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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 66. Jahrgang 6 / 03 ISSN 0721-2402 H 54226 „Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“ – Weltanschauungsarbeit als ökumenische Aufgabe Gott auf MTV – Religiöse Botschaften von Videoclips Postmoderne Heilung durch Energiemedizin Der Koran als Quelle militärischer Stärke Wie naiv ist unser Dialog mit Muslimen? Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

66. Jahrgang 6/03IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

„Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“ –Weltanschauungsarbeit als ökumenischeAufgabe

Gott auf MTV –Religiöse Botschaften von Videoclips

Postmoderne Heilung durch Energiemedizin

Der Koran als Quelle militärischer Stärke

Wie naiv ist unser Dialog mit Muslimen?

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Reinhard Hempelmann„Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“Evangelische Weltanschauungsarbeit als ökumenische Aufgabe 203

Andreas ObenauerGott auf MTVDie religiösen Botschaften von Videoclips und die Frage nach ihrer Rezeption 214

Michael UtschPostmoderne Heilung durch EnergiemedizinTechnische Kontrolle über den feinstofflichen Körper? 219

Heinz-Jürgen LothAin-al-yaqeen: Der Koran als Quelle militärischer Stärke 224

Ulrich DehnWie naiv ist unser Dialog mit Muslimen?Anmerkungen zu Johannes Kandel: „Lieber blauäugig als blind“? 228

EsoterikKawwana – Kirche des Neuen Aeon: Neue Entwicklungen 232

GesellschaftSterbehilfe 234

Zunehmende Säkularisierung 235

IslamIslam in Frankreich 236

INHALT MATERIALDIENST 6/2003

IM BLICKPUNKT

BERICHTE

INFORMATIONEN

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Hanne LandbeckGeneration SoapMit deutschen Seifenopern auf dem Weg zum Glück 236

Christoph ElsasReligionsgeschichte EuropasReligiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart 238

BÜCHER

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Im Kontext religiös-weltanschaulicherVielfalt ist Wahrnehmungs- und Unter-scheidungsfähigkeit eine zentrale Voraus-setzung für die Entwicklung religiöserIdentität und eines christlichen Orientie-rungswissens. Evangelische Weltanschau-ungsarbeit möchte dazu einen Beitrag leis-ten. Sie tut dies in Bindung an die HeiligeSchrift und an die reformatorischen Be-kenntnisse, zugleich im Gespräch mit derZeit und angesichts unübersehbarer Wand-lungsprozesse der religiösen Landschaft.

Christlicher Glaube als Schule des Sehens und Unterscheidens

Der christliche Glaube kann bezeichnetwerden als Schule des Sehens. Dabei wer-den die Augen für das Verstehen der Bibelgeöffnet, aber auch für die Wahrnehmungvon kulturellen und religiösen Situationen,in denen die Botschaft des EvangeliumsGestalt gewinnt. Das Rechenschaftgebenvom christlichen Glauben geschieht niekontextlos. Es gehört zur inkarnatorischenStruktur der christlichen Wahrheit, dass siein verschiedene kulturelle Situationeneingeht und in diesem Eingehen ver-schiedene Ausformungen erfährt. DieseGestaltwerdung des Glaubens geht offen-sichtlich Hand in Hand mit dem, was imAnschluss an die von der Vereinigten Evan-gelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands(VELKD) und der Arnoldshainer Konferenz(Akf) herausgegebene Studie „Religiosität,Religionen und Christlicher Glaube“ als

Konfessionalisierung und Indigenisierungbzw. Inkulturation bezeichnet werden kann.1Die Vielfalt von Kirchen und Kirchenver-ständnissen zeigt dabei einerseits den Reich-tum der Gnade Gottes an. Sie ist andererseitsaber auch ein Zeichen der „Zerreißung deseinen Leibes Christi“.2 In den konfessionellenAusformungen geschieht nicht nur dieKonkretion des christlichen Zeugnisses, son-dern auch seine Verdunkelung. Alle konfes-sionellen Traditionen berufen sich dabei aufdie Heilige Schrift und die Kirche des An-fangs. Sie sehen diesen Anfang freilich per-spektivisch, im Zusammenhang ihrer eige-nen ekklesialen und kulturellen Kontextuali-tät. Auch in der Weltanschauungsarbeit istdie Wahrnehmung und Beurteilung religiös-weltanschaulicher Strömungen mitbestimmtdurch konfessionell geprägte Perspektiven.Gleichzeitig ist gerade dieser Arbeitsbereichein durchaus eindrucksvolles Beispiel füreine langjährige fruchtbare ökumenischeZusammenarbeit. Die in der Geschichte desÖkumenischen Rates der Kirchen wirksamgewordenen Perspektiven zur Stärkung derGemeinschaft der Christen und der Kirchenhaben dabei allesamt eine Rolle gespielt: dieSuche nach Gemeinschaft im diakonischenDienst, in der missionarischen Sendung undim gemeinsamen Bekennen des Glaubens.3Christlicher Glaube ist zugleich eineSchule des Unterscheidens. „Wir sollenMenschen sein und nicht Gott“. DieserSatz artikuliert ein elementares Unter-scheidungskriterium reformatorischer Theo-logie, das für evangelische Weltanschau-

IM BLICKPUNKTReinhard Hempelmann

„Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“Evangelische Weltanschauungsarbeit als ökumenische Aufgabe

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ungsarbeit eine zentrale und bleibendeOrientierungsperspektive enthält. Wiewahrnehmungsfähig sind religiöse odervermeintlich religiöse Orientierungen fürdiese Grenzen des Menschen? Am Um-gang mit der Begrenztheit menschlichenLebens scheiden sich die Geister. Dies giltfür den Umgang mit Religionsformen, diedem Menschen suggerieren, er selbst ver-füge über alle Kräfte der Heilung und Erlö-sung. Erinnert werden muss daran auchangesichts der Erfolge der Genforschung.Der wissenschaftlich-technische Fortschrittnährt erneut optimistische Visionen voneiner heilen Welt und einem unbe-schädigten, von Krankheit und Leid ver-schonten Leben. Der Technisierungspro-zess ist von dem unverkennbaren Be-mühen bestimmt, Grenzen zu überschrei-ten bis hin zu expliziten Unsterblichkeits-phantasien.

Weltanschauungsarbeit als Praxisfeld

Weltanschauungsarbeit ist die Bezeich-nung für ein übergemeindliches kirch-liches Handlungsfeld, in dem es um Infor-mation, Deutung, Aufklärung über re-ligiös-weltanschauliche Gruppierungenund Strömungen geht. Zu diesem Praxis-bereich gehören Informations- undBeratungsangebote, die der Gesamtkirche,Gemeinden, Einzelpersonen, darüber hin-aus auch kommunalen Einrichtungen undeiner breiten gesellschaftlichen Öffent-lichkeit zur Verfügung gestellt werden. AufEKD-Ebene ist es die Evangelische Zentral-stelle für Weltanschauungsfragen (EZW),die sich als zentrale Studien-, Auskunfts-und Beratungsstelle in diesem Handlungs-feld durch eine umfangreiche Öffentlich-keitsarbeit beteiligt, u.a. durch die Heraus-gabe der Monatszeitschrift Materialdienst.Zeitschrift für Religions- und Weltanschau-ungsfragen und ca. dreimal im Jahrerscheinende EZW-Texte. Sie hat ihre Ar-

beit in verschiedenen Referatsbereichenorganisiert: 1. Grundsatzfragen, Strömun-gen des säkularen und religiösen Zeitgeis-tes, neue christliche Bewegungen; 2.Außerchristliche Religionen, östliche Reli-giosität und Spiritualität; 3. ChristlicheSondergemeinschaften (z. B. Neuaposto-lische Kirche, Jehovas Zeugen, Mormo-nen); 4. Esoterik, Okkultismus, Spiritismus,Theosophie, Anthroposophie; 5. ReligiöseAspekte der Psychoszene, weltanschau-liche Strömungen in Naturwissenschaftund Technik, Scientology. Innerhalb der VELKD befasst sich der Ar-beitskreis Religiöse Gemeinschaften mitweltanschaulichen Fragen. Er gibt das„Handbuch Religiöse Gemeinschaften undWeltanschauungen“ heraus, das inzwi-schen in fünfter Auflage erschienen ist.4Dem Arbeitskreis gehören auch Lan-deskirchliche Beauftragte an, die aus Kir-chen der jetzt neu konstituierten UnionEvangelischer Kirchen (UEK) kommen. Aufder Ebene der Landeskirchen nehmen Be-auftragte für Weltanschauungsfragen dieseAufgabe wahr, die sich in der KonferenzLandeskirchlicher Beauftragter zusammen-geschlossen haben, und ihrerseits mit re-gionalen Arbeitskreisen und örtlichenBeauftragten, Bildungseinrichtungen undGemeinden kooperieren. Von Seiten derrömisch-katholischen Kirche sind ver-gleichbare Strukturen entwickelt worden.Die Anliegen christlicher Weltanschau-ungsarbeit finden ebenso in zahlreichenFreikirchen Resonanz. Angesichts der Breitedes Arbeits- und Themenfeldes von Welt-anschauungsarbeit ist diese auf Kooperationmit anderen kirchlichen und wissen-schaftlichen Stellen angewiesen, ebenso aufKontakte mit Eltern- und Betroffeneninitia-tiven. Die Internationalität neuer religiöserBewegungen und weltanschaulicher Strö-mungen erfordert ein vermehrtes Bemühen,deren wissenschaftliche Erforschung in an-deren Ländern wahrzunehmen und vom

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Umgang anderer Kirchen mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt zu lernen. Diesgilt insbesondere auch im Blick auf denProzess des Zusammenwachsens derStaaten in der Europäischen Union.

Zum Gegenstandsfeld

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist dieweltanschauliche Situation durch fort-schreitende Säkularisierung bei gleichzei-tiger Revitalisierung von Religiosität undReligion geprägt.5 Nicht Säkularisierungallein, sondern die Entwicklung in Rich-tung eines religiösen Pluralismus ist der fürmoderne Gesellschaften charakteristischeVorgang.6 Evangelische Weltanschau-ungsarbeit beobachtet charakteristischeTendenzen der religiösen Gegenwartskul-tur. Sie befasst sich zugleich mit organi-sierten Religionsformen, und zwar auchsolchen, die jenseits des Hauptstroms re-ligiöser Gemeinschaftsbildung liegen. DieDeutung von Einzelphänomenen undEinzelgruppen empfängt dabei wichtigeImpulse durch die Wahrnehmung der dieGesamtsituation bestimmenden religiös-weltanschaulichen Strömungen und um-gekehrt. Der Bezug auf das Umfeld fort-schreitender Säkularisierung und religiöserPluralisierung schwingt in allen Themen-bereichen mit.

• Religiöse Themen und religionsartige Er-scheinungen kommen nicht nur in institu-tionalisierten Religionsgemeinschaftenvor, sondern auch in Werbung, Fernsehen,Kino, Kunst und Wissenschaft. Eine entspi-ritualisierte Kultur verstärkt die Sehnsuchtnach dem Überschreiten vorfindlicherWirklichkeit. Das Profane wird sakralisiert.Um säkulare Formen von Religiositätwahrzunehmen, ist es notwendig, zumin-dest in heuristischer Absicht, auf einenfunktionalen Religionsbegriff zurückzu-greifen. Es ist unübersehbar, dass „Funktio-

nen, die einst hauptsächlich vom Christen-tum gebündelt wahrgenommen wurden,heute von Instanzen, Institutionen und Ak-teuren erfüllt werden, die sowohl vonihrem Selbstverständnis her als auch imalltäglichen Bewusstsein nicht als ‚religiös‘gelten“.7 Die vakante Stelle der Religionbleibt nicht leer. Zwar kann eine funk-tionale Betrachtungsweise die Innenpers-pektive konkreter Religionen nicht errei-chen; denn diese ist aufgrund ihrer unbe-dingten Bindung unverträglich mit derSuche nach funktionalen Äquivalenten.Sie verdeutlicht aber die Unabweisbarkeitder Religionsthematik im Leben der Men-schen. Religion wird zwar einerseitszunehmend in den Bereich des Privatenabgedrängt, andererseits wird unsereLebenswelt immer religiöser. Die funda-mentale theologische Kategorie der Ver-heißung (promissio) findet Äquivalente inzahllosen Versprechen und Tröstungensäkularer Religiosität, die Weltbildfunktio-nen erfüllen und dem Bedürfnis nach Sinn,Identitätsstiftung, Kontingenzbewältigungund einer umfassenden Daseinsdeutungnachkommen. Religiöse Sprache, wie sie inder Säkularität begegnet, fordert zur Entzif-ferung heraus. In profanen Zusammenhän-gen muss Religiöses entdeckt werden.• Zugleich wirkt sich der moderne Kon-sumismus und Eklektizismus auch in reli-giöser Hinsicht aus. Religiös-säkulare Misch-phänomene werden marktförmig angebotenund teilweise hemmungslos kommerziali-siert. Religiöses wird säkular „verpackt“,beispielsweise als Entspannungstechnikoder Therapieangebot, oder Nichtreligiösesumgibt sich aus strategischen Gründen mitdem Schein des Religiösen. • Esoterische Systeme und Praktiken arti-kulieren sich innerhalb des abendländi-schen Kulturraums oftmals „antimodernis-tisch“ und greifen bewusst auf vormod-erne Traditionen zurück, bleiben freilichin ihrem Protest an die Determinanten der

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Moderne gebunden oder artikulieren sichals charakteristischer Ausdruck postmo-dernen Lebensgefühls. Wouter J. Hane-graaff hat an der sogenannten „New-Age-Spiritualität“ gezeigt, dass sich in dieserein neuer Typ säkularer Religion Geltungverschafft, für den die Verselbständigungder „Spiritualität“ gegenüber traditio-nellen Religionen und seine direkte Ein-bindung in die säkulare Kultur charakte-ristisch ist.8• Östliche Religiosität versteht sich alstherapeutisches Angebot für den säkula-risierten, spirituell verarmten Menschenwestlicher Gesellschaften. Die zuneh-mende, vor allem islamische, aber auchbuddhistische Präsenz in westeuropäi-schen Gesellschaften wirft Fragen nachKonvivenz, Dialog und Mission auf, diegegenwärtig auf verschiedenen Ebenenkirchlichen Handelns diskutiert werden. • Religiöse Sondergemeinschaften (Neu-apostolische Kirche, Jehovas Zeugen etc.),sofern sie im Umfeld des Protestantismusentstanden sind, kritisieren dessen moder-nitätsverträgliche Auslegungen des Christ-lichen, insbesondere auf dem Felde der Eschatologie. Neuoffenbarungsgruppen lö-sen sich aus dem Umfeld ihrer „Herkunfts-religion“ und suchen religiöse Autoritätdurch Berufung auf unmittelbare Kund-gaben des Göttlichen neu aufzurichten. Siesind im Anschluss an den amerikanischenSoziologen Rodney Stark gesprochen keine„neue(n) Organisationen (bzw. Organisa-tionsformen) eines alten Glaubens“ (sectmovements), sondern unterstützen Entwick-lungen, die in Richtung neuer Religionsbil-dungen verlaufen (cult movements).9• Pentekostales Christentum und christ-licher Fundamentalismus begreifen sichim Kontext eines dezidiert christlichenSelbstverständnisses und protestierengegen die Bündnisse, die Kirche undTheologie mit der säkularen Kulturgeschlossen haben.

Eine nicht zu vermeidende Gratwanderung

Die Weite des Gegenstandsfeldes unter-streicht die Notwendigkeit, in der Diskus-sion über weltanschauliche Entwicklun-gen und Ausdrucksformen neuer Reli-giosität zu abwägenden Urteilen und dif-ferenzierenden Perspektiven zu kommen.Christliche Weltanschauungsarbeit befasstsich mit komplexen Phänomenen, dieeiner geschlossenen Beurteilung nicht zu-geordnet werden können. Die verschiede-nen Segmente heutiger Religionskulturbedürfen jeweils gesonderter Wahrneh-mung. Sie lassen sich nicht über einenKamm scheren und sperren sich gegenihre Erfassung in dem Schema Kirche –Sekte – außerchristliche Religion. Es ist deshalb auch zu einfach, pauschal ab-grenzende Perspektiven zu entwickelnund christliche Weltanschauungsarbeit als„Antikult-Aktivität“ zu praktizieren. DieVersuchung dazu ist durchaus real, ebensodie Neigung aus einer relativistischen Perspektive heraus die Unterschiedlichkeitreligiöser Orientierungen zu vernachlässi-gen und auf Urteile gänzlich zu ver-zichten. In dem seit Jahrzehnten zu beob-achtenden diffusen und polemischen Be-ziehungsgeflecht zwischen „Kult“ und„Antikult“, zwischen den sog. Sekten, ide-ologischen Gemeinschaften und Psycho-gruppen einerseits und der Aussteiger- undKritikerszene andererseits, kann es – je-denfalls aus der Perspektive der EZW –christliche Apologetik und Weltanschau-ungsarbeit nur als Gratwanderung geben.Sie darf sich weder ausschließlich auf dieInschutznahme der Kulte, Religionsge-meinschaften, weltanschaulichen Ge-meinschaften, Anbieter auf dem Psy-chomarkt konzentrieren, noch auf einenbloßen Abwehrkampf gegen alles religiösFremde und Andersartige reduzieren. Siesollte sich auch in Stil und Sprache am

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christlichen Liebesgebot orientieren undFairness walten lassen in weltanschau-lichen Auseinandersetzungen. Eine strom-linienförmige Anpassung christlicher Welt-anschauungsarbeit an die Anti-Kultbewe-gung ist unverträglich mit ihrem Auftrag,Dienst am Evangelium zu sein. Zugleichmuss sie darauf achten, die Distanz zumGegenstandsbereich der eigenen Arbeit zuwahren. Es kommt darauf an, beideszusammenzuhalten: dialogische Offenheitund Standfestigkeit, Gesprächsbereitschaftund den Mut zur Unterscheidung, gegebe-nenfalls auch zum Protest gegenüberkrankmachender und verletzender Reli-giosität.

