimismus in Bezug auf das Erdenleben gekennzeichnet. Das Slawentum als Prinzip stellt dagegen für ihn nichts Konkretes dar, das heißt, es hat keine eigenen historischen Formen und kann nur als gewöhnliches nationales Prinzip existieren, das nach Meinung Leontjevs nichts anderes als die rückwärtige Seite des Kosmopolitismus ist.

Im Gegensatz zu Danilevskij hat Leontjev sich alles andere als begeistert über das Slawentum geäußert. Es ist ihm zufolge als Prinzip unverständlich und im politischen Sinn für Russland sogar schädlich: „Panslawismus ist sehr gefährlich, wenn nicht ganz ver-derblich.“139 Der Idee des Panslawismus setzte Leontjev die Idee des “Russismus“ als Fortsetzung der kulturellen Tradition des By-zantinismus entgegen: „Die Idee des orthodox-kulturellen Russis-mus ist wirklich originell, großartig und staatlich streng. Pansla-wismus ist eine Nachahmung und mehr nicht. Er ist das Streben, wie alles andere zu sein. Er ist dieselbe gesamteuropäische Revolu-tion.“140

Aber ungeachtet dieser bedeutenden Divergenz mit der alten slawophilen Tradition hat Leontjev doch viele Ideen Danilevskijs übernommen. Zu solchen Ideen gehört vor allem die “Orientalische Frage“, die damals den Gegensatz zwischen Deutschland als Hauptvertreter der europäischen Interessen einerseits und Russland als Hauptvertreter der Interessen des Slawentums repräsentierte. Für die deutschen Interessen spricht, so Leontjev, folgende Bestre-bung: „Bildung einer südslawischen konstitutionellen Föderation, mit der Beimischung von Madjaren und Rumänen auf den Ruinen der Türkei. Sie gäbe Deutschland für lange Zeit das furchtbare Ü-bergewicht über die gesamte, nicht nur europäische, sondern auch asiatische Welt. Der Staatenbund wäre zwar stark genug, um mit Hilfe Deutschlands den Einfluss Russlands auf Südosteuropa zu unterbinden, wie auch infolge getrennter Veranlagungen der Natio- 139 Ebd., S. 336. 140 Ebd., S. 349.

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nen schwach genug für ihre baldige Unterwerfung unter Deutsch-land. Die Donau würde wirklich ein germanischer Fluss werden. ... Die halbtatarischen Moskowiter würden nach Sibirien und auf den Kaukasus zurückgeworfen werden.“141

Leontjev hat seinerseits eigene Gedanken zur Frage einer “Slawischen Union“ vorgetragen. Er wollte eine solche Vereini-gung nicht auf Grund des nationalen Prinzips nur aus slawischen Völkern schaffen, sondern gemäß dem kulturellen Prinzip des By-zantinismus, d. h. der Orthodoxie. Leontjev erörterte ausführlich, welche Nationen seiner “Slawischen Union“ beitreten könnten und welche davon ausgeschlossen werden sollten. Dabei betonte er zwei Kriterien: die Gefahr des Liberalismus in den slawischen Ländern Osteuropas und die Wichtigkeit des orthodoxen Christen-tums. Gemäß einer solchen Einstellung zu einer zukünftigen Union sollten das katholische Polen und das germanisierte Tschechien nicht daran beteiligt werden, stattdessen sollte das zwar nicht sla-wische, aber orthodoxe Griechenland ihr beitreten.

Beide Denker, Leontjev und Danilevskij, stimmten darin ü-berein, dass eine kulturelle Hauptstadt dieser möglichen Union Konstantinopel sein sollte. Danilevskij bestimmte die „Orientali-sche Frage“ als Auseinandersetzung des „alten“ romano-germanischen Kulturtyps mit dem “neuen“ slawischen Kulturtyp. Leontjev interpretiert die “Orientalische Frage“ dahingehend, dass es für Russland wichtig sei, die Meerenge am Bosporus zu besit-zen.142 Die Eroberung des Bosporus ist für ihn eine entscheidende Voraussetzung auch für die Lösung innerer Probleme Russlands. In diesem Zusammenhang befürwortete er auch das Austreten Russ-lands aus dem kulturellen und politischen System Europas.

Leontjev kritisierte vor allem den “demokratischen Nivellie-rungsprozess“, der seiner Ansicht nach das Ende jeglicher kulturel-ler Höherentwicklung bedeuten, den Reichtum der Lebensformen in langweilige Gleichförmigkeit verwandeln und den von ihm ver-abscheuten Typus des “Durchschnittseuropäers“ heranzüchten

141 Ebd., S. 23. 142 Vgl. K. N. Leontjev, Kak nado ponimat´ sbliženie s narodom? in: Intelligencija – Vlast – Narod, Moskva 1993, S. 167.

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würde. „Gleichheit der Personen, Gleichheit der Schichten, Gleich-heit (d.h. Eintönigkeit) der Provinzen, Gleichheit der Nationen - das ist derselbe Prozess wie allgemeine Gleichheit, allgemeine Freiheit, allgemeine bequeme genüssliche Nützlichkeit, allgemei-nes Wohl, allgemeine Anarchie oder allgemeine Weltlangewei-le.“143

Leontjev hat sich für die Verteidigung der Schätze der europä-ischen Kultur gegen den modernen Egalitarismus und Nationalis-mus stark gemacht. „Das nationale Prinzip ohne religiöse Beson-derheiten und festgefügte Normen ist ein Irrtum. Nationalitäten-Politik ist eine verwunderliche Selbsttäuschung unseres 19. Jahr-hunderts. ... Die nationale Idee in ihrer modernen Gestalt ist nichts anderes als liberale Demokratie, die schon lange Zeit an der Zerstö-rung der großen kulturellen Welten des Westens wirkt. ... Pansla-wismus ist ein Streben zur Angleichung. Er ist die paneuropäische Revolution. Wir brauchen nicht panslawistische Ideen, Slawenun-terstützung, Slawenwillkür, sondern slawische Originalität, slawi-sches Schöpfertum, slawische Besonderheit.“144

Im Unterschied zu anderen Slawophilen lehnte Leontjev das Insistieren auf der nationalen Eigenart ab, weil dies zu einer Revo-lution führen müsse. Er verurteilte deshalb die nationale Politik der russischen Regierung und ihren latenten Panslawismus. In diesem Zusammenhang erläuterte er den Gegensatz zwischen “Panslawis-mus“ und “Byzantinismus“, wie er ihn gesehen hat. Im russischen Denken bilde die orthodoxe Religion das wichtigste Element, wes-halb Russland kein Bündnis mit den katholischen und protestanti-schen Slawen eingehen dürfe. Man müsse dagegen Österreich un-terstützen, weil es die nicht-orthodoxen, abtrünnigen Slawen von Russland fernhalte. Er lobte die türkische Autokratie, die die Bal-kanslawen vor dem europäischen Liberalismus beschütze. Seltsam ist auch seine Auffassung von der russischen Wesensart, die angeb-lich mit den übrigen Slawen wenig gemeinsam habe, sondern eher mit derjenigen der Türken und Tataren verwandt sei. Der Russe sei faul, fatalistisch, autoritär, gutmütig und tapfer, aber rücksichtslos. 143 Konstantin Leontjev, Isbrannoe, Moskva 1991, S. 384. 144 Ebd., S. 148.

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In seiner Geschichte der Balkanvölkern lobte er nicht etwa die Slawen, sondern fand die Türken sympathischer.145 Leontjev billig-te die halbasiatische Art der Russen und lobte die Bündnisse Russ-lands mit den asiatischen Ländern, die noch nicht vom europäi-schen Liberalismus infiziert waren.

Leontjev war seinem ganzen Wesen nach Künstler und Aris-tokrat. Er hat sich immer bemüht, eine eigene, besondere, nicht die landläufige Position zu beziehen. So hat er sich weder mit Dosto-jevskijs Hoffnungen auf eine zukünftige allmenschliche Bruder-schaft anfreunden können noch neigte er dazu, das moderne Europa zu überschätzen oder auch zu unterschätzen. Er schwärmte für das mittelalterliche Europa und verachtet das moderne, das “graue“ Eu-ropa der Arbeitermassen. Für ihn hatte die Entwicklung einer ei-genständigen nationalen Kultur Vorrang vor ihrer Auflösung durch Vermischung mit kosmopolitischen Idealen, die angeblich für alle Nationen und für alle Zeiten Gültigkeit haben.

Alexander von Schelting hat Leontjevs Geschichtsphilosophie einmal auf folgende Weise charakterisiert: „Seinen Ästhetizismus, Antieudämonismus, Antihumanismus und Antiprogressismus be-kundete er gern in überspitzen Sätzen, wie etwa denen:„Je ne pense pas à l'humanité souffrante, je ne pense qu'à l'humanité poétique“ und „Un puissant arbre centenaire m'est plus cher qu'une douzaine d'hommes; je ne le laisserais pas abattre pour acheter aux paysans une médicine contre le choléra.“146 Vladimir Solovjev hat Leontjev nach dessen Tod einen Artikel gewidmet, in dem er ihn als einen russischen Denker bezeichnete, der intelligenter als Danilevskij, origineller als Herzen und religiöser als Dostojevskij gewesen sei.147

In der Geschichtsphilosophie von Konstantin Leontjev sind die partikularistischen und zyklischen Züge der russischen Ge-schichtsphilosophie noch deutlicher erkennbar als bei Danilevskij.

145 Die Ähnlichkeit zwischen Russen und Türken hat später Nikolaj Trubezkoj besonders betont. 146 Alexander von Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 115. 147 Vgl. Nikolaj Berdjaev, Konstantin Leontjev, Paris 1926, S. 154.

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In ihr findet man drei Perioden in der geschichtlichen Entwicklung einer Kultur: primäre Einfachheit, blühende Komplexität und späte-re Vermischung. Dieser dreiphasige Zyklus ist von Leontjev am Beispiel der europäischen Geschichte erläutert worden. Er hat die seiner Ansicht nach mögliche Perspektive Russlands aufgezeigt und hat dessen Verhältnis zum alten und zeitgenössischen Europa näher bestimmt. Er hat damit klare Antworten auf viele zu seiner Zeit in Russland gestellte Fragen gegeben. Ihm ist es zudem gelun-gen, seine philosophischen Erwägungen durch eine soziologische Analyse der russischen Gesellschaft zu ergänzen.

Die Bedeutung der Werke von Vladimir Solovjev (1853 - 1900)148 für die Entwicklung der geistigen Kultur in Russland ge-gen Ende des 19. Jahrhunderts wird auch heute von niemand bestritten. Es gibt allerdings gewisse Schwierigkeiten, ihn in die russische Ideengeschichte einzuordnen, weil er im Laufe des Le-bens seine Einstellung zur Russlandfrage grundlegend geändert hat: Während er zunächst ein konsequenter Slawophiler gewesen ist, war er später ein kämpferischer Westler. Sein unbestrittenes Ver-dienst für die russische Philosophie liegt in der philosophischen Vermittlung der Religion. Diese seine Leistung ist später von so bekannten Philosophen wie Nikolaj Berdjaev und Sergej Bulgakov 148 Vladimir Solovjev ist 1853 in Moskau geboren. Sein Vater - Sergej Solovjev (1820 - 1879) - war als Wissenschaftler, Professor und Rektor der Moskauer Universität einer der berühmtesten Historiker, der ein vielbändiges Werk über die Geschichte Russlands geschrieben hat. Dadurch hatte Vladimir damals gute Chancen für seine akademische Laufbahn. Er studierte zuerst an der mathemati-schen Fakultät der Moskauer Universität, aber schon nach drei Jahren hatte er sein Studium beendet und als Kandidat an der historischen Fakultät derselben Universität die Aufnahmeprüfungen erfolgreich bestanden. Im Jahre 1874 hat er seine Dissertation über die “Krise der westlichen Philosophie“ verteidigt. Danach arbeitete er an der Moskauer Universität als Lehrer der Philosophie und im Jahre 1881 wurde er zum Professor der Philosophie berufen. Nebenbei machte er eine Auslandsreise nach England, Frankreich und Ägypten, wo er seine Kenntnisse über die europäische Philosophie vertiefte. In Paris hatte er ein Treffen mit Er-nest Renan. Von 1877 bis 1881 arbeitete als Mitglied des wissenschaftlichen Rates im Bildungsministerium in St. Petersburg und hielt gleichzeitig als Privat-dozent Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an der dortigen Univer-sität. Im Jahre 1882 beendete er seine akademische Laufbahn und arbeitete fortan als freier Schriftsteller.

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fortgesetzt worden. Was die Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche

angeht, hat Solovjev für eine aktivere Rolle der Kirche in der Ge-sellschaft plädiert. Nach seiner Meinung ist die russisch-orthodoxe Kirche zu sehr vom Staat abhängig. Er wollte die Kirche frei sehen. Sie sollte die Möglichkeit haben, eigenständig zu agieren und eine stärkere gesellschaftliche Kraft darzustellen. Im Unterschied zu den Slawophilen hatte Solovjev nicht das harmonische Miteinander von Kirche und Staat im Sinne, sondern tendierte eher in Richtung einer Theokratie. Als Vorbild für eine starke Kirche hat Solovjev den Katholizismus angesehen, der straff organisiert und einheitlich ist. Die russisch-orthodoxe Kirche war für Solovjev zu schwach, um eine aktive Rolle in der Geschichte zu spielen, deshalb kam er für seine Person zu dem Schluss, sie müsse sich dem Papst unterstel-len.

Solovjev selbst hat keine eigene geschichtsphilosophische Konzeption entwickelt. Es gibt bei ihm nur einen Ansatz, die he-gelsche Betrachtungsweise zu variieren. Von Alexander von Schel-ting ist er wie folgt beschrieben worden: „Die Geschichtsphiloso-phie Solovjevs ist weniger ’dialektisch’ geworden. Ihre ursprüngli-che Fassung ließ annehmen, dass es sich bei den drei Phasen des Geschichtsprozesses um eine scharfe Abhebung derselben vonein-ander, um einen strikten ’Dreitakt’ handele, der sich als die Abfol-ge der dialektischen Triade von These, Antithese und Synthese in-terpretieren lasse. Dann aber führt er die in verschiedenen ’Phasen’ wirksamen ’drei Kräfte’ als Mächte ein, die ’seit dem Anfang der Geschichte’ überall, ’in allen historischen Kulturen und Epochen’, in irgendeinem Grade gleichzeitig wirksam sind, wobei die ’dritte Kraft’ als eine ’Synthese’ der beiden anderen Kräfte definiert wird.“149 Diese Konzeption ist, obwohl der hegelschen ähnlich, mit dem Fortschreiten der Geschichte unvereinbar, teilt nicht den “Fortschrittsoptimismus“ Hegels. Solovjev steht der gesamten klas-sischen russischen Geschichtsphilosophie kritisch gegenüber. Das gilt vor allem von der Kulturtypentheorie Nikolaj Danilevskijs. Deshalb gibt es Sinn, ihn als einen ihrer klügsten Kritiker in diesem 149 Ebd., S. 163.

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Zusammenhang zu erwähnen. Am Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ist es zu einem

heftigen Streit zwischen Solovjev und seinen alten slawophilen Freunden gekommen. Diesen führte Solovjev bis zum Ende seines Lebens, wobei er Ideen vertreten hat, die für Slawophile schlech-terdings inakzeptabel waren. In diesem Disput ging es einerseits um die von ihm geforderte Vereinigung der orthodoxen mit der ka-tholischen Kirche; anderseits um die These, dass die slawophilen Vorstellungen nichts anderes als nationalistisches Gedankengut seien. Die Kritik des slawophilen Nationalismus ist, was hier inte-ressiert. Solovjev hat sie moralisch begründet. 150

Obwohl Solovjev aufgrund seiner kritischen Analyse der eu-ropäischen Philosophie in die Nähe der Slawophilen gerückt wur-de, hat er darauf beharrt, dass seine Ideen mit den ihrigen nicht ü-bereinstimmten. In der damit verbundenen Polemik ging es im Kern um die Frage nach der Lage und dem geschichtlichen Schick-sal Russlands. Solovjev vertrat die Ansicht, dass die russische Kul-tur ein integraler Teil der europäischen, nicht Selbständiges und Originales sei. „... ein besonderer, außereuropäischer, russisch-slawischer Kulturtypus mit einer eigenen Wissenschaft, Philoso-phie, Literatur und Kunst (ist, V. A.) nur Gegenstand willkürlicher Erwartungen und Mutmaßungen, denn unsere tatsächliche Lage zeigt keinerlei positive Ansätze zu einer neuen eigenständigen Kul-tur.“151 Solovjev behauptete darüber hinaus, dass die Slawophilen gar keine unabhängigen Denker seien, sondern sich unter europäi-schem, insbesondere deutschem Einfluss befinden würden. „Eine solche gemäßigte Formel des nationalen Egoismus haben unsere Slawophilen von den Deutschen übernommen, indem sie auf Russ-land das anwandten, was ihre Lehrer für das Deutschtum in An-spruch nahmen.“152

Solovjev attestierte der slawophilen Bewegung nationalisti- 150 Vgl. Valeri Afanasjev, Vladimir Solovjev über die nationale Frage, in: Historicke Studie, Nr. 40, Bratislava 1999, S. 51 - 59. 151 Vladimir Solovjev, Die nationale Frage in Russland, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Vladimir Solovjev, Bd. IV, München 1972, S. 131 - 132. 152 Ebd., S. 111.

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sche Beweggründe. Russland aber brauche ganz andere Ideale als ausgerechnet nationalistische. Zur Erfüllung seiner historischen Mission dürfe Russland sich nicht nur um sich selbst kümmern. Nur auf diese Weise würde Russland wirklich eine christliche Poli-tik verfolgen, wie es die Slawophilen forderten. Das russische Volk sollte seiner Ansicht nach den europäischen Völkern helfen, sich von ihrem nationalistischen Wahn zu befreien, anstatt ihm selbst zu verfallen. „Im wahrhaft Nationalen gibt es nichts Absichtliches, anderenfalls liegt anstatt der Nationalität nur nationales Getue vor. Zwischen dem einen und dem anderen besteht der gleiche Unter-schied wie zwischen Originalität und der Sucht originell zu sein.“153

Für Solovjev war maßgebend, daß allgemeinmenschliche Inte-ressen und die Gerechtigkeit wichtiger seien als das einzelne natio-nale Interesse. Um den nationalen Egoismus der Völker - wie den Nationalismus überhaupt - zu vermeiden, bedürfe es nationaler Selbstverleugnung. „Das höchste Werk, die höchste Mission eines christlichen Volkes ist... die Verwirklichung der Gerechtigkeit Got-tes auf Erden. An diesem Werk muß der nationale Geist seine höchste sittliche Kraft zeigen, für dieses Werk muß das Volk bereit sein, sich zu opfern, muß es bereit sein zur großen Tat der nationa-len Selbstverleugnung.“154 Das sei ganz besonders wichtig für Russland, weil allein diese Einsicht den falschen Nationalismus zu bekämpfen und dem wahren zu entsprechen vermag. Daß die russi-sche Idee der nationalen „Selbstverleugnung im rein sittlichen Sinn notwendig sei, heißt, es müssen jene besten Eigenschaften der rus-sischen Nation für das Werk eingesetzt werden: wahre Religiosität, Bruderliebe, Weite des Gedankens, Toleranz, Freiheit von jeglicher Ausschließlichkeit und vor allem - geistliche Demut.“155

Solovjev sieht „die neue Botschaft Russlands“ in der „religiö-se Versöhnung des Ostens mit dem Westen“.156 Diese ökumenische Aufgabe erkennt er als die wichtigste für das russische Volk an.

153 Ebd., S. 62. 154 Ebd., S. 62. 155 Ebd., S. 75. 156 Ebd., S. 74.

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„Während das ökumenische Werk Gottes unserem Nationalismus widerspricht, stimmt es völlig mit den besten Eigenschaften des russischen Volkes überein und entspricht völlig dem russischen I-deal. ... Denn worin besteht dieses besondere russische Ideal? Was hält das russische Volk für das Allerbeste, was begehrt es am meis-ten für sich, für Russland? Es will nicht, dass Russland das mäch-tigste Land auf der Welt sei; das ist nicht sein erster und höchster Wunsch - in dieser Beziehung haben uns andere Völker weit über-flügelt; Weltmacht zu sein ist auf keinem Fall ein eigentümliches russische Ideal. Unser Volk wünscht auch nicht vornehmlich, dass Russland das reichste Land der Welt sei: Das wünschen die Eng-länder bei weitem mehr als wir; sie beweisen das auch durch die Tat. Aber unser Volk lässt sich auch nicht von dem maßlosen Wunsch nach lautem Ruhm hinreißen, von dem Wunsch, dass Russland in der Welt glänze und sein Name erschalle, dass es die angesehenste und glanzvollste Nation sei, wie zum Beispiel die Franzosen es wünschen; das Ideal der nationalen Eitelkeit ist jeden-falls bei weitem mehr ein französischen als ein russisches Ideal. Wünscht unser Volk schließlich vor allem im menschlichen Leben rechtschaffen, vernünftig und ordentlich zu sein? Das ist gewiss besser als Macht, Reichtum, Ruhm und eigene Sitten und Gebräu-che, aber Sie werden zugeben, dass das Ideal des rechtschaffenen und vernünftigen Daseins eher ein deutsches als ein russisches Ide-al ist.“157

Solovjev ist der Ansicht, dass Politik und Sittlichkeit im Le-ben eines Volkes untrennbar sind. Hieran erkennt man Solovjev als einen Denker, der die Politik sittlichen Prinzipien unterzuordnen suchte. Er begriff den Nationalismus als eine Erscheinungsform des “nationalen Egoismus“. Die Slawophilen waren in seinen Augen nichts anderes als die Vertreter des russischen Nationalismus. Der Nationalismus aber stellt die nationalen egoistischen Interessen ei-nes Volkes auf den ersten Platz, was dem allgemeinmenschlich-sittlichen Empfinden widerspricht. „Nach den Napoleonischen Kriegen wurde das Nationalitätenprinzip zur gängigen europäi-schen Idee. Diese Idee verdiente alle Achtung und Sympathie, als 157 Ebd., S. 72 - 73.

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sich in ihrem Namen die schwachen und unterdrückten Völker ver-teidigten und befreiten: In diesen Fällen stimmte das Nationalitä-tenprinzip mit der wahren Gerechtigkeit überein. Jede Nation hat das Recht, zu leben und seine Kräfte frei zu entfalten. ... Diese For-derung nach gleichem Recht für alle Völker bringt eine gewisse höhere sittliche Idee in die Politik, der sich die nationale Selbst-sucht unterordnen muss. Aber anderseits förderte diese Erweckung des nationalen Selbstgefühls bei allen Völkern, besonders bei den größeren und stärkeren, die Entfaltung des nationalen Egois-mus.“158

Der kritischen Analyse der Theorie von Danilevskij hat Solov-jev einen wesentlichen Teil seiner Arbeit “Die nationale Frage in Russland“ gewidmet. Es geht dabei um die folgenden Aufsätze: “Russland und Europa“ (1888), “Die glücklichen Gedanken N. N. Strachovs“ (1890), “Das deutsche Original und die russische Ko-pie“ (1890). Seine Kritik bezieht sich in erster Linie auf zwei As-pekte. Erstens zeigt Solovjev, dass Danilevskij nicht genügend his-torische Kenntnisse besitzt und dass seine Ideen weitgehend von Heinrich Rückert159 stammen. Zweitens versucht Solovjev, Wider-sprüche in der Theorie der Kulturtypen zu finden. Wichtig ist an-zumerken, dass Solovjev, ungeachtet seines großen kritischen Po-tentials, keine eigene Konzeption der Weltgeschichte entwickelt hat, die als Gegenpol von Danilevskijs Kulturtypentheorie gelten könnte, sondern dass er, sie ablehnend, die traditionelle europäi-sche Geschichtsdeutung verteidigt hat.

Solovjev hat die folgende generelle Bemerkung zu Dani-levskijs Theorie gemacht: „Wir glauben nicht, dass in der von Da-nilevskij verworfenen üblichen Klassifizierung der historischen Er-scheinungen soviel Willkürliches und Irrationales war wie in die- 158 Ebd., S. 325. 159 Heinrich Rückert (1823 - 1875) hatte in seinem ”Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung“ (1857) den Begriff ”Kulturkreis“ benutzt. Darauf weist Solovjev in seiner Polemik mit Nikolaj Strachow hin. Die spätere Analyse von Robert MacMaster, The Question of H. Rueckert’s Influence on Danilevsky, in: American Slavic and East European Revue, 14/1955, zeigt deutlich, daß von einer begrifflichen ”Usurpation” keine Rede sein kann.

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sem ’natürlichen’ System der Geschichte. ... Es ist auch nicht klar, warum er glaubt, dass der mexikanische und der peruanische Typus gewaltsam zugrunde gegangen sind, ohne dass es ihnen gelungen wäre, ihre Entwicklung zum Abschluss zu bringen.“160 Er betrach-tete die Theorie der Kulturtypen sehr skeptisch und wirft ihr vor, die Bedeutung von Buddhismus und Judaismus gering zu schätzen. „Der Autor des ’natürlichen’ Systems der Geschichte ist gezwun-gen, diese großen historischen Erscheinungen zu vergessen oder zu übergehen, da sie nicht in sein System passen und seinen ’Geset-zen’ widersprechen, ebenso wie er den Buddhismus und die univer-sale Bedeutung des Judentums vergisst oder übergeht.“161 Und wei-ter: „Indem Danilevskij vergisst, dass für einen Kulturtyp vor allem die Kultur nötig ist, stellt er irgendein Slawentum an und für sich auf und erkennt als höchstes Prinzip eben die Besonderheit des Stammes an, unabhängig von den geschichtlichen Aufgaben und dem kulturellen Inhalt seines Lebens. Eine solche widernatürliche Abtrennung der ethnographischen Formen von ihrem allgemein-menschlichen Inhalt konnte nur im Bereich abgezogener Erwägun-gen erfolgen; bei der Gegenüberstellung der Theorie mit den realen historischen Tatsachen aber erwies sich ihr unversöhnlicher Wider-spruch zu diesen.“162

Solovjev kritisierte auch Danilevskijs These über die Selb-ständigkeit der Kulturtypen: „Die Geschichte kennt keine derarti-gen Kulturtypen, welche ausschließlich für sich und aus sich heraus die Bildungsgrundlagen ihres Lebens erarbeitet hätten. Danilevskij stellte als historisches Gesetz den Satz von der Unmöglichkeit der Übermittlung kultureller Grundlagen auf, aber die tatsächliche Be-wegung der Geschichte besteht hauptsächlich in dieser Übermitt-lung. So wurde der in Indien entstandene Buddhismus den Völkern der mongolischen Rasse übermittelt und bestimmte nun das geisti-ge Gepräge und das kulturgeschichtliche Schicksal ganz Ost- und 160 Vladimir Solovjev, Die nationale Frage in Russland, in: ders., Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Vladimir Solovjev, Band IV, München 1972, S. 144. 161 Ebd., S. 158. 162 V. S. Solovjev, Sobranije sočinenij V. S. Solovjeva, Bd. 10, St. Petersburg 1900, S. 501.

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Mittelasiens.“163 Solovjev kritisierte die Theorie der Kulturtypen auch in seiner

Polemik mit Nikolaj Strachow, dem Herausgeber Danilevskijs. Diese ist in den Zeitschriften “Russkij Vestnik“ und “Otečestwennye Zapiski“ der Jahre 1889 - 1893 veröffentlicht. In dieser Polemik beruft sich Solovjev auf christliche Werte und mo-ralische Prinzipien. Dabei wird seine politische Zustandsanalyse Russlands ersichtlich, die eine ganz und gar andere als die der Sla-wophilen ist. So meinte er, dass für Russland keine existentielle Gefahr bestehe. Deshalb brauche es keinen Nationalismus. Statt-dessen solle es seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Inte-resse zurückstellen und anderen Völkern ein Vorbild für eine wirk-lich christliche Politik sein. Er hat auch nicht gezögert, die offiziel-le russische Politik offen anzugreifen und oppositionelle Kräfte zu unterstützen.164

In seinen Gedankengängen bleibt Solovjev der europäischen Philosophie verpflichtet, obwohl er sie oft scharf kritisiert hat. Aber im Gegensatz zu ihr neigte er zu apokalyptischen Deutungen der Weltgeschichte, zu Vorstellungen über das Ende der Welt, welche Oswald Spengler zufolge typisch für die europäische Kultur in ih-rer Endphase sind. Rolf Ulbrich hat sie wie folgt kommentiert: „Kurz vor seinem Tod entwarf er im Jahre 1899 ein apokalypti-sches Bild vom Ende der Welt, das großen philosophischen Wert besitzt, weil er darin seine geschichtsphilosophischen Ansichten niederlegte: Der Antichrist und der Übermensch stehen einander gegenüber. Der neue Imperator ist der Antichrist, und dieser werde eine Weltmonarchie begründen, vorher jedoch soziale Reformen durchführen und jeden Menschen nach seiner Arbeitsleistung ent-lohnen. Die Menschheit sei ’überaltert’ und werde in Kürze einer 163 Ebd., S. 501. 164 Rolf Ulbricht hat berichtet: „Als Zar Alexander II. im Jahre 1881 ermordet wurde, setzte sich Solovjev in einer öffentlichen Vorlesung und in Briefen für die Begnadigung der Mörder ein, denn die Todesstrafe betrachtete er als ein Ab-weichen von Gottes Wegen. Ebenso trat er auch gegen den Antisemitismus auf, den er als zoologischen Nationalismus und als antichristliche Politik der Unter-drückung verurteilte.“ Vgl. Rolf Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, Frankfurt am Main 1996, S. 132.

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Katastrophe erliegen, die durch die ’gelbe Gefahr’ herbeigeführt wird und die Entwicklung der bisherigen Kultur beendet.“165

Die Geschichtsphilosophie von Vladimir Solovjev stellt eine krasse Abweichung von der traditionellen russischen Geschichts-philosophie des 19. Jahrhunderts dar. Seine Ansichten änderten sich vom überzeugten Slawophilen hin zu der totalen Ablehnung slawophiler Ideen im Namen der christlichen Moral. In seinem Verständnis der Weltgeschichte ist er universalistisch geblieben und steht damit fest in der Tradition der damaligen europäischen Geschichtsphilosophie.

Als Kritiker der Slawophilen hat er ihnen die Nachahmung ei-ner deutschen Unart, des deutschen Nationalismus bzw. Pangerma-nismus vorgeworfen, der seiner Meinung nach mit der christlichen Moral unvereinbar ist, und hat von Russland gefordert, dass es das Recht einer jeden Nation honoriert, unabhängig zu sein und nach eigenem Gutdünken zu leben. Ebenfalls abgelehnt hat er die Kul-turtypenlehre von Nikolaj Danilevskij, welche die Grundlage von dessen partikularistisch-multizivilisatorischer Geschichtsdeutung ist.

165 Rolf Ulbrich, Russische Philosophie und Marxismus, Frankfurt am Main 1996, S. 138.

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III. Die Geschichtsphilosophie der Eurasischen Schule

Die Geschichtsphilosophie der Eurasier ist auf der Grundlage

der klassischen russischen Geschichtsphilosophie entstanden. Im Zuge der nun folgenden Darstellung wird zunächst kurz auf die Ge-schichtsphilosophie von Oswald Spengler und Pitirim Sorokin ein-gegangen, sodann werden die eurasischen Ideen von Nikolaj Tru-bezkoj und Lev Gumilev vorgestellt und zum Schluss sollen die geschichtsphilosophischen Ideen der Neo-Eurasier am Beispiel A-lexander Panarins geschildert werden.

Die Vorläufer der eurasischen Geschichtsphilosophie

Als Vorläufer der eurasischen Geschichtsphilosophie kann

man in erster Linie die Vertreter der klassischen russischen Ge-schichtsphilosophie betrachten, insbesondere Konstantin Leont-jev.166 Zusätzlich gibt es zwei Autoren, die ihre geschichtsphiloso-phischen Ideen in derselben Zeit entwickelt haben, wie die Eurasier selbst. Sie haben eine bedeutende Spur in der russischen Ge-schichtsphilosophie hinterlassen, weshalb sie es verdienen, bei der Darstellung der eurasischen Ideen erwähnt zu werden. Es handelt sich dabei um die Geschichtsphilosophie von Oswald Spengler (1880–1936) und von Pitirim Sorokin (1889–1968). Diese beiden Autoren haben die partikularistische Geschichtsdeutung weltweit bekannt gemacht. Sie haben dazu beigetragen, dass dieses Ge-schichtsverständnis Anhänger in der ganzen Welt gefunden hat.167

Die spenglersche Geschichtsphilosophie ist für uns besonders deshalb interessant, weil sie gemeinsame Züge sowohl mit der klassischen russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts als auch mit der eurasischen Geschichtsphilosophie des 20. Jahr-hunderts hat. Spengler hatte den Lauf der Weltgeschichte in Zyk- 166 Vgl. V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000, S. 198; sowie A. S. Panarin, Meždu neprimirimoj vraždoj i nerazdelnym edinstvom, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 3. 167 Einer von ihnen war der englische Historiker Arnold Toynbee.

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len, dargestellt am Beispiel der Evolution von Hochkulturen, kon-zipiert. Durch ihn hat die Kulturtypentheorie weltweite Beachtung gefunden. Bei der Darstellung der russischen Geschichtsphiloso-phie kann Spengler verständlicher Weise nur am Rande erwähnt werden. Dennoch ist eine kurze Darstellung seiner Ideen hilfreich, um die hier behandelten Themen zu verdeutlichen.168

Ein wichtiges Moment in der spenglerschen Geschichtsphilo-sophie169 ist der Gedanke, den er schon in der Einleitung seines be-rühmten Buches “Der Untergang des Abendlandes“ (1917) erwähnt und nachher immer wieder erneut betont hat - die Absage an die traditionelle Einteilung der Geschichte in das Schema: Altertum, Mittelalter, Neuzeit. „Indessen hat die Reihe ’Altertum - Mittelalter – Neuzeit’ endlich ihre Wirkung erschöpft. So winkelhaft eng und flach sie als wissenschaftliche Unterlage war, so stellte sie doch die einzige nicht ganz unphilosophische Fassung dar, die wir für die Einordnung unserer Ergebnisse besaßen, und was als Weltge-schichte bisher geordnet wurde, hat ihr einen Rest von Gehalt zu verdanken.“170 Nach Spengler spiegelte diese Einteilung die euro-zentrische Konzeption der Weltgeschichte wider. Er bezeichnete diese Position als das “ptolomäische“ System der Weltgeschichte, das durch das “kopernikanische“ ersetzt werden wird. Dieses Sys-tem ist mit Danilevskijs Kulturtypen-Theorie identisch. Spengler erfand und benutzte dafür seine eigene, sehr spezielle Terminolo-gie. Er nannte die antike Kultur apollonisch, die europäische faus-tisch und die arabische magisch. Jede Kultur hatte ihm zufolge ih-ren eigenen Charakter, der durch ein spezielles Symbol repräsen-tiert wird.171

168 Ausführlich dazu vgl. V. V. Afanasjev, Filosofija politiki Oswalda Spenglera, Moskva 1999. 169 Im Laufe der kurzen Darstellung der Geschichtsphilosophie von Oswald Spengler wird versucht werden, die Danilevskij ähnlichen Ideen von ihm aufzuzeigen. 170 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1997, S. 29 - 30. 171 So ist, nach Spengler, das Symbol der apollonischen Kultur der sinnliche Körper, der faustischen Kultur der unbegrenzte Raum und der magischen Kultur die Höhle.

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Wie auch andere Vertreter historischer Zyklen-Theorien sah Spengler in der Geschichte nicht nur Prozesse des Aufstiegs, des Fortschritts, sondern auch solche des Verfalls, des Rückschritts. Im Leben jeder Kultur unterschied er Frühling, Sommer, Herbst und Winter auf Grund einer Analogie mit den Jahreszeiten. Spengler kritisierte die lineare Theorie der Weltgeschichte, wie sie z. B. der Hegelschen Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. „Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mäch-tiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen ... .“172

Als Hauptmethode der Geschichtsforschung verwendete Spengler die Analogie. Er spricht davon, dass in der Geschichts-wissenschaft Analogien oft verwendet werden, aber oftmals in fälschlicher Weise, weil die wissenschaftliche Methodologie für die Benutzung historischer Analogien fehle. Spengler empfahl daher, die Technik des Vergleiches zu entwickeln. „Von aller Technik der Vergleiche bleiben wir weit entfernt. Sie treten, gerade heute, mas-senhaft auf, aber planlos und ohne Zusammenhang; und wenn sie einmal in einem tiefen, noch festzustellenden Sinne treffend sind, so verdankt man es dem Glück, seltener dem Instinkt, nie einem Prinzip. Noch hat niemand daran gedacht, hier eine Methode aus-zubilden. Man hat nicht im entferntesten geahnt, dass hier eine Wurzel, und zwar die einzige, liegt, aus der eine große Lösung des Problems der Geschichte hervorgehen kann.“173

Ein anderes wesentliches Element der Geschichtsphilosophie von Oswald Spengler ist die Negation der Kategorie “Menschheit“ bei der Analyse der Weltgeschichte. „Aber ’die Menschheit’ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ’Die Menschheit’ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort.“174 Eine ganz

172 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1997, S. 29. 173 Ebd., S. 6. 174 Ebd., S. 28.

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ähnliche Kritik der Anwendung der Kategorie “Menschheit“ ist bei Nikolaj Danilevskij zu finden.175. Spengler bot statt der Mensch-heitsidee seine Vorstellung von regionalen Hochkulturen an. Nach ihm gibt es keine einheitliche Menschheit, wohl aber in sich ge-schlossene, einzigartige Kulturen. „Kulturen sind Organismen, Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie.“176 Wie auch alle ande-ren Organismen seien die Kulturen sterblich. Jede Kultur hat Al-tersstufen, wie der Mensch sie hat: ein Kindheits-, Jugend-, Er-wachsenen- und Greisenstadium. Eine Kultur stirbt, wenn ihre “Seele“ alle ihre Potentiale ausgeschöpft hat. Nach Spengler ist die Erforschung der “Morphologie der Hochkulturen“ die Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Diese Aufgabe kann nur mit Hilfe der “physiognomischen“ und der “morphologischen“ Methode gelöst werden.

Auch für die Erklärung der russischen Geschichte hat Speng-ler einen biologischen Begriff benutzt, nämlich den der “Pseudo-morphose“. „Anfang und Ende stoßen hier zusammen, Dostojewski ist ein Heiliger, Tolstoi ist nur ein Revolutionär. Von ihm allein, dem echten Nachfolger Peters, geht der Bolschewismus aus: nicht das Gegenteil, sondern die letzte Konsequenz des Petrinismus, die äußerste Herabwürdigung des Metaphysischen durch das Soziale und eben deshalb nur eine neue Form der Pseudomorphose. War die Gründung von Petersburg die erste Tat des Antichrist, so war die Vernichtung der von Petersburg aus gebildeten Gesellschaft durch sich selbst die zweite: so muß das Bauerntum es innerlich empfinden. Denn die Bolschewisten sind nicht das Volk, auch nicht ein Teil von ihm. Sie sind die tiefste Schicht der ’Gesellschaft’, fremd, westlerisch wie sie, aber von ihr nicht anerkannt und des-halb vom Hass der Niedrigen erfüllt. Alles das ist großstädtisch und 175 Aber wenn Danilevskij meinte, dass es Verbindungen zwischen den Kulturen geben würde, und er dadurch indirekt die Einheit der Geschichte anerkannte, so ist eines von Spenglers Hauptpostulaten die volle Unabhängigkeit und Abge-schlossenheit der einzelnen Hochkulturen. 176 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1997, S. 140. Dieser Biologismus in der Deutung der Weltgeschichte ist eine der Besonderhei-ten der Analyse von Nikolaj Danilevskij, der von seiner Ausbildung her Biologe war.

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zivilisiert, das Sozialpolitische, der Fortschritt, die Intelligenz, die ganze russische Literatur, die erst romantisch und dann national-ökonomisch für Freiheiten und Verbesserungen schwärmt. Denn alle ihre ’Leser’ gehören zur Gesellschaft. Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann.“177

Die Geschichtsphilosophie von Spengler hat in Russland zahl-reiche Reaktionen ausgelöst. Bekannte russische Philosophen wie Fjodor Stepun, Nikolaj Berdjaev, Pitirim Sorokin haben sich in ih-ren Arbeiten mit den weltgeschichtlichen Vorstellungen Spenglers auseinandergesetzt. Viele von ihnen haben an der Erstellung des Sammelbandes “Oswald Spengler und seine Zeit“ (1922) mitgear-beitet.178

Pitirim Sorokin war am Anfang des 20. Jahrhunderts einer der führenden Sozialwissenschaftler Russlands. Nach der Revolution von 1917 emigrierte er in die USA, wo er sich als einer der promi-nentesten amerikanischen Soziologen behaupten konnte.179 In sei-nem Buch “Die soziale Philosophie in der Epoche der Krisen“ (1951) analysierte er die Gesellschaftstheorien der historischen Kulturen. Hierbei greift er insbesondere auf Nikolaj Danilevskij und Oswald Spengler180 als den Begründern der Zyklen-Theorie in der Geschichtsphilosophie zurück, der nach Sorokin im 20. Jahr-hundert eine große Zukunft bevorstehen würde.

Sorokin hat die historischen Zyklen-Theorien einer systemati-schen Analyse unterzogen.181 Als Ergebnis seiner Untersuchung 177 Ebd., S. 793 - 794. 178 Dieses Buch war einer der Anlässe für Vladimir Lenin, mehrere der daran beteiligten Universitätsprofessoren ins Ausland zu verbannen. 179 In den 90er Jahren ist das wissenschaftliche Interesse in Russland an den Arbeiten von Pitirim Sorokin gestiegen. Man spricht neuerdings sogar von einer Sorokin-Renaissance. Vgl. Pitirim Sorokin i sociokulturnye tendencii našego wremeni, in: Sociologičeskije issledovanija, 7/1999, S. 138. 180 Er erwähnt darin auch Walter Schubert, Nikolaj Berdjaev, Arnold Toynbee, Alfred Schweizer und andere Wissenschaftler, die an der Erforschung der Ge-schichtsphilosophie mitgewirkt haben. 181 Vgl. P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953.

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stellte er fest, dass die im 19. Jahrhundert in der europäischen Ge-schichtsphilosophie herrschenden linearen Theorien im 20. Jahr-hundert immer stärker kritisiert werden. Sorokin hat sich der Zyk-len-Theorien182 angenommen und versucht, auf Grund neuester, auch quantitativer Forschungsergebnisse eine neue Art von Ge-schichtssoziologie zu entwickeln.

In der Weltgeschichte sieht Sorokin kulturelle Einheiten in Aktion, die nicht mit den Staaten oder einzelnen Nationen identisch sind. Ihre geographischen Grenzen stimmen nicht mit den nationa-len, politischen oder religiösen Grenzen überein. Diese Einheiten nennt Sorokin “kulturelle Supersysteme“.183 Alle Supersysteme stellen geschlossene Einheiten dar. Sie gliedern sich ihrerseits in “kulturelle Systeme“ wie Sprache, Kunst, Recht, Ethik, Politik, Wissenschaft. Die kulturellen Systeme haben wechselseitige Be-ziehungen, aber die ideologischen Werte184 sind übergreifend, für alle diese Systeme gleich.

Ein Supersystem macht in seiner Entwicklung verschiedene Phasen durch. Sorokin unterscheidet jeweils zwei Perioden. In der ersten spricht er von einem “sensualen“, in der zweiten von einem “idiationalen Supersystem“. In heutigen Gesellschaften ist nach Sorokin das sensuale Supersystem vorherrschend. Es ist durch fol-gende Merkmale gekennzeichnet: durch Atheismus, Materialismus, Utilitarismus, Empirismus, Hedonismus, Scientismus, die Entwick-lung der Naturwissenschaften und der Technik, die Relativierung der Werte, den Verfall der Religiosität und des intuitiven Schaf-fens, Quantität statt Qualität, die wachsende soziale Schichtung, “die Spaltung in den Seelen“, die inneren Probleme und den Klas-senkampf, das Expandieren der Städte, der Industrie, das Schwin-den der sinnlichen Beziehungen in der Familie und das Auftreten von vertragsmäßigen Beziehungen, die Verdrängung der schöpferi-

182 Vgl. J. N. Davydov, ”Bolšoj krisis“ v teoretičeskoj evoluzii P. A. Sorokina, in: Sociologičeskij žurnal, 1/1999, S. 169. 183 Was Danilevskij “Kulturtypen“, Spengler “Hochkulturen“ nennt, heißt bei Sorokin “kulturelle Supersysteme“. 184 Pitirim Sorokin unterscheidet drei Typen von kulturellen Systemen: die ideo-logischen Systeme, die behavioristischen Systeme und die materiellen Systeme.

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schen Eliten durch die Massen.185 Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wird seiner Meinung nach an die Stelle des sensualen Supersystems das idiationale treten. In dieser Periode würde eine “neue Religiosität“ umsichgreifen, die zur Erneuerung moralischer Werte beitragen wird. Es wird aufgrund einer Reihe von Katastro-phen und Krisen zu einer neuen Polarisierung der sozialen Gruppen kommen. Sorokin meinte, dass das Zentrum dieser neuen Kultur im Pazifischen Ozean liegen werde und dass an deren Organisation die Völker Amerikas, Indiens, Chinas, Japans und Russlands beteiligt sein werden. Falls Europa vereinigt werde, könne es auch eine Rol-le in der Weltpolitik spielen, aber es werde nie mehr so einfluss-reich werden, wie es früher einmal gewesen war.

In der Frage des Verhältnisses Russlands zu Europa gibt So-rokin praktisch die Position von Danilevskij wieder. „Europa sieht in Russland und überhaupt in den Slawen etwas, was ihm völlig fremd ist und gleichzeitig etwas, das als bloßes Material zum Vor-teil Europas ausgebeutet werden kann, so wie Europa China und Indien, Afrika und den größeren Teil beider Amerika ausbeutet, als ein Material, das Europa nach seinem eigenen Belieben und Eben-bild formen und prägen kann. Europa sieht in Russland und im Slawentum nicht nur eine fremde, sondern eine feindliche Macht. ... Russland gehört weder auf Grund seiner Abstammung noch durch Adoption, ’Affiliation’ oder ’Apparentation’ zu Europa.“186

Russland und Europa seien ganz und gar unterschiedliche po-litische Welten, die sich aus der Zweiteilung des Römischen Rei-ches in Rom und Byzanz entwickelt haben. So stellt Sorokin den Kampf zwischen den beiden Kulturen dar: „Unfähig, die russisch-slawischen Völker und ihre Kultur in ein bloßes ethnographisches Material für seine eigenen Zwecke zu verwandeln, und sein eigenes Alter und die kommende Auflösung ahnend, muss Europa gegen Russland und das Slawentum neiderfüllt und feindlich sein. ... We- 185 P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953, S. 333 - 334. 186 P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie: Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart 1953, S. 61, 65.

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gen dieses fundamentalen Unterschieds zwischen dem europäi-schen und dem slawischen Kulturtypus haben diese beiden einan-der schwerlich jemals verstanden und sind jeweils gescheitert, wenn sie versucht haben, sich in die Angelegenheiten des anderen zu mischen. ... Die europäische Kultur ist um rund fünfhundert Jah-re älter als die slawisch-russische Kultur ... .“187

Die politischen Ansichten Sorokins waren liberal. Er war vor seiner Emigration als politischer Berater im Kabinett Kerenskij tä-tig. Aber seine soziologischen Studien sind von seinen politischen Überzeugungen unabhängig gewesen.188 In seinen späteren Publi-kationen hat Sorokin versucht, auf Grund konkreter soziologischer und geschichtlicher Fakten eine Analyse der Zyklen in der Weltge-schichte durchzuführen. Es ist ihm gelungen, ein Diagramm zur Illustration der Weltgeschichte herzustellen.189

Oswald Spengler und Pitirim Sorokin haben wesentlich dazu beigetragen, die zyklische Vorstellung der Weltgeschichte bekannt zu machen - der eine in Europa, der andere in Amerika. Heute be-steht kaum noch ein Zweifel an der wissenschaftlichen Relevanz einer solchen Geschichtsinterpretation. Die geschichtlichen und soziologischen Kenntnisse dieser beiden Autoren haben dazu ge-führt, dass die Ideen der nichtmarxistischen russischen Geschichts-philosophie vervollständigt und veranschaulicht worden sind.

In Spenglers Geschichtsphilosophie sind die geschichtlichen Monaden in der Form von Hochkulturen besonders deutlich zu er-kennen. Auch die geschichtlichen Zyklen und die biologischen A-nalogien kommen in ihr sehr klar zum Ausdruck. Da Spengler aber in seiner Analyse der Weltgeschichte hauptsächlich deutsche und europäische Interessen im Auge hatte, führte das zu erheblichen Differenzen in der Einschätzung aktueller und zukünftiger politi- 187 Ebd., S. 84 - 85. 188 Sorokin hat auch an politischen Auseinandersetzungen teilgenommen, vor allem als Kritiker der kommunistischen Ideologie. Vgl. z. B. seinen Aufsatz ”Sametki sociologa: slavofilstvo naisnanku“, in: Jurnal sociologii i socialnoj antropologii, 3/1998, S. 30. Aber die Untersuchung der politischen Tätigkeit Sorokins gehört nicht zum Gegenstand dieser Arbeit. 189 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in seinem Werk ”Social and Cultural Dynamics”, New York 1962, veröffentlicht worden.

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scher Erscheinungen zwischen ihm und den Vertretern der russi-schen Geschichtsphilosophie. Pitirim Sorokins großer Verdienst für die russische Geschichtsphilosophie besteht in seiner Analyse his-torischer Zyklen-Theorien und in der Anwendung quantitativer Methoden, wobei er Pionierarbeit geleistet hat.

Außer diesen beiden Autoren haben sich auch noch andere zu Anfang des 20. Jahrhunderts Gedanken über den nicht-linearen, sondern zyklischen Fortgang der Weltgeschichte gemacht. Der Ers-te Weltkrieg gab dazu den äußeren Anlass. Es waren dies vor allem die “Eurasier“, russische Emigranten, die nach 1917 in Europa Zu-flucht gefunden hatten.

Grundzüge der eurasischen Geschichtsphilosophie

Die Darstellung der Geschichtsphilosophie der Eurasischen

Schule wird am Beispiel des Werkes von Nikolaj Trubezkoj unter-nommen. Er gilt als einer der führenden Theoretiker der eurasi-schen Bewegung.190 Obwohl es innerhalb dieser Richtung viele an-dere bekannte Autoren gibt, die auch eine wichtige Rolle in der Ge-schichte dieser Schule spielten,191 ist gerade die Geschichtsphiloso- 190 Paščeno betrachtet Nikolaj Trubezkoj als den Hauptvertreter des Eurasiertums. Vgl. V. J. Paščenko, Evrazijci i my, in: Vestnik MGU, Seria 12, 3/1993, S. 82. Diesen Standpunkt vertritt auch S. V. Utechin: „Der Gründer der Eurasierbewegung war Fürst N. S. Trubezkoj (1890 bis 1938), Philologe und Philosoph, der von 1923 einen Lehrstuhl für slawistische Philologie an der Universität Wien innehatte.“ Vgl. S. V. Utechin, Geschichte der politischen Ideen in Russland, Stuttgart 1966, S. 421. Assen Ignatow hingegen ist der Meinung, daß Pjotr Svickij der wichtigste Man der Eurasischen Bewegung gewesen ist: “Der wahre Begründer der neuen Strömung war der geisteswissenschaftlich gebildete Geograph und politische Denker P. N. Svickij.“ Vgl. A. Ignatov, „Evrazijstvo“ i poisk novoj russkoj kulturnoj identičnosti, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 49. 191 Andere wichtige Theoretiker der Eurasischen Bewegung in den 20er Jahren waren Pojtr Savickij, Nikolaj Alekseev, Vladimir Vernadskij, Georgij Florovskij, Lev Karsavin u. a. mehr. In jüngster Zeit hat es zahlreiche Publikationen gegeben, in denen die Geschichte des Eurasiertums dargestellt worden ist: L. I. Novikova / I. N. Sizemskaja, Evraziskij iskus, in: Filosofskije nauki, 12/1991; I. A. Isajev, Utopisty ili providzy, in: I. A. Isaev (ed.), Puti Evrazii, Moskva 1992, S. 3 - 26; P. Paramonov, Sovetskoje Evrazijstvo, in: Zvezda, 4/1992, S. 195 -

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phie als solche in den Arbeiten von Nikolaj Trubezkoj (1890–1938) und unseres Zeitgenossen Lev Gumilev (1912–1992) am klarsten formuliert worden.

„Ihnen (den Eurasiern, V. A.) gehört der Vorrang in der Erar-beitung grundlegender Prinzipien der verschiedenen Wissenschaf-ten, wie der russischen Geopolitik (Pjotr Svickij), der russischen Ethnologie (später hervorragend entwickelt von seinem Schüler Lev Nikolajevič Gumilev), der russischen Sprachwissenschaft (Strukturalismus), der russischen Soziologie (insbesondere die Eli-tentheorie) und anderes mehr. Wir dürfen heute nicht von den Eu-rasiern fordern, dass sie auf alle aktuellen Fragen eine Antwort be-reit halten. ..., denn das Eurasiertum ist aktuell wie niemals zuvor. Es ist nicht überholt. Ganz im Gegenteil, es hat Zukunft.“192 Mit diesen Worten hat Alexander Dugin die heutige Bedeutung der eu-rasischen Geschichtsphilosophie charakterisiert.

In den Publikationen des Eurasiertums hat sich vieles vom russischen politischen Denken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts niedergeschlagen.193 Beginnend mit den 20er Jahren bis hin zum Zweiten Weltkrieg haben die Eurasier sich mit der Geschichte und Zukunft Russlands intensiv auseinandergesetzt, ohne dass ihre Ideen je auf die Probe der Realisierung gestellt worden sind. 199; A. A. Trojanov, Isuzenije evrazijstva v sovremennoj zarubežnoj literature, in: Načala, 4/1992, S. 99 – 103; Leonid Luks, Evrazijstvo, in: Voprosy filosofii, 6/1993, S. 105 - 114; L. I. Novikova / I. N. Sizemskaja, Vvedenije, in: Rossija meždu Evropoj i Asiej: Evrazijskij soblasn, Moskva 1993, S. 4 - 23; V. J. Paščenko, Evrazijci i my, in: Vestnik MGU, Seria 12, 3/1993, S. 79 - 89; T. Ochirova, Geopolitičeskaja kontsepzija evrasijstva, in: Obščestvennye nauki i sovremennost, 4/1994; Evrazijstvo: za i protiv, včera i segodnja, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 3 – 45; A. Ignatov, „Evrazijstvo“ i poisk novoj russkoj kulturnoj identičnosti, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 49 - 64; Leonid Luks, Evrazijstvo i konservativnaja revolucija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 57 - 69; S. N. Puškin, Evrazijskije vzglady na zivilizaciju, in: Sociologitčeskije issledovanija, 12/1999, S. 24 – 33; V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000. - Hier wird aber nur die geschichtsphilosophische Konzeption von Nikolaj Trubezkoj untersucht werden. 192 Alexander Dugin, Preodolenie Zapada, in: Nikolaj Trubezkoj, Nasledie Cingischana, Moskva 1999, S. 25. 193 A. A. Trojanov, Isucenije evrazijstva v sovremennoj zarubežnoj literature, in: Načala, 4/1992, S. 99 - 103.

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Die biologischen Analogien der russischen Geschichtsphilo-sophie sind auch für die eurasische Geschichtsphilosophie typisch. Assen Ignatow schreibt dazu: „Generell ist das Eurasiertum als eine Abart der “ganzheitlichen“ und “organistischen“ Richtungen in der Philosophie zu bezeichnen.“194 Und weiter: „Aber der echte und auch politisch relevante Kern der eurasischen Geschichtsphiloso-phie ist jene Lehre der Eurasier, die als ’materiale Geschichtsphilo-sophie’ bezeichnet werden kann; sie hat auch eine kulturphiloso-phische Dimension. Die Eurasier nennen diesen Teil ihrer Lehre oft ’Historiosophie’ - ein Terminus, der in der russischen philosophi-schen Sprache ziemlich verbreitet ist. Es handelt sich dabei um eine relativistische Geschichts- und Kulturdeutung, die an die damals sehr populären Theorien von Oswald Spengler erinnert. (Jedenfalls betont Svickij, dass der Eurasismus ’unabhängig von Spengler’ und ’annähernd’ gleichzeitig mit dem Erscheinen des ’Untergangs des Abendlandes’ entstanden sei.)“195

Wie viele Forscher herausgefunden haben, ist die eurasische Geschichtsphilosophie mit der slawophilen Philosophie eng ver-bunden.196 Ignatow schrieb dazu: „Es ist leicht ersichtlich, dass die Eurasier ihren Hauptgegner in den Westlern erblickten, während der Widerstand gegen den ’Eurozentrismus’ sie mit den Slawophi-len verband.“197 Und er hat dem noch hinzugefügt: „Mit Recht be-tont Svickij, dass die slawophilen Denker - zu denen er auch Gogol und Dostojevskij zählt - Vorläufer der Eurasier sind. Zu den Den-kern, die das Eurasiertum geistig vorbereitet haben, gehört auch Konstantin Leontjev.“198 Die besondere Rolle Konstantin Leontjevs für das Eurasiertum haben außerdem auch Leonid Luks199 und Vi-

194 A. Ignatov, „Evrazijstvo“ i poisk novoj russkoj kulturnoj identičnosti, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 50. 195 Ebd., S. 51. 196 Vgl. V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000, S. 156; sowie L. I. Novikova, Idei i ideologija evrazijstva, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 27. 197 A. Ignatov, „Evrazijstvo“ i poisk novoj russkoj kulturnoj identičnosti, in: Voprosy filosofii, 6/1995, S. 52. 198 Ebd., S. 53 199 Vgl. Leonid Luks, Evrazijstvo i konservativnaja revolucija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 59.

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talij Paščenko200 betont. Durch diese Verbindung gehören die Eura-sier zur Tradition der russischen Geschichtsphilosophie. Sie haben die slawophile Tradition im 20. Jahrhundert nicht nur weiter vertre-ten, sondern auch weiter entwickelt.201

Die Analyse der Revolution von 1917 ist ein wichtiges Mo-ment in der Lehre der Eurasier. Während der Revolution waren die “Weißen“ in zwei große Parteien gespalten: in eine monarchisti-sche und eine liberal-demokratische Richtung. Beide haben zum Bolschewismus eine negative Haltung eingenommen, dies aber aus verschiedenen Gründen. Die Monarchisten idealisierten die Roma-now-Dynastie, glaubten an die Uwarow-Formel “Christentum – Autokratie - Volkstum“ und beschuldigten die russische Intelligenz des Verrats. Die Revolution war in ihrer Sicht eine Krankheit, die von außen gekommen war. Das vorrevolutionäre, zaristische Russ-land wurde von ihnen verklärt.

Die Liberalen ihrerseits erklärten den Bolschewismus aus

200 Vgl. V. J. Paščenko, Ideologija evrazijstva, Moskva 2000, S. 198 - 220. 201 Annet Jubara hat die folgende Bemerkung zu den ”alten” Eurasiern, welche sie von den Neo-Eurasier (z.B. Lev Gumilev) unterscheidet, gemacht: “Das alte Eurasiertum bildete eine geistige Strömung innerhalb der ersten russischen Emigration, die u. a. unter der Emigrantenjugend Verbreitung fand Die bekanntesten ’Eurasier’ der Emigration waren Georgij V. Vernadskij (1887 - 1973), Pjotr N. Savickij (1895 - 1968) und Fürst Nikolaj S. Trubeckoj (1890 - 1938). Das Eurasiertum war im Grunde Ausdruck einer Wiederaufnahme der traditionell-slawophilen Polemik gegen die ’Westler’, wobei die slawophile Position durch die Eurasier eine deutliche Zuspitzung und Modifizierung erfuhr. Während die frühen Slawophilen noch an eine Synthese von altem und neuem Russland, Tradition und Aufklärung dachten, lehnten die Eurasier das Petersburger Russland im Namen des alten ’heiligen Russlands’ ab. Die durch Peter den Großen eingeleitete Öffnung nach Europa hielten sie für einen Fehler, der durch eine Wendung nach Osten - nach Asien - korrigiert werden sollte. Im Mittelpunkt dieses Eurasiertums stand - im Gegensatz zum sog. ’dekadenten’ Slawophilentum - nicht mehr die Idee eines vereinigten Slawentums, sondern eine an den ’eurasischen’ Raum des russischen Imperiums appellierende Reichsidee. Dem verhältnismäßig modernen Petersburger Imperium setzten die Eurasier die Orientierung am idealisierten vor-petrinischen russischen Reich entgegen.“ Vgl. Annet Jubara, Russlands neue Eurasier, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt a. M. 1995, S. 164.

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vollkommen anderen Gründen für das größte Übel. Für sie war der Bolschewismus eine politische Erscheinung der barbarischen russi-schen Massen. Sie kritisierten am Bolschewismus nicht die Ele-mente des Westens, sondern deren Mangel. In der Emigration setz-ten die beiden Parteien ihren Streit fort. Sie waren sich nur darin einig, dass man die euro-asiatischen Massen im Zaum halten müs-se, weil sie noch nicht kulturfähig wären. Die liberalen Westler glaubten allerdings, dass sie unter bestimmten Bedingungen doch zu einem Kulturvolk nach europäischem Muster gemacht werden könnten.

Die Eurasier aber waren der Auffassung, dass die alte russi-sche Monarchie nicht genügend “national“, das hieß für sie, volks-verbunden gewesen wäre. Sie erblickten im Bolschewismus den Ausdruck des “wirklichen“ Russlands, in dem sich der Geist des einfachen Volkes widerspiegelte. Dieses “innere“ Russland war durch die Reformen Peters des Großen unterdrückt worden, wurde aber von den Eurasiern gerade als Grundlage der echten russischen Kultur hoch geschätzt. Sie sahen in dem nationalen Charakter der Revolution die Befreiung vom “romano-germanischen Joch“. An-dererseits waren die Eurasier traditionalistisch, christlich, patrio-tisch. Deshalb war ihnen die marxistische Terminologie der Bol-schewiken fremd und zuwider. Sie waren mit den monarchistischen Emigrantenkreisen einer Meinung, dass das westlich pro-europäische Element im Bolschewismus seine negative Seite sei. Sie erblickten das Hauptübel der Revolution nicht in einer “jüdi-schen Verschwörung“, sondern in der marxistischen Ideologie. Deshalb lehnten die Eurasier sowohl die Position der Monarchisten wie auch der Liberalen konsequent ab. Sie interpretierten den Bol-schewismus im Kontext der russischen Geschichte als logische Konsequenz der bisherigen Entwicklung, wenn auch als eine der Korrektur bedürftige Konsequenz.

Nicht zufällig nennen einige Autoren die Eurasier “orthodoxe Bolschewiken“. Auch wenn das übertrieben formuliert ist, so steckt doch ein Stück Wahrheit darin. Für die Monarchisten war der bol-schewistische Internationalismus ein nationaler Verrat an Russland. Die Eurasier dagegen sahen das ganz anders. Sie erblickten im

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“proletarischen Internationalismus“ ein Equivalent für einen “alleu-rasischen Nationalismus“. Einen solchen Internationalismus hielten sie für erforderlich, um die Einheit des multi-ethnischen Russlands zu bewahren.

Das eurasische Ideal war nicht das blinde Kopieren europäi-scher Nationalismen, sondern war ein eigenständiges ethnopoliti-sches Modell. Eine Verwirklichung dieses Modells haben die Eura-sier im vorpetrinischen, “moskauer Russland“ gesehen. Aus diesem Grunde war für sie die bolschewistische Politik der globalen Deko-lonisation, der Befreiung der Völker des Ostens von europäischer Vorherrschaft, attraktiv. Eine solche Politik entsprach genau den Vorstellungen der Eurasier von der weltgeschichtlichen Mission Russlands. Sie hatten allerdings außer dem Missionsgedanken mit den kommunistischen Zielen ansonsten nichts gemeinsam.

Die Eurasier hatten auch ein alt-neues Modell für die Organi-sation des Staates im Sinn, das sie als “Ideokratie“ bezeichnet ha-ben. In ihrem Eurasien sollte das byzantinische Modell zur Anwen-dung kommen, wonach der Staat aufs engste mit der orthodoxen Kirche verbunden ist. Aber diese orthodoxe Ideokratie stellten sich die Eurasier ohne “konfessisionelle Hegemonie“, “agressives Mis-sionieren“ und “gewaltsames Christianisieren“ vor. Ihr orthodox-eurasisches Imperium sollte ein Gegengewicht verschiedener Kul-turen und Völker zu der eindimensionalen Hegemonie des westli-chen Imperialismus bilden. Das Hauptargument ihrer Vorstellun-gen von einem Ensemble gleichberechtigter ideokratischer Gesell-schaften und Kulturen war, sich auf diese Weise, durch den Rück-griff auf tatarisch-altrussische Traditionen, dem übermächtigen Einfluss Europas zu entziehen und Herr eines eigenen Imperiums zu werden.

Heinrich A. Stammler hat zum Geschichtsverständnis der Eu-rasier angemerkt: „Die Auffassung der Eurasier sieht den Sinn der russischen Geschichte in der geographischen und politischen, wirt-schaftlichen und kulturellen Zusammenfassung von russisch-ostslawischen und asiatisch-turanischen Elementen zu einer organi-schen, das Territorium des früheren russischen Kaiserreiches und, besonders, der UdSSR (vor 1939) umfassenden, föderativ geglie-

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derten, staatlichen Einheit, die einen Erdteil für sich, einen “Konti-nent-Ozean“, bildet, wie Peter Svickij, einer der führenden Köpfe der Bewegung sich ausdrückte.“202

Die Stellung der Eurasier zur russischen Geschichte lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Moskauer Zaren haben die Organi-sationsstruktur des mongolischen Imperiums übernommen und an-stelle des mongolischen Reiches einen eurasischen Staat geschaf-fen. Das orthodoxe Christentum wurde zur zementierenden Religi-on und die Moskauer Version des Byzantismus zur staatlichen Doktrin. Der Aufbau des Staates und seine äußeren Grenzen wur-den vom mongolischen Imperium übernommen. Mit der Romanov-Dynastie begann eine neue Epoche der russischen Geschichte. Sie bildete das Ende des alten “Heiligen Russlands“.

Die Reformen des Patriarchen Nikon hätten katastrophale Folgen gehabt. Sie beabsichtigten zwar die Festigung der Macht der russischen Regierung, wurden aber schlecht umgesetzt und brachten die Schwächung der Kirche und die Spaltung des Volkes. Mit Peter dem Großen begann die Periode der “romano-germanischen Herrschaft“ in Russland. Während sich das russische Volk mit der “tatarischen Herrschaft“ noch identifizieren konnte, hat die “romano-germanische Herrschaft“ zur Entfremdung von seinem überkommenen Selbstverständnis geführt. Statt kultureller Eigenständigkeit wurde das plumpe Imitieren des rationalistischen Musters der säkularisierten Gesellschaft Europas erzwungen. Statt Byzantismus Protestantismus, statt blühender Vielfalt bürokratische Eintönigkeit, statt ehrlicher Ursprünglichkeit offizielle Propaganda. Diese Periode der russischen Geschichte wird von den Eurasiern als eine Negation der “Moskauer Periode“ betrachtet. Trubezkojs Kommentar dazu lautet: „Das Eurasiertum distanziert sich von der gesamten nach-petrinischen Sankt-Petersburger, kaiserlich-oberprokurorischen Periode der russischen Geschichte.“203

Nach Peter dem Großen sahen die Eurasier die russische Ge-

202 Heinrich Stammler, Europa – Russland - Asien: Der ”eurasische“ Deutungsversuch der russischen Geschichte, in: Osteuropa, 8,9/1962, S. 522. 203 N. S. Trubezkoj, My i drugie, in: Evrazijskij vremennik, Bd.IV, Berlin 1925, S. 71.

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sellschaft zweigeteilt: volkstümlich und zugleich elitär-europäisch. Die obere Schicht lebte nach europäischem Muster. Sie herrschte im russischen Raum wie in einer europäischen Kolonie. Die Unter-schicht, “das wilde Volk“, von dem man glaubte, es zivilisieren zu müssen, hielt die Tradition des “Heiligen Russlands“ lebendig und leistete der Europäisierung einen stillen aber ungebrochenen Wi-derstand.

Die eurasische Einstellung zur Religion knüpft an die echte Orthodoxie des Moskauer Russlands, der alten russischen Kirche, an. Die Nikon-Reform hat nach Meinung der Eurasier die russische Kirche einer bürokratisch kirchlichen Behörde unterstellt und damit den Weg zum Atheismus und zur Sektenbildung frei gemacht, was unter der Romanow-Dynastie zur Katastrophe Russlands im 20. Jahrhundert geführt hat. Die europäisierte russische Elite hatte nach den Reformen von Zar Peter die offizielle Kirche analog dem “staatlichen Departement“ organisiert. Das hat die russisch-orthodoxe Kirche von Grund auf verändert, hat sie nach Meinung der Eurasier dauerhaft geschwächt. Die altrussisch-orthodoxe Reli-gion und Kirche sind für viele eurasische Autoren ein Thema ge-wesen, mit dem sie sich oft und gern beschäftigt haben.204

Das Kiewer Russland war für Eurasier nicht die Wiege des russischen Staates, sondern nur eine religiöse Provinz von Byzanz, eine politische Provinz Europas. Die tataro-mongolische Eroberung hat es zerstört. Aber die Mongolen waren nicht einfach Barbaren. Sie legten die Fundamente für einen riesigen Kontinentalstaat, der die Basis einer multiethnischen und multikulturellen eurasischen Zivilisation war. Diese hatte mit der europäischen nichts gemein-sam. Die Eurasier haben den starken mongolischen Einfluss auf das russische Volk rühmend hervorgehoben.

Die Geschichtsphilosophie von Nikolaj Trubezkoj

Fürst Nikolaj Trubezkoj kann als der “Eurasier Nr.1“ bezeich-

204 Es kam zum Kult des Protopopen Avaakuum, der im 16. Jahrhundert gegen die Nikon-Reformen in der russischen Kirche aufgetreten war. Ihn betrachteten die Eurasier als den Gründer der russischen Literatur.

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net werden, da er als erster die Grundprinzipien der eurasischen Ideologie formuliert hat. Er hat damit die Grundlagen des Eurasier-tums geschaffen und eine ganze Reihe anderer russischer Denker inspiriert. Sein persönliches Schicksal ist mit dem der Eurasischen Schule eng verbunden. Er war von adliger Herkunft, hatte eine klassische Ausbildung erhalten und sich auf Sprachwissenschaft spezialisiert. Die zweite Hälfte seines Lebens hat er im Ausland verbracht. Ab 1923 lehrte er Slawistik in Wien.

Fürst Trubezkoj war die Seele der eurasischen Bewegung, ihr wichtigster Theoretiker, aber die politische Führung lag in den Händen von Pjotr Svickij. Nach der Spaltung der Bewegung in den dreißiger Jahren hörte Trubezkoj auf, an den politischen Zusam-menkünften teilzunehmen. 1938 ist er in Wien von der Gestapo verhaftet worden und bald darauf gestorben. Die Eurasier kann man mit den deutschen “konservativen Revolutionären“ vergleichen, wie es zum Beispiel Leonid Luks getan hat.205 Manche Forscher wagen es sogar, Trubezkoj als den “russischen Spengler“ zu be-zeichnen.206

Auch Trubezkoj hat den Gebrauch des Begriffes “Mensch-heit“ für Zwecke der historischen Analyse verworfen, wie es für die klassische russische Geschichtsphilosophie typisch gewesen ist. „Bei der Bewertung des europäischen Kosmopolitismus muß man immer bedenken, dass die Worte ’Menschheit’, ’allgemein-menschliche Zivilisation’ usw. höchst ungenaue Ausdrücke sind und dass sich hinter ihnen sehr bestimmte ethnographische Vorstel-lungen oder Begriffe verbergen. Die europäische Kultur ist keine Menschheitskultur. Sie ist das Ergebnis der Geschichte einer be-stimmten ethnischen Gruppe. Die germanischen und keltischen Stämme, die in verschiedenem Maße die Einwirkung der römi-schen Kultur erfuhren und sich stark miteinander vermischten, schufen eine gewisse allgemeine Lebensform aus den Elementen ihrer nationalen und der römischen Kultur. Kraft gemeinsamer eth-

205 Vgl. Leonid Luks, Evrazijstvo i konserwatiwnaja revolucija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 57 - 69. 206 Alexander Dugin, Preodolenie Zapada, in: Nikolaj Trubezkoj, Nasledie Cingischana, Moskva 1999, S. 5.

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nischer und geographischer Bedingungen haben sie lange Zeit zu-sammengelebt, was ihre Lebensweise und Geschichte geprägt hat. ... Eine allgemein-menschliche Kultur, die für alle Völker gleich wäre, ist unmöglich. Bei der bunten Vielfalt der Nationalcharaktere und der psychischen Typen würde sich eine solche allgemein-menschliche Kultur entweder auf die Befriedigung rein materieller Bedürfnisse unter völliger Vernachlässigung der geistigen be-schränken, oder sie würde allen Völkern Lebensformen auferlegen, die sich aus dem Nationalcharakter irgendeiner ethnischen Einheit ergeben. In dem einen wie in dem anderen Falle würde diese all-gemein-menschliche Kultur nicht den an jede echte Kultur gestell-ten Anforderungen entsprechen. Sie würde niemandem ein wahres Glück gewähren.“207

Eine der Hauptideen von Trubezkoj ist, dass zwischen europä-ischer und slawisch-turanischer Kultur ein tiefer, unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Wie bekannt, ist diese Idee in einer Variante auch schon in der russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahr-hunderts anzutreffen. In seinem Buch “Europa und die Mensch-heit“ (1920) hat Trubezkoj es mit aller Deutlichkeit gesagt, dass es seiner Ansicht nach keinen Kompromiss zwischen der europäi-schen und der slawisch-turanischen Kultur geben könne. Im Unter-schied zu anderen Slawophilen vertrat er damit nicht nur den russi-schen und auch nicht nur den slawischen Standpunkt, sondern sprach im Namen aller nichteuropäischen Völker. Er warf der eu-ropäischen Zivilisation einen aggressiven Charakter und das ge-waltsame Streben nach absoluter Weltherrschaft vor. Der scheinba-re Universalismus europäischer Zivilisation ist nach der Meinung Trubezkojs nur ein Deckmantel für die egoistischen Interessen der europäischen Völker.