Arbeitsweisen und Motive

In den genannten Arbeitsgebieten geht esum die Wahrnehmung der Aufgabe, dieweltanschaulichen und geistigen Strö-mungen der Zeit und Wandlungsprozesseder religiösen Landschaft zu beobachten,zur christlichen Orientierung im religiösenund weltanschaulichen Pluralismus beizu-tragen und einen sachgemäßen Dialog mitAnders- und Nichtglaubenden zu fördern.Beobachten, begegnen, beschreiben, ver-stehen, deuten, beurteilen: dies wären ers-te Schritte, die das Aufgabenfeld evangeli-scher Weltanschauungsarbeit bestimmen.Zur Informationsbeschaffung gehörengeregelte Verfahren: zum Beispiel der Ver-such, die Innenperspektive einer religiösenGemeinschaft zur Kenntnis zu nehmen,ihre inneren Plausibilitätsstrukturen zuverstehen, aber auch Außenperspektiveneinzubeziehen und auf Erfahrungen zuhören, die beispielsweise ehemalige Mit-glieder mit einer Gruppe gemacht haben.Die Kommunikation geht dabei in zweiRichtungen: in die Richtung der religiös-weltanschaulichen Gruppen und Strö-mungen selbst, wie auch in die Richtungvon gemeindlicher, kirchlicher, aber auch

gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Die Er-hellung der Innenperspektive einerGruppe erfordert Methoden und Vorge-hensweisen, die auch sonst im Bereichreligionswissenschaftlicher und theo-logischer Hermeneutik üblich sind. Dabeigeht es darum, das in den Selbstaussagenzum Ausdruck kommende Welt- undWahrheitsverständnis einer religiös-welt-anschaulichen Gemeinschaft oder Strö-mung in seinen Ausdrucksformen, Plausi-bilitätsstrukturen und Begrifflichkeiten zuermitteln. Im Tätigkeitsfeld der Beratungund Begleitung Betroffener sind Methodender Gesprächsführung und der Seel-sorgepraxis zu berücksichtigen. Zugleichwird hier die Kooperation mit Bera-tungsstellen gesucht. Weltanschauungsarbeit geschieht im Zu-sammenspiel verschiedener Motive, dienicht gegeneinander gerichtet sind, son-dern zusammengehören. Aus der jeweili-gen Gewichtung der Motive ergibt sich dasProfil der Arbeit. Weltanschauungsarbeitist bestimmt durch:

• ein hermeneutisches Motiv, das aufVerstehen anderer Glaubensauffassun-gen zielt,

• ein religionskritisches, das auf Protestgegenüber vereinnahmenden Formenvon Religion und Religiosität zielt,

• ein seelsorgerliches Motiv, insofern esum Beratungsangebote für Ratsuchen-de geht,

• ein Toleranzmotiv, insofern es um dasöffentliche Eintreten für die Freiheit derReligionsausübung und das Gesprächmit religiös-weltanschaulichen Minder-heiten geht,

• ein analytisches Motiv, insofern es umdie Wahrnehmung des Kontextes deschristlichen Zeugnisses geht,

• ein theologisch-apologetisches Motiv,insofern es um die Artikulation des un-terscheidend Christlichen geht.

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Dialog als christliche Handlungsperspektive

Das dialogische Eingehen auf Vertreter an-derer Glaubensüberzeugungen ist einechristliche Handlungsperspektive. Sie ent-spricht dem Inkarnationsgeschehen. Derin Jesus zum Menschen und zur Welt kom-mende und seine Nähe ansagende Gottgeht dialogisch auf die Welt ein. Er redetden Menschen an und lässt mit sich reden;er gibt ihm Raum und Zeit zum Leben,Denken, Handeln und Entscheiden. DasEvangelium ist göttliche Selbstmitteilungan die Welt, ein Kommunikationsgesche-hen, das da, wo Gottes Geist wirkt, neueLebenszuversicht und Glaubensgewissheitwirkt und Gemeinschaft zwischen denVerschiedenen stiftet. Insofern werden dieChristen aufgrund der im Evangelium er-kannten Wahrheit zum Dialog geführt.10

Die dialogische Begegnung mit anderenhat einen weiteren wichtigen Grund in derdurch das Geschöpfsein gegebenen Soli-darität aller Menschen. Jeder Mensch lebtvon der Güte des Schöpfers. Der Menschkommt nie ganz von Gott los. Deshalbkonnte Paulus nach dem lukanischenBericht in der Apostelgeschichte in seinerAreopagpredigt den Athenern religiösenErnst bescheinigen und davon reden, dassder „unbekannte Gott“ kein anderer ist alsder nahe Gott, von dem der Psalmbetersagte: „Von allen Seiten umgibst du michund hältst deine Hand über mir“ (Ps139,5). Auf der Grundlage des Schöp-fungsglaubens sieht der Apostel Möglich-keiten eines dialogischen Eingehens aufseine Zuhörer gegeben und formuliertseine Predigt nach dem „Modell einer ge-nialen Verwendung der Denk- und Tatfigurvon Widerspruch und Anknüpfung“ (K. G.Steck). Christlicher Schöpfungsglaubesetzt voraus, dass jeder Mensch EbenbildGottes ist und begegnet ihm entsprechend.Dialog beinhaltet für den Christen die Be-

reitschaft, seine Wahrnehmung des Ande-ren korrigieren und erweitern zu lassen,zugleich aber auch die Chance, den eige-nen Glauben tiefer und deutlicher zu er-fassen. Dialog heißt freilich nicht, aufchristliches Profil zu verzichten. Wer alsChrist nicht bereit ist, die eigene Glau-bensüberzeugung auszusprechen, ist alsGesprächspartner im Streit der Religionenund Weltanschauungen ungeeignet. Dasgilt entsprechend auch für den inter-konfessionellen Dialog. Wahrheitsgewiss-heit und Gesprächsbereitschaft schließensich nicht aus. Das Stehen zur eigenenGlaubensüberzeugung und die Bereit-schaft, sich herausfordern und hinterfragenzu lassen sind für ein Gespräch gleicher-maßen wichtig. In der Begegnung von Re-ligionen und Weltanschauungen treffen„Endgültigkeitsansprüche“ aufeinander, dienicht abstrakt verrechnet werden könnenund sich nicht harmonisieren lassen.11

Deshalb gehört zum Dialog nicht nur dieBereitschaft, dem Anderen mit Achtung,Respekt und Lernbereitschaft zu begeg-nen, sondern auch der Mut, dem christ-lichen Wirklichkeits- und Wahrheitsver-ständnis in seiner trinitarischen StrukturAusdruck zu verleihen und die Bindungchristlichen Lebens an Jesus Christus, denGekreuzigten und Auferstandenen nichtzu verschweigen.

In Auseinandersetzung mit verletzendenFormen von Religion

In der kirchlichen Weltanschauungsarbeittätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeitersind im Gespräch mit Menschen, die re-ligiöse Orientierungen als konfliktträchtig,als krankmachend und in Abhängigkeitführend erlebt haben. Die biblische Tradi-tion (vgl. die prophetische Kultkritik, dievon Jesus betonte Unterordnung der Reli-gionsgesetze unter ihren humanen Zweck,das urchristliche Verständnis des Todes

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Jesu als Ende von sakralen Opferritualen)und der sich von ihr her verstehendeGottesglaube wie auch die reformatorischeTheologie wissen um die Zweideutigkeit derReligion, die unterdrücken und befreien,zerstören und heilen kann.12 EvangelischeWeltanschauungsarbeit hat insofern eineprophetische und religionskritische Aufgabe,die sich gleichermaßen auf Ausprägungendes Christlichen wie auch auf Ausdrucksfor-men anderer Religionen und Weltanschau-ungen bezieht. Zu ihr gehört, was die BibelUnterscheidung der Geister nennt und dasinhaltliche Gestalt gewinnt im Widerspruchgegenüber destruktiven Formen von Reli-giosität: radikaler Weltverneinung, überzo-genen Heilungsversprechen, der Verharm-losung der Gebrochenheit und Begrenztheitmenschlichen Lebens, prophetischen An-sprüchen und neuen Offenbarungen, dieblinde Gefolgschaft erwarten und kritischePrüfung nicht zulassen.

Herausgefordert zur Artikulation des eigenen Glaubens

Der Vollzug evangelischer Weltanschau-ungsarbeit erschöpft sich freilich nicht indem bisher Gesagten. Die Beschäftigungund Auseinandersetzung mit dem fremdenGlauben wirft die Frage nach dem eigenenauf. Was ist christlich? Was macht christ-liche Identität aus? Die Begegnung mitfremder Religiosität fordert heraus zur„Antwort des Glaubens“, zum Rechen-schaftgeben über die christliche Hoffnung(vgl. 1. Petr 3,15f). Dabei geht es nicht umReproduktion der kirchlichen Lehre, son-dern um ein kreatives Geschehen: die Ar-tikulation christlicher Identität unter Ein-beziehung ihres Gegenübers (in Anleh-nung an Reinhart Hummel und Siegfriedvon Kortzfleisch). Insofern dient evange-lische Weltanschauungsarbeit der Kom-munikation des Evangeliums, deren Er-möglichungsgrund die Selbstmitteilung

Gottes in Jesus Christus und im HeiligenGeist ist. Sie sucht die denkerische Verant-wortung des Evangeliums im dialogischenEingehen auf die Strömungen der Zeit undin der Auseinandersetzung mit demAndersglaubenden und dem Nichtglauben-den und artikuliert das christliche Glaubens-zeugnis in einer konkreten Situation. Sie istdarin nicht allein und zuerst Abwehr oderVerteidigung, sondern Mitteilung der Bot-schaft von Gottes freier Gnade und „Selbst-aufklärung der christlichen Kirche im Blickauf ihren kulturellen und im besonderenweltanschaulichen Kontext und ihre Wech-selwirkung mit ihm“13. Allerdings zieltdiese „Selbstaufklärung“ nicht zuerst aufVergewisserung nach innen, sondern suchtden grenzüberschreitenden Schritt zum An-deren. Dabei versteht sich christlicheWeltanschauungsarbeit als Anwalt desEvangeliums und als Anwalt der Menschen.Sie fördert die Wahrnehmungs- und Urteils-fähigkeit der christlichen Gemeinde nachaußen und innen und stärkt die Sprach- undUnterscheidungsfähigkeit eines jedenChristen/einer jeden Christin im begründe-ten und verstehbaren Aussprechen derchristlichen Glaubensperspektive. Ihr Dia-log mit religiös überzeugten oder suchen-den Menschen, mit „konfessionslosen” undpostchristlichen Zeitgenossen hilft derKirche, ihren missionarischen und dia-konischen Auftrag zu erkennen.

Ökumenische Aspekte

(1) Als Teil des missionarisch-diakonischenHandelns der Kirche ist dem skizziertenkirchlichen Handlungsfeld in sehrgrundsätzlicher Weise eine ökumenischeDimension eigen, die im Blick auf denspezifischen Aufgabenbereich „Weltan-schauungsfragen“ etwas ausgesprochennahe Liegendes ist. Wenn es in der Ord-nung der EZW heißt, dass die Arbeit dieserEinrichtung dazu beitragen soll, „die Dar-

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stellung des christlichen Gottes- und Welt-verständnisses im Gegenüber zu anderenGottes- und Weltverständnissen zur Gel-tung zu bringen (ev. Apologetik)“, so ver-bindet diese Aufgabe unterschiedlicheKonfessionen miteinander, auch wenn ihreAusgestaltung konfessionsspezifischeMerkmale aufweisen wird. ÖkumenischeZusammenarbeit im Arbeitsbereich Religi-ons- und Weltanschauungsfragen wird seitJahrzehnten mit wachsender Selbstver-ständlichkeit und zahlreichen erfreulichenErfahrungen praktiziert. Sie drückt sichvielfältig aus: in publizistischer Zusam-menarbeit, in gegenseitiger Informationund Partizipation, in gemeinsamen Veran-staltungen wie dem „Forum Weltanschau-ung“ auf Evangelischen Kirchentagen undKatholikentagen, auf dem ÖkumenischenKirchentag, in der Planung und Durch-führung gemeinsamer Konsultationen.Eine konkrete Gestalt hat diese Zusam-menarbeit im Verhältnis zur katholischenKirche gewonnen, und zwar sowohl aufEKD-Ebene (hier gibt es auch enge Kon-takte zur Schweiz und nach Österreich)wie auch auf regionaler Ebene. Auch zuden Freikirchen bestehen vielfältige Bezie-hungen. Der Zusammenhang von theolo-gischer Arbeit und Besinnung einerseitsund einem aus christlicher Verantwortungkommenden Handeln andererseits istwichtiges Merkmal der skizzierten Arbeits-beziehungen. Die Praxis der Beauftragtenfür Weltanschauungsfragen ist eine „Öku-mene gemeinsamenTuns“. Sie zielt nichtdarauf ab, die großen Themen ökumeni-scher Verständigung explizit zum Gegen-stand der Arbeit zu machen. Sie war des-halb nur begrenzt betroffen von denernüchternden Erfahrungen des ökumeni-schen Dialogs der letzten Jahre.

(2) Im Kontext weltanschaulich-religiöserVielfalt gibt es eine Haftungsgemeinschaftder christlichen Konfessionen für das, was

als authentisches christliches Zeugnis gel-ten kann. Insofern gehört zur Bestimmungdes Christlichen die ökumenische Dimen-sion. Wer zur Familie der sich ökumenischbegegnenden Kirchen gehören soll undkann, bestimmt keine Kirche allein. Evan-gelische Weltanschauungsarbeit beob-achtet Wandlungsprozesse religiöser Ge-meinschaften und beteiligt sich an derMeinungsbildung der Mitgliedskirchen derArbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen(ACK) im Blick auf Gemeinschaften, diesich in Prozessen ökumenischer Öffnungbefinden.

(3) In westlichen Gesellschaften gibt esheute unverkennbar die Tendenz, die Reli-gionsthematik aus der Öffentlichkeit zuverdrängen und ihr lediglich einen Platz inder privaten Lebenswelt zukommen zulassen. Alle christlichen Kirchen stehen vorder Aufgabe, die öffentliche Relevanz deschristlichen Glaubens zu verdeutlichenund zu stärken, sich am öffentlichenDiskurs über die Lebensfragen der Ge-sellschaft zu beteiligen und die aus demchristlichen Verständnis von Mensch undWelt entspringenden Orientierungsper-spektiven in diesen Diskurs einzubringen.

(4) In der Begegnung mit religiösen Son-dergemeinschaften, moderner Esoterik,aggressiver Christentumskritik, dem säku-laren Humanismus, neuen religiösen Be-wegungen, anderen Religionen etc. wer-den konfessionsspezifische Eigenarten re-lativiert. Die Christen schulden ihren Ge-sprächspartnern nicht die Mitteilung voncharakteristischen Differenzen zwischenKonfessionen und Frömmigkeitsprägun-gen, sondern die Darlegung des elementarChristlichen und des unterscheidendChristlichen. Zur Bestimmung dieses un-terscheidend Christlichen aber gehört dieOrientierung am trinitarischen Bekenntnisund an der Rechtfertigungslehre.