Europa hat sich seiner Meinung nach der ganzen Welt entge-gengestellt und versucht, ihr europäische Werte aufzuzwingen. Das europäische Wertesystem sei als allgemeingültig dargestellt wor-den. Der Gegensatz zwischen Europa und der übrigen Menschheit ist für ihn der entscheidende Punkt. Versuche, die menschliche Kultur zu europäisieren, seien Versuche, die vielfältige und plura- 207 Nikolaj Trubezkoj, Nasledie Cingischana, Moskva 1999, S. 34.

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listische Welt monoton und inhaltsarm zu machen. Dieser kulturel-le Herrschaftsanspruch der europäischen Völker habe aggressiven Charakter. Deshalb solle die Menschheit sich gegenüber diesen Ansprüchen zur Wehr setzen. Trubezkoj nennt die Politik der Zwangseuropäisierung eine Politik der “Versklavung der nichteu-ropäischen Nationen“. Die Vertreter der nichteuropäischen Natio-nen, zu welchen er auch die Russen rechnete, warnte er vor der Ge-fahr der Europäisierung; denn die Erwartung, dass ein nichteuropä-isches Volk mit den europäischen wirklich konkurrieren könne, sei sehr gering. Die nichteuropäischen Völker sollten sich deshalb am besten zusammenschließen, da sie sich nur so des europäischen Drucks erwehren könnten. Ein mögliches Beispiel einer solchen Vereinigung sah er in Eurasien, wo verschiedene Völker zusam-menlebten. Russland müsse als eurasische Vormacht ein Zentrum des planetarischen Kampfes der Menschheit gegen den Herr-schaftsanspruch der romano-germanischen Kultur und Wirtschaft werden.

In seinem Aufsatz “Der Ausgang nach Osten“ (1921) hat Tru-bezkoj seine Stellung zum Nationalismus verdeutlicht. Das Thema ist auch, wie wir gesehen haben, für Nikolaj Danilevskij und Kon-stantin Leontjev von großer Bedeutung gewesen. Trubezkoj ist es gelungen, dieser Problematik eine eigene Note abzugewinnen. Er hat zwischen einem “echten“ und “falschen“ Nationalismus unter-schieden. Der echte Nationalismus zielt seiner Ansicht nach darauf ab, nicht nur politische Unabhängigkeit und Freiheit für die Nation zu schaffen, sondern auch eine eigene Nationalkultur. Der falsche Nationalismus hingegen kümmert sich nicht um die kulturelle Ent-wicklung der Nation, sondern es geht ihm ausschließlich um politi-sche Rechte, um sich mit anderen Nationen messen zu können. Er will die politische Unabhängigkeit nur, um mit anderen großen Na-tionen gleichberechtigt zu sein. Im kulturellen Sinne steht der fal-sche Nationalismus auf dem Standpunkt, dass es für eine Nation besser ist, fremde Kulturformen zu übernehmen, als seine eigenen weiter zu entwickeln. Nach Trubezkojs Meinung ist es dagegen das Ziel des echten Nationalismus, die Nationalkultur, welche der Psy-

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che des jeweiligen Volkes entspricht, weiterzuentwickeln.208 Trubezkoj hat sich auch ganz besonders intensiv mit der russi-

schen Nation beschäftigt. Er ist einer der ersten gewesen, der es gewagt hat, offen zu sagen, dass die Russen sich im Unterschied zu anderen Slawen mit türkischen Volksstämmen stark vermischt ha-ben. Daher kommt es, dass er das russische Volk in ethnischer Hin-sicht gar nicht als Vertreter und Anwalt des Slawentums angesehen hat, sondern dass es für ihn zusammen mit den Ugrofinnen und den Wolgatürken (Wolgatataren) eine besondere Kulturzone bildete, die sowohl zum Slawentum wie zum “turanischen“ Osten enge Be-ziehungen hat. Im Nationalcharakter der Russen gäbe es dement-sprechend auch gewisse Berührungspunkte mit den “Turaniern“.209

208 Trubezkoj hat drei Hauptformen des falschen Nationalismus unterschieden, nämlich den kosmopolitischen, den aggressiven und den konservativen. Der kosmopolitische Nationalismus wird in der Regel von den sogenannten ”kleinen Völker“ vertreten. Sie sind nur allzu gern bereit, europäische kulturelle Formen zu übernehmen. Die Vertreter dieser Art des falschen Nationalismus verfolgen ihre kosmopolitischen Interessen, obwohl sie viel von den Nationalinteressen sprechen. Die zweite Art des falschen Nationalismus ist für Trubezkoj der kämpferische Chauvinismus. Er versucht, alle anderen Nationalitäten durch die Verbreitung seiner Sprache und Kultur zu beseitigen. Es gibt auch noch eine dritte Form des falschen Nationalismus. Dieser duldet nur veraltete, museale Formen der nationalen Kultur, die nicht mehr zu den gegenwärtigen Bedürfnissen des Volkes passen. Das ist eine Art von konservativem Nationalismus. - Zusammenfassend kann man sagen, daß der falsche Nationalismus das Produkt einer Kunstnation ist, und das Gleiche gilt auch umgekehrt: jede Kunstnation bedarf eines falschen Nationalismus. Wenn immer der Nationalismus ein Thema ist, dann ist das ein Zeichen, daß der Prozeß der Nationalstaatsbildung eines Volkes noch nicht abgeschlossen ist. Für Russlands gilt, daß dieser Prozeß, wie auf den Seiten 161 – 164 dieser Abhandlung näher ausgeführt, noch immer im Gange ist. 209 Otto Böss hat diese Gedankengänge folgendermaßen kommentiert: „Zu den turanischen oder ural-altaischen Völkern zählt man die Ugrofinnen, Samojeden, Türken, Mongolen und Mandschuren. ... Die Verwandtschaft der Turkvölker, Mongolen und Mandschuren (altaische Sprachenfamilie), die lange Zeit als wahrscheinlich angenommen wurde, wird heute bezweifelt. Dieser Tatsachen waren sich die Eurasier bewußt. Dennoch stand für sie eine sprachliche und psychologische Ähnlichkeit dieser Völker fest, so daß sie von einem ’einheitlichen turanischen psychologischen Typ’ sprechen konnten, der ihnen bei den Turkvölkern am ausgeprägtesten schien. ... Wie definierten nun die Eurasier

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Die Verbrüderung und das gegenseitige Verstehen, die so leicht zwischen Russen und den Turkvölkern zustandekommen würden, beruhten seiner Ansicht nach auf diesen unsichtbaren Banden rassi-scher Sympathie.

Dagegen hat nach Trubezkoj eine ganze Reihe von Wesenszü-gen, die das russische Volk an sich besonders schätzt, in denen der anderen Slawen kein Äquivalent. Die Neigung zur Beschaulichkeit und die Vorliebe für das Zeremoniell, die die russische Frömmig-keit kennzeichnen würden, beruhten formal zwar auf byzantini-schen Traditionen, seien aber den anderen rechtgläubigen orthodo-xen Slawen völlig fremd. Das kühne Draufgängertum, das das rus-sische Volk an seinen Helden schätzt, ist eine reine Steppentugend, die den Turkvölkern verständlich ist, nicht aber den Germanen, o-der den anderen Slawen. ... Somit werden wir uns nicht irren, wenn wir sagen, dass in allem geistigen Schaffen der türkischen Völker ein psychischer Grundzug vorherrscht: Die klare Schematisierung eines verhältnismäßig kargen und rudimentären Materials. Es ist daher zulässig, auch hinsichtlich der turko-tatarischen Psychologie Schlüsse zu ziehen. Der typische Turko-Tatare liebt es nicht, auf Feinheiten und verwickelte Einzelheiten einzugehen. Er zieht es vor, mit elementaren, klar erfaßbaren Bildern zu operieren und die-se Bilder zu klaren und einfachen Schemen zu gruppieren. ... Die von uns weiter oben im Umriss gegebene psychologische Charakte-ristik des Turkstammes kann in ihren allgemeinen Zügen auch als diesen angeblich einheitlichen turanischen psychologischen Typ, der mehr oder minder für alle Völker Eurasiens, einschließlich der Ostslaven, gelten sollte? Die Turkvölker haben sprachlich große Gemeinsamkeiten. Als charakteristisch bezeichneten die Eurasier die große Gesetzmäßigkeit, mit der eine geringe Zahl einfacher und klarer linguistischer Grundprinzipien folgerichtig durchgeführt werde. Während die osmanische Musik stark unter arabischem und griechischem Einfluß stehe, sei die Musik der anderen Turkvölker auf einer halbtonlosen Fünftonreihe aufgebaut. Auch die Poesie sei bei den Osmanen arabischem Einfluß unterworfen, sonst aber hätten die Turkvölker einen allgemeinen Typ mit nur bedingten Unterschieden herausgearbeitet. Auf religiösem Gebiet hielten die Eurasier sie für nicht aktiv, weil sie sich heute zum Islam bekennen, die Ujguren früher aber buddhistisch und die Chazaren jüdisch waren.” Vgl. Otto Böss, Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961, S. 60.

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Charakteristik aller ’Turanier’ oder ’Uralaltaier’ betrachtet wer-den.“210

Die Besonderheit Russlands besteht nach Trubezkojs Meinung in der Verbindung der byzantinisch orthodoxen Tradition mit “tu-ranisch“ ethnischen Elementen, wodurch die geschichtliche Missi-on Russlands bestimmt werde. Sie liegt nach ihm in der politischen Vereinigung des ganzen eurasischen Kontinents: „Aber wenn unter solchen Umständen im Moskauer Russland die ihrer Herkunft nach turanische Staatlichkeit und die Staatsidee orthodox wurden, eine christliche religiöse Weihe erhielten und ideologisch mit den by-zantinischen Traditionen verknüpft wurden, so entsteht die Frage: Ist nicht gleichzeitig auch die umgekehrte Erscheinung aufgetreten, d. h. eine gewisse “Turanisierung“ der byzantinischen Tradition selbst und ein Eindringen von Zügen turanischen Seelenlebens in die russische Auffassung von der Orthodoxie? ... Zieht man die Summe aus allem, was über die Rolle der turanischen völkerpsy-chologischen Züge im russischen Nationalcharakter gesagt wurde, so kann man sagen, dass diese Rolle im allgemeinen positiv war. Ein Mangel war die übermäßige Unbeweglichkeit und Untätigkeit des theoretischen Denkens. Von diesem Mangel musste man sich befreien, aber doch wohl ohne alle jene positiven Seiten des russi-schen Nationaltypus zu opfern, die durch die innige Verbindung des Ost-Slawentums mit dem Turaniertum erzeugt waren. In dem turanischen Einfluss nur negative Züge zu sehen, ist undankbar und unehrlich. Wir haben das Recht, auf unsere turanischen Vorfahren nicht minder als auf unsere slawischen Vorfahren stolz zu sein und sind den einen wie den anderen zu Dankbarkeit verpflichtet. Das Bewusstsein seiner Zugehörigkeit nicht nur zum arischen, sondern auch zum turanischen Seelentyp ist für jeden Russen notwen-dig.“211

Eine wichtige theoretische Quelle des Eurasiertums ist die Schrift von Fürst Nikolaj Trubezkoj “Europa und die Menschheit“. Diese Arbeit hat eine wichtige Rolle beim Entstehen und für die Entwicklung der eurasischen Lehre gespielt. Das Buch ist 1920 in 210 N. S. Trubezkoj, Nasledije Cingischana, Moskva 1999, S. 148. 211 Ebd., S. 234.

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Bulgarien in kleiner Auflage veröffentlicht worden und lange Zeit praktisch unbekannt geblieben. Es ist das Ergebnis langen Nach-denkens, und zwar noch vor der Zeit des Ersten Weltkrieges. Da Trubezkojs Gedanken bei Freunden und Gesprächspartnern zu-nächst keine Zustimmung fanden, sind sie lange Zeit schriftlich gar nicht festgehalten worden. Als während des Ersten Weltkrieges a-ber die Vorbildrolle Europas verlorengegangen ist, haben sich seine Einsichten als überraschend aktuell erwiesen.

Das Buch ist das Produkt einer intellektuellen Empörung ge-gen die Verabsolutierung einer Kultur, nämlich der “romano-germanischen“ bzw. der europäischen. In den Worten von Trubez-koj: „Die Kultur, die sich unter dem Deckmantel der allgemein-menschlichen Zivilisation versteckt hat, ist nur die Kultur einer ethnischen Gruppe, und zwar die der romanischen und germani-schen Völker.“212 Ohne die Bedeutung der europäischen Kultur in irgendeiner Weise herabzusetzen, hat Trubezkoj darin geraten, die Rechtmäßigkeit der Ansprüche Europas auf die Benennung seiner Kultur als einer “allgemein-menschlichen“ zu bezweifeln. In die-sem Zusammenhang stellte Trubezkoj zwei Fragen: Ob es möglich sei, objektiv zu beweisen, dass die Kultur der Romano-Germanen im Vergleich mit der anderer Ethnien die vollkommenste ist? Und: Ob die Übernahme der europäischen Kultur durch andere Völker positive oder negative Auswirkungen habe? Nur bei positiven Antworten auf diese Fragen „kann die europäische Kultur als all-gemein notwendig und wünschenswert anerkannt sein.“213

Trubezkoj aber hat beide Fragen negativ beantwortet. Bei der vergleichenden Analyse verschiedener Kulturen ist er zu der Über-zeugung gelangt, dass es richtig sei, statt des Prinzips der “Auftei-lung der Kulturen nach den Stufen der Vollkommenheit“ dem Prin-zip der “Gleichwertigkeit aller Kulturen“ Vorrang einzuräumen.214 „Gibt es höchst und niedrigst nicht, existiert nur ähnlich und un-ähnlich. Dieses tief verwurzelte egozentrische Vorurteil muss ü-berwunden werden, auf dem die europäische Wissenschaft aufge-

212 N. S. Trubezkoj, Evropa i čelovečestvo, Sofija 1920, S. 10. 213 Ebd., S. 12. 214 Ebd., S. 13.

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baut war.“215 Trubezkoj war dagegen, die europäische Kultur zum obersten Kriterium zu machen, an dem die anderen Kulturen ge-messen werden.

In der Frage nach der Möglichkeit, die Inhalte fremder Kultu-ren zu übernehmen, stützte sich Trubezkoj auf die Arbeiten des französischen Soziologen Gabriel de Tarde. Eine solche Übernah-me ist nach der Meinung de Tardes nur nach einer zuvor erfolgten Vermischung der ethnischen Anteile von Völkern möglich. Dazu stellte Trubezkoj fest, dass in einem solchen Falle die Übernahme der europäischen Kultur sinnvoll und positiv sei. Im anderen Fall sei sie aber eher ein Übel.

Diese Frage ist auch heute von Belang, weil es derzeit viele Völker gibt, die sich mit allen Kräften europäisieren bzw. amerika-nisieren wollen. Nach der Meinung von Trubezkoj kann das Stre-ben nach einer Europäisierung Völker dann in eine äußerst unvor-teilhafte Lage versetzen, wenn sie dafür nicht die entsprechenden kulturellen Voraussetzungen besitzen. Die europäische Kultur ent-spricht dem psychologischen Standard der europäischen Völker. Alles, was von anderen Völkern geschaffen worden ist aber was diesem Standard nicht entspricht, wird unterschätzt, wenn nicht gar als barbarisch abgewertet. Alle Bemühungen der nicht-europäischen Völker, bei den Europäern für die eigenen Leistungen Anerkennung zu finden, sind von Anfang an zum Scheitern verur-teilt. Auf diese Weise zahlt ein nicht-europäisches Volk für die Eu-ropäisierung mit der Aufgabe seiner eigenen Kultur.

Die größte Gefahr der Europäisierung erblickte Trubezkoj in der Zerstörung „der nationalen Einigkeit“, in der Zerstückelung „des nationalen Volkskörpers“.216 Aufgrund der Tatsache, dass die Übernahme einer fremden Kultur nicht im Schnellverfahren zu er-reichen ist, sondern sich in der Regel über einen Zeitraum von mehreren Generationen erstreckt, ist Trubezkoj zu dem Schluss ge-kommen, dass „im Volk, welches die fremde Kultur übernimmt, das Gefälle zwischen Vätern und Kindern größer wird als bei ei-nem Volk mit einer eigenen nationalen Kultur. ... Normalerweise 215 Ebd., S. 14. 216 Ebd., S. 20.

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geht die Europäisierung von oben nach unten, d. h. sie erfasst zu-erst die oberen Sozialschichten, die städtische Bevölkerung, die qualifizierten Berufe, und zum Schluss weitet sie sich allmählich auf die übrigen Teile des Volkes aus.“217

Dieser Prozess führt dazu, dass einige gesellschaftliche Grup-pen aufhören, sich mit der Gesellschaft als solcher zu identifizie-ren, und sich zu isolierten kulturellen Einheiten entwickeln. Witalij Pascenko hat den Gedankengang Trubezkojs wie folgt beschrieben: „Der Prozess der Zersplitterung eines Volkes wird von der Ver-schärfung des Klassenkampfes begleitet, verstärkt die Gegensätze in der Gesellschaft und ’behindert die Zusammenarbeit aller Teile des Volkes im kulturellen Bereich’. Das gesellschaftliche Leben dieser (so zersplitterten, V. A.) Völker gerät im Vergleich zu den alt-europäischen Völkern in große Schwierigkeiten, ihre kulturelle Tätigkeit erlahmt, ihre Produktivität versiegt. Sie bleiben für immer rückständig. Diese Meinung wird bald auch von der europäisierten Elite dieser Völker geteilt. Das Bewusstsein der ständigen Unzu-friedenheit über die eigene Starrheit und Rückständigkeit führe allmählich dazu, dass diese Völker aufhören, sich selbst zu respek-tieren.“218

Trubezkoj behauptet, dass die negativen Konsequenzen der Europäisierung ständig zunehmen würden. Selbst wenn dieser Pro-zess seinen Höhepunkt erreicht habe, werde die Ausrottung der Reste der nationalen Kultur als einer “rückständigen“ weitergehen. Das „rückständige Volk“ werde in der Familie „der zivilisierten Völker“ zuerst ökonomisch einbezogen, dann verliere es seine poli-tische Unabhängigkeit und werde endlich zum Objekt „der unver-schämten Ausbeutung“, die ihm alle Kräfte entziehen würde. Es werde nur noch als „ethnografisches Material benutzt“ werden.219 Falls das Volk aber versuchen sollte, Widerstand zu leisten, wird seine Zukunft um kein Haar besser aussehen. Ein solches Volk muss, um sich verteidigen zu können, in der militärischen Technik mindestens auf dem Niveau der Europäer sein. Dies aber zu errei-

217 Ebd., S. 21 - 22. 218 V. J. Paščenko, Evrazijci i my, in: Vestnik MGU, Seria 12, 3/1993, S. 81. 219 N. S. Trubezkoj, Nasledije Cingischana, Moskva 1999, S. 31.

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chen und zu bewahren, gehe in aller Regel über die Kräfte einzel-ner Nationen, führe zu nicht minder „schweren und furchtbaren“ Konsequenzen für das aufbegehrende Volk.220

Trubezkoj meinte zu seiner Zeit, dass es unmöglich wäre, das Problem der Europäisierung durch den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu lösen. Es spiele keine Rolle, ob die europäischen Staaten kapitalistisch oder sozialistisch seien. Es scheine demnach, dass alles für die Unvermeidlichkeit der Europäisierung sprechen würde.221. Wenn ein Volk sich nicht freiwillig europäisiert, wird es von den europäischen Völkern mit Gewalt dazu gezwungen. Um solcher Gewalt zu widerstehen, müssten die nicht-europäischen Völker sich schon ein eigenes militärisches Potential zulegen. Das aber würden sie nicht aus eigener Kraft schaffen. Sie ständen vor der Notwendigkeit, europäische Technologien zu erwerben, würden auf diese Weise jedoch gezwungen, sich zu europäisieren. Am Bei-spiel der Reformen Peters des Großen in Russland macht Trubez-koj deutlich, dass mit der Übernahme der europäischen Technik zwangsläufig auch die europäische Kultur importiert worden ist.

Grundlage der eurasischen Geschichtsphilosophie, wie sie von Trubezkoj konzipiert worden ist, ist die Abkehr vom europäi-schen Entwicklungsmodell und die Zuwendung zu einer noch zu schaffenden, eigenen, “eurasischen“ Kultur sowie, damit verbun-den, diese Option quasi rechtfertigend, ein partikularistisches und zyklisches Geschichtsverständnis. Damit knüpften die Eurasier un-ter veränderten historischen Umständen an Ideen an, die zuvor, im 19. Jahrhundert, von den Slawophilen in Umlauf gebracht und von 220 Die Europäisierung eines nicht-europäischen Volkes zwingt dieses, jenen Weg, den die Europäer allmählich und in einem langen Zeitraum gegangen sind, in sehr kurzer Zeit zu bewältigen. Es muss eine ganze Reihe von historischen Stufen überspringen, um das zu schaffen, was die Europäer schon erreicht haben. Die Konsequenzen solcher Sprünge aber können fatal sein. Auf jeden Sprung folgt eine Periode der Stagnation, in der das Volk wieder zurückbleibt. Die histo-rischen Sprünge schaden der nationalen Einigkeit und der natürlichen Entwick-lung, zerstören die Tradition, die durch europäische Einflüsse bereits geschwächt ist. Die Sprünge fallen, so gesehen, alle zu kurz aus, um das “gesamteuropäische Niveaus der Zivilisation“ zu erreichen. 221 Vgl. V. J. Paščenko, Evrazijci i my, in: Vestnik MGU, Seria 12, 3/1993, S. 88.

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den Vertretern der klassischen russischen Geschichtsphilosophie, von Danilevskij und Leontjev, in ein System gebracht worden wa-ren.

Die Eurasier sind in gewisser Weise mit den “Bodenständi-gen“, also den Vermittlern zwischen Slawophilen und Westlern, zu vergleichen. Jene suchten im Streit zwischen Slawophilen und Westlern einen mittleren Weg, diese einen solchen zwischen Mo-narchisten und Liberalen. So wie die Bodenständigen den Sla-wophilen zuneigten, so die Eurasier den Monarchisten. Die Boden-ständigen waren nie konsequente Slawophile, so wie auch die Eu-rasier nie konsequente Monarchisten gewesen sind. Die Eurasier kritisierten die Romanow-Monarchie, weil sie nach ihrer Meinung die nationalen russischen Interessen nicht ausreichend verfolgt hat-te. Die eurasische Zwischenposition lässt sich auch als Widerspie-gelung des besonderen Platzes Russlands zwischen Europa und A-sien verstehen, ein historischer Tatbestand, auf den schon Pjotr Caadajev und Alexander Herzen aufmerksam gemacht haben.222.

Die Eurasier haben nach einem Kompromiss zwischen der al-ten russischen Tradition und den neuen kommunistischen Vorha-ben gesucht. Ihr Streben, etwas zu vereinen, was nicht zusammen-paßte, führte dazu, dass sie in vielen Punkten inkonsequent blieben.

Eurasier haben, wie die Slawophilen, alles getan, um Ressen-timents gegen Europa zu wecken. Sie waren der Meinung, dass der europäische Imperialismus nicht nur eine Gefahr für Russland, sondern für die ganze Welt darstelle. Im Unterschied zu Oswald Spengler, der auf seine Weise den deutschen Imperialismus recht-fertigte, haben sie auf ihre Weise den russischen Imperialismus ge-rechtfertigt. Sie waren der Meinung, dass nur ein solcher imstande wäre, dem europäischen Egoismus erfolgreich entgegenzutreten. In der Zeit einer gewissen Europa-Euphorie wirken diese Gedanken-gänge möglicherweise sehr ernüchternd.

Den Slawophilen ist vorgeworfen worden, dass sie die deut-sche Romantik kopiert haben. Den Eurasiern lässt sich vorhalten,

222 Herzen hat in diesem Zusammenhang auf den doppelköpfigen Adler als Symbol der doppelgesichtigen Politik des russischen Imperiums, nach Westen und nach Osten, hingewiesen.

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dass sie in gewisser Weise Gedanken der deutschen “konservativen Revolution“ übernommen haben. In der Tat gibt es, wie von Leonid Luks herausgefunden worden ist, zwischen dem russischen Eura-siertum und dem deutschen konservativen Nationalismus Paralle-len.223

Die Eurasier traten, obwohl sie selbst zur Oberschicht gehör-ten, für die unteren Schichten der russischen Gesellschaft ein. Sie favorisierten die vorpetrinische Zeit und lehnten die Reformen Pe-ters des Großen ab, die nach ihrer Auffassung die russische Gesell-schaft gespalten hatten. Die Oberschicht war nach europäischem Muster erzogen und ausgebildet worden; ihre Angehörigen benah-men sich wie Kolonialherren. Die Unterschicht, die den alten russi-schen Kulturwerten verbunden geblieben war, wollten sie von der europäischen Bevormundung befreien. Deshalb haben die Eurasier die Revolution von 1917 begrüßt, weil sie sie als Akt der Befreiung des russischen Volkes von indirekter Fremdherrschaft verstanden haben.

Obwohl die Ideen der eurasischen Bewegung in der russischen Emigration nur geringe Zustimmung fanden, haben sie nach dem Ende der Sowjetunion in intellektuellen Kreisen Russlands eine gewisse Popularität erlangt. Einer der bekanntesten Vertreter des Eurasiertum am Ende des 20. Jahrhunderts ist ohne Zweifel Lev Gumilev.

Die Theorie der Ethnogenese von Lev Gumilev

Von Olga A. Sergejeva ist die Bedeutung des Werkes von

Gumilev wie folgt zusammengefasst worden: „Im Werk Gumilevs widerspiegelt sich eine Epoche, die durch Paradigmenwechsel in der Wissenschaft charakterisiert ist. ... Er hat versucht, die Methode der Interdisziplinarität der Wissenschaften bei der Analyse der Ge-sellschaft zu praktizieren. In seiner Lehre sind alle Grundtendenzen der wissenschaftlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts vereinigt – klassische und postklassische, moderne und postmoderne. Er ist 223 Leonid Luks, Evrazijstvo i konservativnaja revolucija, in: Voprosy filosofii, 3/1996, S. 57.

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aber dabei nicht eklektisch vorgegangen, sondern hat eine ganzheit-liche Konzeption entwickelt. Die heutige Popularität Gumilevs ist im gewissen Sinne mit der Krise der alten, üblichen Metatheorien in den Sozialwissenschaften, mit dem Wechsel des Formationenpa-radigmas zum Zivilisationsparadigma, genauer gesagt, dem Über-gang zur Polyparadigmalität verbunden.“224

Lev Gumilev (1912 - 1992) ist der Sohn des bekannten russi-schen Schriftstellers Nikolaj Gumilev und der Dichterin Anna Achmatowa.225 Während seines Studiums an der Leningrader Uni-versität wählte Gumilev für sich als Hauptthema die Geschichte der türkischen und mongolischen Völker. Aber er konnte sein Studium nicht abschließen, weil er 1938 auf Grund einer Mitteilung eines Professors als Anhänger der “Weißen“ zu fünf Jahren Lager verur-teilt wurde. Erst nach dem Ende des Krieges konnte er sein Studi-um fortsetzen und begann gleichzeitig an seiner Dissertation “De-taillierte politische Geschichte des türkischen Chaganats“ zu arbei-ten. 1948, nach dem Abschluss der Arbeit, wurde er wiederum zu zehn Jahre Lagerhaft verurteilt, währenddessen er sein erstes Buch “Die Hunnen“ geschrieben hat. Im Jahre 1961 verteidigte er seine Habilitationsschrift “Die alten Türken im 6. - 8. Jahrhundert“, die später (1967) auch als Buch erschienen ist. In den siebziger Jahren arbeitete Lev Gumilev an der geographischen Fakultät der Lenin-grader Universität und schrieb zahlreiche Aufsätze zur Geschichte verschiedener Ethnien.226 Dadurch wurde sein Name in wissen-schaftlichen Kreisen bekannt. Allerdings stand seine Interpretation 224 O. A. Sergejeva, L. N. Gumilev i naučnye tendencii dvacatogo veka, in: Vestnik MGU, Serija 7, 6/1998, S. 82. 225 Zur wissenschaftlichen Biografie von Lev Gumilev vgl. V. Ermolajev, Predislovije, in: L. N. Gumilev, Is istorii Evrazii, Moskva 1993. 226 Sie lösten eine Disskussion in der Zeitschrift “Priroda” aus. Vgl. J. V. Bromlej, K voprosu o suščnocti etnosa, in: Priroda, 1/1970, S. 51 - 55; ders., Neskolko zamečanij o socialnych i prirodnych faktorach etnogeneza, in: Priroda, 2/1971, S. 83 - 84; ferner I. Kurcinioj, Passionarnost´ i landšaft, in: Priroda, 8/1970, S. 76 - 78; V. I. Kuznecov, Proverka gipotezy Gumileva, in: Priroda, 2/1971, S. 74 - 75; M. I. Artamonov, Snova „geroj“ i „tolpa“?, in: Priroda, 2/1971; V. I. Kozlov, Cto takoe etnos? in: Priroda, 2/1971, S. 71 - 74. Ausführlich hat Hildegard Kohanek, Die Ethnienlehre Lev N. Gumilevs, in: Osteuropa, 11/1998, S. 1189 – 1191, über diese Diskussion berichtet.

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der Geschichte im Gegensatz zur offiziellen marxistischen Ge-schichtsphilosophie.227

Als Ergebnis seiner langen Beschäftigung mit Problemen der Ethnien-Geschichte verfaßte er im Jahre 1976 ein neues Buch unter dem Titel “Ethnogenese und Biosphäre der Erde“, das zu seinem Hauptwerk wurde. Mit diese Abhandlung wurde er auf einen Schlag zu einem angesehenen Vertreter der modernen Geschichts-philosophie. Das Buch durfte aber nicht publiziert werden, weil der Direktor des Instituts für Ethnologie der Akademie der Wissen-schaften der UdSSR, Prof. J. Bromley, Gumilev vorwarf, dass seine Theorie nicht mit dem Marxismus-Leninismus übereinstimmen würde.228 Erst fünfzehn Jahre später, 1991, ist das Buch veröffent-licht worden. Seither sind Gumilevs Ideen Gegenstand wissen-schaftlicher Diskussionen.229

Unter Gorbačov, d. h. nach 1985, wurde Gumilev einer der bekanntesten Sozialwissenschaftler Russlands. Seither werden sei-ne Bücher in hohen Auflagen gedruckt und verkauft. In dieser Zeit

227 Bruno Naarden hat dazu folgenden Kommentar verfaßt: „In the Soviet Union Gumilev was an exceptional and eccentric scientist. He was a sort of hybrid between Spengler and Toynbee, or, limiting ourselves to Russians, between Danilevskii and Sorokin, and so in many respects he is the antipode of the academic historian or anthropologist in the West.” Vgl. Bruno Naarden, ”I am a genius, but no more than that." Lev Gumilev (1912-1992) – Ethnogenesis: The Russian Past and World History, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1/1996, S. 55. 228 Vgl. J. V. Bromlej, Etnos i etnografija, in: Sovremennyje problemy etnografii, Мoskva 1981. 229 Siehe dazu vor allem B. A. Rybakov, 0 preodolenii samoobmana, in: Voprosy istorii, 3/1971, S. 153 - 159; V. I. Koslov, 0 biologo-geografičeskoj koncepcii etničeskoj istorii, in: Voprosy istorii 12/1974, S. 72 - 85; J. V. Bromlej, Ethos i etnografija, in: Sovremennyje problemy etnografii, Мoskva 1981; R. F. Its, Neskolko slov o knige L. N. Gumileva, in: L. N. Gemilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Leningrad 1989; A. Kuz´min, Propeller passionarnosti, ili teorija privatizacii istorii, in: Molodaja Gvardija, 9/1991, S. 256 - 276; A. Turin, Etika etnogenetiki, in: Neva, 4/1992, S. 223 – 246; A. Janov, Učenie L’va Gumileva, in: Svobodnaja mysl, 17/1992, S. 104 - 116; ders., Vejmarkskaja Rossija, in: Neva, 5,6/1994; ders., Posle Jelcina: Vejmarskaja Rossija, Moskva 1995; V. I. Zubov, Osnovy etnologii: Učebnoje posobije po teorii etnogenesa L. N. Gumileva, Moskva 1999.

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beschäftigt sich Gumilev auch intensiv mit der russischen Ge-schichte. Seine späteren Bücher “Altes Russland und die große Steppe“ (1984) und “Vom Rus zu Russland“ (1990) hat Gumilev auf der Grundlage seiner Theorie der Ethnogenese geschrieben. In der Interpretation der russischen Geschichte hat er versucht, neue Ausblicke und andere Wertungen als bisher vorzunehmen. Als Kenner der Geschichte der Steppenvölker meint Gumilev, dass die Mongolen eine sinnvolle, d. h. eine für die Russen passende staatli-che Organisationsform schufen, als sie das Tributsystem in den von ihnen beherrschten russischen Ländern einführten. Dieses System blieb auch nach der Auflösung der Goldenen Horde im 15. Jahr-hundert erhalten und bildete die Grundlage für den russischen Staat der Moskauer Fürsten.

Gumilev war eigentlich Historiker, und die meisten seiner Ar-beiten behandeln denn auch historische Themen. Aber er hat auch eine eigene geschichtsphilosophische Konzeption entwickelt.230 Außerdem interessierte er sich für Probleme der Ethnologie und der Geographie, weil er dreißig Jahre an der Geographischen Fakultät der Leningrader Universität231 gelehrt hat. In seinen Abhandlungen 230 Diese Konzeption beschreibt Annet Jubara folgendermaßen: „In Lev Gumilevs biologistisch-geographischer Konzeption der Entwicklung von Völkern ("Ethnien") als eines natürlichen Prozesses, der sog. Ethniengeschichte, welche Ethnogenese, Aufstieg, Niedergang und Tod der Ethnie umfaßt. Der zentrale Begriff dieser Ethnos-Geschichte ist ’passionarnost’ - er bezeichnet ein ’biologisches Merkmal’ und einen natürlichen Energieimpuls, der möglicherweise, so Gumilevs Hypothese, auch mit dem Einfluß kosmischer Strahlung in Zusammenhang steht; eine Leidenschaft (daher ’passionarnost’), die dem Unterbewußtsein besonderer Individuen mit normenabweichendem Verhalten entstammt, als ’Anti-Trägheitsmoment’ die Ethnogenese in Gang setzt und zum Erbmerkmal dieser Ethnie wird.“ Vgl. Annet Jubara, Russlands neue Eurasier, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt a. M. 1995, S. 164. 231 Gumilev wollte damals nicht mit den Vertretern des historischen Materialis-mus streiten, obwohl die Ideen, die er vortrug, teilweise im Widerspruch zu ihm standen. Um mögliche politische Komplikationen zu vermeiden, hat er es vorge-zogen, Themenbereiche zu bearbeiten, die von der staatlichen Ideologie nur am Rande reglementiert wurden: die der Geographie und der Alten Geschichte. Trotzdem kann man in seinen Werken viele Aussagen finden, die unmittelbar aktuelle Fragen seiner Zeit aufgreifen.

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über “Die Hunnen“ (1960), “Die Suche nach einem erfundenen Reich“ (1970) und “Hunnen in China“ (1974) zeigt Gumilev die Ähnlichkeiten im Verhalten der türkischen, mongolischen und rus-sischen Völker, die im Laufe der Jahrtausende die große Steppe besiedelt haben. Es ist genau dieses Areal, für das heute der Namen Eurasien steht.

Das besondere persönliche Schicksal Lev Gumilevs führte in seiner Geschichtsphilosophie zu originellen Ideen, die sich nicht nur von der damals offiziellen marxistischen Geschichtsinterpreta-tion, sondern auch von der europäischen Geschichtsphilosophie unterscheiden, aber mit der russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts viele Gemeinsamkeiten haben.

Lev Gumilevs Theorie der Ethnogenese liegt eine spezifische Ausdrucksweise der Autors zugrunde, der mehrere neue Begriffe in die Wissenschaftssprache eingeführt hat. Trotz gewisser terminolo-gischer Schwierigkeiten soll hier im folgenden versucht werden, die für seine Geschichtsphilosophie typischen Züge darzulegen. Eine der Besonderheiten von Gumilevs theoretischem Ansatz ist das Vermeiden der üblichen sozial-wissenschaftlichen Begriffe und die Benutzug neuer, origineller naturwissenschaftlicher Ausdrücke. „Ausgerüstet mit dieser Theorie machte es sich Gumilev zur Auf-gabe, die russische Geschichte nicht als Sozialgeschichte, sondern als ethnische Geschichte zu schreiben, d.h. den Entwicklungspro-zeß der Ethnien darzustellen, die das Territorium Russlands besie-delten - unter ihnen die russische Ethnie, der es von einem be-stimmten Zeitpunkt an gelang, alle auf diesem Territorium leben-den Völker in einer ’eurasischen Superethnie’ zu integrieren. Der gemeinsame eurasische Staat, so Gumilev, gründete sich auf dem Prinzip der Priorität des Rechtes eines jeden Volkes auf eine be-stimmte Lebensweise“232, hat Annet Jubara in ihrem Artikel über die Neo-Eurasier geschrieben.