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Durch die „Gemeinsame Erklärung zurRechtfertigungslehre“ und der angefügten„Gemeinsamen offiziellen Feststellung“ istzwischen evangelischen Kirchen und derrömisch-katholischen Kirche eine gemein-same theologische Orientierung ausge-sprochen worden, die das christliche Selbst-verständnis konfessionsübergreifend arti-kuliert. Freilich haben auch die Ausein-andersetzungen um die Erklärung die offe-nen Fragen deutlich benannt und zu einerrealistischen Einschätzung ökumenischerVerständigungsprozesse beigetragen. Die Rechtfertigungslehre enthält in nucedas christliche Verständnis von Gott,Mensch und Welt. Sie ist im Selbstver-ständnis der Reformationskirchen das Kri-terium für die Explikation des Christlichen.Denn sie bezeugt Gottes freie Gnadegegenüber allem Volk (vgl. Barmer Theolo-gische Erklärung, These VI, 1934) undbringt christliche Identität konzentriert zurSprache. Sie redet von Gottes gnädigerZuwendung zur Welt, seinem heilvollenHandeln im Leben, Sterben und Auferste-hen Jesu Christi. Sie bezeugt, dass GottesLiebe unverdient zum Menschen kommt,dass sie nicht als Lohn, sondern allein alsGeschenk empfangen werden kann. Waschristlich genannt zu werden verdient,entscheidet sich an der Rechtfertigungs-botschaft. Das trinitarische Bekenntnis zielt daraufab, das Wirken Gottes nicht reduziert aufeinzelne Zusammenhänge, sondern inseiner Fülle in Schöpfung, Erlösung undNeuschöpfung zu erkennen. Gottes Han-deln und Reden ist in trinitarischer Pers-pektive als Schöpfungshandeln, als offen-barendes Handeln und als vergewissern-des und neuschaffendes Handeln zu sehenund zu interpretieren. Zugleich hatte undhat das trinitarische Bekenntnis auch dieFunktion eines umgreifenden Schutzes füralle Glaubensaussagen, eine Unterschei-dungsfunktion inmitten religiös-weltan-

schaulicher Vielfalt.14 Die christliche Reli-gion versteht sich selbst nicht nur als Reli-gion unter den Religionen, sondern auchfür die Religionen. Von Anfang an war dasChristentum eine missionarische Religion.Die geglaubte Universalität des Evangeli-ums enthält auch für die Welt der Religio-nen und Weltanschauungen provozie-rende Perspektiven, z.B. die, dass kul-tisches und sittliches Handeln nicht heils-konstitutiv sind. Provozierend ist diese Per-spektive allerdings nicht nur hinsichtlichzahlreicher religiöser Weltdeutungen undErlösungskonzeptionen, sondern auch füralle gesetzlichen Konzeptionen des Christ-lichen.

(5) Unterschiedliche Wege im Umgang mitStrömungen und Gruppen unserer Reli-gionskultur können gegenseitige Lern-prozesse fördern. Themen neuer Reli-giosität, wie Mystik, religiöse Erfahrung,Meditation, Spiritualität, Glaubensheilung,erscheinen z.B. im Katholizismus inte-grierter als in den evangelischen Lan-deskirchen und den Freikirchen. Dies dürfteder Grund dafür sein, warum eine Spuren-suche zu diesen Themen im Bereich der römisch-katholischen Glaubenstradi-tion leichter fällt. Andererseits hat dieprotestantische Theologie durch ihr Be-stimmtsein durch Grundbegriffe reforma-torischer Rechtfertigungstheologie zahlrei-che Unterscheidungslehren ausgebildet(Person und Werk, Evangelium und Gesetz,Glaube und Liebe, Gott und Mensch), diein der Auseinandersetzung mit demPhänomen neuer religiöser Bewegungenvon großer Relevanz sind. Insofern könntensich evangelische und katholische Wegedes Umgangs mit neuen religiösen Heraus-forderungen bereichern und ergänzen.

(6) Die ökumenische Aufgabe beinhaltetauch die Bereitschaft, die Herausforderun-gen der christlichen Kirchen im europäi-

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schen Kontext, u.a. in Osteuropa wahr-zunehmen, Informationen zu geben undHilfestellungen anzubieten. Ebenso gilt es,von den Lernerfahrungen der weltweitenÖkumene im Umgang mit religiöserVielfalt zu profitieren. Aus einer global ori-entierten Perspektive kann der Prozess derPluralisierung religiöser Orientierungenals Anpassung der Situation in Deutsch-land an die ökumenische Gesamtsituationverstanden werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten:Weltanschauungsarbeit möchte einen Bei-trag zur religiösen Aufklärung leisten. Siemöchte für den Umgang mit religiöserVielfalt Beurteilungskriterien ins Spielbringen. In der Praxis bedeutet dies, dieWahrnehmung für den fremden und deneigenen Glauben gleichermaßen zu schär-fen. Beides ist wichtig zu lernen, Hör-fähigkeit und Auskunftsfähigkeit im Blickauf die eigenen Glaubensgrundlagen. Ver-schmelzungswünsche und Harmonisie-rungsstrategien sind als Antwort auf die

Situation religiöser Vielfalt ebenso un-tauglich wie fundamentalistische Ab-wehrreaktionen, die von starren Musternausgehen und vor allem an scharfen Ab-grenzungen interessiert sind. Die christ-lichen Kirchen verbinden ihr eigenesBekenntnis mit der Achtung fremder re-ligiös-weltanschaulicher Orientierungenund treten für eine aktive Toleranz ein, diefreilich eine Unterscheidung der Geistereinschließt. Weltanschauungsarbeit hilftden Kirchen, den Kontext, in dem derAdressat des Evangeliums lebt, und die Situation, auf die sich das Zeugnis derKirche bezieht, möglichst präzise zu er-fassen. Sie hat dabei unterschiedliche undschnell sich wandelnde Situationenwahrzunehmen und dazu beizutragen,dass das vom Evangelium her bestimmteVerständnis von Gott, Mensch und Weltöffentlich zur Sprache kommt und daschristliche Zeugnis erkennbar bleibt.Dieser Auftrag trennt die christlichen Kon-fessionen nicht, er verbindet sie.

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Anmerkungen

1 Vgl. Religionen, Religiosität und christlicherGlaube: eine Studie, hg. im Auftrag des Vorstandsder Arnoldshainer Konferenz (Akf) und der Kir-chenleitung der VELKD, Gütersloh 1991, 108-117.

2 Ebd., 113.3 Vgl. dazu Harding Meyer, Art. Einheit der Kirche,

in: Ökumene Lexikon, Frankfurt a.M. 1983, 289.4 Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltan-

schauungen, im Auftrag der Kirchenleitungen derVELKD hg. v. Horst Reller, Hans Krech u. MatthiasKleiminger, Gütersloh 52000.

5 Vgl. dazu auch Christoph Schwöbel, InterreligiöseBegegnung und fragmentarische Gotteserfahrung,in: Concilium 37, 2001, 92-104.

6 Vgl. zum Folgenden: Panorama der neuen Reli-giosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Be-ginn des 21. Jahrhunderts, hg. v. Reinhard Hempel-mann u.a., Gütersloh 2001.

7 Hans-Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religionzwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf1998, 16 (Anm. 10) im Anschluss an Franz-XaverKaufmann.

8 Wouter J. Hanegraaff, New Age Religion and Wes-tern Culture. Esotericism in the Mirror of SecularThought, Leiden u.a. 1996.

9 Rodney Stark / William S. Bainbridge, The Future ofReligion, Secularization, Revival and Cult Forma-tion, Berkeley 1985, 24ff. Vgl. dazu auch ReinhartHummel, Religiöser Pluralismus oder christlichesAbendland, Darmstadt 1994, 71ff.

10 Vgl dazu: Ervin P. Vályi-Nagy, Dialog I, allgemein,in: Ökumene-Lexikon, Frankfurt a.M. 1983, 250-253.

11 Vgl dazu: R. Hummel, Religiöser Pluralismus oderchristliches Abendland.

12 Darauf verweist mit Recht die Studie: Gestaltungund Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismusund Kultur im neuen Jahrhundert, Hannover 1999,26.

13 Walter Sparn, Religiöse Aufklärung. Krise undTransformation der christlichen Apologetik imWeltanschauungskampf der Moderne (Teil I), in:Hans Schwarz (Hg.), Glaube und Denken 5, 1992,77-105. Ders., Religiöse Aufklärung. Krise undTransformation der christlichen Apologetik imWeltanschauungskampf der Moderne (Teil II), in:Hans Schwarz (Hg.), Glaube und Denken 5, 1992,155-164, Zit. 159.

14 Vgl. dazu Edmund Schlink, Ökumenische Dog-matik. Grundzüge, Göttingen 1983.

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Theologie und Popmusik: Begegnungenund offene Fragen

Die Beschäftigung mit Popmusik ist in derTheologie gerade „in“. Die Zahl der Veröf-fentlichungen zum Themenkreis Pop-musik und Religion ist fast unüber-schaubar geworden.1 Neben religionspäd-agogisch motivierten Arbeiten, die nachder möglichen Verwendung von Popmusikim Religionsunterricht fragen2, finden sichin der theologischen Diskussion bislangv.a. Arbeiten, die religiöse Inhalte vonPopsongs analysieren.3 Hier wurde in denvergangenen Jahren Beachtliches geleis-tet. Die religiösen Inhalte der Popmusik inihrer ganzen Vielfalt und Unterschied-lichkeit wurden herausgearbeitet. Didak-tische Konzepte wurden im Blick auf dasMedium „Popsong“ neu durchdacht, dieReligionspädagogik insgesamt erhielt An-stöße zu einem vertieften Verständnis derJugendkultur der Gegenwart.Umso erstaunlicher ist es, dass sichsowohl die eher phänomenologisch orien-tierten als auch die religionspädagogischausgerichteten Arbeiten auf die Analyseder Popsongs selbst beschränkt haben.Kaum beachtet wurde, dass Popsongs unddie zugehörigen Videoclips Medien ineinem Kommunikationsprozess sind, indem – vereinfacht gesprochen – voneinem Sender ausgesendete Botschaftenvon einem Empfänger aufgenommen wer-

den. Hier ergeben sich nun grundlegendeFragen: Kommt beim Empfänger über-haupt an, was der Sender mitteilen will?Oder hört und sieht der Rezipient etwasvöllig anderes? Antworten hierauf suchtman in der theologischen Literatur zurPopmusik bislang (fast) vergeblich.4 Sowurde die Frage, ob und wie die – häufigjugendlichen – Rezipientinnen und Rezi-pienten von Popmusik deren religiöse In-halte wahrnehmen, zwar bisweilen ge-stellt, jedoch nicht beantwortet.5

Wie nehmen Jugendliche Videoclips mit religiösen Inhalten wahr?

Hier setzte mein eigenes Forschungsprojektan.6 In einer empirischen Untersuchunghabe ich 100 Schülerinnen und Schüler imAlter von zwölf bis 15 Jahren zu ihrerVideocliprezeption befragt. Die Testperso-nen sahen Videoclips mit religiösen Inhal-ten und beantworteten anschließend einigeteils geschlossene, teils offene Fragen zumjeweiligen Clip. Zudem wurden allgemeineDaten zur Person sowie Haltungen zumThemenkreis Religion7 erfragt.Die Ergebnisse der Untersuchung sind ein-deutig und setzen dicke Fragezeichen hin-ter den bisherigen Umgang der aka-demischen Theologie mit dem Phänomen„Popmusik“. Dominiert hier nämlich weit-hin die Beschäftigung mit den Songtexten,die nach allen Regeln der exegetischen

Andreas Obenauer, Graben-Neudorf

Gott auf MTVDie religiösen Botschaften von Videoclips und die Frage nach ihrer Rezeption

BERICHTE

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und literaturwissenschaftlichen Kunst aus-gelegt werden, ist bei den Jugendlichendie Bedeutung der Songtexte offenbar ge-ring. Viele der befragten Schülerinnen undSchüler konnten entweder gar keine oderaber nur sehr oberflächliche oder ganz un-zutreffende Angaben zum Inhalt des je-weiligen Songtextes machen. Selbst beidem einzigen deutschsprachigen Song,der im Rahmen der Untersuchung vorge-führt wurde, konnten nur wenige Ju-gendliche detailliertere Angaben zu denTextinhalten machen.Die Rezeption der Clips wird bei den Ju-gendlichen ganz deutlich durch die Bilderbestimmt. Die optische Dimension do-miniert. Sie bestimmt die wahrgenomme-nen Inhalte und Botschaften. Von denBildern her ziehen die JugendlichenRückschlüsse auf den vermeintlichen In-halt des Songtextes. Die Bilder des Clipsgeben gemeinsam mit der Musik denAusschlag dafür, ob ein Song Gefallenfindet oder nicht. Diese Dominanz des Optischen hat Aus-wirkungen auch auf die Rezeption vonReligion. Religiöse Motive in Songtextennehmen Jugendliche von sich aus in derRegel nicht wahr. Nur eine verschwin-dend kleine Minderheit erkennt von sichaus in einem Song ein religiöses Thema,wenn dieses nur im Songtext, nicht aberin den Bildern des Videoclips auftaucht.Sobald jedoch die Bilder des Clips re-ligiöse Symbole enthalten, wird einemhohen Prozentsatz der jugendlichenRezipientinnen und Rezipienten bewusst,dass der betreffende Song religiöse Inhalteaufgreift.Dabei ist auffällig, dass wahrgenommeneReligion die Bewertung der betreffendenClips eher verbessert. Im Durchschnittbenoten Jugendliche, die in einem Clipreligiöse Motive rezipieren, diesen besserals die Vergleichsgruppe, die keine re-ligiösen Motive erkannt hat.

Blickt man schließlich auf die Angabender jugendlichen Rezipientinnen und Re-zipienten zum Thema Religion, so fällt einweiteres überraschendes Ergebnis auf: Dieje persönliche Haltung zu Religion undReligionsunterricht hat offenbar keinenEinfluss auf die Bewertung von Popsongsmit religiösen Inhalten. Nur so ist es zuerklären, dass nicht-religiöse Jugendlicheund solche, die ihren Religionsunterrichteher schlecht beurteilen, die in der Unter-suchung vorgeführten Videoclips nichtschlechter bewerteten als religiöse Ju-gendliche und Jugendliche mit positiverMeinung über ihren eigenen Religions-unterricht. Überblickt man die 100 ausgewertetenFragebögen im Ganzen, so fällt auf, dassdie befragten Jugendlichen die gezeigtenVideoclips offenbar individuell sehr ver-schieden wahrnahmen. Die Befragungbrachte eine Fülle von Gedanken und In-terpretationen der jeweiligen Songs zuTage, die keineswegs immer mit der zuvermutenden Aussageabsicht des Clipsübereinstimmen. Jugendliche, so lässt sichdaraus folgern, machen sich offenbarihren eigenen Reim auf das, was sie sehenund hören. Die Bilder der Clips liefern ih-nen Bausteine, um eigene Geschichten zuerzählen und eigene Gefühle auszudrü-cken. Jugendliche greifen ihre eigenenLebensthemen auf, sofern sie in den Songsbereits angelegt sind – wenn nicht, tragensie diese bisweilen von sich aus ein.Hier wird eine Besonderheit des MediumsPopsong/Videoclip deutlich: Mehr als beianderen Medien handelt es sich bei ihnenum „offene Kunstwerke“8. Ihre Geschich-ten werden bewusst fragmentarisch er-zählt. Vieles wird nur angedeutet und kannvon der rezipierenden Person weiter ge-dacht und weiter erzählt werden. Die Mu-sik tut ein Übriges, um bei den Hörerinnenund Hörern Stimmungen hervorzurufen,die wiederum biographisch gefärbt sind

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und ihrerseits Einfluss auf die individuelleInterpretation des Songs nehmen.

Konsequenzen für die kirchliche Arbeit

Videoclips sind komplexe Zeichensys-teme. Man kann ihre Inhalte undBotschaften nur schwer auf den Begriffbringen. Sie sträuben sich gegen Festle-gungen. „Richtige“ und „falsche“ Interpre-tationen lassen sich nur bedingt unter-scheiden. Behandelt man Videoclips nurakademisch gelehrt, geht man an ihrenbesonderen Möglichkeiten vorbei. DieGeschichten, die in den Clips erzählt wer-den, wollen weniger analysiert, alsvielmehr weiter gedacht und weitergeträumt werden. Diese Erkenntnis ist zunächst für die Reli-gionspädagogik bedeutsam. Insbesonderemit Jugendlichen kann man erstaunlicheEntdeckungen machen, wenn man sichim Unterricht auf die semantischen Be-sonderheiten von Videoclips und die da-mit verbundenen Möglichkeiten einlässt.9Mancher sonst eher verschlossene Jugend-liche beginnt sich da zu öffnen. Dennüber das Medium Popsong können eigeneFragen, Wünsche und Sehnsüchte leichterartikuliert werden. Die Figuren der Clipsbieten eine Art Maske. Eigene Gedankenkönnen Fremden in den Mund gelegt wer-den. So können im Unterricht persönlicheErfahrungen – auch Glaubenserfahrun-gen! – leichter artikuliert und bearbeitetwerden. Dies gilt umso mehr, als Video-clips für Jugendliche ein affektiv positivbesetzter Teil der eigenen Lebensweltsind. Popmusik gehört für die meistenSchülerinnen und Schüler fest zu ihremAlltag, und sie sprechen in der Regel ger-ne über „ihre“ Musik. Wo einem Bibeltextvon so manchem Jugendlichen von vorn-herein geringe Plausibilität und Alltagsre-levanz zugebilligt wird, stoßen religiöseBotschaften von Popmusikern auch bei

nicht-religiösen Jugendlichen eher auf In-teresse. Ein religiöser Clip wirkt so wieeine Brücke, über die ein nicht-religiössozialisierter Jugendlicher ins Land derReligion und des christlichen Glaubensvordringen kann.Von den religionspädagogischen Über-legungen zur Verwendung von Popsongsim Unterricht her fällt auch ein Licht aufandere Bereiche kirchlichen Lebens. Ins-besondere bei Kasualien spielen Werkeder populären Kultur eine immer größereRolle. Auch hier können Elemente derPopkultur eine Brückenfunktion erfüllenund so gerade kirchendistanzierten Men-schen den Zugang zu einer Welt erleich-tern, die ihnen fremd geworden ist. Aberauch auf diesem Gebiet wird deutlich,dass die komplexen Symbolisierungen,die Popsongs bieten, von einzelnen Men-schen unterschiedlich entschlüsselt wer-den. Wenngleich der empirische Nach-weis noch nicht geführt ist, darf vermutetwerden, dass auch Erwachsene – ähnlichwie Jugendliche – in Popsongs ihre eige-nen, persönlich gefärbten Erfahrungeneinbringen und von dorther die Botschaftder Songs interpretieren. So denkt derPfarrer bei der Anfrage, ob eine Sängerinals Ausgangsmusik zu einer kirchlichenTrauung „My Heart will go on“10 singendarf, möglicherweise an den Untergangder Titanic und so manche gescheiterteEhe in seiner Gemeinde. Das Brautpaardagegen verbindet mit demselben Songvielleicht starke Liebe, die selbst im An-gesicht des Todes nicht zerbricht – so wiesie die Filmhelden Jack und Rose vor-leben.11 Welche Interpretation ist richtig,welche falsch? Eindeutige Festlegungensind kaum zu treffen. Von daher verbietensich – auch gut gemeinte – Erklärungenvon Amtsträgern an die Adresse ihrerGemeindeglieder, ob und wie ein Pop-song zu diesem oder jenem Anlass passtoder nicht. Sinnvoll wäre es m.E. hinge-

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gen, wenn sich die Pfarrerin im Kasualge-spräch erzählen lässt, warum die Men-schen gerade mit diesem Song etwasverbinden und dann im Kasualgottes-dienst zu verbalisieren versucht, inwieferndiesem Song für die Anwesenden eine„biographische Schlüssel-Qualität“12 zu-kommt und wo – in Anknüpfung und Ab-grenzung – die Verbindung zum bibli-schen Zeugnis besteht.13 So könnte für dieBeteiligten ein Stück Klärung der eigenenSituation gelingen. Zugleich würde deut-lich, dass Kirche eine Weggemeinschaftist, in der alle gemeinsam miteinander„leben und glauben lernen“14.Es bedarf nach alledem wohl kaum nochder Erwähnung, dass Bezüge zu Popsongsund Videoclips auch in Predigten lohnendsein können. Popmusik ist Teil unserer All-tagskultur – und zwar mitnichten nur beiJugendlichen! So gesehen eignet sichdiese Musikrichtung für jeden Prediger,der die Botschaft der Bibel mit derLebenswelt der Hörerinnen und Hörer ineinen Dialog bringen will. Je nach Songist von zustimmender Aufnahme bis hinzu schroffem Kontrast (fast) alles möglich.Hier scheinen die Möglichkeiten nochkaum erkannt zu sein, gibt es doch mei-nes Wissens noch keine Literatur übergelungene oder misslungene Experimentezur Verbindung von Popmusik und Pre-digt.15 Gleiches gilt übrigens für die Fragenach einer möglichen Bedeutung vonPopsongs in der Seelsorge. Angesichts derhohen Bedeutung, die ein einzelner Songin der Biographie eines Menschen habenkann,16 ist zu erwarten, dass hier auch

Potenziale zur Bearbeitung von Lebensfra-gen und Lebenskrisen stecken.

Anbiederung an den Zeitgeist?

Wo immer im kirchlichen Kontext vonPopmusik die Rede ist, ist der Vorwurf derAnbiederung an den Zeitgeist nicht weit.17

Was ist von einer Kirche zu halten, die sichfür Popmusik und ihre religiösen Inhalte in-teressiert? Droht hier der Verlust des theo-logischen Profils? Gar der Ausverkauf desEvangeliums zu Gunsten einer unver-bindlichen und unbestimmten Wohlfühl-Religiosität?So richtig der Hinweis ist, dass die KircheDienerin des Evangeliums zu sein hat,ohne falsche Rücksichtnahmen aufgesellschaftliche Trends und Stimmungen– man erweist diesem Evangelium m.E.keinen guten Dienst, wenn man versuchtes unter die Menschen zu bringen, ohneauf die Verstehensbedingungen der Adres-satinnen und Adressaten Rücksicht zunehmen. Gerade wenn es der Kirchewichtig ist, dass die Menschen unsererZeit mit dem Zuspruch und Anspruch desEvangeliums konfrontiert werden, musssie sich Gedanken darüber machen, aufwelche Fragen und Erfahrungen sie sich –in Anknüpfung und Widerspruch – be-ziehen kann. Hierzu ist Popmusik m.E.eine wertvolle Hilfe. Gerade weil sie vonihrer semantischen Struktur her offen ist,eignet sie sich hervorragend als Ausgangs-punkt für Gespräche. Und wer will derKirche verbieten in diesen Gesprächendas Ihre zu sagen?

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Anmerkungen

1 Vgl. hierzu meinen Überblick in: Andreas Obe-nauer, Too much Heaven? Religiöse Popsongs – ju-gendliche Zugangsweisen – Chancen für den Reli-gionsunterricht, Münster / Hamburg / London 2002,17-65.

2 Vgl. exemplarisch Andreas Mertin, Videoclips imReligionsunterricht. Eine praktische Anleitung zurArbeit mit Musikvideos, Göttingen 1999.

3 Vgl. etwa die ausgezeichneten Analysen von BerndSchwarze, Die Religion der Rock- und Popmusik.Analysen und Interpretationen, Stuttgart / Berlin /Köln 1997.

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4 Vgl. erste Ansätze zu Antworten auf diese Frage beiMatthias Everding, Land unter!? Populäre Musikund Religionsunterricht, Münster / New York /München / Berlin 2000, 286-317, 343-369, und beiThomas Bickelhaupt, Uwe Böhm, GerdBuschmann, „Wann kommt die Flut?“ Sintflut undArche als massenmediale apokalyptische Symbolein der populären Kultur zur Jahrtausendwende – ex-emplarische Analyse eines Musikvideos mitmethodischem Analysemodell und unterrichtsprak-tischem Material, in: Medienimpulse 8. Jg., Sept.1999, Heft 29, 19-36, hier 31f.

5 Vgl. Friedrich Schweizer, Jugendkultur und Reli-gionspädagogik, in: Peter Biehl / Klaus Wegenast(Hg.), Religionspädagogik und Kultur. Beiträge zueiner religionspädagogischen Theorie kulturell ver-mittelter Praxis in Kirche und Gesellschaft,Neukirchen-Vluyn 2000, 165-178, hier 170-173.

6 Vgl. ausführlich Andreas Obenauer, Too muchHeaven?, 103-161.

7 Die Daten zum Themenkreis Religion wurden erstganz am Ende erfragt, um die Antworten auf dieFragen zu den Musikvideos möglichst nicht zubeeinflussen.

8 Zu diesem Begriff Umberto Ecos vgl. MichaelMeyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symbol-didaktik und Semiotik, Hannover 1995, 73-84.

9 Vgl. hierzu Andreas Obenauer, Too much Heaven?,163-191.

10 Dieses von Céline Dion gesungene Lied war Titel-song des Films „Titanic“.

11 Auch der im evangelischen Kontext immer wiederaufkommende Streit um die Frage, ob bei Trauun-gen oder Beerdigungen das „Ave Maria“ gesungenwerden darf, gehört hierher. Während der humanis-tisch und theologisch gebildete Pfarrer dieses Stückleicht als anti-evangelische Botschaft hört, bewirktdasselbe Lied bei den Betroffenen eine nicht näherzu bestimmende Ergriffenheit, die mit Fragen derMariologie nicht das Geringste zu tun hat.

12 Vgl. zu diesem Begriff Rolf Tischer, PostmodernerSynkretismus als Anknüpfungspunkt christlichenGlaubens? Überlegungen zum Umgang mit derPop-Religiosität, in: Peter Bubmann / Rolf Tischer(Hg.), Pop & Religion. Auf dem Weg zu einer neuenVolksfrömmigkeit?, Stuttgart 1992, 174-186, hier 182.

13 Selbstverständlich gibt es bei der Aufnahme von bi-ographisch bedeutsamer Musik in die Kasualgottes-dienste Grenzen. Sie sind m.E. dort markiert, wo dieBetroffenen selbst (und nicht etwa der Pfarrer) mitdem entsprechenden Lied Inhalte verbinden, die of-fensichtlich dem Sinn des geplanten christlichenKasualgottesdienstes widersprechen. So kann z.B.vermutet werden, dass der gelegentlich geäußerteWunsch, bei einer Beerdigung den Schlager „Junge,komm bald wieder“ zu spielen, dem Wunsch derAngehörigen entspringt, die Realität des Todes zuleugnen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein (wasnatürlich im Kasualgespräch erst zu erheben wäre),würde man den Angehörigen keinen guten Diensterweisen, wenn man ihrer Bitte entspräche – würdeder Beerdigungsgottesdienst doch so mit dazubeitragen die Verleugnung des Todes zu zemen-tieren. Der notwendige Trauerprozess würde sogerade blockiert.

14 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Grundfragen der Religions-pädagogik. Band 3: Gemeinsam leben und glaubenlernen, Gütersloh 1982.

15 Stärker wird die Bedeutung von Popmusik für denGottesdienst bedacht, wobei der Schwerpunkt derDiskussion hier auf der Frage nach dem Für undWider von Sacropop und Neuem Geistlichem Liedim Gottesdienst liegt.

16 Vgl. Rolf Tischer, Postmoderner Synkretismus alsAnknüpfungspunkt christlichen Glaubens?, 181-183.

17 Vgl. nur als jüngstes Beispiel die zum Teil außeror-dentlich kritischen Stimmen zu einer Andacht aufder EKD-Synode, die den Song „Mensch“ von Her-bert Grönemeyer in den Mittelpunkt stellte.

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Ein hervorstechendes Merkmal der soge-nannten Postmoderne ist die Gleichzeitig-keit und vorgebliche Integration ge-gensätzlicher Weltbilder, Wahrheitsan-sprüche und Deutungen. Einerseits kön-nen moderne Technologien mit immerneuen Errungenschaften begeistern, ande-rerseits breitet sich vormodern-magischesDenken in vielen gesellschaftlichen Berei-chen aus. Diese erstaunliche Gleichzeitig-keit widersprüchlicher Paradigmen kannderzeit eindrücklich in einer beachtlichenWachstumsnische des alternativen Ge-sundheitsmarktes, der sogenannten Ener-giemedizin, beobachtet werden. Mit mo-dernsten Hightech-Geräten sollen vormo-derne Konzepte wie die Lebensenergie,das Chakrensystem oder feinstofflicheInformationsschwingungen nachgewie-sen, kontrolliert und verändert werden.Rolf Lichtenberg, Entwickler eines energe-tischen Schnell-Testers, mit dem in kür-zester Zeit über angebliche „Energiefeld-messungen“ präzise Krankheitsdiagnosenmöglich sein sollen ( vgl. www.mikro-me-dica.de), betrachtet diese neuartige Ver-bindung zwischen Technik- und Ener-giegläubigkeit unverhohlen als eine lukra-tive Perspektive: „Wenn der Patient amAusschlag des Messinstruments sieht, wasihm guttut, wird er leichter bereit sein, ....auch aus eigener Tasche zu bezahlen“.1Immer häufiger ist in der Alternativmedi-zin von einer biophysikalischen Revolu-tion die Rede. Neue wissenschaftliche Ar-beiten behaupten, den unsichtbaren Ener-giekörper des Menschen zugänglich undbehandelbar gemacht zu haben. Manchesprechen von Biophotonen als „subtilen

Lichtpartikeln“, die erkrankte Zellen mit„Urinformationen über das Betriebssys-tem des Lebens“ zur Selbstheilung anre-gen sollen.2 Andere stellen dem physi-schen, feststofflichen Körper feinstofflicheEnergiefelder gegenüber und behaupten,kontrollierbaren Einfluss auf diesen Kör-per nehmen zu können. Mit der Hilfe vonlokal einzusetzenden Mini-Computernoder Magnetfeld-Matten sollen Asthma,Hexenschuss, Knochen- und Gelenker-krankungen und sogar Impotenz geheiltwerden können.Gemeinsam setzt sich die „neue Energie-medizin“ von den herkömmlichen ener-getischen Verfahren wie der Bioresonanz,Orgonstrahlern, Magnetfeld, Radionik,Mora-Therapie oder Elektro-Akupunkturnach Voll dadurch ab, dass sie nach eige-nen Angaben deutlich bessere organischeVeränderungen bewirke und ihre Ergeb-nisse reproduzierbar seien. Der unüber-sichtliche Markt lässt sich je nach Vorge-hensweise in zwei Segmente unterteilen:Während „Impulsverfahren“, wie etwa dieMagnetfeldtherapie, durch eigeneSchwingungen heilsam auf den Körpereinwirken sollen, setzen sogenannte „Re-sonanzverfahren“ auf die Modulation derkörpereigenen Schwingungen. In der Bio-resonanztherapie werden dem Patientenalso keine Fremdenergien, sondern ei-gene, umgewandelte Schwingungen zu-geführt. Deshalb spricht man hierbei auchgerne von einer Art „technischen Homöo-pathie“.3Mit je einem Beispiel werden nun aktuelleImpuls- bzw. Resonanzverfahren vorge-stellt.

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Michael Utsch

Postmoderne Heilung durch Energiemedizin Technische Kontrolle über den feinstofflichen Körper?

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Aktuelle Verfahren

MicraVisionAls eine „Revolution in der Medizin“preist der in Südafrika lebende Wis-senschaftler und „hellsichtige“ spirituelleLehrer Dr. Peter Brunck seinen Therapie-computer „micraVision“ an.4 Das kaumWalkman-große Gerät (12 x 7 x 3 cm)kostet 797,– Euro. Sein Anwendungsge-biet soll sich von Arthritis bis Zahnfleisch-entzündungen erstrecken, und es entfaltesich angeblich eine „unheimlich schnelleHeilwirkung“. Brunck glaubt nach vielenJahren Forschung herausgefunden zuhaben, dass der Mensch aus zwei Ener-giekörpern besteht. Der „Alphakörper“stehe in Wechselwirkung mit dem Im-munsystem und habe durch seine beson-dere Schwingung die Aufgabe, „den phy-sischen Körper vor den Angriffen durchBakterien, Viren, Pilze usw. zu schützen“.5Der „Betakörper“ oder „zweite Energie-körper“ hingegen sei das Spiegelbild desemotionalen Verhaltens. In diesem „Emo-tionalkörper“ seien „die Grundlagen allerErkrankungen des Menschen verankertund von vielen Hellsichtigen dement-sprechend auch zu sehen“.Auf verblüffend einfache Weise erklärtBrunck Störungen des „Betakörpers“: DieQualität dieses geistigen Körpers wirddurch den Umgang mit den Gefühlen be-stimmt. „Falscher Umgang mit den Ge-fühlen, z.B. auch Verdrängen oder Nicht-zulassen, schädigen diesen Energiekör-per.“ Jeder unkontrolliert ablaufende Ge-fühlsausbruch durch Hass, Neid, Eitelkeit,Schuldgefühl, Eifersucht usw. hinterlassedort seine zerstörerischen Spuren. Und imHinblick auf die psychosomatische Ein-heit des Menschen behauptet Brunckkühn: „Da der Betakörper der ‚Schutz’ fürden Alphakörper ist, müssen Schäden indiesem Energiefeld auch Beschädigungendes ersten Energiekörpers nach sich

ziehen. Viele der von der sogenanntenSchulmedizin nicht erklärbaren (orga-nisch nicht feststellbare) Krankheitenhaben hier ihren Ursprung.“ Abgesehendavon, dass Blunck offenbar keine psy-chosomatischen Erkrankungen kennt –diese weisen sehr wohl organisch feststell-bare Wirkungen auf, die sich jedoch nicht(allein) organisch erklären lassen – ist einederart enge Verknüpfung zwischen demEmotionalkörper und dem Immunsystemabenteuerlich und widerspricht sowohlmedizinischem Sach- als auch dem ge-sunden Menschenverstand. Brunck behauptet nun, dass sein Therapie-Gerät MicraVision die spezifischenSchwingungen des „Alpha-“ und „Beta-körpers“ übertragen könne. Mittels einerakustischen Trägerfrequenz sollen vondem Impulsgeber MicraVision an die bei-den „Körper“ per Schall codierte Heil-schwingungen weitergegeben werden,was prompte Folgen habe: „SofortigesWohlbefinden setzt ein, die Abwehrkraftwird gestärkt, energetische Löcher ver-schwinden, der Organismus stabilisiertsich... Gerade körperlich geschwächteMenschen spüren, wenige Minuten nachBeginn der Behandlung, wie positive Le-bensenergie ihren Körper durchflutet unddie alten geistigen Kräfte zurückkehrenlässt.“ Hinter der „einzigartigen Stimula-tionsmöglichkeit“ durch den von ihm er-dachten „Piepser“ steckt nach BruncksAussagen ein uraltes spirituelles Wissenum die Lebensenergie, die er als meta-physische Energie versteht und die derbekannten Chi- oder Prana-Kraft ent-spreche. Sein Gerät ermögliche es jetztnun erstmalig, eine spezifische Interferenzzu erzeugen, die „die metaphysischenFelder des Menschen mit dieser Lebens-energie auflädt“.6Laut Prospekt habe es jetzt der Mensch„besser als je zuvor in der eigenen Hand,ein gesundes und glückliches Leben zu

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führen... Die Grenzen der heilenden Be-einflussung werden somit ab sofort nurnoch durch den Benutzer selber gesetzt.“Durch die Anwendung von MicraVisionwird eine konkrete Steigerung der Lebens-kraft in Aussicht gestellt. Darüber hinausbietet Brunck im Rahmen der „Academyfor Future Health“ Seminare an, für die indem MicraVisions-Prospekt eingeladenwird – „falls Sie sich für den Sinn desLebens, die tieferen Hintergründe vonKrankheiten und Ihren Weg zu Harmonieund Gesundheit interessieren“.