Wie Nikolaj Danilevskij hat sich auch Lev Gumilev mit wis-senschaftlicher Methodologie beschäftigt. So hat er eine neue Glie-

232 Annet Jubara, Russlands neue Eurasier, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 166.

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derung der Human- und Naturwissenschaften vorgeschlagen. Die Gliederung der Wissenschaften nach der Art des Gegenstandes ist seiner Meinung nach nicht gerechtfertigt. Stattdessen hat er vorge-schlagen, die Gliederung nach Informationsarten vorzunehmen, weil „nur bei einer solchen Gliederung die Ethnologie ... zu einem Teil der Naturwissenschaften“ wird.233

Das Problem des Verhältnisses zwischen Human- und Natur-wissenschaften stellt sich der Autor wie folgt vor: Im Laufe der Geschichte spalteten sich allmählich einige Gebiete von den Hu-manwissenschaften ab und wurden als Naturwissenschaften dekla-riert. So beschäftigte sich ursprünglich auch die Philosophie mit naturwissenschaftlichen Fragen. Im 19. Jahrhundert aber haben sich die abgesonderten Wissenschaften so verselbständigt, dass sie mit der Philosophie fast nichts mehr gemeinsam haben. Die Ge-schichtswissenschaft verwendet nach Meinung von Gumilev beim Studium historischer Ereignisse Methoden der Humanwissenschaf-ten, aber im übrigen ist sie eine Naturwissenschaft.

Lev Gumilev strebte an, die Ethnologie als eine neue Wissen-schaft zu begründen, deren Aufgabe es wäre, die geschichtliche Evolution von Ethnien zu erforschen. Auf seine Weise definierte er die Hauptbegriffe dieser Wissenschaft und erläuterte sie. So ist z. B. das Objekt der Ethnologie die “Ethnosphäre“. Die Ethnologie tangiert seiner Meinung nach drei Wissenschaften: Geschichte, Geographie und Biologie. Das Grundprinzip der Ethnologie ist der “Aktualismus“, nach dem die Gesetze der Natur, die in der Ver-gangenheit galten, auch weiterhin, gewissermaßen für alle Zeiten, ihre Gültigkeit behalten.

Gumilev erblickte in der geschichtlichen Existenz von Ethnien zwei Ebenen: eine ethnische und eine historische.234 Die Umwand-lung einer Ethnie in einen Staat kann man als den Anfang ihrer ge-schichtlichen Existenz ansehen. Andererseits ist der Verlust des Staates immer mit der Reduzierung der Ethnie auf einen rein ethni-schen Status verbunden. Gumilev meinte, dass es außerdem noch

233 Ebd., S. 21. 234 Dies entspricht die Teilung in eine “ethnische“ und eine “staatliche“ Periode in der Geschichtsphilosophie von Nikolaj Danilevskijs.

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eine weitere Form des geschichtlichen Lebens von Ethnien gibt, ihre Existenz auf dem biologischen Niveau. Das ist der Fall, wenn sich eine Ethnie auflöst, völlig von der Bildfläche verschwindet. Dies geschieht aber ziemlich selten, weil die Reste alter, absterben-der Ethnien oft von neuen, jungen Ethnien assimiliert werden. Gu-milev bezeichnete diese Art ihrer Existenz, die rein biologische, mit dem Begriff “Gomeostas“. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich jede Ethnie normalerweise an ihre Umgebung anpasst. Dies geschieht in der Form der Erhaltung alter Traditionen und Sit-ten. Auf diese Weise schafft es die Ethnie, sich an ihre natürliche Umgebung anzupassen. Die Ethnographie als Wissenschaft unter-sucht Ethnien, welche sich im Zustand der “Gomeostas“ befinden. Die Geschichtswissenschaft untersucht solche Ethnien, die ihren eigenen Staat besitzen und sich eines historischen Daseins erfreuen. Ethnologie ist für Gumilev eine Grenzwissenschaft, die Ge-schichtswissenschaft und Ethnographie umfasst.

Die Ethnologie als Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Pro-zess der Ethnogenese.235 Die Ethnogenese ist für Gumilev der Pro-zess der Entstehung und der Entwicklung von Ethnien. Er betrach-tet diesen Prozess vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus. Die treibende Kraft der Ethnogenese ist die biologische Energie. Diese Energie stammt nach Gumilevs Meinung hauptsächlich von der Sonne. Er hat deshalb versucht, den Mechanismus der Sonnen-aktivitäten zu verfolgen und sie mit der Geschichte der Ethnien in Verbindung zu bringen. Die zyklischen Impulse der Sonnenstrah-lung beeinflussen die Psyche des Menschen und bewirken Verän-derung der Ethnien.236

235 Die Intensität der Ethnogenese ist hauptsächlich auf zwei Faktoren zurückzu-führen: 1. auf die “passionare Spannung“ und 2. auf den Charakter der Bezie-hungen zu den Nachbarn. Die zwei Parameter zeigen die jeweilige Phase der Ethnogenese an, d. h. auf welcher geschichtlichen Stufe sich die Ethnie gerade befindet. 236 Lev Gumilev hat eine Weltkarte entworfen, die alle “passionaren Impulse“ der Weltgeschichte in Gestalt langer Streifen markiert. In diesen Zeiträumen entstehen passionare Individuen. Sie werden “Passionare“ genannt, weil sie im Laufe von 120 - 160 Jahren neue Gruppen bilden, welche die Grundlage für die Entstehung neuer Ethnien sind. Nach etwa 1500 Jahren geht die “Passonarität“

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Als Voraussetzungen für die Entstehung seiner Theorie der Ethnogenese nennt Lev Gumilev zwei wissenschaftliche Erfindun-gen des 20. Jahrhunderts: „die Systemtheorie von L. von Bertalanf-fy“237 und die Lehre von Vladimir Vernadskij über die biochemi-sche Energie des lebendigen Stoffes. Diese zwei großen Theorien hätten die Bestimmung des Begriffs “Ethnie“ und die Beschreibung der „Ethnogenese als eines Prozesses“ ermöglicht.238 Gumilevs ei-gene Begriffe wie “System“, “Energie“, “Ethnosphere“ stammen direkt von den zwei obengenannten Autoren, aber hinzu kommen noch andere, von ihm selbst geschaffene Termini. Sie erschweren das Verständnis von Gumilevs Geschichtsphilosophie außerordent-lich. Trotz oder wegen dieser Schwierigkeiten ist Gumilevs Theorie der Ethnogenese eine der detailreichsten systematischen Konzepti-onen der russischen Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts.

Die Ethnie ist für Gumilev ein zentraler Begriff seiner ge-schichtsphilosophischen Konzeption.239 Er betrachtete sie als ein System240, das seine innere Struktur hat. Die inneren Elemente ei-nes jeden ethnischen Systems sind Taxonen, d. h. “Konviktionen“ (Kleinkollektive) und “Subethnien“ (soziale Schichten).241 Gumilev meinte, daß die interne Diversifikation einer Ethnie ihre Stabilität verloren. Damit endet der Prozess der Ethnogenese. Die “Passionare“ sind jene, die durch ihre ungewöhnlichen Aktivitäten in allen Bereichen des gesellschaftli-chen Lebens, die Ethnie in Bewegung setzen, sie formen. Das führt zu Völker-wanderungen und Kriegen wie zur Entstehung neuer Staaten und Kulturen. 237 Ludwig von Bertalanffy, General System Theory, London 1971; ders.: Vorläufer und Begründer der Systemtheorie, in: Systemtheorie, Berlin 1972. 238 L. N. Gumilev, Ethnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 34. 239 R. F. Its, Neskolko slov o knige L. N. Gumileva, in: L. N. Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Leningrad 1989, S. 6. 240 Vgl. O. A. Sergejeva, L. N. Gumilev i naučnyje tendencii dvacatogo veka, in: Vestnik MGU, Serija 7, 6/1998, S. 73. 241 “Konviktion“ ist ein Kleinkollektiv mit interner Arbeitsteilung, das bestimmte Zwecke verfolgt. “Subethnie“ ist mit folgenden Begriffen identisch: mit sozialer Schicht, Kaste und auch Nationalität. Die “Taxonen“, soziale Gruppen des nied-rigen Ranges, wachsen in direktem Verhältnis zu der Größe der Passionarität. „Die Zunahme der Passionarität führt zur Strukturierung des ethnischen Sys-tems“, schreibt Gumilev, „die Senkung der passionaren Spannung bringt die Vereinfachung und Zersetzung der ethnischen Werte.“ Vgl. dazu L. N. Gumilev, Etnogenes i biosfera Semli, Moskva 1993, S. 148.

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stärkt, sozusagen ihr inneres Skelett bildet. Zur Aufrechterhaltung eines ethnischen Systems ist die Energie, sprich, die “Passionari-tät“, notwendig. Diese unterstützt die Spannung der inneren Sys-temverbindung, sorgt für Stabilität und Handlungsfähigkeit der Ethnien. Nach der Größe der Passionarität wächst die Zahl der Su-bethnien. Umgekehrt wird bei der Abnahme der Passionarität die Struktur der Ethnie vereinfacht, weil einzelne Subethnien zerfallen, ausgelöscht werden.

Die Ethnie ist in Gumilevs Verständnis ein natürliches Gebil-de. Sie ist sowohl von sozialen Schichten (Klassen) als auch von biologischen Gruppen (Rassen) zu unterscheiden.242 Nach Gumi-levs Meinung gibt es keine einschichtige und keine monorassische Ethnie. Ethnien sind auch immer geographische Phänomene, weil sie eng mit ihrer Umgebung, ihren jeweiligen Landschaften, ver-bunden sind und verbunden bleiben. Jede Ethnie hat ihre eigenen Stereotypen des Verhaltens ausgebildet, die dynamisch sind und sich im Laufe der Zeit verändern können.243 Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können sich bisweilen sehr schnell ändern, beson-ders in Übergangszeiten. So ist eine Ethnie für Gumilev eine natür-lich gebildete, einheitlich organisierte ethnische Gruppierung geo-graphischer Prägung mit eigenen Verhaltensstereotypen.

Gumilev hat versucht, den Nachweis zu erbringen, dass die Sprache nicht das wichtigste Merkmal ist, an dem man Ethnien un-terscheiden kann. Es ist deshalb interessant, die Meinungen Gumi-levs und Danilevskijs hinsichtlich des Problems der Sprache zu vergleichen. Bei Danilevskij heißt es: „Jeder Volksstamm oder jede Volksgruppe, die eine gemeinsame Sprache besitzt oder zu einer Sprachfamilie gehört, bildet einen selbständigen Kulturtyp.“244 Für Gumilev dagegen ist die Sprache kein Hauptmerkmal einer Ethnie. „Der Unterschied zwischen den Ethnien besteht nicht in Rasse, Sprache, Religion und Bildung, sondern nur in dem Stereotyp des

242 Der Begriff der Ethnie Gumilevs ist mit dem Begriff der Nation in Dani-levskijs Kulturtypentheorie vergleichbar. 243 Vgl. M. N. Pak, G. A. Jugaj, Neoevrazijskaja konzepcija rossijskoj gosudarstvennosti, in: Vestnik MGU, Serija 7, 3/1996, S. 63. 244 Ebd., S. 334.

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Verhaltens, das die höchste Form der aktiven Anpassung des Men-schen an seine Umgebung darstellt.“245

Gumilev hat drei Hauptmerkmale einer Ethnie benannt: 1. sich gegen fremde Ethnien abzugrenzen; 2. die unendliche Teilbarkeit; 3. den einheitlichen Prozess der Entwicklung. Im Laufe der Ge-schichte von Ethnien können sich die vielfältigsten Mischungen aus subethnischen Gruppen ergeben, aber die ethnische Einheit bleibt nichtsdestotrotz erhalten. Je komplizierter die ethnische Struktur ist, desto stabiler und lebensfähiger ist die Ethnie als solche.246

Ein anderer wichtiger Begriff der Gumilevschen Theorie der Ethnogenese ist die “Superethnie“. Sie ist als eine Gruppe von Ethnien ein gewisses Ganzes, das aufgrund eines ähnlichen politi-schen, kulturellen und geographischen Ursprungs viele Gemein-samkeiten hat und deshalb in der Lage ist, eng zusammenzuarbei-ten. Diese Kategorie erinnert an den Begriff der “Kulturtypen“ von Nikolaj Danilevskij. Was für diesen der Kulturtypus war, ist für Gumilev eine Superethnie, sein weitester Oberbegriff. „Die Supe-rethnie steht an der Grenze der historischen Forschung, über ihr gibt es nur den biologischen Begriff der Menschheit.“247 Die beiden Begriffe Superethnie (Gumilev) und Kulturtypus (Danilevskij) werden benutzt, um die verschiedenen weltgeschichtlichen Wege darzustellen, die Diskontinuitäten der Weltgeschichte aufzuzeigen. Beide sind mit dem Begriff der historischen Monade identisch. Diese haben ihre je eigene Dynamik, ihre Phasen, Perioden und Zyklen.

Die Menschheit existiert in der Realität nicht als eine Einheit, sie ist auch für Gumilev ein abstrakter Begriff. „Das, was man die ’Weltgeschichte’ nennt, ist nur eine Methode, das geschichtliche Material zuzuordnen. ... Zum Beispiel: In den Lehrbüchern für Ge-schichte wird sie nach Altertum, Mittelalter und Neuzeit eingeteilt. 245 Ebd., S. 334. 246 Er war der Meinung, dass die Gleichstellung der gesellschaftlichen Klassen die innere Struktur der Ethnie schwächt und übermäßige Freiheit zu einer Insta-bilität der Gesellschaft führt. Vgl. L. N. Gumilev, Ethnogenes i biosfera Semli, Moskva 1993, S. 91. Einem gleichartigen Gedanken begegnen wir in Leontjevs Geschichtsphilosophie mit ihrer antiliberalen Einstellung. 247 L. N. Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 30.

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Also, der Begriff ’Weltgeschichte’ ist nur eine literarische Setzung, und nichts anderes.“248 Diese Aussage zeigt die Nähe der Gumilev-schen Position zu den Ideen der Geschichtsphilosophie von Nikolaj Danilevskij und Oswald Spengler.

Gumilev hat nachdrücklich die Abhängigkeit der Ethnie von der sie umgebenden Natur, der Geographie betont.249 Besonders eng ist das wirtschaftliche Leben der Völker mit ihrer natürlichen Umgebung, ihrer Landschaft, verbunden. Eine Ethnie hat wechsel-seitige Beziehungen zu ihrer geographischen Umgebung: Einerseits verändern die Menschen die Landschaft, und andererseits prägt die Landschaft nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze Völ-ker. Gerade für die Entstehung neuer Ethnien ist der Landschafts-charakter, der sie prägt, von großer Bedeutung. Besonders wichtig wären die Übergänge zwischen unterschiedlichen Landschaften. Die Vielfalt der Landschaften führe zur Mannigfaltigkeit der Ethnien.

Neue Ethnien entstehen vor allem an den Grenzen unter-schiedlicher Landschaften und in Zonen mit engen ethnischen Kon-takten, in denen es zu einer intensiven Vermischung von Stämmen und Völkern kommt. In Eurasien habe die Vielfältigkeit der geo-graphischen Regionen zur Entstehung einer Vielzahl von Ethnien geführt. Jedes Volk habe für sich einen akzeptablen Lebensraum gefunden: die Russen in den Flußtälern, finnisch-ugrische Völker in freigebliebenen Zwischenräumen, Türken und Mongolen in den Steppen. Bei Subow können wir dazu das folgende lesen: „Die Hauptprozesse der Ethnogenese haben sich in Eurasien wie folgt entwickelt: 1) im östlichen Teil beim Übergang von der Berg- zur Steppenlandschaft (Hunnen, Chasaren, Mongolen); 2) im westli-chen Teil zwischen Wald- und Wiesenlandschaften (Tataren, Bul-garen); 3) in den südlichen Steppenlandschaften (Mittelasien); 4) im Norden die Tundra (Eskimos, Tungusen). Dort, wo die Grenzen

248 Ebd., S. 30. 249 Einer der Kritiker dieser Idee ist A. S. Achieser, der gemeint hat, dass die „Idee der Determination des Menschen durch die Biosphäre ... eine Hymne auf die Unfreiheit“ wäre. Vgl. A. S. Achieser, O metodologii sociokulturnych i socioestestvennych issledovanij, in: Socioestestvennaja istorija, Moskva 1995.

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zwischen den Landschaften nicht so deutlich sind, konnte die Ethnogenese nicht so intensiv werden.“250

Geographische Faktoren spielen also in der Geschichtsphilo-sophie Gumilevs eine wichtige Rolle, was seine Position mit derje-nigen der Eurasier gemeinsam hat. Aber außer geographischen sind bei ihm auch biologische und anthropologische Faktoren von er-heblicher Bedeutung.251

Gumilev hat eine Theorie der Ethnogenese entwickelt, in der er die Entwicklung von neuen Ethnien mit der Existenz von “passi-onaren“ Menschen verbindet, die auf Selbsterhaltung keinen oder nur geringen Wert legen. Es sind dies Individuen, die bereit sind, ihr Leben für abstrakte Werte oder Ziele zu opfern. Im Laufe der Zeit sammeln sie sich zu Gruppen mit eigenen Verhaltensmentali-täten. Auf diese Weise entstehen neue Ethnien, deren Lebensweg bereits festliegt und daher vorherbestimmbar ist.252

Die Idee der Passionarität253 bildet das zentrale Element der Gumilevschen Theorie der Ethnogenese. Hildegard Kochanek hat dazu angemerkt: „Das zentrale Element in der Konzeption Gumi-levs ist die Idee von der ’Passionarität’ (passionarnost) als der wichtigsten Triebkraft im Prozess der Ethnogenese. Hierbei handelt es sich um ein von der allgemeinen Norm abweichendes Verhal-tensstereotyp, das auf eine durch bio-energetische Einwirkung aus-

250 V. I. Zubov, Osnovy etnologii: Učebnoje posobije po teorii etnogeneza L. N. Gumileva, Moskva 1999, S. 17. 251 Einer der Kritiker Gumilevs, V. I. Koslov, nennt seine Konzeption eine ”biologisch-geographische“. Vgl. V. I. Koslov, 0 biologo-geograficheskoj koncepcii etničeskoj istorii, in: Voprosy istorii, 12/1974, S. 73. 252 Gumilev unterscheidet im Lebenslauf einer Ethnie verschiedene Phasen, in denen es solche des Aufstiegs und des Abstiegs gibt. Er beschreibt diese Perio-den in allen Einzelheiten und versucht, verallgemeinernd festzustellen, welche besonderen Züge jede von ihnen hat. Darin vor allem besteht seine eigene ge-schichtsphilosophische Konzeption. 253 Das Problem der Abhängigkeit der Ethnien von “passionaren Impulsen“ wird von Gumilev auf folgende Weise erklärt: Für die Entstehung und die Erhaltung einer Ethnie ist eine gemäßigte Größenordnung “passionarer Spannungen“ le-benswichtig. Ein Überschuss wäre für sie schädlich, ein Mangel wäre für sie ver-hängnisvoll, da ohne einen bestimmten Grad von Opferbereitschaft die Bewah-rung der alten und die Bildung neuer Ethnien unmöglich ist.

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gelöste Mikromutation zurückgeht.“254 Anthropologisch gesehen, bedeutet Passionarität menschliches

Streben, das auf die Verwirklichung ideeller Zwecke gerichtet ist. Ein solcher abstrakter Zweck ist für einen Passionar wichtiger als das eigene Leben und das Leben und Glück seiner Zeitgenossen. Der Impuls der Passionarität ist bei diesen Individuen so stark, dass er sie dahin bringt, die Konsequenzen ihrer Taten, z. B. die dafür aufzubringenden Opfer, nicht zu bedenken. Man kann daher die Passionarität als Anti-Instinkt zur Selbsterhaltung bezeichnen. Die Eigenschaft, welche die Passionare auszeichnet, nennt Gumilev ih-re “Attraktivität“. Diese äußert sich in ihrem aufrichtigen Streben nach Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Attraktivität in die-sem Sinne und Egoismus bilden in der Gumilevschen Theorie der Ethnogenese zwei gegensätzliche Pole, die sich gegenüberstehen und das Verhalten der Individuen beeinflussen. In jeder Person ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen unterschiedlich, bei den Passionaren überwiegt dagegen eindeutig die Eigenschaft der “Attraktivität“.

Diese Unterscheidung macht es Gumilev möglich, eine eigene Typologie der handelnden Personen zu entwickeln. Hildegard Ko-chanek hat sie wie folgt vorgestellt: „Die wenigen Menschen, die die Träger passionarer Energien sind, werden ’Passionare’ genannt. Sie zeichnen sich aus durch große Leidenschaftlichkeit, durch Idea-lismus, Opferbereitschaft und Heldenmut. Ethnien entstehen infol-ge eines Ausbruchs passionarer Energien und dem damit regelmä-ßig einhergehenden Auftreten einer begrenzten Anzahl passionarer Individuen, die die natürliche Gabe besitzen, andere Menschen um sich zu scharen, sie für gemeinsame Ideale zu begeistern und zu einer Gemeinschaft zu schmieden, die historisch Großes zu leisten vermag. Von den Passionaren geht auf diese Weise der ’Impuls’ zur Schaffung einer neuen ethnischen Gemeinschaft aus.“255

Die Passionarität selbst verfügt nach Gumilev über eine wich-tige Eigenschaft: Sie ist von einer zur anderen Person übertragbar.

254 Hildegard Kochanek, Die Ethnienlehre Lev N. Gumilevs, in: Osteuropa, 5/1998, S. 1187. 255 Ebd., S. 1187.

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Viele Passionare haben das, was Max Weber Charisma nennt. Nach dem Ausmaß des Charismas lassen sich drei Typen von Menschen unterscheiden: Passionare, Harmoniker und Subpassionare.

Passionare verhalten sich nach dem kategorischen Imperativ: „Die Ehre ist wichtiger als der Tod!“ Sie sind Gründernaturen. Das Motto der Harmoniker lautet: „Jedem das Seine!“. Sie sind dazu berufen, die Struktur der Ethnie zu festigen. Die Subpassionare sind dagegen weniger standfest. Sie verhalten sich nach der Maxi-me: „Ein Fisch sucht das tiefere Wasser und der Mensch, wo man besser lebt!“256 - Eine Ethnie bleibt solange lebensfähig, bis die Passionare in ihrer Führung durch Harmoniker und Subpassionare ersetzt worden sind. Die Subpassionare spielen in der Geschichte eine negative Rolle. Kochanek beschreibt sie so: „Neben den Pas-sionaren gibt es eine weitere Gruppe mutierter Individuen, ’Sub-passionare’ genannt, deren Organismus nur eine äußerst geringe Menge an Energie aufnehmen kann. Die Subpassionare sind äu-ßerst passive, auf Kosten der Gemeinschaft lebende, verantwor-tungsscheue und charakterlose Elemente, die nach Gumilev in jeder ethnischen Gemeinschaft zu finden sind.“257 Sie provozieren Revo-lutionen und andere soziale Kataklysmen. Der wachsende Anteil und der stärkere Einfluss von Subpassionaren führt unweigerlich zum Verlust moralischer Werte und letztendlich zum Tod der Ethnie.

Zur Illustration der Phasen des Prozesses der Ethnogenese hat Gumilev gemeinsam mit K. P. Ivanov eine Skizze entworfen. In ihr ist eine Linie eingezeichnet, welche die Veränderungen der Passio-narität der Ethnien in der Zeit angibt. Auf der Abszissenachse ist der Zeitraum, 60 Generationen, und auf der Ordinatenachse ist die Größe der Passionarität verzeichnet. Die Grafik kann wie folgt in-terpretiert werden: Nach einem passionaren Impuls kommt es zu einer Zunahme der passionaren Spannung des ethnischen Systems, bis hin zu einer maximalen Größenordnung, die eine sogenannte

256 Ausführlich dazu vgl. V. I. Zubov, Osnovy etnologii: Učebnoje posobije po teorii etnogeneza L. N. Gumileva, Moskva 1999, S. 29. 257 Hildegard Kochanek, Die Ethnienlehre Lev N. Gumilevs, in: Osteuropa, 5/1998, S. 1187.

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“Überhitzung“ bewirkt. In dieser Zeit finden in der Ethnie zahlrei-che innere Konflikte und Bürgerkriege statt. In deren Verlauf kommen viele Passionare ums Leben, was eine Abnahme der Pas-sionarität des ethnischen Systems zur Folge hat. Nach ca. 1200 Jah-ren hat das ethnische System seine Passionarität völlig eingebüßt. Die Ethnie bleibt zwar noch einige Zeit existent, weil sie eine eige-ne Dynamik besitzt, obwohl sie ihre Staatlichkeit bereits eingebüßt hat.

Die eingezeichnete Kurve gilt grundsätzlich für alle Supe-rethnien. An der Grafik erkennt man, dass auch die Menge der Su-bethnien von der Größe der Passinarität abhängig ist. Der Höhe-punkt der passionaren Spannung bedeutet, dass es eine Vielzahl von Subethnien gibt und damit eine stark diversifizierte innere Struktur der Superethnie. Der Verlust der passionaren Energien führt zur Vereinfachung der ethnischen Struktur, da viele Su-bethnien sich auflösen bzw. absterben.

In der Grafik sind die sechs Hauptphasen der Ethnogenese in ihrer unterschiedlichen zeitlichen Abfolge eingetragen: die Auf-stiegs-, Gipfel-, Bruch-, Trägheits-, Finsternis- und Degenerations-phase. Die Dauer jeder Phase beträgt ungefähr dreihundert Jahre. Der Übergang von einer Phase zu nächsten ist immer problema-tisch, weil sich dabei zwangsläufig die subethnischen Strukturen verändern. In diesen Momenten ist die Ethnie jedesmal stark ge-schwächt, die äußeren Gefahren sind dann um so größer.

Nach dem “passionaren Impuls“ gerät die Ethnie in einen dy-namischen Zustand. In ihrer Aufstiegsphase nimmt die Anzahl der Passionare ständig zu. In der Gipfelphase erreicht sie ihr Maxi-mum. In der Bruchphase kommt es zu einem zahlenmäßigen Aus-gleich zwischen Passionaren und Subpassionaren. In der Trägheits-phase sinkt die Zahl der Passionare weiter langsam ab. In der Fins-ternisphase herrschen bereits die Subpassionare, die am Ende des Prozesses, in der Degenerationsphase, eindeutig dominieren.

Die Gipfelphase258 ist mit “passionarer Überhitzung“ verbun-

258 Die Aufstiegs- und die Gipfelphase dauern ungefähr 300 Jahre. Die Bruch-phase ist kürzer: 150 bis 200 Jahre lang. Der Rest der Ethnie kann auf eine unbe-stimmt lange Zeit existieren. Der Prozess der Ethnogenese kann in jeder Phase

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den, was einen Überschuß an Passionaren in der Gesellschaft be-deutet. Für die Aufstiegsphase ist die Einordnung des Individuums in ein Kollektiv typisch. Beim Übergang zur Gipfelphase erfolgt normalerweise eine Erweiterung der ethnischen Grenzen. Die Ethnie ist nach außen orientiert. Aber schon in ihr kommt es zu ge-sellschaftlichen Kollisionen. In diesem Zeitabschnitt bereits begin-nen die Subpassionaren eine bemerkenswerte Rolle zu spielen.259 Das gesunkene Passionaritätsniveau in der Bruchphase führt dazu, dass das Leben der Menschen insgesamt ruhiger wird, was eine Blütezeit der Kunst, Wissenschaft und Technik nach sich zieht. Die Bruchphase ist in die Geschichte der Ethnien besonders eindrucks-voll. Die “passionare Spannung“ des Systems sinkt. Es entstehen Kolonien und große Imperien. Es ist dies die Zeitspanne der Re-formen, welche die ganze geschichtliche Periode begleiten.

Die Trägheitsphase nennt Gumilev den “Herbst“ der Ethnien.260 Im Herbst sammelt man Früchte und genießt die Ruhe. Hier gibt es viel Freiheit für Künstler und andere freie Berufe. Es wächst die Rolle der Harmoniker, die ihre eigenen Bedürfnisse be-friedigen und Karriere machen. Die Passionarität des ganzen ethni-schen Systems nimmt langsam ab, bleibt jedoch noch auf einem relativ hohen Niveau. Kriege, religiöse Streitigkeiten und soziale Konflikte werden seltener. Das ist die “Erntezeit“ der Ethnien. Die intensive Akkumulation führt zur Erweiterung des technisch-industriellen Umfelds auf Kosten der natürlichen Ressourcen.

Die Finsternisphase ist durch eine radikale Reduktion der Pas-sionarität des ethnischen Systems gekennzeichnet. Es wächst die Rolle der Subpassionare, die allmählich die Harmoniker verdrän-gen. Das hohe materielle Niveau dieser Epoche lässt günstige Exis-

von inneren oder äußeren Faktoren beeinflusst werden: von ökonomischen Er-schütterungen, dem Angriff von außen oder auch von natürlichen Katastrophen. 259 Nach Gumilevs Meinung spiegelt die jeweilige Kultur das ganze innere Leben der Ethnie wider. Durch die Erforschung der Kultur ließe sich die genaue Phase der Ethnogenese feststellen. Die Kultur ist nach Gumilev die ”versteinerte Passionarität”. 260 Die Interpretation der Ethnogenese ähnelt der spenglerschen Sicht der Weltgeschichte, nach der jede Kultur eine Periode des Frühlings, des Sommers, des Herbstes und des Winters erlebt.

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tenzbedingungen für diesen Typ von Menschen zu, die nicht nur eine egoistische, sondern auch parasitäre Natur haben. Sie kennen nur primitive Bedürfnisse, wie Essen und Trinken. Jede Größe wird von ihnen verurteilt, gute Arbeit wird belächelt, Intelligenz ruft bei ihnen Wut hervor. In der Kunst blüht die Pfuscherei, in der Wis-senschaft herrscht Kompilation, im öffentlichen Leben wird die Korruption zur Norm, in der Armee geben die Soldaten vor den Offizieren den Ton an.

Passionare werden verfolgt und sind oft gezwungen, ins Aus-land zu fliehen. Die Subpassionare verfolgen nicht nur Passionare, sondern auch die fleißigen Harmoniker. Der Prozess des Zerfalles der Ethnie wird irreversibel.261 Überall herrscht eine Konsumpsy-chologie. Die Subpassionare zerstören, stehlen, verbrauchen alles Wertvolle. Das ist die letzte Phase der Ethnogenese, in der die Ethnie das Gedächtnis ihrer eigenen historischen Tradition verliert. Das Ethnie-Relikt, das die Fähigkeit zur Selbstentwicklung und Selbstbehauptung verloren hat, stellt das Ende des Prozesses der Ethnogenese dar.

Diese Schilderung der Theorie der Ethnogenese von Gumilev zeigt, dass er nicht nur von biologischen, sondern auch von psycho-logischen Fakten ausgeht. In ihren Hauptmomenten ist die Gumi-levsche Theorie, besonders was die Phase des Aufstiegs und des Abstiegs betrifft, den anderen hier behandelten zyklischen Konzep-tionen ähnlich. Das gilt vor allem für die Spenglersche Geschichts-philosophie.

Wie die anderen Vertreter der russischen Geschichtsphiloso-phie hat Lev Gumilev viel über die Prozesse des geschichtlichen Niedergangs der Ethnien geschrieben. Außer den Niedergangspha-sen in der Theorie der Ethnogenese hat er noch eine besondere Form des geschichtlichen Untergangs von Ethnien festgestellt: das Entstehen von “Antisystemen“. Sie sind nach seinem Verständnis eine Folge “negativer Weltanschauungen“, d. h. weltfeindlicher Verhaltensstereotypen sozialer Gruppen. Sie sind mit Krebstumo-

261 Die Horrorvisionen Gumilevs über die Degenerationsphase sind mit der Spenglerschen Beschreibung der ”Zivilisation” als der Herrschaft der Massen zu vergleichen.

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ren in einem lebenden Organismus vergleichbar, da sie eine selb-ständige Struktur aufbauen, die der restlichen Gesellschaft feindlich gesinnt ist, sie zersetzt.

Jede Ethnie gelangt in eine Degenerationsphase. In der Auf-stiegphase hat sie eine feste Struktur, aber schon in der Trägheits-phase kann es zu kritischen Situationen kommen, die jedoch durch ihr politisches und staatliches System überwunden werden kann. In der Finsternisphase kulminieren Degenerationserscheinungen, d. h. die Merkmale des moralischen Untergangs der Gesellschaft neh-men unaufhaltsam zu.

Gumilev spricht davon, dass es in der Degenerationsphase zu einer “Bipolarisierung der Ethnosphäre“ kommt. Er meint damit, dass eine Spaltung der Ethnie im Hinblick auf die Einstellung ihrer Mitglieder zu ihrer sozialen und natürlichen Umwelt erfolgt. Be-sonders gefährlich sei dabei das Umsichgreifen der “negativen Weltanschauung“, derzufolge die Welt verworfen wird, weil sie „irrational und nicht einfach und vernünftig“ ist.262 Die negative Weltanschauung führt zur Entstehung von Antisystemen, zur Bil-dung “pseudo-ethnischer Gebilde“ in Gestalt von Orden und Ge-heimbünden, die das Schicksal der Ethnien negativ beeinflussen würden. Die Antisysteme entstehen oft an den Grenzen der Supe-rethnien, wo zwei oder mehrere Superethnien sich überschneiden.

Eine negative Komplimentarität, d. h. wenn zwei Ethnien ein-ander “hassen“, aber gezwungen sind, zusammenzuleben, führt zur Entstehung “Chimären“, d. h. geschlossener Gruppen, die von Wahnvorstellungen beseelt und der Außenwelt gegenüber feindlich eingestellt sind. Bedingung für ihre Verbreitung ist der Rückgang der passionaren Spannung, was beim Übergang von einer Phase in die andere der Fall ist. Dann lösen sich alte Systemverbindungen auf, die Subethnien gehen zugrunde, ohne dass neue nachwachsen. Die Stereotypen des Verhaltens verändern sich. Die ethnischen Kontakte werden gestört, was zur Folge hat, dass die Passionarität des ganzen ethnischen Systems Schaden erleidet. Das sind die Be-dingungen, unter denen Chimären gedeihen.

Ethnien sind mit ihrer natürlichen Umgebung eng verbunden. 262 L. N. Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 39.

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Diese Verbundenheit wird durch Sitten, die Moral und das Gesetz aufrechterhalten, die Verbote und Beschränkungen beinhalten. Dem, diesem Zweck, dient auch die Religion, die das Verhalten des Menschen an Normen bindet. Chimären dagegen schaffen keine Beziehungen zur natürlichen wie zur gesellschaftlichen Umwelt. Sie saugen die Passionarität des ganzen Systems auf, verneinen seine Traditionen, vernichten die moralischen Vorstellungen von dem, was gut und böse, ehrlich und verbrecherisch, schön und hässlich ist.

Antisysteme haben die Lüge zum Prinzip erhoben. Sie ver-neinen innere Beschränkungen und ersetzen sie durch äußerliche Grenzen, Kontrollen und Gewalt. Sie halten eine strenge Disziplin und haben nur eine begrenzte Anzahl von Mitgliedern. Manche Au-toren haben in der kommunistischen Herrschaft in Russland eine Art von Gumilevschem Antisystem erblickt. So hat z. B. Zubov gemeint, dass die kommunistische Nomenklatura von der russi-schen Bevölkerung abgetrennt, ihr fremd gewesen sei, ihre eigene Moral besessen und menschenfeindlichen Prinzipien angehangen habe, die während der kommunistischen Epoche für die gesamte Gesellschaft verbindlich waren und gewaltsam durchgesetzt wor-den seien.263

Obwohl Gumilevs Fachgebiet eigentlich die Geschichte der eurasischen Turkvölker gewesen ist, hat er es nicht vermeiden kön-nen, auch eine Interpretation der russischen Geschichte beizusteu-ern. Seine Theorie der Ethnogenese hat er am Beispiel Russlands zu erläutern versucht. Seiner Meinung nach kann die Geschichte der asiatischen Völker Eurasiens einen Schlüssel zur Erklärung der russischen Geschichte liefern. Er hat damit auf seine Weise einem eurasischen Geschichtsverständnis Vorschub geleistet.

Gumilev ist, wie andere Eurasier auch, den Reformen Peters des Großen gegenüber kritisch eingestellt gewesen.264 Aber er hat Peter den Großen nicht so scharf verurteilt, wie es andere getan ha-ben, da das russische Imperium, dem eine Reihe unterschiedlichster

263 V. I. Zubov, Osnovy etnologii: Učebnoje posobije po teorii etnogeneza L. N. Gumileva, Moskva 1999, S. 86. 264 Ebd., S. 166.

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Ethnien der russischen Superethnie zugewachsen und organisch integriert worden ist, in der nach-petrinischen Periode entstand.

Gumilev hat sich sowohl gegen die Vorstellung gewandt, dass die russische Geschichte aus einer “Reihe von Eroberungen“ beste-he265, wie er sich auch gegen die Übernahme der europäischen Kul-tur ausgesprochen hat. Nach seiner Meinung ist die russische Supe-rethnie 500 Jahre jünger als die europäische. Sie würden allein schon deshalb nicht zusammenpassen, könnten nicht vereint wer-den. Es gäbe zwar vieles in Europa, was Russland von ihm lernen könne, aber was die europäischen Werte betreffe, so könne von ih-rer Übernahme keine Rede sein, weil sich die russische Lebens- und Verhaltensweise von der europäischen grundsätzlich unter-scheide.266

In seinen letzten Arbeiten hat sich Gumilev mehr und mehr mit der russischen Geschichte beschäftigt. Er hat versucht, die ein-zelnen Phasen der Ethnogenese Russlands zu bestimmen und seine nähere Zukunft vorauszusagen. Der Anfang der russischen Supe-rethnie liegt nach Gumilevs Meinung im 15. Jahrhundert. Von die-sem Zeitpunkt an muß man das geschichtliche Alter Russlands messen. Auf Grund seiner Theorie hat er auch die heutige Etappe der russischen Geschichte bestimmt, in der es mit innerer Notwen-digkeit zu einer schweren inneren Krise der russischen Superethnie komme.