Psychosomatische EnergetikEine Kombination zwischen einem Im-puls- und Resonanzverfahren bietet dasReba-Testgerät des Stuttgarter Ärtze-Ehe-paars Banis, das für 2.555 Euro zu erwer-ben ist.7 Dieses „mikroenergetische“ Di-agnosegerät verspricht, aufgrund von fein-stofflichen Schwingungsinformationen inMinutenschnelle die passenden Medika-mente herauszufinden.Ihre „Psychosomatische Energetik“ fassensie als eine neue Naturheilmethode auf,die den Körper, die Seele und die Lebens-energie berücksichtigt. Nach eigener Auskunft basiert die Methodeauf einer Verbindung von fernöstlicher Energiemedizin (Akupunktur, Yoga) mitmodernem wissenschaftlichen Denkenund werde von zahlreichen Ärzten, Heil-praktikern und Naturheilern, Psychologenund Therapeuten in der Schweiz, Deutsch-land, Österreich, USA und Kanada ange-wandt. Mit der „Psychosomatischen Energetik“soll erstmals die Möglichkeit bestehen, dassonst nicht nachweisbare feinstoffliche Energiefeld (Aura) mit großer Genauigkeitzu messen und seinen „Füllungszustand“in Prozenten festzustellen (100 % bedeutedemnach optimale Gesundheit, 50 % einemittlere und Werte unter 20 % eine starkeErniedrigung der Lebenskraft).

Es sei das Ziel jeder vorbeugenden Ener-giemedizin, Erniedrigungen der Lebens-kraft festzustellen und auszugleichen,wozu das Ärztepaar auch die Akupunkturund die Homöopathie zählt. Gestörte Energiewerte beruhen nach ihrer Meinunghäufig auf tiefliegenden, unbewusstenseelischen Konflikten. Mittels der „Psy-chosomatischen Energetik“ sollen nundiese Konflikte in kürzester Zeit fest-gestellt und beseitigt werden. Ganz allge-mein seien es „unerledigte“ Gefühle, diewie Sand im Getriebe des feinen „Räder-werks“ des vegetativen Nervensystemswirkten. Versteckte seelische Problemestören nach Einsicht des Ehepaars Banisden Ablauf vegetativer Funktionen undführen zu „Energiestauungen“, was überdie Mangelversorgung der Zellen zu Un-wohlsein, Schmerzen und Krankheitsan-fälligkeit führe.Solche Blockaden der Energie auf einerKörperetage – etwa dem Becken oderOberbauch sollen mit speziellen homöo-pathischen Komplexmitteln – z.B. demChakramittel Chavita – gelöst werden.Sechs homöopathische „Emotionalmittel“(Emvita) sollen helfen, die verstecktenseelischen Konflikte aufzulösen. Durchdiese „Psychotherapie mit Tropfen“ könnedie Energie des Patienten schneller wie-derhergestellt werden.

Urmoor-Compens-TherapieAls ein bioenergetisches Resonanzver-fahren versteht sich die Urmoor-Com-pens-Therapie. Als Transmittergerät wurdeein mit Gold überzogener Metallsockelhergestellt, in dem sich sieben größereund sechs kleine runde Mulden befinden.Hinzu kommt ein spiralförmiger Stab mitkugelförmiger Spitze, der durch ein Kabelmit dem Sockel verbunden ist. Die Eso-tera-Autorin Susanne Längsfeld hat dasGerät im Eigentest ausprobiert und ihreErfahrungen beschrieben.8 Zunächst wun-

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derte sie sich darüber, dass sich an demGerät kein Netzstecker befindet. Dennochwill sie, als sie ihre Hand über den Spiral-stab hält, einen spürbaren Temperaturun-terschied bemerkt haben. Sie folgert: „Indiesem Stab befindet sich offensichtlich et-was, das nicht durch Strom erzeugt oderweitergeleitet wird.“9 Bevor ihre Behand-lung beginnt, muss sie geringe MengenBlut, Speichel und Urin abgeben, die inkleinen Töpfchen in die Mulden des Gerätsgestellt werden, „damit der Compensmeinen derzeitigen Zellzustand erkennt“.10

Die Therapeutin setzt nun „den Stab fürein bis zwei Minuten an den Reflexpunk-ten des Körpers an und entdeckt dabeiDisharmonien einzelner Organe ... Ichvernehme ein spürbares Brummen undVibrieren, das eine Reaktion im ganzenKörper erzeugt, ganz so als ob leere Akkusin meinem Körper wieder aufgeladenwerden.“11 Als Erklärung heißt es dazu aufder entsprechenden Internetseite12: „Derurmoor compens ist ein hocheffizientesQuantenelektrodynamisches Gerät. Er ge-hört in die Hand eines ausgebildetencompens Bioenergetikers.“ „Allen Ele-menten des urmoor compens wurdendurch ein spezielles Verfahren harmoni-sierende Frequenzen, insbesondere dieResonanzfrequenz des Sauerstoffs alsQuanteninformation (Zapf-System) auf-geprägt.“ „Die Informationsübertragungfunktioniert ausschließlich auf der fein-stofflichen Ebene, ohne die geringste Spureiner grobstofflichen Wirksubstanz imSinne der herkömmlichen chemischenMedikamente. Nebenwirkungen könnendabei nicht auftreten.“ „Die Wirkung desurmoor compens beruht auf den biody-namischen Regulationsmechanismen derSelbstheilungskräfte aller Organismen.Das Zapf-System, das Übertragen ultra-feiner Quanteninformationen im Bereichder Resonanzschwingung des moleku-laren Sauerstoffes durch dafür besonders

geeignete Materialien, ist heute bereitsdurch anerkannte Messmethoden nach-weisbar. Der beste Nachweis eines holisti-schen Wirkprinzips liegt jedoch in derpraktischen Erprobung. Die heute bereitsvon compens Bioenergetikern vorliegen-den Dokumentationen von teilweise sen-sationellen Anwendungsergebnissen bele-gen, dass der urmoor compens ... autore-gulative Prozesse anstößt, die den Selbst-heilungsprozess einleiten.“ Wie immer man diese abenteuerlich-spekulativen Äußerungen deuten will, dieEsotera-Autorin versteht sie so: Laut Wal-ter Zapf, dem Begründer des Compens-Geräts, transportiert der Compens die bio-physikalischen Urinformationen der Na-tur, die er in der Resonanzfrequenz desSauerstoffs gefunden zu haben glaubt. Diemenschlichen Zellen seien „durch schäd-liche Umwelteinflüsse wie Elektrosmogund denaturierte Nahrung kontinuierlichgeschädigt, so dass die Zellen eine Erin-nerung an die sogenannte Urinformationnötig haben, um sich in ihren intakten Zu-stand zurückzuversetzen“.13 Mit einerdreimaligen Behandlung, die etwa eineStunde dauert und jeweils 60 Euro kostet,soll der Körper wieder ins natürliche Gleichgewicht gelangen. Zum Wirkungsnachweis werden im Inter-net höchst schwammige und hypothe-tische Angaben gemacht: „Diese Produktesind das Ergebnis jahrelanger Forschungund beruhen auf den Erkenntnissen dermodernen Biophysik, der Geophysiologieund der traditionellen, ganzheitlichenNaturheilkunde und der Biowissen-schaften. Im urmoor compens ist erstmalsdie Synthese aus dem Wissen der Quan-tenelektrodynamik und den Kenntnissender Bioinformatik zu einem einzigartigenInstrument gelungen, das in seiner Be-deutung als der ganzheitliche neue Wegzur Anregung der Selbstheilungskräftefungiert.“

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Fazit

Weder das Impuls- noch das Resonanzver-fahren noch eine Kombination aus beidenbasieren auf einer seriösen wissenschaft-lichen Grundlage. Die größte Gefahr dürf-te darin liegen, etwaige bestehende Krank-heiten zu übersehen und nicht rechtzeitigzu behandeln.

Erstaunlich ist die offensichtliche Bereit-schaft vieler Menschen, immer wiederden vollmundigen Heilsversprechen di-verser alternativer Anbieter und aucheigenbrötlerischer Tüftler Vertrauen zuschenken. Jedoch: Auch in Zeiten post-moderner Vielfältigkeit ist ein kritischesBewusstsein und der gesunde Menschver-stand unersetzbar.

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Anmerkungen

1 SEIN 91/3 (2003), 15.2 S. Längsfeld, Erleuchtung aus der Steckdose? Neue

Technologien ermöglichen Harmonie für Körperund Psyche, Esotera 10/2002, 9.

3 Eine gute Übersicht (mit zum Teil diskussionswürdi-gen Schlussfolgerungen) bietet das neue Werk vonMarco Bischof, Tachyonen, Orgonenergie, Skalar-wellen. Feinstoffliche Felder zwischen Mythos undWissenschaft, Aarau 2002; vgl. auch die entspre-chenden Stichworte im Handbuch „Die andereMedizin“ (hg. von Christa Federspiel und VeraHerbst, Berlin 1996).

4 Weitere Informationen unter www.royaltec.net. 5 Alle Zitate über MicraVision entstammen einem vier-

seitigen Werbeeinhefter, den „Die neue Esotera“ im

Mai 2002 enthielt. (Vielleicht muss das Gerät ja soteuer sein, um die Werbeinvestitionen zu amor-tisieren...)

6 So eine Beschreibung in dem Internetportalwww.grenzenlos.de.

7 Vgl. die Beschreibungen inklusive Online-Shop mitLieferservice unter www.rubimed.com.

8 S. Längsfeld, Erleuchtung aus der Steckdose?, a.a.O.,8-11.

9 Ebd., 8.10 Ebd.11 Ebd.12 Unter www.compens.com.13 S. Längsfeld, a.a.O, 9.

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Während im Irak der Krieg tobte, priesenhohe Würdenträger Saudi-Arabiens diegroße Bedeutung des Korans für die Streit-kräfte. So steht es am 4. April 2003 im Bericht der saudischen Internet-Wochen-zeitung „Ain-al-yaqeen“ – das „Herz derDinge“ (wörtlich: „Quelle der Gewiss-heit“) – über die Abschlusszeremonie des„Second Prince Sultan International Con-test Prize for the Memorization of theHoly Qur’an“.1 Dieser Wettstreit über dasAuswendiglernen und Rezitieren des Ko-rans richtete sich an Militärangehörige inden muslimischen Ländern. Teilgenom-men hatten 14 Länder. Zugegen waren beider Preisverteilung neben dem Schirm-herrn Prince Sultan Ibn Abdul Aziz auchhochrangige Militärs.Die Zeremonie begann natürlich mit Rezi-tationen aus dem Koran. Der ebenfalls an-wesende Großmufti des Königreichs,Scheich Abdul Aziz Ibn Abdullah Al AlSheikh, wies darauf hin, dass der Koran-Wettbewerb darauf abziele, aus demMilitärangehörigen einen „gottesfürchti-gen Mann“ zu machen. „Und er betontedie Bedeutung des Korans für das Lebender Mitglieder der Streitkräfte, ist es dochder Koran, der ihnen die Kraft und dieStärke gibt“. Der Koran sei der Weg für die Muslime,„die Ruhmeszeiten der Vergangenheitwieder herzustellen“ und so Entwicklungund Fortschritt einzuleiten. Er ist nicht nureine Quelle des Trostes für individuelleKrisen, sondern auch für die weltweiteKrise, in der sich die „muslimische Nati-on“ befindet. Ohne den Koran wird eskeine Blütezeit geben!

Natürlich fehlten auch nicht die Hinweisedarauf, welche große Beachtung die saudi-schen Herrscher, die Wächter der „ZweiHeiligen Moscheen“ (gemeint sind dieGroße Moschee mit Kaaba in Mekka unddas Prophetengrab in Medina) dem Koranschenken. Mit dem Koran habe Gott diemuslimische Nation gesegnet, mit denbeiden Heiligtümern jedoch das König-reich Saudi-Arabien – so Prince Sultan IbnAbdul Aziz, der zugleich Vizepremier,Minister für Verteidigung und Luftfahrt so-wie Generalinspekteur ist. Der Koran ver-leihe den Mitgliedern der Streikräfte mora-lische Stärke. Prinz Sultan empfahl, sichmit mehr Sorgfalt des Korans in allen mili-tärischen Kollegs und Einrichtungen anzu-nehmen. Deshalb sollte dieser Wettstreitdie Militärangehörigen in den verschiede-nen Ländern dazu ermutigen, den Koranauswendig zu lernen und seine Bedeu-tung zu verstehen. Der Wettbewerb dieneauch dazu, auf die herausragende Rolledes Königreichs Saudi-Arabien hinzu-weisen sowie auf „den islamischen Geist“der saudischen Streitkräfte. Es hat Saddam Hussein nichts geholfen,dass er 1991 auf die Staatsflagge „Allahuakbar“ („Gott ist größer [als alles in seinerSchöpfung]!“) schreiben ließ und beimEinmarsch der US-Streikräfte im März2003 zum Jihad 2 aufrief. Auch der sau-dische Rekurs auf den Koran dürfte nichtsehr hilfreich sein, denkt man an die in-nenpolitischen Probleme des Landes. Seitlängerem gibt es eine Opposition, dienicht mehr der Überzeugung ist, dass diesaudischen Herrscher noch voll und ganzim Erbe des Wahhabitengründers Muham-

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Heinz-Jürgen Loth, Neuss

Ain-al-yaqeen: Der Koran als Quelle militärischer Stärke

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mad Ibn Abd al-Wahhab (1703-1787) ste-hen. Letzterer hatte die Herrscherfamilieauf den Jihad verpflichtet, der nach demVerständnis des großen Rechtsgelehrtenund Glaubenseiferer Taqi al-Din AhmadIbn Taymiyya (1263-1328), dem Vorbildal-Wahhabs, den Kampf gegen dieKafirun, d.h. Ungläubige zum Ziel hat.Damit sind sowohl Muslime als auchNichtmuslime gemeint. Geboren aus demKampf gegen die muslimischen Mongolenmeint Jihad hier auch die gewalttätige undkriegerische Auseinandersetzung! Unddamit ist auf keinen Fall vereinbar, dassUS-Soldaten, also nichtmuslimische Un-gläubige seit dem 1. Golfkrieg im Landder heiligsten Stätten des Islam stationiertsind. Schon mit Usama Bin Laden ist esdarüber zum Bruch mit den Herrscherngekommen. Aber bereits seit 1979 gärt es in Saudi-Arabien! Während der Pilgerfahrt in Mek-ka wollte der ehemalige NationalgardistJuhayman al-Utaybi ein Signal setzen: Mitmehreren hundert Anhängern besetzte erdie Große Moschee und proklamierte dieAnkunft des Mahdi in Gestalt seinesSchwagers Muhammad Ibn Abdullah al-Qahtani. Letzterer war ein Student der Is-lamischen Universität in Riad, dessenMahdi-Status seiner Frau und Schwesterin Träumen offenbart worden war.3 Dennman befand sich im muslimischen Jahr1400 und zu jeder Jahrhundertwende er-warten die muslimischen Apokalyptiker„einen, der rechtgeleitet ist“, auf arabischMahdi, der „versprochene Retter“, vondem beispielsweise der Hadith-SammlerAbu-Dawud (gest. 875) in seinem 36.Buch („Buch des Mahdi“) spricht.4 Abu-Dawud genießt noch heute ein hohesAnsehen in der islamischen Welt.5 Die be-waffneten Anhänger des Mahdi konntendie Große Moschee 14 Tage lang besetzthalten. Und die Saudis konnten sie nurmit Hilfe einer französischen Eingreif-

truppe, die Giftgas einsetzte, aus den Kel-lergewölben vertreiben.6 Al-Utaybi solltespäter öffentlich enthauptet werden undauch al-Qahtani, der am Unternehmenteilgenommen hatte, fand den Tod. DenSieg über die Revolte konnten die Saudisnur erreichen, indem sie den Franzosen,d.h. kafir-Kämpfern (= ungläubige Kämp-fer) erlaubten, den Haram von Mekka zubetreten. Al-haram al-Sharif ist das ge-weihte edle Heiligtum, d.h. die HeiligeMoschee, in deren Zentrum sich dieKaaba befindet und die für Nichtmuslimeverboten ist!Der Glaube an die endzeitliche Gestaltdes Mahdi findet sich schon bei IbnTaymiyya und wurde überdies am 11. Ok-tober 1976 von der „Islamischen Welt-liga“ in Mekka als Fatwa7 für verbindlicherklärt. Der Erlöser wird die islamischeGemeinschaft aus ihren Nöten befreien,d.h. von ungerechter Herrschaft und demVerfall des Glaubens. Seine weitere Auf-gabe wird darin bestehen, mit dem wie-derkehrenden Propheten Jesus die Un-gläubigen und die Kräfte des Bösen zubekämpfen: den Dajjal oder „Betrüger“(eine Satan ähnliche Gestalt, vgl. 2 Thess2,9-10), die Dabba, das „Tier aus derErde“ (Sure 27,82, vgl. Offb 13,11) sowiedie mörderischen Horden der Yajuj wa-Majuj (siehe Sure 18,94; 21,96, vgl. diebiblischen Belege über Gog und Magog inEz 38, 39 und Offb 20,7-108). Die Gestaltdes Dajjal wie die des Mahdi finden sichnicht im Koran, sondern entstammen denHadithen. Aber so wie sich durch dieGeschichte der Juden der Messianismus9

wie ein roter Faden zieht, so begleitetauch die messianische Mahdi-Erwartungdie Geschichte der Muslime.10 Es ist auchvorstellbar, dass Usama Bin Laden fürviele Fundamentalisten als eine demMahdi ähnliche Gestalt verstanden wird,als Anführer in einem Jihad gegen den„großen Kufr“!11 Das arabische Wort be-

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deutet „Unglaube“, Muslime assoziierendamit zugleich aber auch die Gottes-lästerung.Die Mahdisten mögen in den Untergrundgegangen sein, die Opposition – sei es dieder Schiiten oder die der radikalen Wah-habiten12 – ist jedoch gegenwärtig undrichtet sich gegen die religiöse und tribaleBasis des Regimes. Populäre Prediger wiedie Scheichs Safar Ibn Abd al-Rahman al-Hawali und Salman Ibn Fahd al-Awdahschufen zu Anfang der 90er Jahre eineislamische „Wiedererweckung“: Sie kriti-sierten das Bündnis der Herrscherfamiliewegen der Allianz mit den amerikani-schen Ungläubigen und erklärten den An-griff auf den Irak als einen Krieg gegenden Islam. Beide wurden deshalb 1994(bis 1999) verhaftet. Danach bedrohte eingeheimnisvolles „Bataillon der Gläubi-gen“ das Regime sowie westliche Institu-tionen in der Welt. Und im islamischenUntergrund Europas und Amerikas kur-sierte sogar eine Audiokassette, auf der al-Awdah eine „Predigt über den Tod“festgehalten hat. Danach sollen sich diesaudischen Intellektuellen auf Selbstopferund Martyrium vorbereiten und den Westensowie das saudische Regime, das den„Kreuzrittern“ zu Diensten ist, angreifen.13

Die beiden inzwischen international be-kannten Prediger sind Ulama, d.h. „Ge-lehrte“, und gehören damit zu den Au-toritäten des islamischen Rechts; Dr. al-Hawali war sogar Dekan der Fakultät fürislamische Studien der Umm al-Qura-Universität in Mekka. Sie sind radikaleFundamentalisten, die im Westen denwahren Feind des Islam sehen. Beide sindüberdies Jihadis oder Jihadisten, die eineislamische Globalisierung auf der Grund-lage des wahhabitischen Islam anstreben.Dabei ist ihnen das Internet ein Medium,über das sie ihre Aufforderungen zum Ji-had verbreiten können, insbesondere je-doch über das von den Saudis finanziell

unterstützte Portal der „Islamic Assemblyof North America (IANA)“.14

Al-Hawali hat am 15. Oktober 2001einen offenen Brief an Präsident GeorgeW. Bush geschrieben, in dem er sich überden 11. September 2001 wie folgt äußert:„Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass einegewaltige Welle der Freude den Schockbegleitete, den die Muslime auf der Stra-ße empfunden haben.“ Dann vergleicht erBush mit dem tyrannischen Pharao Ägyp-tens und den mittelalterlichen Päpstenund schließlich die USA mit dem Römi-schen Imperium, das dem Unterganggeweiht war. Programmatisch führt erdann an: „Stellen Sie sich vor, Herr Präsi-dent, wir weinen immer noch über Anda-lusien und erinnern uns daran, was Ferdi-nand und Isabella unserer Religion, Kulturund Ehre angetan haben. Wir träumendavon, es zurückzugewinnen. Auch wer-den wir die Zerstörung oder den Fall Jeru-salems durch die Hand Ihrer Kreuzfahrer-Vorfahren nicht vergessen.“15 In einemAuszug aus „The Day of Wrath“, der sichgegen Juden und Christen richtet, rückt erdie jüdische Religion in die Nähe desHeidentums, die zusammen mit denchristlichen Fundamentalisten nicht er-kennen will, dass Mekka das „NeueJerusalem“ ist. Amerika und Israel werdenjedoch erkennen müssen, „was auf denGrundstein menschlicher Zivilisation unddas Zentrum der Weltführung hinweist:die Halbinsel der ungebildeten arabi-schen Nation“.16 Und bei Scheich al-Awdah können wir lesen, dass es immereinen Konflikt zwischen Muslimen undUngläubigen geben wird, der aber nichtdavon abhalten darf, den Islam auszubrei-ten. Aber es gibt auch eine Entfremdungzwischen den Anhängern der Sunna17 undden übrigen Muslimen, bedingt u.a. durchdas Festhalten ersterer am Jihad.18

Auch wenn das Verhältnis zwischen al-Hawali al-Awdah und den saudischen Be-

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hörden andererseits wegen Ihrer Angriffeauf das Königshaus gestört ist, so sind siesich doch in der Frage der islamischenGlobalisierung einig. Jüngst hat der Gene-ralsekretär der „Islamischen Weltliga“, Dr.Abdullah Ibn Abdul Mohsin Al Turki, da-rauf hingewiesen, dass „nur die Verhän-gung des Schariarechts als Regler desLebens der Muslime und das Einhaltender Traditionen und Aussprüche desPropheten (Friede sei auf ihn) ein Ab-schreckungsmittel zur Verteidigung derUmma (Nation) bilden würden“.19 Auf-gabe dieser 1962 gegründeten Organisa-tion ist ohnehin die weltweite Pro-pagierung des wahhabitischen Islam. Dasist aber nur die eine Seite des „saudischenWeges“: Die andere besteht in der groß-zügigen finanziellen Unterstützung radi-kal-islamischer Gruppen weltweit, sei esnun die Hamas oder andere Jihadis. „Hiernämlich fördert Saudi-Arabien“ – soGuido Steinberg – „ganz offen antiwest-liche Grundhaltungen, die letzten Endesauch auf das Land selbst zurückfallen, daes ein enger Verbündeter der USA ist.Solange allerdings das Bündnis mit denwahhabitischen Gelehrten in seiner jetzi-gen Form bestehen bleibt, ist nicht mit

einer Abkehr von dieser Politik zu rech-nen.“20 Simon Henderson vom „Washing-ton Institute for Near East Policy“ hält essogar für möglich, dass sich Saudi-Ara-bien in Richtung des fundamentalisti-schen Iran entwickelt.21

Die saudische Staatsflagge zeigt aufgrünem Hintergrund – Grün ist die Farbeder Fatimiden und der Wahhabiten – dieSchahada, d.h. das Glaubensbekenntnisin arabischer Schrift: „Es gibt keinen Gottaußer Gott und Muhammad ist derGesandte Gottes“ sowie ein Schwert. Of-fiziell steht letzteres für Gerechtigkeit undRechtschaffenheit, aber – es kann auchverstanden werden als Schwert des Pro-pheten, mit dem er seine Eroberungengemacht hat. Das Schwert ist im Islam einsymbolträchtiger Gegenstand, heißt esdoch in einem Hadith, dass der Prophetgesagt haben soll: „Das Paradies liegt imSchatten der Schwerter“.22 Nach der Inter-pretation des Gelehrten Maulana Muham-mad Ali befindet sich das Paradies imSchutze der Schwerter: „Der Hadith un-terstreicht die Pflicht des Muslim, stetsbereit zu sein für die Verteidigung derWahrheit.“23

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Anmerkungen

1 Die Zeitung ist im Internet zu erreichen unterwww.ain-al-yaqeen.com.

2 Jihad, wörtlich „Anstrengung“, bezeichnet nachdem Koran den individuellen und kollektiven Ein-satz auf dem Wege Gottes (Sure 9,41), der sichgegen die Ungläubigen richtet, wie der große Jihadmit Hilfe des Korans nach Sure 25.51. Idealtypischwird zwischen einem „kleinen“ und „großen“ Jihadunterschieden, wobei der erstere die kriegerischeEroberung meint, also die territoriale Expansion, dieimmer ein zentraler Aspekt islamischen Lebens war.

3 Siehe David Zeidan, The Islamic FundamentalistView of Life as Perennial Battle, in: Middle East Re-view of International Affairs 5,4 (December 2001)33; Timothy R. Furnish, Bin Ladin: The Man whowould be Mahdi, in: The Middle East Quarterly 9,2(Spring 2002) (www.meforum.org/article/159).

4 Der Hadith (arab. „Mitteilung“) enthält Entschei-

dungen, Handlungen und Aussagen Muhammads,die von seinen Gefährten überliefert wurden. Diesesind neben dem Koran die zweite Basis für dieShariah, das islamische Recht.

5 In seinem berühmten Kapitel über den Mahdinimmt der Historiker und Philosoph Ibn Khaldunausführlich Bezug auf Abu-Dawud (Ibn Khaldûn,Discours sur l’Histoire universelle: Al-Muqaddima,traduction nouvelle, préface et notes par VincentMonteil, 3ème éd. revue [„Thesaurus“ Sinbad],Arles 1997, 482-518).

6 Siehe Jean-Claude Bourret, „Eine unmögliche Mis-sion“: Wie ein französisches Sonderkommando diebesetzte Moschee in Mekka befreite, in: Der Spiegel26 (1981), 144-151.

7 Eine Fatwa als Rechtsgutachten stellt eigentlich eine„Meinung zu einer Rechtsfrage“ dar, deren Autoritätvon der Stellung des oder der Verkünder abhängt.

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Islam wird in Deutschland im öffentlichenDiskurs meist als als defizitäres Phäno-men wahrgenommen: nicht ausreichendorganisiert, kulturell sperrig, tendenziellgewaltbereit, nicht tolerant (genug), nichtauf der Höhe des westlich-kritischen Zeit-geistes und des entsprechenden Umgangsmit seiner heiligen Schrift usw. DieserDiskurs fühlt sich freudig bestätigt, wennbekennende Säkular-Muslime wie BassamTibi ihm mutmaßliche Binnenperspek-tiven-Argumente liefern. Trotz der Ein-sicht, dass „der Islam“ in Deutschland inder Tat nur zu ca. 12-15 Prozent organi-siert und im Übrigen sehr heterogen ist,

wird selten wahrgenommen, dass es „denIslam“ als kollektives Subjekt und ein-heitlich beurteilbare Größe nicht gibt,weder in der deutschen Diaspora noch in„islamischen Ländern“, bei denen es sichoft zwar um demographisch mehrheitlichislamische, meist aber doch religiös plu-rale und nicht überwiegend muslimischgestaltete Länder handelt. Auch Johannes Kandel ist vor den Tückeneines solchen Diskurses nicht gefeit, wenn-gleich er im Unterschied zu vielen Autorenauf der Basis eines beachtlichen Fundus re-det: Die von ihm selbst organisierten undgestalteten sowie mit Sachkenntnis und

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8 Es entbehrt nicht der Ironie, wenn die in den USAherausgegebene Koran-Übersetzung des Muham-mad Ali zu den Vorfahren der „gegenwärtigen teu-tonischen und slawischen Rassen“ Gog und Magogzählt („The Holy Qur’an: Arabic text, English Trans-lation and Commentary“ by Maulana MuhammadAli, revised edition, 7th ed., Lahore 1985, 589).

9 Siehe Heinz-Jürgen Loth, Der Messias aus Brooklyn:Typen des jüdischen Messianismus heute, in: Mate-rialdienst der EZW 12/1999, 363-372.

10 Siehe Furnish, a.a.O. 11 Siehe Zeidan, a.a.O., 46.12 Siehe Guido Steinberg, Die innenpolitische Lage

Saudi-Arabiens nach dem 11. September 2001(DOI-Focus, Nr. 8/Februar 2003), 16-23; ThomasKoszinowski, Exiloppositionen als politische Ak-teure IV: Die saudische Exilopposition (DOI-FocusNr. 7/Oktober 2002).

13 Siehe Ali Laïdi, L’hypothèse de la piste saoudienne,in: Le Monde v. 4.10.2001.

14 Siehe Rita Katz and Josh Devon, Terror Tools:Saudi-funded front in Michigan, in: National ReviewOnline v. 11.3.2003 (www.nationalreview.com/).

15 An open Letter to President Bush, in: IANA Ra-dionet (www.ianaradionet.com/letter/).

16 Dr. Safar al-Hawali, Indisputable Evidence,www.islaam.com//Article.aspx?id=539.

17 Die Sunna (die „Tradition“ des Propheten Gottes) istgewissermaßen die konkrete Implementation desgöttlichen Willens; ihre erste Grundlage sind dieHadithe.

18 Shaykh Salman al-Awdah, The Strangers, www.islaam.com//Article.aspx?id=82.

19 Two messages to the Crown Prince etc, in: Ain-al-yaqueen v. 4.4.2003 (www.ain-al-yaqueen.com/issues/20030304/feat2en.htm).

20 Siehe: Die innenpolitische Lage Saudi-Arabiensnach dem 11. September, a.a.O., 41.

21 The Saudi Way, in: Wall Street Journal v. 12.8.2002(www.washingtoninstitute.org/).

22 Dieser Hadith findet sich bei den Hadith-Sammlernal-Bukhari (gest. 870), Muslim (gest. 875) und Tir-midhi (gest. 892).

23 A Manual of Hadith, 2nd. ed., London/Dublin/Atlantic Highlands 1978, 261.

Ulrich Dehn

Wie naiv ist unser Dialog mit Muslimen?Anmerkungen zu Johannes Kandel: „Lieber blauäugig als blind“?

Die Replik des Autors bezieht sich auf den Beitrag von Johannes Kandel, „Lieber blauäu-gig als blind“? – Anmerkungen zum „Dialog“ mit dem Islam, erschienen in Heft 5/2003,176ff, des Materialdienstes der EZW.

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Scharfsinn moderierten interkulturellenGespräche unter Einschluss von Muslimenin der Friedrich-Ebert-Stiftung zeugendavon, dass er nicht aus der sicheren Wartedes Unbeteiligten redet. Seine schriftlichenBeiträge zu Themen des Islam in derdeutschen Zivilgesellschaft, allen voransein Kommentar zur „Islamischen Charta“,sind eine Fundgrube von Gedanken für je-den Interessierten. Deshalb ist Sachlichkeitin einer Replik geboten, selbst wenn derAutor dieser Zeilen manches anders sieht.