Nach Gumilevs Meinung befindet sich Russland heute zwi-schen der Bruch- und der Trägheitsphase. Es hat den Höhepunkt seiner eigenen historischen Entwicklung schon hinter sich. Die Pe-riode der inneren Akkumulation der Kräfte und der äußeren Erwei-terung der Grenzen ist bereits im 19. Jahrhundert abgeschlossen worden. Eine der Hauptcharakteristiken dieser Periode ist die Lö-sung von religiösen Begründung in allen Bereichen des kulturellen Lebens. Es findet nun ein Übergang von der inneren Akkumulation der Kräfte zur ihrer Vergeudung statt.

265 Gegen diese These hat sich bekanntlich seinerzeit auch schon Nikolaj Danilevskij gewandt. 266 Nach Gumilevs Meinung sind gerade die Lebens- und Verhaltensweisen der Kern jeder eigenständigen Superethnie.

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Am Anfang des 19. Jahrhunderts habe für die russische Supe-rethnie die Bruchphase begonnen, die noch immer andauern würde. Nach Gumilevs Schema befindet sich Russland nun am Ende dieser Phase. An ihrem Ende trete eine ganze Reihe negativer Prozesse auf, die im heutigen Russland deutlich zu erkennen seien. Eine da-von ist, wie gesagt, die “Bipolarisierung der russischen Gesell-schaft“, ihre Spaltung. In der Gesellschaft hätten sich zwei Parteien gebildet, die sich permanent bekämpften.267 Dadurch wird die rus-sische Superethnie nach außen hin geschwächt, aber innenpolitisch bietet sich die Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung, weil die Rechte der einzelnen Individuen besser geschützt werden als in früheren Zeiten. Die innere Zerrissenheit könne nicht beseitigt werden, sondern trete in verschiedenen Formen immer wieder in Erscheinung. Die alte Ständestruktur der russischen Gesellschaft sei durch eine moderne Parteienstruktur ersetzt worden.

Zusätzlich zur inneren Spaltung der russischen Ethnie komme es zur Bildung von Organisationen, denen das ethnische Leben der russischen Gesellschaft völlig fremd sei. Solche gesellschaftlichen Gruppierungen hat Gumilev als Antisysteme bezeichnet. Sie wür-den langsam aber sicher das Ende der Ethnie bewirken, obwohl diese noch über viel Kraft verfügen würde und noch einige Jahr-hunderte weiterleben wird.

Der Ursprung der Geschichtsphilosophie von Lev Gumilev ist eng mit den Ideen der Eurasischen Schule verbunden.268 Er wird im heutigen Russland als einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung angesehen.269 Dies hat er selbst auch öffentlich bestätigt:

267 Auf die Zweipoligkeit der russischen Gesellschaft hat schon Danilevskij hingewiesen. Vgl. N. J. Danilevskij, Gore pobeditelam, Moskva 1997. 268 Vgl. S. B. Lavrov, L. N. Gumilev i evrazijstvo, in: L. N. Gumilev, Ritmy Evrazii, Moskva 1993. Vladimir Nerosnak nennt Gumilev den ”letzten Eurasier“ und meint, daß er zu denselben Ergebnissen gekommen sei, wie die Eurasier selbst, obwohl er der Eurasischen Bewegung der 20er und 30er Jahre nicht angehört hat. Vgl. L. N. Gumilev, Zametki poslednego evrazijca, in: Naše nasledije, 3/1991, S. 19. 269 Lavron nennt Gumilev sogar einen ”großen Eurasier“. Vgl. S. B. Lavrov, Zaveščanie velikogo evrazijca, in: Lev Gumilev: Ot Rusi k Rossii: Očerki etniceskoj istorii, Moskva 1992.

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„Mich nennt man einen Eurasier - und ich lehne es nicht ab ...“, hat Gumilev in einem Interview gesagt. „Es war eine mächtige, histori-sche Schule. Ich studierte die Werke dieser Leute aufmerksam und pflegte Kontakte mit ihnen. Als ich in Prag war, habe ich mich mit Pjotr Svickij getroffen ..., und stand mit Georgij Vernadskij im Briefwechsel. Ich bin mit den wichtigsten historischen und metho-dologischen Ideen der Eurasier einverstanden.“270 Gumilev hat nicht nur mit Pjotr Svickij in persönlichem Kontakt gestanden, sondern auch einige Werke der Eurasischen Schule gelesen und sie kommentiert.271

Nach Lev Gumilev ist Eurasien ein riesiger Kontinent für sich, mit einer eigenen Kultur. Er hat sich dazu wie folgt geäußert: „... dieser Kontinent ist in der historisch überschaubaren Periode drei-mal vereinigt worden. Zuerst von Türken, die das Chaganat schu-fen, das sich vom Gelben Meer bis zum Schwarzen Meer erstreck-te. Dann von den Mongolen ... . Schließlich hat Russland nach der Periode des völligen Zerfalls und der Desintegration die Initiative ergriffen. ... Die neue Supermacht hat auf solche Weise gehandelt, als wäre sie die Nachfolgerin des türkischen Chaganats und der mongolischen Ulus. Das Vereinigte Eurasien mit Russland an der Spitze hat als Grenze im Westen das katholische Europa und im Osten das konfuzianische China, im Süden die muslemische Welt.“272 Der Kern der Gumilevschen Eurasien-Konzeption ist eine relativ homogene Steppenlandschaft, das riesige Gebiet zwischen der Ostsee, den Karpaten, dem Schwarzen Meer, der Wüste Gobi und dem Stillen Ozean, das seit Jahrhunderten von einer gemischt russisch-turanischen Bevölkerung besiedelt wird.273

Die eurasische Idee ist bei Gumilev mit der Vorstellung von einer sogenannten “nahrungliefernden Landschaft“ verbunden. 270 L. N. Gumilev, Esli Rossija budet spasena, to tolko čeres Evrazijstvo, in: Načala, 4/1992, S. 6. 271 Zum Beispiel schätzte er sehr die Analyse der russischen Geschichte von Nikolaj Trubezkoj. Vgl. L. N. Gumilev, Sametki poslednego evrazijca, in: Naše nasledije, 3/1991, S. 19 - 26. 272 L. N. Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 234. 273 Vgl. S. B. Lavrov, Zaveščanie velikogo evrazijca, in: Lev Gumilev: Ot Rusi k Rossii: Očerki etničeskoj istorii, Moskva 1992, S. 305.

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„Die Vielfalt der Landschaften Eurasiens hat einen positiven Ein-fluss auf die Ethnogenese der dort lebenden Völker ausgeübt. Jeder wurde in seiner natürlichen Landschaft akzeptiert: Russen besiedel-ten die Flusstäler, Finnen und Ukrainer den übrigen Raum, Türken und Mongolen die Steppenstreifen und Paleo-Asiaten die Tundra. Und bei der großen Vielfalt der geographischen Bedingungen hat sich die Vereinigung für die Völker Eurasiens immer vorteilhafter als die Vereinzelung erwiesen.“274 Die geschichtsphilosophischen Vorstellungen von Gumilev sind in hohem Maße von geographi-schen Determinanten bestimmt, aber sie bilden dennoch ein ge-schlossenes System.275 In diesem spiegelt sich die ganze Komplexi-tät der Wechselbeziehungen von ethnischen und geographischen Faktoren wider.

Was ist für die Eurasier typisch? Otto Böss hat dazu ange-merkt: „Die Eurasier haben ... das geographische Element zur Grundlage aller Gebiete menschlichen Lebens und Zusammenle-bens gemacht und Eurasien als ’Raumentwicklung’ definiert. Auch Europa war für sie ein solcher Raum, desgleichen Amerika und A-sien, nur daß sie sich eben voneinander und von Eurasien grundle-gend unterschieden. Wie die geographische Beschaffenheit Eura-siens ganz bestimmte und einmalige Eigenarten aufweise - führten die Eurasier weiter aus -, so seien auch alle Völker, die im Laufe der Geschichte in diesem Raum gelebt hätten, durch gewisse ein-heitliche Merkmale miteinander verbunden. Sie maßen dem geo-graphischen Milieu schließlich so große Bedeutung bei, dass sie es für unfruchtbar hielten, die Geschichte ohne ihre geographischen Voraussetzungen zu betrachten. Sie hielten eine Synthese für not-wendig, die zugleich das sozial-historische Milieu und das von ihm in Besitz genommene Territorium untersucht.”276

In seinen Arbeiten hat Gumilev oft andere Vertreter der russi-schen Geschichtsphilosophie der Erwähnung für Wert befunden.277 274 Ebd., S. 298. 275 O. A. Sergejeva, L. N. Gumilev i naučnyje tendencii dvacatogo veka, in: Vestnik MGU, Serija 7, 6/1998, S. 73. 276 Otto Böss, Die Lehre der Eurasier, Wiesbaden 1961, S. 32. 277 Die Tatsache, daß in seinen Arbeiten manche Namen von Autoren, denen er selbst viel verdankt, nicht erwähnt worden sind, hat er mit der kommunistischen

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Er spricht in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen Schulen: von der “welthistorischen“ und der “kulturhistorischen“. „Die wichtigsten Vertreter der kulturhistorischen Schule im 19. Jahrhundert waren F. Ratzel, N. J. Danilevskij, und K. Leontjev und im 20. Jahrhundert – O. Spengler und A. Toynbee.“278 Die kul-turhistorische Schule hat nach Meinung Gumilevs ihre Aufmerk-samkeit auf die Vielfalt der Kulturen konzentriert und viel Neues zur Geschichtsinterpretation beigetragen. Sie habe aber keine Theo-rie der Passionarität gekannt und deshalb die historischen Ereignis-se auch nicht richtig interpretieren können. In diesem Sinne sieht er sich selbst als Vollender der kulturhistorischen Geschichtsinterpre-tation.

Die Theorie der Ethnogenese von Lev Gumilev hat Anhänger gefunden, aber wohl noch mehr Kritiker auf den Plan gerufen. Von ihnen ist ihm fehlende wissenschaftliche Kompetenz279, geographi-scher und biologischer Determinismus280, antirussische Tenden-zen281, Antisemitismus282 sowie eine Nähe zum Faschismus283 vor-geworfen worden. Zu diesen Vorwürfen will ich mich an dieser Stelle nicht äußern, da es mir hier in erster Linie um die Darstel-lung seiner Position im Rahmen der russischen Geschichtsphiloso-phie gegangen ist.

Einige Autoren haben sich auch gegen einzelne Äußerungen Gumilevs gewandt, besonders in Bezug auf Nationalitätenfragen, die immer ein sehr heikles, zu scharfen Auseinandersetzungen An-lass gebendes Feld dargestellt haben. So hat z. B. Alexander Turin manche konkreten geschichtlichen Schilderungen Gumilevs als an- Zensur erklärt, die er zu beachten gehabt hat. Vgl.: L. N. Gumilev, “Esli Rossija budet spasena, to tolko čerez evrazijstvo“, in: Načala, 4/1992, S. 15. 278 L. N. Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 150. 279 Vgl. B. A. Rybakov, 0 preodolenii samoobmana, in: Voprosy istorii, 3/1971, S. 153 - 159; A. Kuzmin, Propeller passionarnosti, ili teorija privatizatcii istorii, in: Molodaja Gvardija, 9/1991, S. 256 - 276. 280 Vgl. V. I. Koslov, 0 biologo-geografičeskoj koncepcii etničeskoj istorii, in: Voprosy istorii, 12/1974, S. 72 - 85. 281 Vgl. S. Rusakov, Ot rusofobii k evrazijstvu (Kuda vedet Gumilevščina?), in: Molodaja Gvardija, 3/1993, S. 127 - 143. 282 Vgl. A. Turin, Etika etnogenetiki, in: Neva, 4/1992, S. 223 - 246. 283 Vgl. A. Janov, Učenije Lva Gumileva, in: Svobodnaja mysl, 17/1992.

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tijüdisch angesehen. In der Geschichte der Chasaren, meinte er, werde die Rolle ihrer jüdischen Religion von Gumilev zu unrecht als negativ dargestellt. Im Buch “Alte Rus und große Steppe“ seien die Juden von ihm als „Verräter und Räuber“ hingestellt worden.284 Eine Kritik anderer Art hat S. Rusakov an Gumilev geübt. Seiner Meinung nach hat er die Juden zu positiv beurteilt, weil er sie viel-fach als “Passionare“, die Russen aber nur als “Subpassionare“ ausgegeben habe. Falsch hat er auch die Behauptung Gumilevs ge-funden, dass die Juden „den dritten Platz (nach Russen und Ukrai-nern, V. A.) im russischen Imperium“ eingenommen hätten.285 Er hat ihm nachgerade russophobische Tendenzen vorgeworfen.

V. I. Koslov hat die Theorie Gumilevs vom marxistischen Standpunkt aus analysiert und ist dabei zu folgendem Schluss ge-langt: „Insgesamt sind die Ideen Gumilevs mit dem Historischen Materialismus nicht zu vereinbaren.“286 Der bekannte Historiker B. A. Rybakov hat geglaubt, in Gumilevs Arbeiten über die russische Geschichte viele offenkundige Fehler entdeckt zu haben. Er hat ihm mangelndes Sachwissen auf dem Gebiet der altrussischen Ge-schichte vorgeworfen, die ihn zu „Fehlinterpretationen und fal-schen Schlüssen“ geführt habe.287 Auf diese Art von Kritiken kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, weil sie sich auf Fragen beziehen, die außerhalb meines Themas, der geschichtsphilosophi-schen Visionen Gumilevs, liegen.

In der Geschichtsphilosophie von Lev Gumilev sind die zykli-schen und organischen Züge der russischen Geschichtsphilosophie systematisch weiterentwickelt, konkretisiert worden. Auf Grund seiner Theorie der Ethnogenese hat Gumilev nicht nur den äußeren Rahmen für eine geschichtliche Organisationseinheit, die Supe-rethnie288, geschaffen, sondern auch ihre Lebensdauer in acht ver- 284 A. Turin, Etika etnogenetiki, in: Neva, 4/1992, S. 223. 285 S. Rusakov, Ot rusofobii k evrazijstvu (Kuda vedet Gumilevščina?), in: Molodaja Gvardija, 3/1993, S. 129. 286 V. I. Koslov, 0 biologo-geografičeskoj koncepcii etničeskoj istorii, in: Voprosy istorii, 12/1974, S. 81. 287 B. A. Rybakov, 0 preodolenii samoobmana, in: Voprosy istorii, 3/1971, S. 154. 288 Diesen Begriff hat er u. a. auch für die ”Eurasische Völkerfamilie” verwendet.

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schiedene, auf- und absteigende Perioden eingeteilt. Aber im Ver-gleich zur russischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts geht Gumilev nicht mehr von religiösen Grundlagen der Gesell-schaft aus, wie es z .B. bei den Slawophilen noch der Fall gewesen ist, sondern legt den einzelnen Perioden jeweils andere Verhal-tensweisen zugrunde. Mit seiner, für ihn zentralen Theorie der Pas-sionarität hat Gumilev sich auf ein dem wissenschaftlichen Diskurs schwerlich zugängliches Feld begeben. Das hat aber seinem Ruf als dem möglicherweise interessantesten Sozialwissenschaftler der Eu-rasischen Schule im gegenwärtigen Russland keinen Abbruch ge-tan.

Gumilevs nach dem Umbruch in Russland publizierte Werke haben einen bemerkenswerten Widerhall in der russischen Öffent-lichkeit gefunden. Er hat nicht nur neue Begriffe und Methoden in die Sozialwissenschaften eingebracht und neue Visionen für die Darstellung der Weltgeschichte entwickelt, sondern auch die Eura-sische Schule aufgewertet. Er hat Russlands Weg in die Zukunft, sich von Europa abwendend, eng mit Eurasien verbunden gesehen.

Die Geschichtsphilosophie der Neo-Eurasier

Einer der einflussreichsten neo-eurasischen Autoren im heuti-

gen Russland ist zweifellos inzwischen verstorbene Alexandr Pan-arin (1940-2003)289. Er vertritt eine Position, die im offenen und erklärten Gegensatz zur westlichen Orientierung in der russischen Politik steht. In der aktuellen Diskussion über die geschichtliche Lage Russlands und seine Zukunft290 ist er durch zahlreiche Publi-

289 Panarin war bis zu seinem Tod im Jahre 2003 Professor für Politikwissen-schaft an der Fakultät für Philosophie der Moskauer Lomonossow-Universität und Direktor des Zentrum für soziale und philosophische Studien am Institut für Philosophie der Russländischen Akademie der Wissenschaften. 290 A. S. Panarin hat in jüngster Zeit mehrere Arbeiten publiziert, die in gegenwärtigen Diskussionen eine wichtige Rolle spielen: A. S. Panarin, Revansch istorii: Rossijskaja strategiceskaja iniciativa v XXI veke, Moskva 1998; ders., Rossija v ciklach mirovoj istorii, Moskva 1999; ders., Globalnoje političeskoje prognozirovanije, Moskva 2000; ders,. Pravoslavnaja civilisacija v globalnom mire; Moskva 2003; ders., Strategiceskaja nestabilnost v XX veke,

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kationen zu einem Wortführer der Neo-Eurasier geworden. In seinen Schriften stützt sich Panarin auf bekannte russische

Denker des 19. und 20. Jahrhunderts - auf F. Dostojevskij, N. Dani-levskij, K. Leontjev, N. Trubezkoj - und steht damit in der Traditi-on der russischen Geschichtsphilosophie. Vor allem aber ist das geistige Erbe der Eurasischen Schule für Panarin bedeutsam ge-worden. Er ist einer derjenigen Autoren, der in seinen Überlegun-gen zur heutigen Krise Russlands auf eurasische Ideen zurück-greift, weshalb er neben Lev Gumilev als der wichtigste neuere Vertreter der Neo-Eurasier291 gilt.

In Panarins Werk sind folgende Momente enthalten: 1. Eine Kritik des Westens, insbesondere seines Individualismus und He-donismus292; 2. Eine Kritik der alten kommunistischen und der neuen demokratischen Eliten Russlands293; 3. Eine Kritik der Theo-rie des “gemeinsamen europäischen Hauses“294; 4. Seine Vorstel-lungen über die Geschichte als zyklischen Prozess295; und 5. Sein Beitrag zum geopolitischen Denken der Gegenwart.296 Weil viele dieser Aspekte eng mit der Tradition der russischen Geschichtsphi-losophie verbunden sind, kann man Panarins Position, wie es häu-fig geschehen ist, als ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung be-trachten, wenn daran auch, wie hier zu zeigen sein wird, berechtig- Moskva 2003. 291 Vgl. M. N. Pak / G. A. Jugaj, Neoevrazijskaja konzepcija rossijskoj gosudarstvennosti (filosofskij aspekt), in: Vestnik MGU, seria 7, 3/1996, S. 63; S. N. Puškin, Evrazijskije vzgljady na zivilisaciju, in: Sociologičeskije issledovanija, 12/1999, S. 24 - 33; Annet Jubara, Russlands neue Eurasier, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 163 - 174. 292 Vgl. insbesondere A. S. Panarin, Dželtmeny udači v okeane nevsgod, in: Svobodnaja mysl, 4/1995, S. 16 - 27. 293 Vgl. dazu A. S. Panarin, Jubilej pobedy: Itogi trech mirovych vojn dlja Rossij, in: Vestnik MGU, Serija 12, 2/1995, S. 3 - 15. 294 Vgl. seine Aussagen in: A. S. Panarin, “Vtoraja Evropa“ i “Tretij Rim“, in: Voprosy filosofii, 10/1996, S. 19. 295 Vgl. ebd., S. 20, wo es heißt: „In der Geschichte sind Zyklen jene Zeitfolgen, die objektiv als Investitionsphasen der ‘großen Zyklen’ und subjektiv als Etappen im politischen Lebenslauf eines Volkes auftreten.“ 296 Vgl. vor allem A. S. Panarin, Rossija v Evrazii: Geopolotičeskije vyzovy i civilisacionnyje otvety, in: Voprosy filosofii, 12/1994, S. 21 - 22.

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te Zweifel angebracht sind. Wie es für die Tradition, in der er steht, üblich ist, äußert sich

Panarin kritisch über die moderne europäische Zivilisation sowie über die in ihrem Geiste heute stattfindenden Reformen in Russ-land, in denen er nichts anderes als eine sklavische Kopie des west-lichen “Atlantismus“ erblickt, der die spezifischen, natürlichen und historischen Bedingungen des „originellen Zivilisationsmodell“ nicht berücksichtigt, das für den „eurasischen Kontinent“ geeignet ist.297 Den gesamten Reformprozess qualifiziert Panarin als “Ver-westlichung“ ab. In seinen eigenen Worten hört sich das wie folgt an: „Die Überbleibsel (der Sowjetunion, V.A.) haben sich allesamt auf den Weg der Verwestlichung begeben: Die Aufnahme direkter und unmittelbarer Beziehungen mit dem Westen erweist sich für die einzelnen Völker und Kulturen gewinnbringender als der kol-lektive Schritt in dieselbe Richtung, der im Rahmen eines ge-mischtethnischen Supersystems unternommen werden würde. Der Westen tritt in diesem Koordinatensystem als einziger Stern der ’irdischen Galaxis’ auf, deren Anziehungskraft gemeinhin mächti-ger als die Bindekraft alter ethnischer, konfessioneller und zivilisa-torischer Kräfte ist. Die alten russischen ’Westler’ sahen die globa-len Perspektiven dieses Prozesses genauso, jedoch mit einem we-sentlichen Unterschied. Im Gegensatz zu vielen heutigen, zeitge-nössischen Autoren erwarteten sie nicht, dass die zentrifugalen pro-westlichen Tendenzen sich im russischen Raum, ihn auflösend, auswirken würden, sondern dass dieser seine Einheit und Ganzheit auch im Zuge der weltumspannenden Verwestlichung bewahren würde.“298

Panarin macht keinen Hehl daraus, dass die Politik der Ver-westlichung Russlands seiner Ansicht nach ein Fiasko erleben wird. Als Alternative setzt er sich für eine Orientierung nach Osten,

297 Vgl. A. S. Panarin, Geopolitische Erklärungsmuster: Eine Herausforderung für das ”neue Denken“, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 141. 298 A. S. Panarin, Die Sprache der Eliten und der zivilisatorische Wandel in Eurasien, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), a.a.O., S. 137.

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in Richtung auf den „pazifischen Raum“ ein.299 Er ist der Meinung, dass die neue nationalistische Welle in Russland nichts anderes als eine Reaktion auf die überstürzte Verwestlichung ist: „Der Über-schwang der zivilisatorischen Erwartungen von einer ’neuen Welt-ordnung’ und der Rückkehr ins ’europäische Haus’ hat zunächst die Positionen des links-liberalen, demokratischen Lagers in Russ-land gefestigt. Aber der Wechsel in der Stimmung zugunsten einer geopolitischen Betrachtungsweise hat die Voraussetzungen für eine verstärkte Aktivierung von Kräften geschaffen, die dem rechten politischen Spektrum angehören. ... Wie man sie heute auch nennen mag, es darf nicht ignoriert werden, dass gerade ihnen die Fakten der neuen staatlichen und geopolitischen Lage Russlands in der Welt bewusst geworden sind, während es die demokratischen ’Op-timisten’ vorzogen, diese nicht zu bemerken.“300 Der „zivilisatori-sche Vertrauensvorschuss“, den viele Russen einer Westorientie-rung zunächst eingeräumt hätten, sei, schreibt er, „auf dem besten Wege, durch ein Basis-Misstrauen ersetzt zu werden, auf dessen Grundlage ein starres Verhaltensdilemma formuliert wird: entwe-der aggressiver Angriff oder dumpfe Verteidigung des Isolationis-mus. Anstelle der Philosophie des offenen und einheitlichen Rau-mes - der Garantie partnerschaftlichen Austausches - formiert sich eine Philosophie des geschlossenen oder zerrissenen Raumes.“301

Die Alternative zu den liberalen Reformen in Russland sieht Panarin im “eurasischen Projekt“. In diesem stellt Russland das Zentrum einer eigenständigen Kultur dar. Panarins eigene Vorstel-lungen gehen dahin, dass nicht der „verfaulte Westen“, sondern der „Osten“ selbst in der Lage sei, die „ideologische und politische Konsolidierung“ dieses Raumes zustande zu bringen.302 Das aber

299 Vgl. A. S. Panarin, Rossija v Evrasii: Geopoliticeskije vysovy i civilisacionnyje otvety, in: Voprosy filosofii, 12/1994, S. 30. - Einen ähnlichen Gedanken hatte übrigens auch Pitirim Sorokin, als er den pazifischen Raum als russisches Entwicklungsziel im 21. Jahrhundert bezeichnet hat. Vgl. P. A. Sorokin, Social Philosophies in an Age of Crises, Boston 1951. 300 A. S. Panarin, Geopolitische Erklärungsmuster - Eine Herausforderung für das “neue Denken“, in: Brigitte Heuer 7 Milan Prucha (Hrsg.), a.a.O., S. 149. 301 Ebd., S. 144. 302 In seiner Einstellung der Geopolitik gegenüber ist Panarins Position zweideu-

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wäre „ohne die aktive Rolle Russlands und ohne eine entsprechen-de Stellung Russlands in der neuen Koalition unmöglich.“303

Panarin hat sich teilweise, so etwa im Hinblick auf die Erneu-erungsfähigkeit alter, traditioneller Kulturen, mit der Geschichts-philosophie Arnold Toynbees angefreundet.304 Er benutzt die ge-schichtliche Dialektik von “challenge and response“ zur Erklärung gegenwärtig sich vollziehender politischer Prozesse. Dabei sieht er Parallelen zwischen der Sowjetunion und dem antiken Karthago305, zwischen der modernen und der hellenistischen Welt.306

Sergej Puškin ist zu dem Ergebnis gelangt, dass nur Lev Gu-milev zu den Neo-Eurasiern zu zählen ist. Alle anderen heutigen Vertreter eurasischer Ideen hat er dagegen als “Post-Eurasier“ be-zeichnet, „weil sie die Ideen des klassischen Eurasiertums nicht weiterentwickelt haben, sondern sie vielmehr verneinen.“307 In der Tat, wenn man die Ideen von Nikolaj Trubezkoj als die des ur-sprünglichen Eurasiertums betrachtet, so gibt es zum Beispiel bei Panarin dazu erhebliche Abweichungen.

Eine Abweichung betrifft sein Verhältnis zur orthodox-christlichen Religion. Seiner Ansicht nach ist die „eurasische Iden-tität“ Russlands „die einzige Alternative zum Wahnsinn des the-okratischen Panslawismus.“308 Er sagt dies, obwohl er gewiss weiß,

tig. Einerseits weist er daraufhin, dass mit ihr eine Rückkehr zu den “alten Dä-monen“ des Partikularismus und Nationalismus verbunden ist. Andererseits zö-gert er nicht, selbst ein völlig neues „eurasisch-geopolitisches Paradigma“ zu entwickeln. 303 A. S. Panarin, Rossija v zyklach mirovoj istorii, Moskva 1999, S. 15. 304 In seinen Arbeiten wird der englische Historiker oft zustimmend zitiert, so etwa in: A. S. Panarin, Sabludivšiesja zapadniki i probudišiesja evrazijci, in: Rossija i Vostok: Zivilisacionnyje otnošenija, Moskva 1994, S. 86, 87, 90; und in: ders., Rossija v ziklach mirovoj istorii, Moskva 1999, S. 51, 53. 305 Vgl. A. S. Panarin, Revanš istorii: Rossijskaja strategičeskaja iniciativa v XXI veke, Moskva 1998, S. 197. 306 Ebd., S. 197. - Eine Paralelle zwischen Russland und dem alten Persischen Imperium, die von Oswald Spengler gesehen worden ist, zieht er dagegen nicht. 307 S. N. Puškin, Evrazijskije vzgljady na civilizaciju, in: Sociologišeskije issledovanija, 12/1999, S. 24. 308 A. S. Panarin, “Vtoraja Evropa“ i “Tretij Rim“, in: Voprosy filosofii, 10/1996, S. 19.

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dass für die alten Eurasier die slawophilen Ideen mit der orthodox-christlichen Religion engstens verbunden gewesen sind. In diesem Sinne hat z. B. Paščenko geschrieben: „Die wahre russisch-eurasische Idee ist jene organische Lehre, die sich auf die Orthodo-xie stützt.“309 Er hat auch die enge Verbindung unterstrichen, die seiner Ansicht nach zwischen slawophilen und eurasischen Ideen besteht.310

Im Gegensatz zu den Slawophilen und auch zu den Eurasiern erblickt Panarin nicht im russischen Volk die treibende Kraft der kommenden Geschichte. Als Träger des eurasischen “heartland“ sieht er vielmehr „ein besonderes eurasisches Volk ..., das eher zu Heroismus und Opferbereitschaft bereit ist als die hedonistisch ori-entierten Völker des Westens.“311

Von ihrem Ursprung her haben die alten Eurasier eine vermit-telnde Rolle gespielt. Sie haben sich für einen Kompromiss zwi-schen den gerade in Russland an die Macht gekommenen Kommu-nisten und dem russischen Volk eingesetzt. Darauf haben sie ihre ganze Hoffnung gesetzt, wobei sie sich auf die Seite der untersten Schichten der russischen Gesellschaft, auf die der Bauern und Ar-beiter, geschlagen haben. Das ist nicht die Position von Panarin. Er tritt dagegen als Anwalt einer neuen “Elite“ auf, „die diese Be-zeichnung verdient“ und sich durch ein wichtiges Merkmal aus-zeichnet: „durch die Kunst, große Ziele zu formulieren, und da-durch die Völker in ihren eigenen Augen zu erhöhen.“312 Er strebt nach der „Wiederherstellung des Status Russlands im Rahmen der GUS als eines Trägerlandes der einheitlichen zivilisatorischen Inf-rastruktur.“313

In Panarins Argumentation gibt es zudem eine ganze Reihe von Widersprüchen. Einerseits behauptet er, dass Russland in der Tradition von Byzanz stehe, andererseits kritisiert er ungemein hef-

309 V. J. Paščenko, Ideologija evrazijastva, Moskva 200, S. 99. 310 Ebd., S. 197 - 198. 311 A. S. Panarin, Geopolitische Erklärungsmuster: Eine Herausforderung für das “neue Denken“, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), a.a.O., S. 161. 312 Ebd., S. 162. 313 Ebd., S. 161.

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tig die russische Orthodoxie.314 Er versucht, die moderne Geschich-te aus planetarischer Perspektive objektiv zu betrachten315, spricht aber Russland subjektiv eine besondere, dienende, ja, sich aufop-fernde Mission zu.316 Im übrigen zeichnet das Werk von Panarin ein vehementer moralischer Rigorismus aus, was ihn von anderen Slawophilen und Eurasiern sichtlich unterscheidet. Er verurteilt die westliche Zivilisation im wesentlichen aus moralischen Gründen, kritisiert die russische Reformpolitik vor allem aufgrund der mora-lischen Verfehlungen ihrer Initiatoren.317 Sein politisches Credo gipfelt in einem Aufruf zur moralischen Askese.318

Wie man sieht, Panarins Geschichtsvisionen wurden nicht nur von der Vertreter der klassischen russischen Geschichtsphilosophen beeinflusst, sondern auch sehr stark von Ideen Arnold Toynbees. Als hervorragende politische Publizist, konnte er nicht in die Tiefe von geschichtstheoretischen Fragestellungen eingehen, und deshalb begnügte sich er mit der Toynbees Theorie, die eine der einfachste Version von der partikularistische Philosophie der Geschichte dar-stellt319.

Mehr noch: von Alexandr Panarin sind wichtige Bestandteile der russischen Geschichtsphilosophie aufgegeben worden. Seine intellektuelle Faszination bezieht er vor allem aus dem Umstand, dass seine Ideen scheinbar im Einklang mit alten russischen Tradi-

314 Es fällt schwer, jemand wissenschaftlich ernstzunehmen, der die slawischen und orthodoxen Bestandteile der russischen Kultur so pauschal verneint, wie Panarin das tut. Vom „alten russischen Slawentum“ heißt es bei ihm, daß es sich dabei um die „Projektion der deutschen Romantik auf den russischen Kulturboden“ handeln würde. Vgl. A. S. Panarin, Die Sprache der Eliten und der zivilisatorische Wandel in Eurasien, in: Brigitte Heuer / Milan Perucha (Hrsg.), a.a.O., S. 141. 315 Vgl. A. S. Panarin, Globalnoje političeskoje prognozirovanije, Moskva 2000. 316 In dieser Beziehung ähnelt er offensichtlich Vladimir Solovjev. 317 Vgl. A. S. Panarin, Revanš istorii: Rossijskaja strategičeskaja iniciativa v XXI veke, Moskva 1998, S. 211. 318 Vgl. A. S. Panarin, Geopolitische Erkärungsmuster: Eine Herausforderung für das “Neue Denken“, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hrsg.), a.a.O., S. 148. 319 Hier kann man ein Vergleich zwischen Samuel Huntington und Alexander Panarin ziehen. Die beide waren von Toynbees Ideen beeinflusst, beide waren Patrioten und viel über die heutigen globalen Politik geschrieben.

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tionen stehen: mit dem slawophilen Stolz auf die eigene Kultur, mit der eurasischen Rückbesinnung auf vorpetrinische Zeiten, als Russ-land, abgetrennt von Europa, politisch ein Eigenleben führte, und mit der ständigen Angst vor einem aggressiven und imperialisti-schen Westen. Was aber Panarin als Vertreter des Post-Eurasiertums wiederum mit der slawophilen Geschichtsphilosophie verbindet, ist seine optimistische Einschätzung der Zukunft Russ-lands und seine pessimistische Sicht der Zukunft Europas.

Der anderer moderne Vertreter des Post-Eurasiertums im heu-tigen Russland ist Alexander Dugin (1962)320, der seit 2009 als Pro-fessor an der Moskauer Lomonossow Universität tätig ist. Seine aktive publizistische und politische Tätigkeit führte ihn zur Grün-dung im Jahre 2002 seine eigenen politischen Partei - „Eurasien“, derer Plattform vor allem durch die Untestuzung der Politik von Wladimir Putin gekennzeichnet worden ist.

Alexander Dugin war derjeniger, der für die Förderung der I-deen der eurasischen Philosophie sehr viel getan hat. Er war einer der Herausgeber der klassischen eurasischen Texte und schrieb zahlreiche Kommentare zur eurasischen Nachlass. Aber er hat ver-sucht diesen Kenntnisse vor allem für seine politischen Zwecke in-strumentalisieren, war dazu führte, dass alles, was von eurasischen Ideen in seinen politischen Programm nicht passte, hat er letztend-lich aufgegeben. So war es zum Beispiel mit der Orthodoxie als die Hauptideologie für Russland. Im Sinne der neuen Verfassung von Jahre 1993 meint Alexander Dugin, dass heute alle „traditionellen“ Glauben in Russland, d. h. nicht nur Orthodoxie, sondern auch Is-lam und Judentum gleichberechtigte Religoen sein sollten. Beson-dere Vorliebe hat für Islam321.

Es gibt in seine Lehre auch einige Widerspruche, wie zum Beispiel siet er sich in Geopolitik als der überzeugender Vertreter 320 Die wissenschaftliche Anerkennung von Alexander Dugin war relativ spät, als er in Moskau schon bekannten Publizist war und sein Buch „Grundlagen der Geopolitik“ (1997) zum Bestseller wurde. Der wissenschaftliche Grad eines Kandidaten der Wissenschaften wurde ihm von einer Hochschule in Rostov ver-liehen. 321 Er selber praktiziert die altrussische christliche Glaube, die seit Peter der Grossen in Russland verboten war.

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der Kontinentalismus und gleichzeitig schlägt für die rusische Au-ßenpolitik die Achse „Berlin – Moskau – Tokio“ vor, obwohl Japan offensichtig zum maritimen Staaten gehört.

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VI. Das russische Selbstverständnis am Anfang des 21. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert ist in Russland eine liberale Partei entstan-

den, die zwei großen Pole hatte: die traditionalistisch-monarchistisch-nationalistische und die revolutionär-republikanisch-kosmopolitische. Die Vertreter der beiden Richtun-gen haben sich oft mit dem Thema Europa auseinandergesetzt. Die Westler waren von der modernen europäischen Entwicklung, die Slawophilen von der alten europäischen Kultur begeistert. Der kosmopolitische Flügel der russischen liberalen Partei (Westler) war davon überzeugt, dass die modernen europäischen Werte in Russland herrschen müssen. Der nationalistische Flügel (die Sla-wophilen) vertrat die Meinung, dass Russland an seinen eigenen Traditionen und Werten festhalten müsse.

In der wissenschaftlichen Literatur wird normalerweise von der Annahme ausgegangen, dass die Slawophilen und Westler zwei Parteien des 19. Jahrhunderts darstellen. Dagegen gibt die „Einpar-teiinterpretation“ eine neue Sicht auf die Geschehnisse der russi-schen Geschichte. So, zum Beispiel, wird deutlich, dass die beiden Parteien im Grunde genommen in der Opposition zur Politik des damaligen Russischen Reiches standen und für Reformen eintraten. Tatsache ist, dass die Wortführer der beiden Parteien von der zaris-tischen Regierung auf verschiedene Weise verfolgt wurden.