Dialog und Repräsentativität

Zunächst: „Den“ Dialog gibt es nicht. DieVielgestaltigkeit der Gespräche ist groß:Kontakte zwischen Kirchengemeinden undMoscheen im Gemeindebereich, smalltalk in der Nachbarschaft, beim Gemü-sehändler, Einladung eines Muslimen zueinem Informationsgemeindeabend undumgekehrt Besuch einer Gemeindegruppein der Moschee, unzählige unscheinbaremultireligiöse Arbeitsausschüsse, undschließlich auch der „Eliten-Dialog vonOrganisationsvertretern“, der allerdingsim Unterschied zu Kandels Wahrneh-mung im Verhältnis zu den vielfältigen an-deren Formen eher einen kleinen Anteilfür sich verbucht (aber kraft seiner Öffent-lichkeit intensiver nach außen wirkt). Ge-spräche werden erfreulicherweise immerzahlreicher; dass sie deshalb zum „hekti-schen Aktionismus mutieren“ und „oftwillkürlich, ziellos, unklar in Methodenund Arbeitsweisen sowie mit falschenErwartungen und Hoffnungen“ geführtwerden, mag partiell zutreffen (auchwenn man das etwas freundlicher formu-lieren könnte), trifft aber allgemein auf ei-nen großen Teil der menschlichenKommunikation zu. In Anbetracht der De-zentralität der Gespräche scheint mir al-lerdings der Eindruck nicht zuzutreffen,„die Vertreter der Spitzenverbände domi-

nier(t)en den Dialog, sie setz(t)en die The-men, sie stell(t)en die Forderungen an dieMehrheitsgesellschaft auf (siehe die ‚Isla-mische Charta’ des Zentralrats der Mus-lime)“. Die Islamische Charta hat, entge-gen den Wünschen des Zentralrats, kei-neswegs das Echo in der muslimischenWelt gefunden, das erhofft war, sie wurdeallemal nur als ein umstreitbarer Diskussi-onsbeitrag betrachtet. Ähnlich geht es an-deren Themen. Die Tendenz, sich insbe-sondere auf regionaler Ebene mit passabelDeutsch sprechenden Gläubigen der Mo-scheen vor Ort zu verständigen und überdie dort anstehenden Themen zu spre-chen, anstatt sich an den großen Verbän-den zu orientieren, ist durchgängig. Wie steht die „schweigende Mehrheit“der nichtorganisierten 85 Prozent zu dem,was die Verbände in die Öffentlichkeit, insInternet, auf die Podien bringen? Werweiß es. Eine ähnliche Frage könnte fürdie knapp 57 Mio. Mitglieder der evange-lischen und katholischen Kirche gestelltwerden, die zwar formell „organisiert“sind, aber gegenüber dem öffentlich-keitswirksamen Teil der Kirchen ein ähn-lich schweigsames Potential darstellenwie die 85 Prozent Muslime. Sind dieStellungnahmen der EKD oder der Lan-deskirchenleitungen repräsentativ? Wor-auf lassen die Muslime sich eigentlich ein,wenn sie mit Christen reden?

Sind Muslime Christen gegenüber offen?

Ärgerlich ist, wenn Kandel zum umge-kehrten Fundamentalisten mutiert undden Muslimen nachweist, dass sie auf-grund der koranischen Grundlagen be-züglich Jesu und der Christen gar nichtzum Dialog angetan sein sollten. Wenndenn schon die Tatsache geflissentlich ig-noriert wird, dass es auch die vielen amChristentum interessierten muslimischenGesprächspartner gibt, sei an die Koran-

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verse erinnert, die ausdrücklich dazu auf-fordern, Christen über die Erzähltraditio-nen zu befragen, die auch in der hebräi-schen Bibel oder dem Neuen Testamentvorkommen (vgl. Sure 10,94 und 17,101).Zustimmen kann ich der Beobachtung,dass in der Regel die Dialogdynamik ten-denziell eine Einbahnstraße ist: Oft stehenden neugierigen christlichen Gesprächs-partnern sehr zeugnis- und auskunfts-freudige muslimische Partner gegenüber,was jedoch nicht viel mit konzeptionellenDispositionen zu tun hat, sondern mit derjeweiligen Gesprächslogistik. Über den„ganzheitlichen Wahrheitsexklusivismus“,den Kandel den Muslimen attestiert,könnten Christen aus ihrer eigenen Ge-schichte einiges berichten, und auch diegegenwärtige christlich-missionstheolo-gische Diskussion ist keineswegs frei vondiesem Anspruch. Wenn Kandel sich zumNachweis des christlichen Verzichts aufoffensive Mission auf das Buch Feldt-keller/Sundermeier, Mission in pluralisti-scher Gesellschaft (Frankfurt/Main 1999)beruft, so hat er damit eine bedeutendeKomponente der gegenwärtigen Diskus-sion benannt, jedoch wahrscheinlichkeine repräsentative. Konversionsmissionist kein erledigtes Anliegen, zuletzt en-gagiert vorgetragen von dem britischenTheologen Andrew Kirk (What is Mission?1999), Mission unter Muslimen ist einwichtiges Thema insbesondere der evan-gelikalen Theologie auch in Deutschland.

Zur Menschenrechtsproblematik

Kandel ist Recht darin zu geben, dass bisjetzt eine uneingeschränkte Bejahung derinternationalen Menschenrechtsstandardsdurch die muslimische Gemeinschaftaussteht. Auch die Islamische Charta hatleider an entscheidenden Stellen For-mulierungen vorgesehen, die eher Anlasszum Grübeln als zur freudigen Zustim-

mung geben. Ähnlich war es mit derPariser Erklärung von 1981, die bereitsvom Diaspora-Islam formuliert wurde,und noch einmal deutlich dramatischermit der Kairoer Erklärung von 1990, dieaus der islamischen Welt heraus zurSelbstvergewisserung vorgetragen wurde.1Auch hier jedoch ist zu differenzierenzwischen einer Auseinandersetzung, dieihre eigene Dynamik entfaltet hat, unddem faktischen Zusammenleben in einerpluralen Gesellschaft, die ihre Mitgliedernur danach beurteilen kann, ob sie hin-länglich kommunikationsfähige Nachbarnsind (Sprach- und Integrationsbereitschaft)und ob sie gesetzestreu sind. Die Frage der Schächtung hat seit demBundesverfassungsgerichtsurteil im Januar2002 und der Aufnahme des Tierschutzesin das Grundgesetz im Sommer 2002 einestetig eskalierende Dynamik entfaltet. Un-abhängig davon, dass es längst alternativeVorschläge zu Schlachtungsmethoden gibt,die auch unter Einbezug von Betäubungs-maßnahmen eine (fast) vollständige Blut-entnahme gestatten, ist hier ein symboli-scher Konflikt entbrannt, dessen Brisanzverschärft wird durch die Parallelität in derjüdischen Gemeinschaft. Die Unerbitt-lichkeit der Kontroverse hat dem Ansehendes Islam in Deutschland nicht genützt. Darin, dass die Stellung der Frau in derallgemeinen islamischen Rechtslage nochsehr zu wünschen übrig lässt, könnte ichmit Johannes Kandel übereinstimmen. Erkonzentriert sich jedoch ausgerechnet aufdas Kopftuchtragen, das seine argumenta-tiven Untiefen hat, zumal es bis jetzt außerpunktuellen Interviewprojekten keineflächendeckenden Überblicke über diediesbezügliche Mentalität muslimischerFrauen gibt.2 Kopftuchtragende Frauen un-terschiedlichen Alters, verschiedener Na-tionen und diverser religiöser Bekennt-nisse prägen das Bild der meisten deut-schen Gemeinwesen. Davon, dass dies

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„in der Mehrheitsgesellschaft heftigeReaktionen auslöst(e)“, konnte vielleichtvor 15 bis 20 Jahren noch die Rede sein.Inzwischen gewöhnen wir uns an Base-ball-cappies, die an die Kopfhaut ange-wachsen zu sein scheinen, an Piercing,glattrasierte oder ohnehin haarlose Schä-del, lange männliche Mähnen oder auchPunk-Frisuren, Hängehosen und vielesandere mehr. Auch dass die afghanisch-stämmige Lehrerin Fereshta Ludin als Re-ferendarin mit Kopftuch noch keinenweltanschaulich tendenziösen Einfluss aufihre Schülerinnen und Schüler ausgeübthat, dies sich jedoch drastisch geänderthätte, wenn sie den jungen Menschen imdienstrechtlichen Status der Beamtingegenüber getreten wäre, scheint nieman-dem als Widerspruch aufgefallen zu sein.Wie plausibel das Kopftuch allgemeinlebensweltlich gemacht werden kann,steht auf einem anderen Blatt. Für vieleKreuzberger Mädchen scheint es ehereine Frage der Mode und der Design-Konkurrenz zu sein als ein schweigendakzeptiertes Unterdrückungsinstrumentdes islamischen Patriarchats. Andere mus-limische Frauen setzen sich schlichtwegdarüber hinweg. Vorschriften darüber sindin der Sunna zu finden; die betreffendenHadithen können jederzeit auch von denargumentierenden Instanzen benanntwerden. Kandel sorgt sich darum, wie imZweifelsfalle Emanzipation und Glau-benspflicht miteinander ins Verhältnis

gesetzt werden sollen. Ich fühle michnicht befugt, dieses Problem für die be-troffenen Muslimas zu lösen, und haltedas auch nicht für eine Aufgabe des allge-meingesellschaftlichen Diskurses.

Zum Schluss

Soweit mein kurzer und eher feuilletonis-tischer Versuch, mich mit Johannes Kan-dels Gedanken auseinander zu setzen.Grundsätzlich gebe ich zu bedenken, dassdie Begegnung mit Muslimen etwas mit„Xenologie“ (der Wissenschaft von derBegegnung mit dem Fremden)3 zu tunhaben wird: der Islam als etwas wirklichAnderes, das sperrig (auch im positivenSinne) sein mag und schwer mit unsererwesteuropäischen Geistesgeschichte ver-rechenbar ist, abgesehen von den glo-balen hermeneutischen Spiegelungen, de-nen auch die inner-islamische Verständi-gung unterworfen ist – wobei selbstredendVerfassungen und Gesetzesregelungen dieGrenze der erlaubten Sperrigkeitmarkieren. Der Duktus der KandelschenÜberlegungen lässt mich fragen, ob erwirklich zu einer xenologischen Aus-einandersetzung bereit ist. Dieser Aspektist m.E. ebenso wichtig wie die Suchenach der möglichst perfekten Integriert-heit der muslimischen Mitmenschen undihrer Diskurse in die Koordinaten einer(zunehmend proportional kleiner werden-den) westlichen Mehrheitsgesellschaft.

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Anmerkungen

1 Vgl. Andreas Meier, Der politische Auftrag des Is-lam, Wuppertal 1994, 516-526 (Erklärung von1981); Die Kairoer Erklärung der Menschenrechteim Islam, in: CIBEDO Nr. 5/6, 1991, 178-184; Ul-rich Dehn, Religionen und Menschenrechte, in:Materialdienst der EZW 2/1997, 33-41; ChristineLienemann-Perrin, Anmerkungen zum Verständnisder Menschenrechte im Islam, in: CIBEDO Nr. 5/6,1991, 162-178; Die Islamische Charta, in www.islam.de; Johannes Kandel, Die Islamische Charta.

Fragen und Anmerkungen, Berlin 2002.2 Vgl. u.a. Gritt Klinkhammer, Moderne Formen is-

lamischer Lebensführung. Eine qualitativ-empiri-sche Untersuchung zur Religiosität sunnitisch ge-prägter Türkinnen der zweiten Generation inDeutschland, Marburg 2000; Muslimische Frauenin Deutschland erzählen über ihren Glauben,Gütersloh 1999.

3 Vgl. exemplarisch Theo Sundermeier, Den Fremdenverstehen, Göttingen 1996.

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ESOTERIK

Kawwana – Kirche des Neuen Aeon:Neue Entwicklungen. (Letzter Bericht:3/2002, 93f) Am 6. Januar 2003 hat dieesoterische Kirchengründung ThorwaldDethlefsens eine neue Ausrichtung er-fahren. Nach den drei großen Festritualen(Frühlingsaequinoktium, Sommersolstiti-um und Herbstaequinoktium) des Jahres2002 werde – so der „Kirchengründer“Dethlefsen im Anschreiben – nunmehreine „neue Schöpfungsphase“, ein „Fort-Schritt“, eingeleitet. In der Einladung hießes: „Ein solcher Schritt ist für Kawwanabereits jetzt – früher als von uns erwartet –möglich geworden... Dieser Schritt heißt:‚Der Weg in die Welt’. Man vergesse bittenie: Kawwana ist nicht der Name einerKirche in der Welt, Kawwana ist diegewandelte Welt an sich.“ Rund 800 bis 900 Personen folgten derEinladung Dethlefsens zur „Epiphanias-Veranstaltung mit Symmachia“ in dieeigens angemietete Halle „Zenith-Kultur-halle“ nach München (Lilienthalallee 35).Nochmals bekräftigte der „Vicarius“während der rund sechsstündigen Veran-staltung den dreifachen Anspruch seinesProjektes: 1. „Kawwana ist vom höchstenGott eingesetzt“, 2. „Kawwana ist dieeinzige Kirche“, 3. Ziel der Arbeit ist dieErlösung der Welt, aller Menschen. DieWelt soll aus ihrer bisherigen Seinsformbefreit werden. Später verkündete Dethlefsen: Die Kirchen-organisation sei zwar zu Ende, die Arbeitginge jedoch weiter. Die neue Phase vonKawwana sei im Rahmen des – wohl in-tern abgehaltenen – Wintersolstitiums imDezember 2002 eingetreten: Um 2.36Uhr sei Kawwana in die Welt Briah unddamit in die Unsterblichkeit überführt

worden. Wie Dethlefsen erläuterte, stündeKawwana nicht „wie andere Institutionen“in der Gefahr, alte Fehler zu wiederholen.Vor dem Hintergrund dieser neuen En-twicklung geschieht die Heilung des Men-schen nunmehr über die Durchführungvon Festen und Bällen, die einen magis-chen Hintergrund hätten. Dethlefsen plantbereits für dieses Jahr solche „echtenFeste“, für die allerdings eine Eintrittsge-bühr erhoben werden müsse. Danebenspielt die Arbeit mit Zielgruppen eineRolle: Geplant sind spezielle Veranstaltun-gen für Ältere und für Kinder mit demZiel: Den Menschen soll es möglich wer-den, in der magischen „Anbindung zuleben als Bürger des Neuen Zeitalters“. Die eigentliche magische Anbindung anden Gnadenstrom von Kawwana wirddurch eine Art „Taufritual“, die „Sym-machia“, vollzogen. Bei der Veranstaltungam 6. Januar 2003 in München ließensich schätzungsweise 600 Personen indiesem Ritual „magisch“ der Kawwana-Kirche angliedern. Mehrere Stationen wa-ren für den Einzelnen zu durchlaufen. Zu-vor erhielten die Veranstaltungsbesucherbei der Anmeldung eine kleine lilafarbeneKarte, auf der zu lesen war: „Wenn Ihnenim Ritual die Frage gestellt wird: ‚Hast Duein Ziel?’ So antworten Sie, vorausgesetzt,daß Sie sich damit identifizieren können:‚Mein Ziel ist die Freiheit!’“ Jeder, der sichfür das Ritual angemeldet hatte, erhielt zuBeginn ein weißes Kleid, an dessen Aus-schnitt ein Schwan zu erkennen war. ZumAbschluss wurden ein Sohar (eine ArtKompendium kabbalistischer Philoso-phie), eine Teilnahmebestätigung und einekurze Erläuterung zu Kawwanaübergeben. In diesen internen Unterlagenheißt es zu Kawwana: „Das hebräischeWort KAWWANA bezeichnet in der Tradi-tion der Kabbala eine magische Gebets-technik. So ist es kein Zufall, dass in derKirche KAWWANA die magische Arbeit mit

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INFORMATIONEN

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Psalmen eine recht zentrale Rolle ein-nimmt. Soweit dies in deutscher Sprachegeschieht, verwenden wir hierfür diegroßartige Übersetzung bzw. Verdeut-schung der Psalmen durch Martin Buber(‚Das Buch der Preisungen’...). JederPsalm hat eine sehr unterschiedlicheWirkung und kann daher weder willkür-lich ausgetauscht noch nach weltlichenGesichtspunkten ausgewählt werden. Vordiesem kurz skizzierten Hintergrundsprechen wir für alle durch Symmachiaangebundenen Mitglieder der KircheKAWWANA folgende Empfehlung aus: Eröff-nen Sie und schließen Sie jeden Tag mitPsalm 25. Dazu müssen Sie anfänglichnicht mehr beachten, als dass Sie nachdem Aufstehen, bevor Sie mit den Aktivi-täten des neuen Tages beginnen, stehendoder sitzend Psalm 25 laut – das meinthörbar – sprechen. Das gleiche giltentsprechend für den Abend: bevor Siesich zur nächtlichen Ruhe begeben, spre-chen Sie noch einmal Psalm 25 undschließen damit den Tag ab. Fügen Siedem Gesagten nichts weiteres hinzu, son-dern benützen Sie diesen Psalm wie einenSchlüssel, mit dem man einen Tag auf- undabschließt; das ist alles! So einfach ist das!“In der jeweils überreichten Urkunde standzu lesen: „[Vorname, Name] wurde am 6. Januar im Jahre 2003 durch den RitusSymmachia an den Gnadenstrom derKirche KAWWANA angebunden und istdurch diesen sakramentalen Akt der Taufeein Mitglied der Kirche KAWWANA ge-worden.“Wie Dethlefsen in einer Fragestunde wäh-rend des im Hintergrund ablaufenden Rituals erläuterte, werde „Symmachia“ inZukunft nicht mehr in der Öffentlichkeitvollzogen, sondern nur noch im innerenKreis. Er riet dazu, die Mitgliedschaft zuanderen religiösen Gruppen aufzugeben.Als Begründung gab er an: Dieser Schrittentspräche der „magischen Reinlichkeit“.