In der bisherigen Literatur werden die Gegensätze zwischen Westlern und Slawophilen betont, die Gemeinsamkeiten werden jedoch dabei außer Acht gelassen. Diese sind aber wichtig, weil sie zeigen, dass es sich um zwei Flügel einer Partei handelt. Sowohl die Westler als auch die Slawophilen waren im Grunde genommen liberal: antistaatlich, antikirchlich, individualistisch. Für beide wa-ren der alte Dynastiestaat und die orthodoxe Kirche Hindernisse auf dem Wege zu Fortschritt und allgemeinmenschlicher Zivilisati-on. Ein Liberaler will immer unabhängig sein. Er versucht sich von Natur unabhängig zu machen, was Freiheit und neue Entwick-lungsmöglichkeiten verspricht. Man ist der jahrhundertealten Tra-dition überdrüssig. Staat, Kirche und Gemeinde ("Mir") waren die

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Existenzgrundlagen der alten russischen Gesellschaft. Diese drei Elemente des sozialen Lebens fangen im 19. Jahrhundert an sich auflösen. Die liberale Partei, die man auch Stadt-Partei nennen könnte, besteht aus verschiedenen Gruppierungen mit unterschied-lichen Interessen. Sie bleibt immer uneinig, weil das rationale Ele-ment in ihrer Weltanschauung dominiert.

Der Sieg des Rationalismus bedeutete die Schwächung des Glaubens und das Entstehen der russischen Philosophie. Meiner Ansicht nach ist die philosophische Kultur in Russland dem Libera-lismus zu verdanken. Die alte Weisheit, dass „Gefühle vereinigen und Verstand trennt“, schlagen sich hier innerhalb der russischen liberalen Partei in Form ständiger Debatten und Kontroversen nie-der. Deshalb dieser ewige innere Kampf. Aber was das Schicksal des russischen Staats und der Kirche betrifft, waren sich alle russi-schen Liberalen mehr oder weniger einig. Nach liberaler Auffas-sung soll die Kirche, wenn auch nicht ganz verschwinden, so doch bis auf ihre moralische Lehre reduziert werden. Der Staat soll nicht mehr absolutistisch, sondern republikanisch sein und vor allem den Interessen der unteren Schichten der Gesellschaft dienen. Dafür hat sich das Modell des Nationalstaates (Nation) als gut geeignet er-wiesen. Die Quelle des Liberalismus für Russland lag zweifellos im damaligen Europa. Die Ideen der französischen und deutschen Phi-losophie haben die obere Schicht der russischen Gesellschaft beein-flusst und die Notwendigkeit sozialer Reformen ins Leben gerufen. Seitdem hat in Russland die Problematik der sozialen Entwicklung an Bedeutung gewonnen, sie ist ein wichtiges Element der neuen Epoche der permanenten Reformen.

Die Revolution von 1848 in Europa war trotz ihres Scheiterns ein Sieg des russischen Liberalismus, denn der Zar führte von sich aus große Reformen durch, die die Liberalen immer schon gefor-dert hatten, z. B. die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft. Die Reformen führten aber dazu, dass sich in den russischen Städ-ten die Bevölkerungsstruktur veränderte. Es entstand ein neues Bürgertum und die Arbeiterklasse.

Die neue Generation von russischen Liberalen war jedoch noch schärfer zersplittert. Die Neoslawophilen wollten jetzt die alte

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Formen von Kirche und Staat erhalten, die Neowestler lehnten bei-des völlig ab. In der Mitte des 19. Jahrhunderts formiert sich in Russland eine neue Bürgerschicht. So lange die Vertreter der libe-ralen Partei Adlige waren (Dekabristen), blieb die Lage noch rela-tiv stabil. Mit Entstehung des neuen Bürgertums in den Städten wurde die Situation kritischer. Am Ende des 19. Jahrhunderts ver-suchten die Neoslawophilen (Monarchisten) sich von der liberalen Tradition zu befreien und auf die byzantinische Tradition als wich-tigste Quelle des russischen Staates aufmerksam zu machen. Die Neowestler (Marxisten) haben sich zu radikalen revolutionären Kräften umgewandelt und sich als Ziel die Zerstörung der Monar-chie gesetzt. Die Auseinandersetzung fand ihr Ende im blutigen Bürgerkrieg nach der Revolution von 1917.

Die Besonderheit der Geschichte Russlands besteht darum, dass die russische Nation die einzige ist, die zwischen den anderen Nationen des slawischen Kulturkreises ihre Freiheit bewahren kön-nen und deshalb über die Flächigkeit verfügt, die anderen slawi-schen Nationen politisch zu führen. Der slawische Kulturkreis be-steht aus verschiedenen Nationen, die in der Vergangenheit ihre Unabhängigkeit teilweise verloren haben und deshalb heute nicht imstande sind, sich die politische Unabhängigkeit zu verschaffen. Die Auflösung des Russischen Reiches am Anfang des 19. Jahr-hunderts vollzieht sich in der modernen Geschichte. Teile des alten Russischen Reiches werden zu modernen Nationalstaaten umge-wandelt.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das russische Kaiserreich seine größte Ausdehnung erreicht: Es erstreckte sich vom Baltikum bis nach Alaska, vom Nordmeer bis zu den Grenzen der Türkei, Persiens und Chinas. Es war einer der größten Staaten der Weltgeschichte. Die Beteiligung Russlands im Krieg gegen Napoleon hatte zum Einmarsch russischer Truppen in Paris geführt. Durch diesen Vorstoß ins Herz Europas hatte sich die Kenntnis der russischen Eliten über Europa vermehrt und verbreitert. Die Offi-ziere, die damals meistens Adlige waren, brachten neue, westliche Gedanken mit nach Hause. Die revolutionären europäischen Ideen waren für die damalige russische Gesellschaft Anklage und Provo-

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kation zugleich. Zu dieser Zeit entstanden jene gesellschaftlichen Protestbewegungen, die sich zuerst im Jahre 1825 zeigten und da-nach immer wieder erneut ernsthafte Krisen des Staates ausgelöst haben. Sie sind der Anlass für gesellschaftlich erzwungene bzw. von der jeweiligen Staatsmacht initiierte Reformen oder auch Re-volutionen gewesen.

Die größte geographische Ausbreitung Russlands fand zeit-gleich mit einer Krise der alten europäischen Ordnung statt. Die Revolution von 1848 in Europa hatte weltgeschichtliche Bedeu-tung, weil sie die traditionelle politische Ordnung in ganz Europa erschütterte. Sie zeigte die scharfen sozialen Gegensätze in der eu-ropäischen Gesellschaft und offenbarte die Unfähigkeit der alten Regime, ihre Macht zu erhalten. Trotz der Niederlage der revoluti-onären Bewegungen wurden die Grundlagen der „alten“ dynasti-schen Ordnung Europas in Frage gestellt.

Im 19. Jahrhundert war Russland ein integraler Bestandteil der europäischen Ordnung. Die großen Ereignisse der europäischen Geschichte waren gleichzeitig wichtige Ereignisse der russischen Geschichte. Das riesige konservative Potential Russlands hatte den Sieg der Reaktion zumindest in den zentraleuropäischen Staaten unterstützt. Russland spielte damals somit die Rolle eines „ge-schichtlichen Dämpfers“, der den Verlauf der Revolution in Europa verlangsamte. Die Revolution bot für Russland eine Chance, sich nach den Koalitionskriegen in die europäischen Angelegenheiten aktiv einzumischen. Dies führte einerseits zur Angst vor Russland aufgrund der Verbesserung seiner strategischen Lage und seiner Transformation zu einer selbständigen politischen Großmacht. An-derseits zeigten sich im Laufe der Zeit deutlich die inneren Proble-me der russischen Gesellschaft. Die Zersplitterung der russischen Gesellschaft destabilisierte das Imperium. Bereits in dieser Zeit setzte der Prozess seiner Auflösung ein, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Die Schwächung der inneren politischen Kräfte des Imperiums führte aber zur Aktivierung des geistigen und intel-lektuellen Lebens in Russland.

Für das Verständnis der russischen Geschichte ist es wichtig zu wissen, dass die staatliche Periode (Nikolaj Danilevskij) in

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Russland abgeschlossen ist322. Das Imperium war der Höhepunk der politischen Entwicklung in Russland. Es hat die politischen Rahmen geschaffen, in denen heute die historische Entwicklung nach innen geht, d.h. in Richtung Demokratisierung und Schaffung neuer Nationalstaaten. Schon Pjotr Caadajev war davon überzeugt, dass die politische Ausdehnung des Imperiums nicht mehr die höchste Priorität habe, sondern die aktive Teilnahme Russlands an der Weltkultur323.

Geschichtlich gesehen bedeutet „Russland“ zuerst Russisches Reich, heute Russische Föderation - ein Nationalstaat, der ein ganz anderer Staat als das Russische Reich im 19. Jahrhundert ist. Die Sowjetperiode der russischen Geschichte lässt sich als ein Über-gang vom alten Russischen Imperium zur Epoche von National-staaten verstehen. Die neuen Nationalstaaten (Polen, Finnland, nach 1991 die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken) sind auf dem Boden des alten Russischen Imperiums entstanden. Sie bilden ei-nen selbständigen Kulturkreis. Für den Kulturkreis ist folgende ethnische Struktur typisch: die Slawen mischen sich mit der Urbe-völkerung (Finnen und Turanier), wie es in Europa Germanen und Kelten getan haben.

Sprache und nicht mehr Religion wird als Hauptverbindungs-glied der Gemeinschaft angesehen. Die Nationen-Problematik ist im Raum der ehemaligen Sowjetunion heute sehr aktuell, weil die Prozesse der Nationenbildung noch nicht abgeschlossen sind. Die Sowjetunion kann als Übergangsform zwischen dem alten Imperi-um und den modernen Nationalstaaten betrachtet werden. Die Auf-lösung des Russischen Reiches und das Entstehen von neuen Nati-onalstaaten ist ein und derselbe Prozess. An die Stelle eines alten imperialen Staates tritt eine Konföderation von neuen unabhängi-gen Nationalstaaten. Die Konföderation war zuerst stark zentralis-tisch (Sowjetunion), jetzt ist die Verbindung lockerer geworden (GUS). Dieser Prozess vollzieht sich in ständigen Reformen. Seit der Bauernreform bis zu Gorbatschows Perestrojka ist das Para-digma des politischen Handelns dasselbe geblieben. 322 Nikolaj Danilevskij, Rossija i Evropa, St. Peterburg 1998, S. 384. 323 Pjotr Caadajev, Apologie eines Wahnsinnigen, Leipzig 1992, S. 87.

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Russland und Europa Im 19. Jahrhundert hat man von Russland und Europa324 ge-

sprochen, im 21. Jahrhundert spricht man von Russland und dem Westen325. Es ist zu bemerken, dass sich der Europa-Begriff verän-dert hat. Europa wird nicht mehr als eigenständige politische Größe definiert, sondern nur als Teilstück der westlichen Zivilisation. Das drückt sich in den wiederholten Bekenntnissen europäischer Politi-ker zur transatlantischen Solidarität immer wieder deutlich aus. Auch der Russland-Begriff hat sich verändert: Im 19. Jahrhundert ist es das Russische Reich, am Ende des 20. Jahrhunderts die Rus-sische Föderation.

Diese Tatsachen gilt es beim wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe Europa und Russland zu berücksichtigen. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, beginne ich mit der Definition dieser Begriffe. Sie kann nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen: geografischen, ethnischen, religiösen oder kulturellen. Für meine Analyse sind die politischen Strukturen von zentraler Bedeutung. Mit Europa meine ich vor allem die politische Struktur der westeu-ropäischen Staaten326. Russland ist für mich die politische Struktur

324 Vgl.: Carr, E., Russia and Europe as a Theme of Russian History, London 1956; Ivan Kirejevski, Russland und Europa, Stuttgart 1948; Tomas Masaryk, Russland und Europa, Jena 1913; Alexander von Schelting, Russland und Europa im europäischen Geschichtsdenken, Bern 1948; Nikolaj Danilevskij, Rossija i Evropa, St. Petersburg 1889; Arnold Jaggi, Russland und Europa in Geschichte und Gegenwart, Bern 1951; Wolfgang Geier, Russland und Europa: Skizzen zu einem schwierigen Verhältnis, Wiesbaden 1996. 325 Vgl.: Reinhard C. Meier-Walser /Tanja Wagensohn (Hrsg.), Russland und der Westen, München 1999; Cristoph Royen, Der Westen und Russland - Leh-ren aus der Krise, in: Osteuropa 1/1999, S. 79-88; Alexander von Schelting, Russland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1989; Manfred Huterer / Claus Krumrei, Russland und der Westen: Eine schwierige Integrationsaufgabe, in: Internationale Politik 10/2001, S. 27-34. 326 So siehe auch Assen Ignatow: „ Wenn weiterhin die Rede von Europa ist, wird man darunter in der Regel „Westeuropa“ verstehen, worauf die Russen den Begriff „Europa“ reduzieren. (Assen Ignatow, Das russische Europa-Bild heute:

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des Staatgebildes, das sich nach der Auflösung des Russischen Rei-ches ergeben hat und heute mit den GUS-Staaten fast identisch ist.

Hier wird die geschichtliche Dynamik des politischen Systems Europa mit der des politischen Systems Russland verglichen. Der Vergleich zeigt, dass sich beide politischen Systeme in einem un-terschiedlichen Stadium der historischen Entwicklung befinden, was die Übertragung politischer Normen von einem System auf das andere wesentlich erschwert.

Das politische System Europas ist im Laufe von Jahrhunderten zustande gekommen. Den Rahmen dafür hat das Imperium Karls des Großen geschaffen. In den darauf folgenden Jahrhunderten ha-ben sich Europas Grenzen nur unwesentlich verschoben. Die Ent-wicklung erfolgte in Richtung Absonderung. Es bildeten sich ein-zelne Nationalstaaten. In der Herauskristallisierung des europäi-schen Gleichgewichts hat dieses System seinen Höhepunkt gefun-den. Fünf damals ungefähr gleiche Staaten waren sich einig in der Sorge, keiner der Staaten eine Vorherrschaft erlangen zu lassen. Falls ein Staat wegen einer günstigen Konstellation zur Hegemonie strebte, bildeten die anderen Staaten Koalitionen, um die alte Machtbalance wiederherzustellen.

Im 19. Jahrhundert kam dieses System in eine Krise. Sie wür-de durch den Vorherrschaftsanspruch Frankreichs ausgelöst, und nur mit Hilfe von außen (durch Russland) konnte das alte System wieder hergestellt werden. Dasselbe wiederholte sich im 20. Jahr-hundert mit dem Hegemoniestreben Deutschlands. Noch einmal müssen sich äußere Mächte (USA und Russland) einmischen, um in Europa ein Gleichgewicht zu schaffen. Nach dem Zweiten Welt-krieg spielten die USA eine führende Rolle in der europäischen Po-litik und damit begann der Prozess der europäischen Einigung, der nicht anderes ist als die langsame Auflösung der alten Nationalstaa-ten und die Herausbildung von europäischen politischen Struktu-ren. Heute hat Westeuropa für sich eine dynamische politische Form der EU gefunden. Dynamisch heißt, dass die Form sich stän-dig verändert und in einem Prozess der Erweiterung befindet. Ambivalenzen der politischen und kulturellen Perzeption, in: Berichte des BIOst 48/1997, S. 5).

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So kann man sehen, dass die politische Struktur Europas drei Etappen durchgelaufen hat: Imperium, Gleichgewicht der National-staaten und die EU. Die politische Struktur Europas hat sich all-mählich geformt und ist im Laufe der Zeit deutlich hervorgetreten. Diese Dynamik der geschichtlichen Entwicklung muss man im Au-ge behalten, wenn man die modernen politischen Konstellationen verstehen will.

Vergleicht man die Entwicklung der politischen Struktur Eu-ropas und Russlands, sieht man deutliche Unterschiede: Europa ei-nigt sich, aber Russland teilt sich. Das russische Reich von Peter dem Großen hatte sich gewaltig ausgebreitet. Seit dieser Zeit erlebt Russland eine Epoche der Teilung, die bis heute nicht abgeschlos-sen ist. Die Sowjetunion stellt dabei nur eine Übergangsform dar, die sowohl einige Elemente vom alten Reich übernommen als auch neue nationale Prinzipien in das politische Leben Russlands einge-führt hat.

Der Unterschied in der Dynamik der politischen Strukturen Europas und Russlands wird besonders deutlich, wenn man die 15 Republiken der SU und die 15 Staaten der EU vergleicht. Die Re-publiken haben sich zu unabhängigen Staaten entwickelt, die EU-Staaten bauen langsam ihre Unabhängigkeit ab, bis hin zur Abgabe von politischen Kompetenzen nach Brüssel, die früher unabdingba-ren Elemente ihrer staatliche Souveränität waren. Es bestätigt die These, dass Europa und Russland zwei unabhängige politische Sys-teme bilden, die eine unterschiedliche historische Dynamik haben.

Trotz der offensichtlichen Tatsache gibt es sowohl in Russland als auch in Europa Theoretiker, die behaupten, dass EU und RF ein einheitliches politisches System bilden können, das Gesamt- oder Groß-Europa heißen soll. Besonders viel davon kann man im heu-tigen Russland hören, wo seit der Perestrojka-Zeit vom Aufbau ei-nes „Gesamteuropäischen Hauses“ die Rede ist. Die Idee hat nicht nur bei den prominenten Wissenschaftlern der Gorbatschow-Stiftung327 ihren festen Platz gefunden, sondern auch bei solch be-kannten Experten für die Beziehungen zwischen der EU und Russ- 327 Vgl. Michail Gorbatschov, Evropa v XXI veke, in: Sovremennaja Evropa 1/2002, S. 1-16.

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land vom Europa-Institut der russischen Akademie der Wissen-schaften wie Jurij Borko328 und Igor Maximitschew. Nach diesem Standpunkt kann und soll die RF in die modernen politischen Strukturen Europas (EU) eingegliedert werden.

Die Neo-Eurasier, die momentan die Opposition der demokra-tischen politischen Kräfte in Moskau bilden, argumentieren dage-gen. Hier könnte man als Wortführer Alexander Panarin329 und A-lexander Dugin330 nennen. Assen Ignatow beschreibt die Position von Alexander Panarin folgenderweise: „Die Anhänger der Euro-päisierung übersehen, dass Russland kein ethnischer „Staat der Russen“ ist, sondern eine „besondere Zivilisation“... „Hier steckt das wahre Paradox der Geschichte. Diejenigen, die kategorisch auf dem Eintritt Russlands in Europa beharren und den Weg nach Eu-ropa predigen, müssen wissen, dass Russland nicht als zweitrangi-ges, abhängiges und Europa nachahmendes Land dahin gehen kann“.“331

Im Westen ist der andere Standpunkt mehr verbreitet. Nämlich die Idee, dass Russland - aus welchen Gründen auch immer - den Rahmen der EU sprengen würde. Diese Meinung vertritt zum Bei-spiel Manfred Peter332. Er geht davon aus, dass Europa und Russ-land zwei unabhängige politische Gebilde sind, die nur Kontakte auf bilateraler Ebene haben können, und zwar auf mehr oder weni-ger gleichem Niveau. Viele europäische Autoren betrachten die Problematik leider mit der schlecht verdeckten Hoffnung Russland dabei als minderwertigen Partner zu sehen, und die Argumente da-für suchen sie in den politischen und wirtschaftlichen Umständen des heutigen Russlands. Dieser Wunsch verbirgt sich zum Beispiel in der Formulierung „Russland an die EU einzubinden“.333

328 Jurij Borko, Kommt es zur Partnerschaft? In: Jurij Borko / Heinz Timmer-mann, Russland und die Europäische Union - Eine widersprüchliche Zwischenbi-lanz, Berichte des BIOst 3/1999, S. 14. 329 Alexandr Panarin, Rossija v ciklah mirovoj istorii, Moskva 1999. 330 Alexander Dugin, Osnovy Geopolitiki, Moskva 2001. 331Assen Ignatow, Das russische Europa-Bild heute: Ambivalenzen der politi-schen und kulturellen Perception, in: Berichte des BIOst 48/1997, S.14. 332 Vgl. Manfred Peter, Russland Platzt in Europa, Berlin 2001. 333 Vgl. Heinz Timmermann, Strategische Partnerschaft: Wie kann die EU Russland

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Eine Zwischenposition hat der Leiter der Russlandsabteilung der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin Heinz Timmer-mann. Er spricht über den Beitritt Russlands zur EU in sehr langer Perspektive: „Hochrangige russische Politiker, auch Jelzin, haben wiederholt die Frage nach einer EU-Vollmitgliedschaft aufgewor-fen. Da eine solche Perspektive auf absehbare Zeit irreal scheint, empfiehlt es sich aus politisch-psychologischen Gründen, wenigs-tens ein Verhältnis sui generis in Aussicht zu stellen...“ 334

Eine extreme Position in der Frage des politischen Verhältnis-ses zwischen EU und Russland hat Helmut Wagner. Er vertritt die Meinung, dass die Russische Föderation reale hat Chancen hat EU-Vollmitglied zu sein. Um nach Europa zu kommen, muss sie den europäischen Normen entsprechen335, was nicht den Verlust eige-ner russischer Mentalität bedeute, denn die EU garantiere den Schutz der nationalen Mentalität für alle ihre Nationen. Das sei der einzige vernünftige Ausweg, sonst werde Russland „verraten und verkauft“. Russland stehe vor der Wahl, entweder mit China oder mit Europa ein politisches Bündnis einzugehen, aber nach „seinen eigenen Interessen“ bleibe eigentlich nur die EU-Alternative. Nach Wagners Meinung soll Russland dabei aus dem „GUS-Projekt“ aussteigen und in die EU kommen: „Only such a change of the Russian policy, away from the CIS and closer to the European Uni-on, would create the necessary basis for realistic considerations to move from the Partnership and Cooperation Agreement towards a confederation agreement.“336 Dieser Vertrag könnte als Zwischen-stufe für die volle EU-Mitgliedschaft angesehen werden.

Dabei sieht Helmut Wagner keinen entscheidenden Grund,

stärker einbinden?, in: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell, 12 April 2002, S. 1-12. 334 Heinz Timmermann, Impulse, Rückschläge und Chancen für eine Partner-schaft, in: Jurij Borko / Heinz Timmermann, Russland und die Europäische Uni-on - Eine widersprüchliche Zwischenbilanz, Berichte des BIOst 3/1999, S. 21. 335 Vor allem bedeutet es den Abschied von “alter imperialer Mentalität”. 336 Helmut Wagner, The Changing Relationship between Europe and Russia from the perspective of the whole Europe, in: Andreas-Renatus Hartmann, Jörg-Dieter Nachmyer (Ed.), The Future of Russia and it´s Relations with the Euro-pean Union and the Baltic States, Tartu 2000, 119 p.

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warum Russland nicht in einen föderal organisierten europäischen Staatenverbund aller europäischen Nationen passen sollte. Nach seiner Meinung bringt dies ganz neue Möglichkeiten in der politi-schen Gestaltung des europäischen Kontinents mit sich und eröff-net den Weg zum „Vereinten Europa“ ohne Grenzen: „The centers of Russia – Moscow, St. Petersburg, Ekaterinburg, Vladivostok and Kalliningrad/Königsberg – would once again be European centers, without losing their specific Russian nature. This would be benefit as a whole. In a united Europe, for Russia, Helsinki, Tallinn, Riga, Vilnus, Warsaw, Kiev, Odessa or Chisinau would no longer be the „near-abroad“ und Berlin, Prague, Vienna, Paris, London and Mad-rid would not stand for „far-abroad“. It would be „inland“ and nothing else. Russia would live under the protective European umbrella. It would have equal rights und duties like the other, and it would use the same currency. There would be no need Russia to conquer Kiev and the Holy Mountain of Athos. Even Constantino-pel/Istambul would belong to the state community as Russia. The anciunt Russia dreams could, or certainly would come true, without blood, only if Russia wants to.”337

In Deutschland und den anderen EU-Ländern wird Russland nach wie vor als europäische Peripherie betrachtet, das deshalb in Europa keine wichtige Rolle spielen kann. So Gerhard Simon: „Die Randlage (Russlands - V. A.) und die kulturelle Anbindung an das griechische Byzanz sind die Gründe dafür, dass wesentliche Ent-wicklungen und Institutionen des mittelalterlichen Europa sich in Russland nicht entfalten können.“338 „Russland bleibt deshalb auf absehbare Zeit eine Kultur am Rande Europas“339 Gerhard Simon ist der Meinung, dass Russland selbst daran Schuld hat, weil es sich nicht in die westlichen Welt integrieren wolle.340

Viele deutsche Autoren, die dieselbe Meinung vertreten, beto-nen die Besonderheiten Russlands und der russische Kultur341. Karl 337 Ibid., 123 p. 338 Gerhard Simon, Russland und die Grenzen Europas, in: Osteuropa 11-12/1999, S. 1095. 339 Ibid., S. 1107. 340 Ibid., S. 1106. 341 Manfred Peter schreibt von drei russischen Seelen: einer euro-asiatischen,

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Schlögel sieht die Besonderheit Russlands in dessen Stellung zwi-schen Europa und Asien: „Der Doppelcharakter, der dualistische, ja gespaltene Charakter Russlands, zugleich zu Europa zu gehören und ihm fern zu sein, durchzieht das ganze Nachdenken Russlands über sich selbst bis auf den heutigen Tag“. 342 Der Gedanke ist nicht neu, zum Beispiel hat Oswald Spengler die Idee schon früher for-muliert343. Man spricht manchmal sogar von russischer Schizo-phrenie, weil jedes Volk, welches geographisch gesehen eine Zwi-schenlage besitzt, dazu verurteilt ist. Aber die Besonderheiten der russischen Kultur festzustellen ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Für uns ist nur das Verhältnis zwischen Europa und Russland interes-sant, was das Verhältnis zwischen den beiden politischen, kulturel-len, wirtschaftlichen und sozialen Welten betrifft.

Statt zu fragen, ob Russland zu Europa gehört, sollte man die Frage stellen, inwieweit Europa zu Russland gehört?

Das Verhältnis zwischen Russland und Europa stellt ein zent-rales Problem des russischen Denkens dar. Nach Nikolaj Berdjaev war das Thema „Russland und Europa“ das Hauptthema des 19. Jahrhunderts, welches die „russische Idee und die russische Beru-fung am meisten charakterisiert“.344 Auch heute ist es von aktueller Bedeutung. Die politischen Diskussionen über die Erweiterung der Europäischen Union stoßen auf die alte Frage: Wo liegt die Grenze Europas? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich der Ge-schichte zuwenden und die Beziehungen zwischen Russland und Europa in einem breiteren Zusammenhang betrachten. Dann kommt man zur Feststellung, dass diese Grenze Osteuropa ist. In Osteuropa liegt nicht nur die politische Grenze Westeuropas, son-

einer slawisch-orthodoxen und einer europäisch-westlichen.( Manfred Peter, Russland Platzt in Europa, Berlin 2001, S. 162.) Ich glaube, dass es in der Wirk-lichkeit nur eine eurasische Seele gibt, die manchmal europäisch, manchmal aber asiatisch aussieht, was oft als Doppelantlitz Russland bezeichnet wird. 342 Karl Schlägel, Ein Sonderweg Russlands? In: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS): Entstehung - Perspektive - Entwicklung - Probleme, Stuttgart; Berlin; Köln 1993, S. 45. 343 Oswald Spengler, Das Doppelantlitz Russlands und die deutsche Ostproble-me, in: Oswald Spengler, Politischen Schriften, München 1932. 344 Vgl. Nikolai Berdjaev, Die russische Idee, Sankt Augustin 1983, S. 30.

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dern auch ihre ethnische, kulturelle und geographische Grenze. Die ethnische Grenze ist die zwischen Germanen und Slawen. Die kul-turelle Grenze ist die zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Die geographische Grenze liegt zwischen den mitteldeutschen Höhen-zügen und der großen russischen Ebene, die sich bis nach China ausdehnt.

Sowie die Besonderheiten Osteuropas sich aus seiner Lage zwischen Russland und Europa ergeben, so resultieren die Beson-derheiten Russlands aus seiner Lage zwischen Europa und Asien. Europa und Asien (China) haben in dieser Hinsicht mehr gemein-sam als Europa und Russland. Pjotr Caadajev sah die Lage Russ-lands zwischen den beiden großen Weltteilen, dem Orient und dem Okzident, derart, dass es sich gleichsam mit dem einen Arm auf China und mit dem anderen auf Deutschland stütze. Fjodor Dosto-jewskij schrieb: „Einem echten Russen ist Europa und das Ge-schick der ganzen großen arischen Rasse ebenso teuer wie Russ-land selbst“.345 Nach seiner Meinung ist Asien für Russland eben-falls sehr wichtig, „weil Russland nicht nur in Europa liegt, sondern auch in Asien...“.346 Die Westler haben die Zukunft Russlands in seiner Zugehörigkeit zu Europa gesehen. Die Slawophilen haben über Russlands zivilisatorische Sendung in Asien gesprochen, aber beide waren der Meinung, dass Russland und Europa zwei ver-schiedene Welten sind. Russland ist im weiteren Sinne eine selb-ständige politische Welt mit seinen eigenen religiösen, wirtschaftli-chen und sozialen Werten. Wenn man von dieser Annahme aus-geht, dann ist die Frage, ob Russland zu Europa gehört oder nicht, absurd. In dieser Fragestellung verbirgt sich der Wunsch, Russland als europäisches Einflussgebiet zu betrachten.

In Laufe der Zeit hat Russland bestimmte Erfahrungswerte ge-sammelt, die es von Europa unterscheiden347. Die russische Ge-schichte kennt viele Ereignisse, die sein Gesicht geprägt haben. Ei-

345 Dostojewski F.M., Tagebuch eines Schriftstellers, Darmstadt 1963, S. 504-505. 346 Ebd., S. 584. 347 Vgl.: Valeri Afanasjev, Natürliche und kulturelle Besonderheiten Russlands in seinem Verhältnis zu Europa, in: Berliner Osteuropa Info 14/2000, S. 54.

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ne besondere Rolle spielt aber dabei das Bekenntnis zum Christen-tum im Jahre 998, das dreihundert Jahre währende mongolische Joch und die Reformen Peters des Großen. Russland hat seinen ei-genen Standard entwickelt, der kaum zum europäischen passt. Und umgekehrt, die europäischen Normen lassen sich sehr schwierig auf russischem Boden verwirklichen.

Russland kann aus verschiedenen Gründen nicht nach europä-ischen Normen und Standards existieren, weil es seine eigenen hat, die seiner geschichtlichen, geographischen und kulturellen Lage entsprechen. Der neueste Versuch Russland europäisch zu machen, zeigt sehr deutlich, dass Russland beim besten Willen nicht europä-isch sein kann. Andererseits ist für jeden Europäer klar, dass Russ-land nicht in das klein gewordene Europa „passt“. Deshalb bleiben die Ansprüche mancher russischer Politiker auf einen gleichberech-tigten Platz Russlands unter den europäischen Nationen unver-ständlich348. Dieses „Dabei-Sein-Wollen“ Russlands führt auch heute noch manchen Theoretiker dazu, zu glauben, dass Russland nach wie vor Teil der europäischen Staatenordnung sei. So schreibt Karl Schlögel: „Ich glaube, dass man der Sache näher kommt, wenn man die russische Entwicklung im Kontext der europäischen Dynamik und Krise sieht“.349 Dieser euro-zentristische Standpunkt, der zu falschen Einschätzungen bezüglich der Zugehörigkeit Russ-lands zu Europa führt, wird heute auch von vielen russischen Poli-tikern geteilt.

Nach den Napoleonischen Kriegen haben sich die kulturellen Kontakte zwischen Europa und Russland intensiver entwickelt. Diese Kontakte sind in das Bewusstsein der Völker eingedrungen und haben in der wissenschaftlichen Literatur Spuren hinterlassen. Leider haben diese Kontakte hauptsächlich negative Eindrücke er- 348 Von Gorbatschows Projekt des „europäischem Haus“ bis zu Jelzin Europa-Politik. Margareta Mommsen schreibt : “Im direktem Zusammenhang mit diesen Weichenstellungen formulierte Jelzin die zitierte Erklärung, dass Russland die Absicht verfolge, als Vollmitglied in die EU einzutreten“ (Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, Bonn 1999, S. 664.) 349 Karl Schlögel, Ein Sonderweg Russland? In: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Die Gemeinschaft Unabhängigen Staaten (GUS): Entstehung - Entwicklung - Probleme, Stuttgart 1992, S.48.

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weckt, wie Wolfgang Geier es betont: „Seit etwa einem halben Jahrtausend bestehen Beziehungen und Wahrnehmungen zwischen Russland und Europa. [Sie sind geprägt] von Unwissen über das Gegenüber, von Misstrauen und Abneigung, Furcht und Angst, Hass und Feindschaft, von Vorurteilen und Nachreden“.350

Die politische Diskussionen über die Erweiterung der Europä-ischen Union stoßen auf die alte, schon im 19. Jahrhundert gestellte Frage, auf die es bis heute keine klare Antwort gibt: Wo liegt die östliche Grenze Europas? Die Bandbreite der Meinungen ist hier sehr groß: sie reicht von der Oder bis zum Pazifik. Die klassische Antwort lautet : „bis zum Ural“. Um diese Grenze fest zu legen muss man sich meiner Meinung nach der Geschichte zuwenden und die Beziehungen zwischen Europa (Westen) und Russland (Os-ten) in einem breiteren Zusammenhang betrachten. In Osteuropa liegt nicht nur die politische Grenze der Europäischen Union, son-dern auch ihre ethnische, kulturelle und geographische Grenze. Hier kann die Theorie von Samuel Huntington hilfreich sein. Die ethnische Grenze ist die Grenze zwischen Germanen und Slawen. Die kulturelle Grenze ist die Grenze zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Die geographische Grenze ist die Grenze zwischen dem mitteldeutschen Gebirge und der großen russischen Ebene, die sich bis nach China ausdehnt.

Die Besonderheiten Osteuropas resultieren aus seiner Lage zwischen Russland und Europa, ebenso wie die Besonderheiten Russland aus seiner Lage zwischen Europa und Asien resultieren. Die Besonderheit Russlands besteht in seiner Stellung zwischen Europa und Asien. Petr Caadajev sah Russlands Lage zwischen den beiden großen Weltteilen, dem Orient und dem Okzident, derart, dass es sich gleichsam mit dem einen Arm auf China und mit dem anderen auf Deutschland stütze. Fjodor Dostojevskij schrieb: „Ei-nem echten Russen ist Europa und das Geschick der ganzen großen arischen Rasse ebenso teuer wie Russland selbst. Die Völker Euro-pas wissen ja nicht einmal, wie teuer sie uns sind!“351 Nach der

350 Wolfgang Geier, Russland und Europa: Skizzen zu einem schwierigen Ver-hältnis. Wiesbaden 1996, S. 1. 351 Dostojewski F.M. Tagebuch eines Schriftstellers. Stuttgart 1965, S.504-505.

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Meinung Dostojevskijs ist Asien für Russland ebenfalls sehr wich-tig, „weil Russland nicht nur in Europa liegt, sondern auch in A-sien; weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiat ist. Und außerdem: weil unsere Hoffnungen vielleicht noch mehr in Asien liegen als in Europa“352. Der dualistische Charakter Russ-lands, zugleich zu Europa gehören und ihm fremd zu sein, durch-zieht das ganze Nachdenken Russland über sich selbst und wurde schon oft von ausländischen Autoren betont.353 Nach Nikolai Berd-jajev war das Thema "Russland und Europa" das Hauptthema des 19. Jahrhunderts, die "russische Idee und die russische Berufung am meisten charakterisiert."354 Die Westler haben die Zukunft Russlands in seiner Zugehörigkeit zu Europa gesehen. Die Sla-wophilen haben über eine „zivilisatorische Sendung in Asien“ ge-sprochen“355. Von ihren Standpunkt aus sind Russland und Europa verschiedene Welten, die sich, trotz ähnlichen Formen, immer fremd bleiben. Heute wagt man selten, Russland als eine in Opposi-tion zu Europa stehende Kulturwelt zu betrachten. Russland ist eine selbständige Zivilisation mit eigenen politischen, religiösen, wirt-schaftlichen und sozialen Werten. Nach den Reformen Peters der Großen war Russland politisch mit Europa verbunden. Erst nach 1945 wurde es zur selbständigen politischen Großmacht, doch als solche könnte sich nicht lange behaupten, denn moderne Reformen bringen dieses Land auf unterentwickelte Niveau nicht nur in wirt-schaftlichen, sondern auch im politischen Sinne.

Wenn man von dieser Annahme ausgeht, dann ist die Frage, ob Russland zu Europa gehört oder nicht, absurd. In dieser Frage-stellung verbirgt sich der Wunsch, Russland als europäisches Ein-flussgebiet zu betrachten. Russland kann aus verschiedenen objek-

352 Ibid., S. 584. 353 Z.B. Oswald Spengler hat die Tatsache in den Titel seinen Vortrags über Russland übernommen(Oswald Spengler, Das Doppelantlitz Russland und die deutschen Ostprobleme In: Oswald Spengler, Politische Schriften. München 1932.) 354 Vgl. Nikolai Berdjaev, Die russische Idee. Sankt Augustin 1983, S. 214; 30. 355 Vgl. Russland und Europa. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, hrsg. v. Dmitrij Tschizewskij u. Dieter Groh, Darmstadt 1959, S. 511.

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tiven und subjektiven Gründen nicht nach europäischen Normen und -Standards existieren, weil es seine eigenen Werte hat, die sei-ner geschichtlichen, geographischen und kulturellen Lage entspre-chen. Der erneute Versuch Russlands (nach den Reformen des 19. Jahrhunderts), europäisch zu werden, welcher heute von der russi-schen demokratischen Elite gemacht wird, zeigt sehr deutlich, dass Russland beim besten Willen nicht europäisch sein kann. Anderer-seits ist für jeden Europäer klar, dass Russland – aus welchen Gründen auch immer – nicht in das klein gewordene Europa „passt“. Deshalb bleiben die wiederholten Ansprüche führender russischer Politiker auf einen gleichberechtigten Platz Russlands unter den europäischen Nationen unverständlich (angefangen mit Gorbatschows „europäischem Haus“ bis zu Medwedew Europa-Politik).

Was die Zusammenarbeit zwischen Russland und Europa im gegenwärtigen Moment erschwert ist, dass beide sich in ganz ver-schiedenen Entwicklungsphasen befinden. Während das heutige Russland das Produkt eines Vereinzelungsprozesses ist, sind die europäischen Staaten, die großen wie die kleinen, gerade in einem Vereinigungsprozess begriffen. Zwei historische und eine aktuelle Perzeption hindern Russland heute, sich mit der EU zu befreunden: Einerseits die panslawistische Visionen, die es geraten erschienen ließ, auf Distanz zu Europa zu gehen. Andererseits auch die kom-munistische Ideologie, die in einem kapitalistischen Europa einen Erzfeind erblickte. Und drittens zusätzlich noch die Sicht des heu-tigen, offiziellen Moskaus, der zufolge die EU nicht als Verbünde-ter und Partner, sondern als ein seiner Zukunft, die auf die eigene Erweiterung hin angelegt ist, im Wege stehendes Hindernis be-trachtet wird. Alle drei Faktoren verhindern derzeit freundschaftli-che Beziehungen zwischen Russland und der EU.

Slawisch-turanische Kulturkreis In der weltgeschichtlichen Perspektive erhält die Beziehung

zwischen Russland und Europa eine zukunftprägende Bedeutung. Unter Russland und Europa versteht man das Gebiet der germano-romanischen und slawisch-turanischen Kulturen. Diesen Stand-

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punkt vertritt Pitirim Sorokin: „Europa sieht in Russland und über-haupt in den Slawen etwas, das ihm völlig fremd ist und gleichzei-tig etwas, das als bloßes Material zum Vorteil Europas ausgebeutet werden kann, so wie Europa China und Indien, Afrika und den größeren Teil beider Amerika ausbeutet, als ein Material, das Eu-ropa nach seinem eigenen Belieben und Ebenbild formen und prä-gen kann. Europa sieht in Russland und im Slawentum nicht nur eine fremde, sondern eine feindliche Macht. Ob Europa im Recht oder Unrecht ist, wenn es in Russland etwas Fremdes sieht, hängt davon ab, wie man Europa als Genus charakterisiert und ob Russ-land als eine seiner Arten aufzufassen ist oder nicht. Europa ist kei-ne geographische Einheit, weil es keine geographischen Grenzen gibt, die es eindeutig von Asien trennen. Geographisch ist Europa nur eine westliche Halbinsel Asiens, dabei viel weniger deutlich abgehoben als manche andere Halbinsel oder Landschaft Asiens. Europa ist keine geographische, sondern eine kulturgeschichtliche Einheit. Es ist das Gebiet der germano-romanischen Kultur oder Europa ist die germano-romanische Kultur selbst. Diese zwei Aus-drücke sind synonym... In ähnlicher Weise gehört Russland glück-licher- oder unglücklicherweise nicht zu Europa oder zur germano-romanischen Kultur. Russland hat mit der europäischen Kultur kei-ne ihrer Wurzeln gemein. Es war kein Teil des übernationalen, wahrhaft europäischen Heiligen Römischen Reiches Karls des Großen und seiner Nachfolger; es besaß nicht das transnationale und allgemein europäische Feudalsystem, nahm auch daran nicht teil und war auch an seiner Auflösung im Namen der bürgerlichen und politischen Freiheit nicht beteiligt. Ebenso hat Russland weder den Katholizismus noch den Protestantismus angenommen. Es lernte weder die Bedrückung durch die Scholastik noch die Gedan-kenfreiheit, die die moderne Wissenschaft schuf, kennen. Kurz, Russland hatte weder am Guten noch am Bösen Europas einen An-teil. Sein Leben und seine Wirksamkeit haben sich völlig getrennt von derjenigen Europas abgespielt. Russland gehört weder auf Grund seiner Abstammung noch durch Adoption, 'Affiliation' oder 'Apparentation' zu Europa.“356 Russland und Europa sind zwei poli- 356 Sorokin P.A. Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie. Moderne Theorien

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tische Systeme, die auf zwei Teile des Römisches Reiches (Rom und Byzanz) zurückzuführen sind. Die Entwicklung dieser beiden Kulturen vollzieht sich in einem verschiedenen geschichtlichen Takt.

In der russischen Literatur werden oft die geschichtlichen Ge-gensätze zwischen Russland und Europa verzeichnet. So stellt Piti-rim Sorokin in seiner geschichtsphilosophischen Konzeption den Kampf zwischen den beiden Kulturen dar: „Europa hasst Russland und das Slawentum357, weil die europäische und die slawische Kul-tur verschiedenen Typus' sind und weil Europa bereits in seine Niedergangsphase eingetreten ist, während die slawische Kultur gerade im Begriff ist, in ihre Blütezeit und schöpferische Periode einzutreten. Unfähig, die russisch-slawischen Völker und ihre Kul-tur in ein bloßes ethnographisches Material für seine eigene Zwe-cke zu verwandeln, und sein eigenes Alter und kommende Auflö-sung ahnend, muss Europa gegen Russland und das Slawentum neiderfüllt und feindlich sein. Wegen dieses fundamentalen Unter-schieds zwischen dem europäischen und dem slawischen Kulturty-pus haben diese beiden einander schwerlich jemals verstanden und sind jeweils gescheitert, wenn sie versucht haben, sich in die Ange-legenheiten des anderen einzumischen. Die europäische Kultur ist um rund fünfhundert Jahre älter als die slawisch-russische Kultur. Der europäische kulturhistorische Typus ist am Ende seiner Blüte-zeit. Nur das vereinigte Slawentum kann das vereinigte Europa be-kämpfen. Dieses vereinigte Slawentum droht nicht mit einer Welt-herrschaft, sondern es ist im Gegenteil der einzig mögliche Garant

über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen. Stutt-gart. Wien 1953, S.61;65. 357 Ein Beispiel solche Charakteristika Russlands liefert Oswald Spengler: "Da ist vor allem "Moskau", geheimnisvoll und für abendländisches Denken und Fühlen völlig unberechenbar, der entscheidende Faktor für Europa seit 1812, als es staatlich noch zu diesem gehörte, seit 1917 für die ganze Welt. Der Sieg der Bolschewisten bedeutet geschichtlich etwas ganz anderes als sozialpolitisch oder wirtschaftstheoretisch. Asien erobert Russland zurück, nachdem "Europa" es durch Peter den Großen annektiert hatte.“(Oswald Spengler, Jahre der Entschei-dung. Deutschland und die Weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933, S. 72).

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für die Bewahrung des Weltgleichgewichtes und der einzige Schutz gegen die Weltherrschaft Europas...“358

Dies ist eine verbreitete Meinung über die welthistorische Mission Russlands als Befreier der anderen slawischen Nationen und Organisator ihrer politischen Vereinigung. Hier wird die Idee zu Grunde gelegt, dass die kulturelle und ethnische Zusammenge-hörigkeit des Ostens seine politische Form in einer Staatengemein-schaft finden soll. Der Warschauer Pakt war eine solche Form, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Diese Form hat sich in Laufe der Geschichte nicht bewährt und existierte nur fünfzig Jah-re. Während der Reformen der 90er Jahre löste sie sich auf. Die Hoffnung aber bleibt und vielleicht werden, je schlechter sich die Situation in den mitteleuropäischen Länder entwickelt, umso mehr wehmütige Erinnerungen an die frühere Zusammenarbeit der ehe-maligen sozialistischen Länder zutage treten, und umso mehr Sehn-sucht nach einer neuen Form der alten Zusammenarbeit entstehen.

Trotzdem haben Russland und Europa gemeinsame Elemente in ihrem kulturellen Statut. Es sind vor allem die Religion (das Christentum) und die rassischen Komponenten, weil sowohl Sla-wen, als auch Germanen zur indogermanischen Völkerfamilie ge-hören. Religion gilt als die Grundlage einer jeden Kultur. Sie ist die Seele des Volkes. In Russland ist es traditionsgemäß die orthodoxe Kirche. Sie ist die Grundlage der russischen Kultur. Der Katholi-zismus in Europa hat in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt und die Herausbildung der europäischen Kultur wesentlich beein-flusst. Die beiden in ihren Fundamenten christlichen Kulturen ha-ben gemeinsamen Werte und Einstellungen.

Seit dem 19. Jahrhundert war Russland an allen großen Ereig-nissen der europäischen Geschichte beteiligt. Es war ein Teil des europäischen Staatensystems. Die Formen der europäischen politi-schen Kultur haben die russische Staatsordnung beeinflusst, seit Peter der Große versuchte, der russischen politischen Elite die eu-ropäischen politischen und kulturellen Formen aufzuzwingen. Der

358 Sorokin P.A. Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie. Moderne Theorien über das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen. Stutt-gart.- Wien 1953, S. 84.

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letzte, mit den Reformen der 60er Jahre des 19 Jahrhunderts unter-nommene, derartige Versuch endete mit dem Scheitern der Monar-chie im Jahre 1917.

Dieses „dabei-sein-wollen“ Russlands führt auch heute noch manchen Theoretiker dazu, zu glauben, dass Russland nach wie vor Teil der europäischen Staatenordnung sei. So schreibt Karl Schlö-gel: „Ich glaube, dass man der Sache näher kommt, wenn man die russische Entwicklung im Kontext der europäischen Dynamik und Krise sieht. Die russische Revolution ist aus dem ersten europäi-schen Krieg hervorgegangen. Russland war das, wie Lenin richtig bemerkt hat, schwächste Kettenglied innerhalb der europäische Im-peralismen. Mit der Revolution wendet sich Russland für lange von Europa ab, wird von Europa ausgeschlossen.“359 Dieser euro-zentristische Standpunkt wird heute auch von einigen russischen Politikern geteilt, was wiederum zu falschen Einschätzungen be-züglich der Zugehörigkeit Russlands zu Europa führt.

Welches sind die geographischen und anderen natürlichen Be-dingungen, die im russischen Raum herrschen und die entspre-chenden kulturellen Formen in Laufe Jahrhunderten förderten? Ich möchte zwei der wichtigsten geografischen Faktoren nennen: Ent-fernung und Kälte. Diese beiden Gegebenheiten beeinflussten nicht nur das Leben in Russland, sondern auch die politischen Strukturen des Landes. Beide Faktoren stellen besondere Forderungen an die Bevölkerung des Landes. Die wirtschaftlichen Interessen Russlands sind von den großen Entfernungen und der Kälte im Lande geprägt. Deshalb sind der Straßenbau, das Transportwesen und preiswerte Energiequellen für die Wirtschaftsentwicklung von großer Bedeu-tung. Die extremen natürlichen Bedingungen machen das Leben für den auf sich allein gestellten Menschen unmöglich; sie fordern be-stimmte Formen sozialer Kooperation zwischen den Individuen. Der kollektive Geist prägte im Laufe der Zeit die politischen und sozialen Formen Russlands. So entstanden z.B. in der Wirtschaft „Artel“, Gruppen von freiwilligen Arbeitern, die die gemeinsame

359 Karl Schlögel, Ein Sonderweg Russland? In: Die Gemeinschaft Unabhängi-gen Staaten (GUS): Entstehung -Entwicklung - Probleme. Red.: Hans-Georg Wehling, Stuttgart 1992, S. 48.

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Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Arbeit trugen. Ähnliche Formen sieht man auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Auf dem Lande existierte die „Obšcina“ (Dorfgemeinde), die eine nach demokratischen Prinzipien funktionierende Institution war.

Was das politische System Russlands betrifft, gibt es theore-tisch nur eine zu seinen natürlichen Bedingungen passende Staats-form. Nach Meinung von Montesquieu entspricht dem großen Land nur eine autoritäre Staatsform mit relativ starker Machtkonzentrati-on. Um im großen russischen Raum eine stabile einheitliche Ord-nung zu schaffen, braucht man ein mächtiges Zentrum. Die große räumliche Ausdehnung Russlands führt zu extrem langen Staats-grenzen. Für den russischen Staat entsteht daraus das Problem der Sicherung seiner langen Grenzen. Heute nachdem die Rolle Chinas in der Weltpolitik und die aggressiven Aktivitäten mancher arabi-schen Länder ständig wachsen, herrscht nicht nur an den europäi-schen sondern auch an den asiatischen Teilen der russischen Staatsgrenze Unruhe. Obwohl die neuen GUS-Staaten teilweise die Grenzfunktion übernommen haben, sind die Spannungen und das Konfliktpotenzial immer noch da. Deshalb ist es eine der wichtigs-ten Aufgaben der russischen Außenpolitik, die friedlichen Kontakte mit Russlands Nachbarn auszubauen. Doch in der westlichen Lite-ratur dreht sich die Debatte über die russische Außenpolitik aus-schließlich um ihren "aggressiven" Charakter. Demgegenüber muss man bemerken, dass die gesamte russische Außenpolitik seit dem 19. Jahrhundert in Wirklichkeit auf die Sicherung des riesigen Rei-ches abzielte. Russland hat immer genug Feinde und Nachbarn, die seinen Reichtum an Bodenschätzen mit Neid beobachten. Seit Mit-te des vorigen Jahrhunderts besaß Russland riesige Ebenen von der Ostsee bis zum Pazifik. Soviel, dass es keinen Sinn gemacht hätte, noch mehr zu fordern.

In Laufe der Zeit hat Russland bestimmte Erfahrungswerte ge-sammelt, die den Charakter des Volkes geprägt haben und sein Verhalten bestimmen. Die ruhmreiche und leidenschaftliche Ge-schichte Russlands kennt viele Ereignisse, die sein Gesicht geprägt haben. Eine besondere Rolle haben drei Ereignisse gespielt: das

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Bekenntnis zum Christentum im Jahre 998, das dreihundert Jahre währende mongolische Joch und die Reformen Peters des Großen.

Meiner Ansicht nach haben die Russen ihre Erfahrungswerte immer dann gesammelt, wenn sie in Kontakt mit anderen Völkern kamen. Diese Kontakte hatten oft in Form von Kriegen. Die Ent-stehung des russischen Staates begann mit der Befreiung von den Mongolen. Der gemeinsame Unterdrückungszustand, der während der mongolische Herrschaft herrschte, hat die Kurfürsten unter der Macht des Fürsten von Moskau gestellt und damit den ständige Kampf zwischen den Fürsten zum Schweigen gebracht. Dies war die Grundlage des neuen Staats, der sich später bis zu den Grenzen des ehemaligen Mongolen-Imperiums ausdehnen sollte.

Für die Entstehung des russischen Nationalbewusstseins war der Angriff der Ritter-Orden von großer Bedeutung. Die Gefahr der Kreuzzüge förderte die Sammlung aller Fürstentruppen in den rus-sischen Städten. Den Fürsten gelang es nicht, sich von sich aus zu vereinigen – stattdessen bekämpften sie einander. Der Sieg Ale-xander Nevskij hat der Entstehung des Nationalbewusstseins ge-dient.

Die religiösen Umstände haben in Russland immer eine wich-tige Rolle gespielt und das geistige Leben war für die Russen oft wichtiger als das materielle Wohl. Das orthodoxe Christentum bie-tet eine zu den natürlichen Bedingungen passende Lebenseintei-lung, fordert Geduld und führt zur Bereitschaft, das schwere Leben zu überstehen. Es vermittelte auch ein starkes Gemeinschaftsge-fühl, das Einfluss auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hatte.

Die Übernahme des byzantinisch orthodoxen Christentums durch Großfürst Wladimir im Jahre 998 war für die Geschichte Russlands von großer Bedeutung. Obwohl die primitiven Kulte in Russland noch lange weiter existierten, prägte im Laufe der Zeit das Christentum das russische Volk. Das religiöse Leben in Russ-land war immer aktiv. Die Kirche nahm eine starke Machtposition innerhalb der Gesellschaft ein. Aus Spenden entstand im Laufe der Zeit ein Reichtum von Grundbesitz und Wertgegenständen.

Schon zur Zeit der Mongolenherrschaft konnte man sehen,

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dass die Religion eine große Rolle spielte. Allein die Tatsache, dass die Mongolen im Grunde irreligiös und in Glaubensfragen tolerant waren, erleichterte es ihnen, ihre Herrschaft langfristig zu behaup-ten. Anders verhielt es sich es mit der westlichen Offensive wäh-rend der Kreuzzüge. Die religiöse Basis des ersten „Drangs nach Osten“ ließ für die russische Bevölkerung keine Hoffnung darauf, dass die Toleranz in Glaubensfragen unter einer möglichen Ritter-Herrschaft weiter existieren würde. Deshalb haben die Russen da-mals relativ großen Widerstand geleistet.

Aber in der „Zeit der Wirren“, als viele der russischen Länder unter polnisch-litausche Herrschaft kamen, war der Großteil der russischen Elite desorientiert und stellte sich massenweise unter die katholische Fahne von Dimitrius I und die jüdische Fahne von Di-mitrius II. Diese Zeit hat erstmals deutlich gezeigt, wie untreu die russische Elite sein kann. Nur mit Hilfe der großen Volksbewegung unter Führung von Minin und Pojarskij konnten die Grundlagen der Existenz der russischen Gesellschaft erhalten werden.

In der Fachliteratur wird oft das Problem der Bedeutung des mongolischen Jochs für die russische Geschichte gestellt. Es gibt darüber zwei Meinungen. Einige Historiker meinen, dass die Herr-schaft der Mongolen die ganze Entwicklung der russischen Kultur zurückgeworfen hat. Andere vertreten hingegen den Standpunkt, dass die mongolische politische Kultur viel zur Entstehung des rus-sischen Imperiums beigetragen hat. Sie sagen sogar, dass diese Pe-riode für die russische Gesellschaft notwendig gewesen sei. Die Mongolen haben Steuern für alle Fürsten eingeführt und damit ein einheitliches politisches System gefördert. Die außenpolitischen Angelegenheiten Russlands waren ohnehin durch die lange Grenze und die vielen Nachbarn bestimmt. All dies führte zu einer freund-schaftlichen Einstellung. zu den asiatischen Völkern. Der mongoli-sche Einfluss ist auch hier nicht zu übersehen.

Russland als Nationalstaat Die gegenwärtigen politischen Ereignisse sorgen erneut für In-

teresse an der Problematik der Nation. In Deutschland sind diese

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Probleme durch die Wiedervereinigung aktuell geworden, in Mit-teleuropa durch die gewonnene nationale Selbstbestimmung, in Russland durch die Auflösung des multinationalen Sowjetstaat. Die Frage ist aber, ob das Modell des Nationalstaates auf russischem Boden zu verwirklichen ist. Die räumlichen Bedingungen und die geschichtlichen Traditionen Russlands sind anders als in Europa, sie stehen einer Nationalstaatsbildung entgegen.

Das zaristische Russland war, wie viele europäische Staaten in der Zeit des Absolutismus, im Grunde ein a-nationaler Staat. Es setzte sich aus vielen Nationalitäten zusammen. Als es sich im Feb-ruar 1917 demokratisierte und nationalisierte, drohte es, wie mit Österreich-Ungarn 1918 geschehen, in seine nationalen Bestandtei-le auseinander zufallen. Das ist durch die Oktoberrevolution 1917 verhindert worden. Das zaristische Erbe traten die Bolschewiki an, die weder dem russischen noch den anderen Völkern Russlands zu einem eigenen Staat verhalfen. Stattdessen suchten sie aus dem ge-samten Zarenreich eine "sozialistische Nation" zu schaffen. Die Völker der Sowjetunion, einschließlich des russischen, haben erst jetzt, nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums, die Chance erhalten, sich selbst als Nationalstaat zu organisieren.

Ob das gelingen wird, hängt meiner Ansicht nach nicht nur davon ab, ob das russische Volk es schaffen wird, ohne Rückgriff auf zaristische und sowjetische Großmachtambitionen, einen eige-nen Nationalstaat zu erringen. Das ist aufgrund der doppelten Erb-schaft sehr schwer. Es bedeutet nicht nur, allen imperialen Neigun-gen zu entsagen, sondern auch, den vorhandenen Staat funktionsfä-hig zu machen und sich mit ihm zu identifizieren. Das ist, wie die Zeichen in Russland gegenwärtig stehen, ein schwieriges Unterfan-gen. Rückfälle sind nicht auszuschließen.

Aber es ist doch auch nicht zu sehen, wie der Prozess der Na-tionenbildung noch länger verhindert und aufgeschoben werden kann. Er muss, wie in Westeuropa geschehen, zum Abschluss ge-bracht und gleichzeitig durch die politische "Kontinentbildung" Eu-ropas, d.h. durch eine Gemeinschaftsbildung der europäischen Na-tionalstaaten, komplimentiert werden. Das liegt sowohl im Interes-se des russischen wie der anderen europäischen Völker; denn nur,

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wenn sie als Nationalstaaten organisiert ihren Platz in Europa ge-funden haben und sich selbst bestimmen können, sind sie in der Lage, sich zusammenzuschließen, die Früchte ihrer Arbeit gemein-sam zu ernten und ihr Schicksal gemeinsam zu bestimmen. Es scheint, dass es dazu keine realistische Alternative gibt: Auch Russland muss sich als Nation unter Nationen begreifen und kon-stituieren, um nicht als Bedrohung wahrgenommen zu werden und um kooperativ und integrationsfähig zu werden.

Der Gegenstand dieser Kapitel ist der Versuch, die Hauptele-mente der Nationalstaaten und ihre Bedeutung für die Nationsbil-dung in Russland zu klären. Das Problem ist, ob ein Nationalstaat jeder Nationalität schaffen kann. Hier wird die These vertreten, dass nicht jedes Volk seinen Nationalstaat aufbauen kann, sondern nur diejenigen, die bestimmte Reifestufen in ihrem Bewusstsein und in ihrer politische Ordnung haben. Jeder Staat hat als seine Grundlage ein Volk. Das Volk ist ein Träger des Staates. Ein Staat ist mit einem Haus für das Volk vergleichbar. Der Nationalstaat ist eine ideale Form des Staates von unten und nur dann möglich, wenn vorher eine absolutistische Herrschaft existierte. Der Natio-nalstaat ist ein Ideal für die bürgerliche Schicht, die so genannte Mittelklasse, während der absolutistische Staat eine ideale Vorstel-lung des Staates vom Adels war.

Die Frage nach Nation und Nationalismus ist dagegen alt. Es gibt eine Fülle von Literatur über sie. An Interpretationen dessen, was eine Nation ausmacht, herrscht kein Mangel. Der Begriff ist überaus komplex und missverständlich. Seine Bestimmung hängt von der jeweiligen Intention ab, die damit verfolgt wird. Wenn wir den Begriff historisch verstehen, sind Nationen eine spezifische politische Existenzform der Menschheit; wenn wir ihn funktional verstehen, dann sind Nationen eine spezifische gesellschaftliche Formation; wenn wir ihn anthropologisch verstehen, dann sind Na-tionen eine spezifische Gemeinschaftsform des Menschen. Diese drei Aspekte hatte Ernest Renan (1823-1892) im Sinn, wenn er die moderne Nation als "Willensgemeinschaft" definiert. Auch Karl Deutsch sagt von der Nation, dass sie ein Staat ist, der im Besitz

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eines durch das Medium der Sprache geeinten Volkes ist.360 Ich werde den Begriff der Nation hier im Sinne von National-

staat verwenden, wie Karl Deutsch in seinem Aufsatz „Nation und Welt“: „Wenn ein bedeutender Teil der Angehörigen eines Volkes nach politischer Macht für seine ethnische oder sprachliche Gruppe strebt, können wir es als Nationalität bezeichnen. Wenn solche Macht erlangt worden ist - gewöhnlich mit der Beherrschung eines Staatsapparates - bezeichnen wir es als Nation“.361

Eine Nation ist, gemäß Karl Deutsch, ein staatlich organisier-tes, sich selbst bestimmendes Volk mit einer eigenen kulturellen Identität. Der Begriff der Nation im Sinne von Volkstaat ist erst während der Aufklärung entstanden und für den Kampf gegen den Absolutismus benutzt worden. Hans Schauer formuliert folgender-weise: „Der Nationalstaat ist Ausdruck der Nationen, ihre Organi-sationsform. In ihm vollzieht die Nation ihr politisches Leben“.

In der deutschen Sprache kann man den Begriff der Nation auch als Staatsvolk verstehen. Zu dem könnte man auch folgende zwei Interpretationen des Begriffs, die von Oswald Spengler kom-men, hinzufügen. Er schreibt, dass „Volk“ bedeutet für die Rationa-listen "nicht die formvolle, vom Schicksal im Laufe langer Zeiten gestaltete Nation, sondern den Teil der flachen formlosen Masse, den jeder gerade als seinesgleichen empfindet, vom 'Proletariat' bis zur 'Menschheit'“.362 In unserer Betrachtung ist die Nation ein be-stimmtes historisch gestaltetes Volk, mit seiner staatlichen und kul-turellen Tradition.

Nationalstaat kann man als Übergangsform vom alten Imperi-um zu neuen Gemeinschaften der modernen Staaten betrachten. Nehmen wir als ein Beispiel die europäischen Staaten. Früher um-fasste das Imperium des Karl der Große fast alle westeuropäischen Staaten im ihren heutigen Zustand. Heute stellt die Europäische Union wieder eine politische Gemeinschaft, die traditionelle Natio-nalstaaten teilweise ersetzen soll.

Ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bin-

360 H. A. Winkler (Hrsg.) Nationalismus, Athenäunm 1985, S. 50. 361 Ibid., S. 51. 362 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, München 1963, S. 31.

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dungen, das durch eine gewisse Gleichartigkeit der Sprache und durch besondere Veranlagungen auf Grund klimatischer und geo-graphischer Lebensbedingungen zustande kommen, während ein Staat stets das künstliche Ergebnis machtpolitischer Bestrebungen ist.

Völker kann man in zwei großen Gruppen teilen, abhängig von ihre Rolle in der Geschichte: diejenigen, die in weltgeschichtli-chen Prozess passive Beteiligung haben, und diejenigen, die eine aktive Rolle in der Weltgeschichte spielen. Die zweite sind Staats-völker, sie begründen und tragen ihre Staaten und "machen" die Geschichte selbst. Die erste Gruppe stellt nur ethnisches Material für sie dar. Alle geschichtlich aktive Nationen beteiligen sich in der Geschichte im positiven und negativen Sinne. Einige schaffen neue originale Kulturen (Griechen, Römern, Germanen u. a.) und andere vernichten die Kulturen, die erste gemacht haben (Hunnen, Mongo-len u. a.)

Hagen Schulze formuliert das Problem folgenderweise: „Im Nationalstaat will das Staatsvolk nicht mehr einfach die zufällige Summe aller Angehörigen eines Staates sein; das Volk ist vielmehr eins mit der Nation, die sich nicht nur als kulturelle, sondern auch als politische Gemeinschaft sieht. Die Volksnation erlebt den An-spruch, sich in ihrem eigenen Staat selbst zu verwirklichen und zu entfalten; im Nationalstaat ist sie frei von jeder fremden Herr-schaft“.363

Die Entstehung der Nationen ist immer mit Konflikten ver-bunden. "Gerade an der europäischen Geschichte wird deutlich, dass Nationalstaaten kaum aus einem friedlichen Evolutionsprozess entstanden sind. Im Krieg wurde die nationale Einheit geschaffen, und das höhere Prestige der Nation ist mit der Krieg verbunden".364 In diesem Fall ist die Nationenbildung in der ehemaligen Sowjet-union keine Ausnahme.

An der Geschichte Russlands denken kann man feststellen,

363 Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäische Geschichte. München 1994, S. 209. 364 Petra Stykow, Slawophile und Westler: die unendliche Diskussion, in: Micha-el Brie / Ewald Böhlke, Russland wieder im Dunkel. Berlin 1992, S. 202.

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dass das autokratische Fundament im 15. und 16. Jahrhundert von Iwan IV. gelegt wurde, und von Peter dem Großen im 18. Jahrhun-dert zu einem absolutistischen Militär- und Verwaltungsstaat aus-gebaut wurde. Das Russentum hat seine Geschichte überwiegend als staatliche Zentralisierung, Reichsgeschichte und Expansion er-lebt und wird heute mit diametral entgegensetzten Themen kon-frontiert: mit Reduktion, Dezentralisierung und Rückzug.

Für eine russische Nationenbildung fehlten wesentliche Vor-aussetzungen bzw. bestanden wesentliche Hindernisse: die Russen lebten in enormer weitere territorialer Zerstreuung von der Ostsee bis zum stillen Ozean, was das Erleben ethnischer Gemeinschaft erschwerte, für die Umsetzung solcher Gemeinschaft in moderne Nationenbildung fehlten jene wichtigen Voraussetzungen, die aus dem Zusammenhang von nationaler Bewegung und gesellschaftli-cher Modernisierung und Mobilisierung hervorgehen: ein entwi-ckeltes Bürgertum, Bildungserweiterung, Überwindung ständischer und regionaler Segmentierung u. a. Ansätze dafür entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch auch der russische Nati-onalismus ging dann wieder mehr vom Staat als von der Gesell-schaft aus und zeigte, anders als der bereits erwachte Nationalismus der Nichtrussen im Zarenreich, überwiegend ein reaktionäres Ge-sicht mit antiliberalen, antisemitischen, antimodernistischen Zügen. Bis zum 19. Jahrhundert war die Reichsideologie vornational: Sie wollte aus den Nichtrussen - abgesehen von einigen Missionsbe-mühungen der orthodoxen Kirche - nicht Russen, sondern loyale Untertanen des Zaren machen.

Die Idee des Nationalstaates in Russland verfolgen demokrati-sche Kräfte. Hans-Heinrich Nolte schreibt folgendes darüber: „Schon auf dem Kongress der Volksdeputierten im Juli 1989 ver-trat der Bürgerrechtler Andrej Sacharow die Ansicht, Opfer des vom Stalinismus ererbten imperialen System seien nicht nur die nichtrussischen Völker, sondern auch die Russen selbst gewesen. Die russische Nation habe sogar die Hauptlast der imperialen Am-bitionen der Sowjetführung getragen. Mit den russischen Nationa-listen teilen die Demokraten die Ansicht, Russland sei in der Sow-jetunion aufgegangen und habe seine Identität verloren. Es wurde

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beklagt, dass in der Schule nicht russische, sondern sowjetische Geschichte gelernt wurde, dass Russland über keine eigene Aka-demie der Wissenschaften, keine eigene Partei und Gewerkschafts-organisation verfügte, ja eigentlich nicht einmal eine richtige Hauptstadt hatte. Radikalere Nationalisten beklagten den Rückgang der russischen Bevölkerung durch sinkende Geburtenraten und den fast völligen Verlust einer eigenen Nationalkultur. Angesicht dieser Grundstimmung sah sich die demokratische Bewegung vor die Al-ternative gestellt, entweder das multinationale Imperium zu erhal-ten oder die Wiederherstellung der russischen Nation durch natio-nale Souveränität zu gewährleisten“.365

Als erste Schwierigkeit für Russland auf dem Wege zum Na-tionalstaat ergibt sich heterogene Bevölkerung. In Russland leben mehr als 130 verschiedene ethnische Nationalitäten. Obwohl der Anteil der russische Bevölkerung relativ groß ist, und die anderen Nationalitäten so gemischt, dass es sehr schwierig wäre sie be-stimmten Territorien zu ordnen. In den Städten leben viele Russen, Ukrainer, Juden, Tataren und andere Nationalitäten.

Das zweite wichtige Element jeder Nationalstaatsbildung sind die Traditionen eines Volkes. Russland war und bleibt teilweise noch, was seine politische Traditionen betrifft, ein autoritäres Land. Im Falle Russlands, entstehen die politischen Gewohnheiten im ge-schichtlichen Lebensverlauf des Volkes sehr langsam sofern sie nicht im Laufe einiger Jahre vergessen werden. Seit der Mongolen-herrschaft besteht in dem Land ein zentralistisches politisches Sys-tem. Die Traditionen sind auch heute noch spürbar. Das Phänomen der Machtkonzentration zeigt sich heute ähnlich wie zur Zeit des Kommunismus. Während damals der Generalsekretär über die Macht verfügt, liegt sie heute beim des Präsidenten.

Der Aufbau der Nationalstaaten bedeutet die Existenz den demokratischen Traditionen, die aber in Russland noch nicht vor-handen sind. Ob die heutige politische Elite in Russland und das russische Volk dazu bereit sind, die alten Werte und Normen zu vergessen und neue zu übernehmen bleibt noch offen. Die letzten 365 Hans-Heinrich Nolte, Nationenbildung östlich des Burg, Hannover 1994, S. 100 – 101.

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politischen Ereignisse zeigen aber, dass die alten Denkmodelle vorhanden sind, denn das erste demokratische russische Parlament wurde mit der Hilfe von Panzern durch den ersten, demokratisch gewählten Präsidenten aufgelöst.

Josef Stalin war einer der führenden Parteitheoretiker der Na-tionalfrage. Er hat viel gemacht, damit sein politisches System auf dem Grund der neuen Nationalstaaten basiert. In seinem bekannten Buch „Marxismus und nationale Frage" (1913) macht er sich Ge-danken über Nationen in Osteuropa: „Etwas anders verliefen die Dinge in Osteuropa. Während sich im Westen die Nationen zu Staaten entwickelten, bildeten sich im Osten Nationalitätenstaaten, Staaten, die sich aus mehreren Nationalitäten zusammensetzen. Derartige Staaten sind Österreich-Ungarn und Russland. In Öster-reich erweisen sich die Deutschen als in politischer Hinsicht am meisten entwickelt - sie übernahmen denn auch das Werk der Ver-einigung der österreichischen Nationalitäten zu einem Staat. In Un-garn erwiesen sich die Madjaren, der Kern der ungarischen Natio-nalitäten, als die zur Staatsbildung geeignetsten, und waren auch die Vereinigter Ungarns. In Russland wurde die Rolle des Vereini-gers der Nationalitäten von den Großrussen übernommen, an deren Spitze eine historisch entstandene, starke und organisierte adelige Militärbürokratie stand“.366 Hier sieht man auch die Unterschiede zwischen West- und Osteuropa, die Stalin in seine Analyse hervor-hob. Die Unterschiede zwischen Nationenbildung sind wesentlich. Aber sie liegen noch tiefer, als Stalin es sah oder nur ahnte. Es geht um die Reifestufe, die die Völker beider Teile Europas haben. Aus der Geschichte kann man sehen, dass die Nationalstaaten eine Zwi-schenstufe in der politischen Entwicklung großer kultureller Wel-ten sind, solcher wie Europa, Antike, Ägypten u. a. Die allgemeine Tendenz der Entwicklung besteht zunächst im Entstehen großer Imperien, die sich dann mehr und mehr teilen. Es formieren sich Nationen (Antike - Athens, Sparta u. a., Europa - Frankreich, Deutschland u. a.). Aber die Nationen transformieren sich weiter in die Staatengemeinschaft, in Rahmen der alten nationalen Staaten, die sich auflösen. 366 Stalin J. W., Werke, Bd. 2, Berlin 1950, S. 278.

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In Westeuropa ist die Auflösung der alten Nationalstaaten be-sonders deutlich. Sie passiert durch die Beseitigung des politischen Willen zur Einheit und Opferbereitschaft im Nahmen der gemein-samen nationalen Interessen. Soll heißen, dass sie, die National-staaten, in der Etappe der Geschichte eine durch nichts anderes zu ersetzende Funktion gehabt haben und teilweise noch haben, die nicht anzuerkennen borniert und die zu negieren fatal ist; die ge-genwärtigen Nationalstaaten aber, wie Ernest Renan gesagt hat, einen Anfang und ein Ende haben, nicht das letztes Wort der Ge-schichte sind.

Die Auflösung der Nationalstaaten vollzieht sich durch die Assimilation. Sie erfolgt durch den Kult des einzelnen Individuums und der abstrakten Menschheit. Darüber sprechen viele sozialisti-schen Theoretiker. Am Ende dieser Entwicklung kommt dann eine Reihe von unhistorischen und unkulturellen Völkern. Die moder-nen Theorien beweisen mit allen möglichen Argumenten, dass die-se Auflösung notwendig ist. Sie sehen in der Zukunft die Entste-hung einer Weltgemeinschaft von einzelnen Individuen. Diese Au-toren (von Karl Marx bis Jürgen Habermass) begreifen nicht, dass durch die Gleichschaltung der Kulturen ein Ende der kulturellen und politischen Entwicklung kommt. Die Vertreter dieser Konzep-tionen sehen auf die Zukunft der Nationalstaaten sehr skeptisch. Sie denken, dass die Nationalstaaten (wie auch die Nationen) bald durch die Weltgemeinschaft, oder durch einen Weltstaat aufgeho-ben werden müssen.

Das heißt, den Nationalstaat kann man als eine Übergangs-form vom altem Imperium zur neuen Gemeinschaft der modernen Staaten betrachten. Nehmen wir als ein Beispiel die europäischen Staaten. Das frühere große Imperium der Franken hat fast alle eu-ropäische Staaten im ihren heutigen Zustand umfasst. Heute stellt die Europäische Union wieder eine politische Gemeinschaft dar, die traditionelle Nationalstaaten teilweise ersetzen soll.

Genau den gleichen Unterschied kann man heute bezüglich West- und Osteuropa feststellen. Im Westen vereinigen sich die alten Nationalstaaten in der Europäischen Gemeinschaft. Die Gren-zen zwischen ihnen lösen sich langsam auf. In Osteuropa und Russ-

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land zerfallen die alten Imperien und es formieren sich neue Natio-nalstaaten oder Nationen.

Wenn es aber alles richtig ist, dann stellt sich die Frage, wie der heute angefangene politische Prozess der Teilung des osteuro-päischen Völker und der Einigung der westeuropäischen Nationen erklärt werden kann? Die Antwort lässt sich mit Hilfe der folgen-den Tabelle illustrieren:

Imperium

Nationen

Gemeinschaft

Russland

Peter der Grosse

Russische Fö-deration, Uk-raine, Poland, u.s.w.

GUS

Europa

Karl der Grosse

Frankreich, Deutschland, England, u.s.w.

EU

Hier kann man sehen, dass die europäischen Staaten auf dem

Weg von alten Nationen, und die osteuropäischen Völker auf dem Weg zu neuen Nationen sind. Das erklärt die heutigen politischen Veränderungen und Grundzügen neue historische Periode.

Seit 1991 spricht man immer mehr vom Nationalismus. Fast alle unabhängigen Republiken in Sowjetunion sind auf Grund nati-onalistischer Ideen entstanden. Besondere Beispiele dafür hat man im Baltikum, in der Ukraine und in Tschetschenien. Der Wachs-tumsprozess des Nationalismus in Osteuropa vollzog sich gleich-zeitig mit der Überwindung der nationalen Grenzen in Westeuropa. Diese Tatsache bestätigt meine These, dass sich Ost- und Westeu-ropa unterschiedlich schnell entwickeln. In Westeuropa sind die

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Prozesse der Nationalbildung und die Entstehung der Nationen schon abgeschlossen, während sie in Osteuropa noch am Anfang stehen. Besonders betroffen ist natürlich die Russische Föderation, weil auf ihrem Territorium mehr als hundert verschiedene Völker und Nationalitäten leben.

Reformen der 90er Jahren Die demokratischen Reformen der 90er Jahre haben die Pro-

zesse der Nationenbildung verstärkt. Die Idee der Schaffung eines eigenen Nationalstaates verfolgen viele Völker des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches. Als Ergebnis dieses langen ge-schichtlichen Prozesses, der schon im 19. Jahrhundert mit dem pol-nischen Aufstand begann, kommt es zur Formierung neuer Natio-nalstaaten auf dem Territorium des alten Russischen Imperiums. Die Sowjetunion kann man in dieser Hinsicht als den vergeblichen Versuch, die Prozesse der Auflösung des Imperiums zu stoppen, betrachten. An die Stelle der alten Religion treten nach der Periode der internationalen marxistischen Ideologie heute nationalistischen Ideen. Für die neue Epoche sind Individualismus und Rationalis-mus typisch, dem im sozialen Bereich der Übergang von der Ge-meinschaft zur Gesellschaft (Tönnies) entspricht. Russland gelang-te dadurch in den Augen der Slawophilen und Eurasier nach einem jahrhundertlangen „organischen Wachstum“ in eine Phase des Ver-falls.

Als einen ersten Ausdruck dieses gesellschaftlichen Verfalls kann man bereits die Spaltung der ehemaligen russischen Elite in Westler und Slawophile ansehen, die sich gegenseitig bekämpften und das Land innen- und außenpolitisch lähmten367. Im späteren Bürgerkrieg (1917–1921), in dem die Kommunisten die Rolle der Westler übernahmen, standen sich die beiden politischen Lager un-versöhnlich gegenüber und ruinierten in ihrem Kampf gegeneinan-

367 Zu einem anderen Urteil ist Vladimir Solovjev am Ende des 19. Jahrhunderts gelangt. Er hielt die politische Lage Russlands für so gefestigt, dass er meinte, es könne konsequenter Weise auf eine große, ausgreifende Außenpolitik verzichten (Vgl. Vladimir Solovjev, Socinenija, Moskva 1993, S. 14).

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der das Land. Diese historischen Ereignisse sind so interpretiert worden, dass Russland in eine Bruchphase (Lev Gumilev) geraten ist368. Diese politischen Prozesse spielten sich vor dem Hintergrund einer forcierten Verstädterung Russlands ab. Die alten Klassen, der Adel und die Bauern, sind gewaltsam enteignet und vernichtet worden. Die neue Klasse wurde von der besitzlosen städtischen Bevölkerung gebildet.

Seit 1861 hat es in Russland bis zum heutigen Tage permanen-te Reformen gegeben. Die erste Reform 1861 hat die Leibeigen-schaft der Bauern aufgehoben. Etwas später kam es zu Reformen im Bildungs-, Verwaltungs- und Gerichtswesen. Pjotr Stolypin hat am Anfang des 20. Jahrhunderts die große Agrarreform durchge-führt. Die kommunistischen Reformen nach 1917 haben das Land völlig verändert. Die Reformen, die in den achtziger Jahren Michail Gorbatschow eingeleitet hat, waren eine der letzten großen Re-formversuche im 20. Jahrhundert. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war Russland ein Agrarland. Heute, am Anfang des 21. Jahrhun-derts, lebt die Mehrheit der russischen Bevölkerung in den Städten. Diese wichtige geschichtliche Umwälzung, die in den letzten zwei Jahrhunderten in Russland stattfand, hat zwar das ganze gesell-schaftliche Leben des Landes verändert, aber die rationalistisch-reformistische Philosophie, die im 19. Jahrhundert formuliert wur-de, hat sich bis heute erhalten. Sie bildet derzeit den Boden für neue Reformen. Die alten Parteien sind wieder da. Die Westler sind heute die Demokraten, die Slawophilen die Patrioten, und die Neo-Eurasier spielen die Vermittlungsrolle wie einstmals die Boden-ständigen.

Die Reformen der 90er Jahre sollen wieder der Übernahme europäischer Formen dienen, obwohl die natürliche Neigung zum Europa erneut nicht ganz konsequent ist. „Das zerklüftete, nach-sowjetische Russland ist Europa wieder nächergerückt.“ - schreibt Schlögel und fügt hinzu: „Das nachsowjetische Russland hat auch seine Nähe zu Asien wieder entdeckt. Mit dem Ende der sowjeti-schen Zeit bricht der Dualismus wieder hervor, das Doppelgesicht

368 Lev Gumilev, Etnogenez i biosfera Zemli, Moskva 1993, S. 237.

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wird wieder sichtbar.“369 Die in Russland herrschende politische Ordnung war immer eher autoritär als demokratisch, im Sinne der geringeren Rolle der einzelnen Persönlichkeit und einer starken Machtkonzentration um eine führende Schicht. Dies ist eine der wesentliche Unterschied zwischen dem europäischen und dem rus-sischen politischen System. Allein aus diesem Grund ist die Teil-nahme Russlands als gleichberechtigter Staat im Rahmen der Euro-päischen Union und der NATO fraglich. Russland hat seinen eige-nen Standard entwickelt, der kaum zum europäischen passt. Und umgekehrt, die europäischen Normen lassen sich sehr schwierig auf russischem Boden verwirklichen. Dies tut jedoch einer Zu-sammenarbeit auf den verschiedenen Gebieten von Wissenschaft und. Wirtschaft keinen Abbruch Meiner Meinung nach kann das westliche demokratische Modell noch auf lange Zeit für das russi-sche politische Leben nur als Ideal dienen. Bis dahin werden die gegebenen Tatsachen und die natürlichen Bedingungen des Landes jedem noch so idealistisch gesinnten Führer eine bestimmte Politik aufzwingen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts, sind in Russland drei sehr ver-schiedene Positionen im Hinblick auf Europa zu erkennen, die in-haltlich aber eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des 19. Jahrhun-derts aufweisen:

Die erste Position nenne ich die „Gorbatschow-Option“, weil das Wort von dem „gemeinsamen europäischen Haus“ von ihm stammt. Seiner Ansicht nach war und ist in Europa auch für Russ-land ein Platz reserviert. Beide können gemäß den Anwälten dieser Option von ihrer engsten Verbindung nur profitieren. Sie benötigen einander.370 Die zweite Position, die ich die „Putin-Option“ nenne, ist dadurch gekennzeichnet, dass ihre Vertreter für Russland eine besondere Mission reklamieren, die früher auch von anderen euro-päischen Nationen für sich in Anspruch genommen worden ist, die Russland aber heute von ihnen allen unterscheidet. Es ist dies die

369 Ibid., S.41. 370 Zu ihren Vertretern zähle ich Jurij Borko, Vjatscheslav Daschitschev und Igor Maximitschev, alle drei Akademiemitglieder.

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Stellung einer Weltmacht neben den USA, China etc., aber auch neben Europa.

Eine dritte Position lässt sich, wie ich es tue, als „eurasische Option“ klassifizieren. Ihre Vertreter verwerfen sowohl eine euro-päische wie eine weltpolitische Orientierung. Ihre Vision ist die Schaffung einer spezifisch “eurasischen Volksgemeinschaft“, einer engen Verbindung des russischen Volkes mit den früher in seinen Grenzen lebenden asiatischen Völkerstämmen.371 Die Unterzeich-nung des Maastricht Vertrags war fast zeitgleich mit dem Zerfall der Sowjet Union. Ist es eine rein zufällige Übereinstimmung oder etwas mehr? In Westeuropa entwickelten sich Prozesse der Integra-tion, in Osteuropa - umgekehrt - die Prozesse der Desintegration. In Westeuropa hat man sich für eine Währung entschieden in Osteu-ropa für mehrere. Allein auf dem Territorium der ehemaligen Sow-jetunion sind fünfzehn neue Währungen entstanden. Was sind die geschichtlichen Gründe dafür? In diesem Vortrag möchte ich einige Seiten der Reformen in Russland nennen, die die Transformations-prozesse in ganz Osteuropa prägten.

In der Reformzeit der 90-er sind auf einmal so viele Parteien entstanden, dass dies dazu führte, dass der Präsident Jelzin als par-teilos auftreten musste. Die neuen Parteien fanden aber nur wenig Unterstützung bei der Bevölkerung. Außerdem wollen die demo-kratischen Kräfte jetzt nicht mehr als eine Partei auftreten, sondern als eine Bewegung. In Wirklichkeit gibt es aber zwei große Partei-en in Russland. Auf der einen Seite die Partei der demokratischen Reformen, sprich die herrschende politische Elite und auf der ande-ren Seite die Partei der Opposition, die gegen Reformen wirkt. Die-ses doppelparteiliche System erinnert an eine Aufteilung der politi-schen Elite in Russland in Weiße und Rote, wie sie während des Bürgerkriegs 1917-1920 entstand.

Demokratie wurde von allen politischen Gruppen von Anfang an akzeptiert. Keine Partei hat sich öffentlich gegen Freiheit geäu-ßert. Aber das erste russische Parlament hat gegen die Macht der

371 Als ihre Sprecher haben sich Alexander Panarin, Professor an der Moskauer Lomonossow Universität, und Alexander Dugin, offizieller Berater der russi-schen Duma, profiliert.

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Präsident verloren, weil es keine Panzer zur Verfügung hatte. Die Duma muss schon ihren Platz in politischem Nimbus Russland mehr kennen und auf die Grenze seiner Befugnisse achten. Die rus-sische Führung muss sich entscheiden welches Art von Demokratie in Russland sein soll, denn in westlichen Ländern gibt es verschie-dene Modelle von Demokratie. Letztendlich hat man sich für die Form der Präsidial-Demokratie entschieden, sprich mit einem Prä-sidenten an der Machtspitze. Einige wagen es heute, die Macht des Präsidenten mit der des Zaren zu vergleichen. Die Wirklichkeit bestätigt das auch, denn die wichtigsten Entscheidungen unterlie-gen letztendlich immer dem Präsidenten.

Die neue außenpolitische Orientierung Russlands war am An-fang fast völlig europäisch. So auch die Ideen für ein gemeinschaft-liches europäisches Haus von Michael Gorbatschow. Aber im Lau-fe der Zeit hat sich herausgestellt, dass der Westen noch nicht be-reit ist, Russland in ein gemeinschaftliches europäisches System einzuschließen, nur die Länder Ost und Mitteleuropas und der westliche Teil der ehemaligen Sowjetunion. Das wurde besonders nach dem festen Entschluss westlicher Länder die NATO-Erweiterung in Richtung Osten vollziehen deutlich. Für viele proeuropäische und demokratieorientierte russische Politiker war klar, dass Russland wieder allein bleiben muss und nur sich selbst helfen kann.

Wenn man von nationalen Interessen ausgeht, hat Michael Gorbatschow eine negative Rolle in der russischen Geschichte ge-spielt. Sein geschichtlicher Verdienst ist die Auflösung des alten politischen Systems der Sowjetunion. Wahrscheinlich hat er es un-absichtlich gemacht, aber manche Ursachen dieses Geschehens lie-gen in seiner politischen Verhaltensweise. Dazu führte teilweise seine unbestimmte Position in fast allen politischen Fragen. Alle seine große Maßnahmen endeten in einem Fiasko (Alkoholismus-Bekämpfung, der Kampf gegen private Unternehmer, die Einfüh-rung der Staatsqualitätskontrolle bei den Betrieben u. a.). Diese Abwesenheit eigenen politischen Willens führte dazu, dass Gorbat-schow durch verschiedene Menschen und abstrakte Ideen beein-flusst wurde (die Idee des gemeinsamen europäischen Hauses, der

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humane Sozialismus, das “Neue Denken” u. a.). Andererseits war er ein Meister der Demagogie. Er sprach stundenlang und viele hat-ten den Eindruck, dass alles, was er spricht, wahr ist. Aber die Verwirklichung dieser schönen Ideen und die Realisierung dieser guten Vorhaben war nicht da. Deshalb waren viele Leute irritiert. Öffentlich heiß es, dass die kommunistische Partei führende politi-sche Kraft bleibt. In der Praxis, hat er aber viel gemacht, um die Machtposition seiner Partei in der Gesellschaft zu zerstören. Zum Beispiel statt des Postens des Generalsekretärs der Partei hat er den Präsidenten eingeführt. Obwohl Herr Gorbatschow noch lebt, ist er politisch gesehen schon längst tot. Für ihn stimmte bei den Präsi-dentschaftswahlen 1996 nur 0,5% der wahlberechtigten Bevölke-rung.

Jelzins Politik war die Verlängerung von Gorbatschows Poli-tik mit radikalen Mitteln. Alles, was Gorbatschow langsam refor-mieren wollte, machte Jelzin mit einem Schlag, sei es der Zerfall der Sowjetunion oder die Auflösung der Kommunistischen Partei mit seinem Erlass. Der Kern dieser neuen Politik von Jelzin ist die radikale Reformen nach Innen und im Äußeren, die zu Vertrauen und der vollständigen Anerkennung Russlands von Seiten der ent-wickelten industriellen Länder führen sollte. Aber die Zeit, die nach dem Anfang der Reformen vergangen ist, zeigt schon deut-lich, dass die Anerkennung ausbleibt. Es sind schon ganz andere Trends da, wie die neuen Ängste und alten Vorwürfe gegen Russ-land (NATO-Osterweiterung, nichtkonvertibler Rubel, das Entste-hen der Begrifft “Russische Mafia“ und ähnliches). Und das alles geht zusammen mit dem katastrophalen Abstieg der wirtschaftli-chen Produktion, Krise der staatlichen Finanzen, Korruption und immer steigenden Kriminalisierung der Gesellschaft.

Die Hoffnungen, Russland als gleichberechtigten Partner des Westens zu sehen, sind, meiner Meinung nach, vergeblich. Dafür sorgen sowohl kulturgeschichtliche als auch geostrategische Grün-de. Die russische Politik soll sich um die Erhaltung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität des Landes konzentrieren. Das heißt, zuerst die Interessen der einheimischen Bevölkerung in Betracht zu ziehen und nicht immer den für eine neue Utopie, sei es kommunis-

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tische oder kapitalistische opfern. „Der Kalte Krieg ist vorbei“, - sagte Wladimir Putin in seiner

Rede vor dem deutschen Bundestag.372 Noch früher, am siebten und achten November 1991 wurde der Ost-West-Konflikt auf der NATO-Gipfelkonferenz in Rom offiziell für beendet erklärt. Mei-ner Meinung nach ist der Ost-West-Konflikt noch nicht zu Ende. Er ist nur in eine neue Phase übergegangen, die Phase des „Kalten Friedens“373. Der Konflikt ist auch nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, sondern existiert schon seit Jahrhunderten. Auch im 21. Jahrhundert wird sich an der Sache nicht viel ändern. Kern des Konfliktes ist eine Auseinandersetzung zweier Zivilisati-onen, die Samuel Huntington als europäisch und russisch–byzantinisch bezeichnet hat. Ich neige zu zwei anderen Bezeich-nungen: nämlich germano-romanisch und slawisch-turanisch. Die Zivilisationen bilden eine Grundlage für alle politischen Bündnisse, die in ihrem Areal entstehen. Der wichtigste Faktor ist dabei nicht die ethnische, sondern die religiöse Komponente. So bildet die Grundlage der germano-romanischen Zivilisation der Katholizis-mus, im Falle der slawisch-turanischen Zivilisation ist es die Or-thodoxie.

Nach Samuel Huntingtons Auffassung muss man in der mo-dernen Weltpolitik alte Zivilisationen berücksichtigen, die auf Grund der alten Religionen entstanden sind. Als Illustration zur dieser These fügt er eine Weltkarte bei. An den Grenzen dieser Zi-vilisationen entstehen oft Reibungen, die regionale und überregio-nale Konflikte verursachen können. Das Verhältnis zwischen der europäischen und russischen Zivilisation kann man auf geografi-sche Bereiche des Katholizismus und der Orthodoxie zurückführen.

Aus der Abbildung erkennt man, dass die Grenze zwischen europäischer und russisch-byzantinischer Zivilisation auf dem Bal-kan verläuft. Huntington schreibt: „Russland ist ein zerrissenes

372 Vgl. Detlev Lücke, "Der Kalte Krieg ist vorbei", Wladimir Putins Rede im Deutschen Bundestag, in: Das Parlament 40/2001. 373 Den Begriff hat der ehemalige russische Präsident Boris Jelzin in seiner Rede bei dem Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am 2. Dezember 1996 benutzt.

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Land, aber es ist zugleich der Kernstaat eines großen Kulturkreises. Das Nachfolgesystem des zaristischen und kommunistischen Impe-riums ist ein kultureller Block, der in vielerlei Hinsicht Parallelen zu Westeuropa aufweist. Russland steht in enger Verbindung mit zwei überwiegend slawisch-orthodoxen Republiken (Weißrussland und Moldau), Kasachstan sowie Armenien als einem traditionell engen Verbündeten Russlands. Mitte der neunziger Jahre hatten alle diese Länder pro-russische Regierungen, die in der Regel durch Wahlen an die Macht gekommen waren. Enge, aber gespannte Be-ziehungen existieren zwischen Russland, Georgien und der Ukrai-ne. Diese Länder sind ganz überwiegend orthodox (Georgien) bzw. zu einem großen Teil orthodox (Ukraine), sind sich aber ihrer nati-onalen Identität und früheren Unabhängigkeit sehr stark bewusst. Auf dem orthodoxen Balkan unterhält Russland enge Beziehungen zu Bulgarien, Griechenland, Serbien und Zypern, etwas weniger enge zu Rumänien“374.

Ging es im bisherigen Teil der Untersuchung lediglich um den Nachweis der Kontinuität des russischen Geschichtsdenkens, der sinnvoller Weise dadurch zu erbringen war, dass seine Hauptvertre-ter beim Wort genommen wurden, so geht es im folgenden nun-mehr um die Deutung und Wertung dieses Geschichtsverständnis-ses. Hier möchte ich zunächst auf zwei Fragen eingehen: In wel-cher Tradition steht die russische Geschichtsphilosophie? Und: Welche Relevanz besitzt sie in ihrer derzeitigen Version als Neo-Eurasismus im heutigen Russland?

Dass die russische Geschichtsphilosophie in ihrer derzeitigen Gestalt als Neo-Eurasismus in der gegenwärtigen Politik Russlands eine nicht unerhebliche, einigen Beobachtern zufolge sogar heraus-ragende Rolle spielt, ist schwerlich zu übersehen.375 Nach der Aus-kunft der „Moskovskije Novosti“ liegt die Politik Präsident Putins auf der Linie der neo-eurasischen Strömung, wie sie derzeit insbe-

374 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997, S. 200. 375 Vgl. Neuerdings Sonja Margolina, Pax Eurasica - Die russische Idee nimmt Konturen an: Aus russischen Zeitungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 06. 2001, Nr. 146, S. 46.

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sondere durch Michail Deljagin, dem Leiter des Moskauer “Insti-tuts für Probleme der Globalisierung“, dem in rechtskonservativen Kreisen bekannten Geopolitiker Alexander Dugin und dem hier vorgestellten Philosophen Alexander Panarin vertreten wird.376 Was für die Popularität des Neo-Eurasismus spreche, sei der Um-stand, dass er im Gegensatz zu allen „westlich-proatlantischen“ I-deen russischen Ursprungs sei.377 Dies mache sich Putin zunutze. Er verfüge damit über die Vision einer „Pax Eurasica Rossico“, die er der „Pax Americana“ entgegenstelle.378

Was die neo-eurasische Doktrin Putin bietet, ist, dass sie in nuce das Programm für eine Weltmachtstellung enthält. Sie lege geopolitisch den Zusammenschluss eurasischer Staaten zu einem eigenständigen antiwestlichen Block nahe und strebe eine Allianz mit den traditionellen “eurasischen Konfessionen“, der russischen Orthodoxie und der muslimischen geistigen Verwaltung.379

Was hat das Credo Danilewskis für einen Sinn gehabt, dass Konstantinopel unbedingt russisch werden müsse? Was steckt hin-ter der Erwartung Panarins, dass das Heil Russlands ausgerechnet in der Schaffung eines „eurasischen Volkes“ liegen werde? Diese und andere Verlautbarungen geben Sinn nur, insofern Russland auf diese Weise eine besondere, überindividuelle, universelle Mission zugeschrieben wird, die es stellvertretend für die ganze Menschheit oder doch für große Teile von ihr unter Aufopferung seiner selbst zu erfüllen hat.

Der Streit zwischen den verschiedenen Denkschulen um die außenpolitische Orientierung Russlands ist so alt wie die russische Geschichte selbst. Besonders stark ausgeprägt war er im 19. Jahr-hundert in der Debatte zwischen den so genannten Westlern und den Slawophilen. Der Dissens entzündete sich über die Außenpoli-tik Peters des Großen. Er näherte Russland dem Westen an und 376 Vgl. Soweršenno sekretno, vom 30. 05. 2001; Versija, vom 29. 05. 2001; so-wie meine Darstellung der Position Panarins in dieser Abhandlung. 377 Sonja Margolina, a. a. O., S. 46. - Die Autorin ist zu dem Schluss gelangt, dass die „neo-eurasische Bewegung ... Putin in seinem eurasischen Kurs bedin-gungslos, ohne Wenn und Aber,“ unterstützt. Ebd. 378 Vgl. Moskovskije Novosti, vom 1. - 14. 05. 2001. 379 Vgl. Sonja Margolina, a. a. O., S. 46.

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führte das Land damit, nach Meinung der Slawophilen, in die Ka-tastrophe: Durch die Nachahmung westlicher Werte verlöre Russ-land seine eigenständige Kultur. Die Westler orientierten sich hier-bei primär an einem idealisierten Europa, das dem „barbarischen“ Russland das Licht der Aufklärung gebracht hätte.

Dieser Streit mündete nach der Oktoberrevolution in einer großen Diskussion unter den russischen Emigranten der 20er und 30er Jahre. Der Begriff „Eurasismus“ tauchte auf, dem zufolge Russland weder zu Europa noch zu Asien gehöre, sondern eine ei-gene, organisch in sich abgeschlossene Kulturwelt bilde: Eurasien. Bedeutende russische Denker in Prag, Sofia, Paris und Belgrad be-kannten sich zur „eurasischen Idee“, die ein politisch-ideologisches Konzept für die Entwicklung Russlands war. Zu den wichtigsten Vertretern des Eurasismus zählten die Philologe Nikolaj Trubezkoj und der Geograph Pjotr Savickij. Die eurasische Idee entstand durch eine Neudeutung der Tataren-Herrschaft, die Russland von Westeuropa abtrennte. Als Folge gab es in Russland keine Renais-sance, die im Westen die Basis für die gemeinsame europäische Identität legte. Doch im Kampf gegen die Fremdherrschaft der Mongolen vereinigten sich die zahlreichen russischen Fürstentümer zu einem einheitlichen Staat unter der Führung Moskaus.

Für die politische Positionierung des Eurasismus waren fol-gende Ideen wichtig:

1. Die Eurasier lehnten den westlichen Individualismus ab. Er ignoriere die Gemeinschaft und die Existenz eines überindividuel-len Geistes. Das westliche Menschenbild, fürchteten viele russi-schen Intellektuelle im 19. Jahrhundert, wäre das Ende der „weiten russischen Seele“. Vielen ist dieser Begriff nach den Büchern von Fjodor Dostojewskij bekannt, der selbst ein scharfer Kritiker des westlichen Wertesystems war. Das Resultat war eine klare Absage an den Eurozentrismus, die Ablehnung universeller Werte, so wie der Rationalisierung sozialer Verhältnisse oder der Emanzipation des autonomen Individuums.

2. Russlands geographische Lage, seine Mittlerstellung zwi-schen Asien und Europa, trug zur Besinnung auf einen "eurasi-schen" Kulturtypus bei, der sich fundamental vom westeuropäi-

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schen unterscheidet. Die Fläche zwischen Europa und Asien be-zeichnet den eurasischen Raum, der sich nicht einem der beiden Kontinente zuordnen lies.

3. Die Eurasier entwickelten die Idee eines autoritären Staates, der auf der organischen Einheit von Person und Staat, der so ge-nannten "symphonischen Persönlichkeit", und dem orthodox religi-ösen Gemeinschaftsprinzip, der "Sobornost", beruhe. Der Staat galt als Solidargemeinschaft auf der Basis des gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Traditionen und Sitten. Das einfache Volk hat die Eurasier als Träger traditioneller Werte empfunden.

Heutige Debatte, die in Russland nicht neu ist, illustriert gut die russische Ambivalenz gegenüber Europa. Die Frage, ob es zu Europa oder zu Eurasien gehört, hat Russland für sich noch nicht beantwortet. Die intellektuelle „Neue Rechte“ erweitert die eurasi-sche Idee zu einer neuen Ideologie. Sie verbindet die Außenpolitik eng mit dem Begriff „Geopolitik“. Die Selbstwahrnehmung Russ-lands als Zentrum und Führer eines geopolitischen Raumes "Eura-sien" soll dem neuen außenpolitischen Konzept zugrunde gelegt werden. Sogar Präsident Putin bezeichnete Russland als "ein eura-sisches Land". Diesen in der Bevölkerung populären Slogan greifen viele Radikale auf, wenn die Reformen zur Modernisierung des Landes zu scheitern drohen. Im Gegensatz zu den breiten Bevölke-rungsschichten orientiert sich die politische Elite des Landes, allen voran Präsident Putin, in Richtung Westen – zahlreiche Kooperati-onen mit EU und NATO zeugen von dieser Westorientierung.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts kristallisierten sich die un-terschiedlichen außenpolitischen Orientierungen Russlands heraus. Sie stehen unter dem Einfluss von drei Hauptmustern:

1. Die volle und meist unreflektierte Integration in den westli-chen Zivilisationstyp. Im Kern geht es darum, das Land im Zeichen von Demokratisierung und Demilitarisierung als Partner an den Westen anzubinden.

2. Eine nationale Programmatik, deren Kern eine "russische Idee" bildet. Angestrebt wurde eine Restauration des Imperiums. Die Vertreter dieser Programmatik lehnen eine Verwestlichung Russlands kategorisch ab. Die Neo-Eurasier gehören zur dieser

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Richtung. 3. Der so genannte "geopolitische Realismus". Diese Richtung

hat an Einfluss auf die russische Außenpolitik in der letzten Zeit gewonnen, ihre Vertreter werden in Russland oft "Pragmatiker" genannt. Diese Debatte, die in Russland nicht neu ist, illustriert gut die russische Ambivalenz gegenüber Europa. Für die Beziehung zwischen Europa und Russland ist das Verständnis dieser Denk-weise enorm wichtig.

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Schlussbemerkungen Seit dem 19. Jahrhundert findet in Russland ein Prozess des

geschichtlichen Umschwungs statt, den man als Übergang zur neu-en Epoche des Liberalismus bezeichnet kann. Es wird von der The-se ausgegangen, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland eine liberale Partei entstanden ist, die zwei große Pole hatte: die traditionalistisch-monarchistisch-nationalistische und die revoluti-onär-republikanisch-kosmopolitische. Die Vertreter der beiden Richtungen haben sich oft mit dem Thema Europa auseinanderge-setzt. Die Westler waren von der modernen europäischen Entwick-lung, die Slawophilen von der alten europäischen Kultur begeistert. Der kosmopolitische Flügel der russischen liberalen Partei (West-ler) war davon überzeugt, dass die modernen europäischen Werte in Russland herrschen müssen. Der nationalistische Flügel (Sla-wophilen) vertrat die Meinung, dass Russland an seinen eigenen nationalen Werten festhalten müsse.

Die russische Geschichtsphilosophie hat sich im 19. Jahrhun-dert hauptsächlich im Rahmen der slawophilen Geistesströmung konstituiert. Ihre Vertreter haben damit die besondere Eigenart der russischen Kultur unterstreichen sowie die spezielle Lage Russ-lands zwischen Europa und Asien hervorheben wollen.

Für die russische Geschichtsphilosophie, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts von slawophilen Denkern begründet und im 20. Jahrhundert von eurasischen Theoretikern vertreten worden ist, sind folgende Thesen typisch: 1. Die partikularistische Deutung der Weltgeschichte und der damit verbundene Zweifel an einem stän-digen Fortschritt der Menschheit; 2. Die Ablehnung der Begriffe “Menschheit“ und "universelle Zivilisation" und der Gliederung der Weltgeschichte in Alte, Mittlere und Neue Zeit für die geschichts-philosophische Analyse; 3. Die Benutzung von Analogien aus dem biologischen Leben bei der Interpretation der Geschichte von ein-zelnen Völkern; 4. Die Vorstellung von der Existenz heterogener Kulturen, die durch die geographische Lage der ihr Angehörenden geprägt sind und ihre eigenen, religiös begründeten Werte besitzen, welche auf andere Kulturen nicht ohne weiteres übertragbar sind; 5.

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Eine negative Einschätzung der modernen europäischen Entwick-lung und die Hoffnung auf eine bedeutsame, geschichtsträchtige Rolle der russischen bzw. der eurasischen, d. h. der russisch-turanischen Kultur.

Die partikularistische Deutung der Weltgeschichte hat zur Folge, dass der weltgeschichtliche Prozess nicht als ein gradliniger verstanden wird, sondern als Aufstieg und Abstieg verschiedener Kulturen.380 Für die Deutung der Weltgeschichte geben Begriffe wie “ewiger Fortschritt“ und “universelle Zivilisation“ keinen Sinn, ebenso die Einteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.

Als Interpretationsschema geschichtlichen Wandels werden gern Analogien aus der Pflanzen- und Tierwelt herangezogen. Die Rede ist von der Geburt und dem Tod von Kulturen, von den Etap-pen ihrer Entwicklung, ihrer Jugend, ihrer Reife und ihrem Alters-stadium. Besondere Aufmerksamkeit kommt bei einer solchen Be-trachtungsweise naturgemäß der “Blütezeit“ einer Kultur zu. In diesem geschichtlichen Moment bringen Völker kulturelle Höchst-leistungen hervor, von denen sie und ihre Nachfolger noch lange zehren. Aber gleichzeitig beginnt damit ihr Niedergang. Sie geraten in eine Krise, der sie aus eigenen Kräften nicht zu entrinnen ver-mögen, an deren Ende vielmehr ihr unabwendbarer Untergang steht.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leisteten Nikolaj Danilevskij und Konstantin Leontjev einen besonderen Beitrag zur Entwicklung der russischen Ideengeschichte. Sie gaben der russi-sche Geschichtsphilosophie ihre endgültige Form. Ihnen gebührt daher ein zentraler Platz in der russischen Geschichtsphilosophie, was heute auch von vielen Autoren anerkannt wird. Vladimir So-lovjev vollzog in seiner geistigen Evolution den Übergang vom Slawophilen zum Westler. Er hat die europäische Philosophie an-fangs stark kritisiert, hat sie aber nichtsdestoweniger hoch ge-schätzt, ist später aber als scharfer Kritiker slawophilen Gedanken-

380 Die “Kulturen“ werden von den Vertretern der russischen Geschichtsphiloso-phie unterschiedlich benannt: Kulturtypen, Zivilisationen, Supersysteme, Supe-rethnien etc.

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gutes hervorgetreten. Er hat sowohl den Panslawismus als Pro-gramm des russischen Nationalismus verworfen wie der russischen Kultur einen eigenen zivilisatorischen Rang abgesprochen, hat schließlich sogar für die Unterstellung der orthodoxen unter die ka-tholische Kirche plädiert. Seine Position ist für die Slawophilen eine Provokation gewesen und hat heftige Debatten ausgelöst.

Die slawophilen Ideen sind im 20. Jahrhundert von den Eura-siern aufgenommen und an die moderne, veränderte Situation an-gepasst worden. Nikolaj Trubezkoj und andere russische Emigran-ten haben die theoretischen Grundlagen für die Weiterentwicklung der russischen Geschichtsphilosophie gelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind in der Sowjetunion eurasische Ideen im Untergrund virulent geblieben. In diesem Zusammenhang ist vor allem Lev Gumilev zu nennen, der sich selbst auf die Tradition der russischen Geschichtsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts berufen hat. „Wie Danilevskij, hat Gumilev Russland als eine selbständige kul-turelle Welt verstanden... In diesem Sinne ist die Geschichtsphilo-sophie von Gumilev eine direkte Fortsetzung der Tradition der Eu-rasiertums.“381

Die Superethnien sind in Lev Gumilevs Konzeption durchaus mit den Kulturtypen Nikolaj Danilevskijs vergleichbar. Unter Su-perethnien versteht er Gruppierungen von Völkern, die kulturell ähnliche Grundlagen besitzen und ähnliche Verhaltensweisen ent-wickelt haben, die überdies gemeinsam ein politisches System bil-den. Diese Gruppierungen stellen die höchste Ausformung gesell-schaftlicher Organisation dar. Die ganze Menschheit kann dagegen ihm zufolge nicht organisiert werden, weil die Völker der Erde zu vielfältig sind. Ihre natürlichen Lebensumstände sind, bedingt durch die Verschiedenheit ihrer geographischen und ethnischen Bedingungen, sehr unterschiedlich, und dementsprechend sind es auch ihre Lebensweisen.

Die Eurasier überhaupt und die Neo-Eurasier insbesondere haben, darin mit den “Bodenständigen“ im 19. Jahrhundert ver-gleichbar, einen mittleren Weg einzuschlagen versucht. Ihr Bestre-ben, sich veränderten sozialen und politischen Situationen anzupas- 381 M. A. Maslin (Hrsg.), Russkaja filosofija, Moskva 1995, S. 125.

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sen, hat sie veranlasst, sich von alten, den Slawophilen vertrauten Werten und von ihnen geschaffenen Traditionen abzuwenden.382 Das ist in meinen Augen ein Grund, weshalb neo-eurasische Ideen im heutigen Russland so große Aufmerksamkeit erfahren. Der Ver-such der Eurasier in den 20er Jahren, einen Platz zwischen dem al-ten zaristischen und dem damals neuen kommunistischen Russland zu besetzen, ist mit dem Bestreben der Neo-Eurasier vergleichbar, eine ideologische Brücke zwischen dem sich liberal gebenden Post-Kommunismus und der alt-russischen, eng mit der orthodoxen Re-ligion verbundenen Tradition zu schlagen. Deshalb vereinigt ihre Lehre in sich nur schwer zu Vereinbarendes: orthodoxes, kommu-nistisches und liberales Gedankengut – aber gipfelt, damit ganz in der Tradition slawophiler Geschichtsdeutung stehend, in der Zusa-ge eines neuen Anfangs der russischen Geschichte.

Unter der von mir gemachten Voraussetzung, dass der ge-schichtsphilosophische Diskurs in Russland nicht nur die politi-

schen Strömungen beeinflusst, sondern bis zu einem gewissen Gra-de auch das russische Selbstverständnis widergespiegelt hat, lässt

sich gegenwärtig konstatieren: Zwar spielen traditionelle imperiale und sowjetische, panslawistische, westlerische und eurasische Op-tionen auch gegenwärtig noch eine ephemere politische Rolle, doch

hat der geopolitische Rückfall Russlands auf petrinische Zeiten zwei andere Optionen in den Vordergrund gerückt: den heute of-fensichtlichen putinschen Weg der Wiedererlangung alter Stärke und imperialen Ansehens als globaler Mitspieler und den heute

noch verdeckten medwedjewschen Weg der Akzeptanz des status quo und der Konzentration auf die Modernisierung Russlands.

382 In diesem Sinne sind die Neo-Eurasier eine Art von “russich-orthodoxen Protestanten”, die nur einen Teil der alten orthodoxen Tradition übernommen und sich neuen Ideen geöffnet haben.

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