Gleichwohl sei ein Kirchenaustritt aberkeineswegs Bedingung: Kawwana seihöher (als die herkömmlichen Kirchen)angesiedelt und trete damit in keinenechten Streit, weil es keine echte Konkur-renz gebe. Neue Angebote sollen neue Zielgruppenerschließen. Dies hat sich die Gruppe umDethlefsen zur Aufgabe gemacht. Kosten-los sind die Angebote jedoch nicht mehr.Kurz vor Ostern erhielten Interessierte perPost eine Einladung zu der Veranstaltungvom 7. bis 11. Juli 2003 zum Eintrittspreisvon 500 Euro. Der Titel der Veranstaltung:„Himmlische Sinnlosigkeiten im Ge-wächshaus: Gedachtes – Geschriebenes –Gesprochenes – eine Einladung zum Mit-wachsen... Fünf Tage mit Thorwald Deth-lefsen im Gewächshaus des BotanischenGartens in München für Menschen, diedas fünfzigste Lebensjahr überschrittenhaben.“ Im Anschreiben wird zumindestein kleiner Vorgeschmack gegeben: „Men-schen ab 50 sind eingeladen, fünf Tagelang einzutauchen in diese Stimmung vonGenuß – ohne die Frage nach Zweck-mäßigkeit; daher sind diese fünf Tageauch kein Seminar, kein Kurs, kein Work-shop, keine Gruppe... Diese fünf Tage sindeine Art ‚Buffet’, auf dem Kostproben derverschiedensten geistigen Speisen serviertwerden – geistige Häppchen (Bücher –Zitate – Gedanken) zum Probieren, Ge-nießen – in Ruhe ...“Näheren Aufschluss über die „Dogmata“von Kawwana gibt neuerdings eine Selbst-vorstellungsbroschüre, die auf rund 100Seiten die „11 Grundpfeiler der Kirchedes Neuen Aeon“ präsentiert: DerHöchste Gott – Die Schechinah – DerAvatar – Magie – Heilige Lehre – Die vierWelten – Der Rückweg – Das Böse – Lichtund Wort – Der Tod – Der neue Aeon. Inder zweiten Hälfte der Broschüre findensich (mit dem dritten, abschließenden Teil„Sieben Schritte zum Menschsein“) Aus-

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führungen zu verschiedenen Stichwortenwie Kawwana, Kirche, Sakrament, Öku-mene oder Synkretismus. Unter dem Be-griff „Esoterik“ rechnet Dethlefsen mit denAuswüchsen heutiger Esoterik ab: „Esote-rische Lehren waren immer geheim, sindgeheim und bleiben geheim. All das, wasin letzter Zeit Mode geworden ist und denBegriff ‚Esoterik’ benutzt, um das Nicht-bekannte und Nichtverstandene in eigenePhantasien zu kleiden, ist eine Kindereiund hat mit Ausnahme der Terminologiemit der wirklichen Esoterik nicht einmalversehentlich irgendeine Berührung. DieMischung unverdauter Weisheitslehren ausallen Zeiten und Kulturen mit New Age-Phantasien und sogenannter Lebenshilfeist ein unbekömmlicher Brei, der trotz derkräftigen Würze mit zuckersüßen Phrasenniemanden zur Erlösung, sondern alleinin den Wahn führt. KAWWANA distanziertsich deshalb ausnahmslos von allen die-sen pseudoesoterischen Bewegungen,Übungen und Lehren – denn sie wissennicht, was sie tun! Leider!“ Unter demStichwort „Christentum“ wird die PersonJesu zwar gewürdigt und konzediert, dasser ein Gottessohn war. Jesus habe den Ver-such unternommen, an der Erlösung derWelt zu arbeiten und die Heilsgeschichteweiter voranzutreiben: „Bei diesem Werkist einiges gelungen, einiges ist nichtgelungen... Das Problem entstand erstspäter, als die Anhänger Jesu in sein Werkeinen Erfolg hineininterpretierten, den esnicht gab. Jesus zum Erlöser der Welt undzum Entmachter der Hölle zu machen,geht – leider – an der Wahrheit vorbei...Das Christentum hat die zwei Jahr-tausende des nun abgelaufenen Aeons –nicht ganz zurecht – mit seiner Dominanzausgefüllt; nun ist diese Kirche alt undmüde und steht vor ihrem Ende.“ Dochbei „Kawwana“ scheint das Leben auchnicht in gewünschter Weise zu pulsieren.Die bisherigen Veranstaltungen haben viel

Geld gekostet. Auch die Proklamationeines Endes der Kirchenorganisation vonKawwana hat womöglich selbst Mitglie-der überrascht. Trotzdem beschreitetDethlefsens Kawwana-Projekt neue orga-nisatorische, publizistische und nicht zu-letzt auch altbekannte kommerziellePfade: Darauf weisen nicht nur die rechthohen Eintrittsgebühren hin. Neuerdings bietet Kawwana neben deroben genannten Selbstvorstellungsbro-schüre auch eine Videoaufzeichnung„Epiphanias 2003 – Vortrag von ThorwaldDethlefsen“ zum Preis von 14 Euro (ein-schließlich Versand) an.Die Internetseite www.kawwana.de („... eine Kirche? Um Gottes Willen!!Richtig!“) informiert über aktuelle Ange-bote und bietet Bildaufnahmen von bis-herigen „Fest-Ritualen“ in München undWien sowie ein Foto vom „Tempel desHöchsten“.

Matthias Pöhlmann

GESELLSCHAFT

Sterbehilfe. Rechtzeitig zur diesjährigenökumenischen „Woche für das Leben“,die 2003 unter dem Thema „Chancen undGrenzen des medizinischen Fortschritts“stattfand (vgl. www.ekd.de), haben diechristlichen Kirchen die zweite Auflageihrer „Christlichen Patientenverfügung“herausgebracht. Die 25-seitige Handrei-chung mit einem entsprechenden Formu-lar wurde erstmals 1999 von der evange-lischen und katholischen Kirche und derArbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen(ACK) herausgegeben. Über 1,3 MillionenExemplare wurden bisher weitergegeben.In einer Einführung werden Fragen zu Todund Sterben behandelt und Möglichkeiteneiner Sterbebegleitung gezeigt. Die Verfü-gung selber bestimmt für den Fall, dass einPatient seine Angelegenheiten nicht mehr

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selber regeln kann, keine lebensver-längernden Maßnahmen vorzunehmen,wenn es zu einem „nicht behebbaren Aus-fall lebenswichtiger Funktionen“ des Kör-pers kommt. Jede Form aktiver Sterbehilfelehnen die christlichen Kirchen strikt ab.Das kombinierte Formular verbindet diePatientenverfügung mit einer Vorsorge-vollmacht und einer Betreuungsverfü-gung. Darin sollen individuelle Vorstellun-gen und Behandlungswünsche festgehal-ten werden. Das Formular gibt bewusstkeine konkreten Behandlungsanweisun-gen, um die persönliche Entscheidungs-freiheit zu wahren. Durch die vorsorglicheBestimmung einer Vertrauensperson odereiner betreuenden Person werden Men-schen genannt, die darauf achten, dassdie Verfügung während der Krankheits-und Sterbephase eingehalten wird. Diegroße Verbreitung der Patientenverfügungbelegt, welch hoher Orientierungsbedarfzu dieser umstrittenen medizinethischenFrage besteht.

Michael Utsch

Zunehmende Säkularisierung. Unter demTitel „Perspektive Deutschland“ haben dieUnternehmen McKinsey & Company, T-Online, die Zeitschrift Stern, und das ZDFEnde des Jahres 2002 die weltweit größteInternet-Umfrage zu gesellschaftspoliti-schen Themen durchgeführt. Befragt wur-den die Teilnehmer nach ihrer Meinungzum Zustand und zum Reformbedarf vonmehr als 20 ausgewählten Institutionen(vgl. www.Perspektive-Deutschland.de). Wenig erfreulich sind die Ergebnisse fürdie beiden großen Kirchen: Zwar attes-tieren die Befragten beiden großen Kir-chen keinen hohen Verbesserungsbedarf,sie bewerten sie jedoch zugleich in ihrerAufgabenerfüllung und ihrer Vertrauens-würdigkeit gering. Lediglich 11 % der Be-fragten äußerten ein hohes Vertrauen in

die katholische Kirche; 12 % beurteilenihre Aufgabenerfüllung als gut. Die evan-gelische Kirche schneidet etwas besser ab:17 % halten sie für vertrauenswürdig und18 % bestätigen ihr eine gute Aufgabener-füllung. Einen „dringenden Verbesse-rungsbedarf“ sehen 18 % bei der evange-lischen Kirche und 29 % bei der katholi-schen Kirche. Im Internet schreiben dieAutoren der Studie: „Eine deutlich kriti-sche Sicht der Kirchen, gleichzeitig aberkaum wahrgenommener Reformbedarf –dies reflektiert die zunehmende Säkulari-sierung der Gesellschaft.“ Nur 4 % derBefragten sind der Meinung, dass Ver-besserungen in den beiden Kirchen eindringendes Thema für die Gesamtge-sellschaft sei. Ungewöhnlich hoch sind auch die Ergeb-nisse der Befragung mit Blick auf atheisti-sche bzw. religionsferne Positionen: 12%betrachten sich als Atheisten, 24 % als„eher nicht religiös“. Mit 36 % reichtdiese Zahl fast an die 39 % derer heran,die sich als religiös bezeichnen. Übrigensbezeichnen sich damit wesentlich weni-ger Menschen als religiös, als es Kirchen-mitglieder gibt: Im Jahre 2001 gehörtenca. 65 % der Bevölkerung der katholi-schen oder evangelischen Kirche an. Dervorliegenden Internet-Umfrage nach gäbees also ca. 20 % Kirchenmitglieder, diesich als „nicht religiös“ einstufen.Die Frage ist, wie repräsentativ solcheUmfragen sind. Die Initiatoren weisen da-rauf hin, dass immerhin 356.000 Teil-nehmer gezählt wurden. Allerdings ergibtsich eine Verzerrung daraus, dass nur teil-nehmen konnte, wer über einen Internet-anschluss verfügt. Im Kern dürften dieErgebnisse dennoch einen allgemeinvorhandenen Trend widerspiegeln. In je-dem Fall sollten sie zu denken geben undkirchliches Handeln wird sich ihnenstellen müssen.

Andreas Fincke

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ISLAM

Islam in Frankreich. (Letzter Bericht:5/2003, 176ff, 192) Die knapp sechs Mil-lionen Muslime in Frankreich haben seitApril eine repräsentative Vertretunggegenüber der Regierung. Vom 6. bis 13.April fanden Wahlen zum „Rat der isla-mischen Religion in Frankreich“ (CFCM)statt, an der sich ca. 85 % der Muslimebeteiligten. Überraschend stark schnitt bei der Wahldes 42-köpfigen Gremiums die Gruppe„Union Islamischer Organisationen“ ab,die mit 14 Sitzen ein gutes Drittel ver-bucht. Sie vertritt einen strengen Islamis-mus-nahen Kurs, während der Vorsitz vonDalil Boubakeur, dem Leiter der ge-mäßigten Pariser Hauptmoschee, einge-nommen wird. Die Moschee steht dem al-gerischen Kurs nahe. Die stärkste Fraktionstellt die FNMF, die den gemäßigten Islamder marokkanischen Ausrichtung vertritt.Der Rat beruht auf einem Plan des frü-heren Ministerpräsidenten Lionel Jospinund soll in umfassender Weise als An-sprechpartner für u.a. folgende Fragen zurVerfügung stehen: islamische Soldaten-und Gefängnisseelsorge, rituelles Schlach-ten, Kopftuchtragen an Schulen etc. DieMuslime stellen in Frankreich nach derkatholischen Kirche die größte Religions-gruppe noch vor den protestantischenChristen dar (letztere 1,6 % der Bevöl-kerung). In Anbetracht des starken Ab-schneidens der CFCM wurden warnendeStimmen laut, die den Islamrat darauf hin-wiesen, dass dieser nicht zum Instrumentislamistischer Bestrebungen werden dürfe.Der Pariser Erzbischof Kardinal Jean-Marie Lustiger sieht diese Stärkung des Is-lam in Frankreich mit Sorge. Grundsätzlich wird auch in Deutschlandeine repräsentative Organisation des Is-lam für wünschenswert gehalten – dieEKD hat dies des öfteren angemahnt –,

um etwa die Einführung des islamischenReligionsunterrichts entsprechend GGArt. 7 (3) über Experimente und Modell-versuche hinauszubringen und dem Staatauch in manch anderer Hinsicht als auto-ritativer Gesprächspartner gegenübertre-ten zu können. Vielleicht dient die franzö-sische Entwicklung als Impuls für deut-sche islamische Verbände und Moschee-vereine.

Ulrich Dehn

Hanne Landbeck, Generation Soap. Mitdeutschen Seifenopern auf dem Weg zumGlück, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin2002, 205 Seiten, 8,95 €.

Viele sehen sie, und nur wenige geben eszu. Deutsche TV-Seifenopern wie „GuteZeiten, schlechte Zeiten“ (GZSZ), „Ma-rienhof“, „Verbotene Liebe“ und „Unteruns“ laufen zum Teil seit 1992 im Pro-gramm und erreichen täglich im Durch-schnitt bis zu zwölf Millionen Zuschauer,vor allem Mädchen und Frauen. Das vor-liegende Buch stellt fest, dass – so derKlappentext – „die Faszination der Selbst-bespiegelung in der Mattscheiben-Durch-schnittsfamilie so neu nicht ist“. Daherunternimmt die Autorin einen Ausflug in die Geschichte und einen Gang hinterdie Kulissen der „Erzählmaschine“ Fern-sehen. In einem ersten Kapitel (9-21) schafft dieAutorin einen ersten Zugang zur den ver-schiedenen Serien und arbeitet wichtigeGemeinsamkeiten heraus: Nur wenigePersonen in diesen Vorabendserien sindsichtbar älter als 29 Jahre, mehr als dieHälfte sind Frauen – im Unterschied zuanderen TV-Serien. Ein weiteres Kennzei-chen: „Immerzu teilen die Mitglieder der

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Soap-Familie einander ihre Gefühle, Zwei-fel, Erlebtes, Sorgen und Fragen mit.Dauernd sitzen sie auf Sofas oder amKneipentisch, um ein Ventil für ihre über-schäumende Innenwelt zu finden, diescheinbar ganz und gar nach außen drängt.Jung, gut gelaunt und dennoch von Tragikumflort, so präsentieren sich die Protago-nisten der Daily Soaps“ (13f). Das zweite Kapitel („Auf dem Weg: DieAhnen“) stellt Vorläufer und Verwandtedieses Genres vor. Die ältesten Zeugnisseentdeckt sie in den blutrünstigen Strei-tereien und Intrigen in der antikengriechischen Götterwelt Homers undspäter dann in den Figuren und Szenender Commedia dell’arte, der Steg-reifkomödie aus dem 16. Jahrhundert(34). Die englische Bezeichnung der „SoapOpera“ (Seifenoper) wurde von der US-amerikanischen Waschmittelindustrie ge-schaffen. Anfang der 30er Jahre hatte derWaschmittelhersteller Procter & Gamblefolgende Idee: Täglich ausgestrahlte Ra-dio-Episoden sollten die zuhause arbeit-ende Hausfrau direkt ansprechen und ihrin verlockender Weise Haushaltsproduktenahe bringen. „Ma Perkins“, eine ame-rikanische Hausfrau, hieß z.B. eine derProtagonistinnen der fiktiven wie werbe-wirksamen Endlos-Geschichten im Radio.Die „Daily Soap“ als Form des Kultmarke-ting war geboren! Auch das neue Medium Fernsehen griffauf dieses Strickmuster zurück und pro-duzierte in der Folgezeit entsprechendeUnterhaltungsserien, in den USA und inlateinamerikanischen Ländern. Man denkenur an die „Telenovelas“ Brasiliens, dieauch hierzulande ausgestrahlt wurden!Vorbilder deutscher Soaps sind auch dieFamilienserien, die von den USA überAustralien nach Deutschland kamen.Milieugeschichtlich besonders interessantist der Abschnitt über Familienserien in

West und Ost (58-88). Was die Soap zurSoap macht, ist der Werberahmen. Schonallein deshalb kann für die Autorin – undmanche unter unseren Lesern werdenjetzt vielleicht aufatmen – die Endlosserie„Lindenstraße“ nicht dazu gezählt wer-den! Allenfalls ist sie „ein Zwischengliedauf dem Weg zur Daily Soap“ (93). An-ders verhält es sich im Blick auf die bereitsgenannten vier Vorabendserien: „DieDaily Soap befindet sich als Ergebnis desWerbeprogramms im Zentrum des soge-nannten Kult-Marketings und ist gleich-zeitig selbst Werbeträger und beworbenesProdukt... Fast gleichen die Soaps einemGötzen, den man anbetet.“ (103) Gleich-wohl sind diese Serien auch Orien-tierungspunkte für das jugendliche Pub-likum: Neue Trends bei Klamotten oderder Zimmereinrichtung – kurzum „Life-style“ ist gefragt! Sog. Fanzines (Fan-Ma-gazine) zu den Serien sind Teil dieses Kult-Marketings. Jugendliche suchen Vorbilder,die sie zum Teil in den Serien finden –aber offensichtlich auch solche, von de-nen sie sich abgrenzen können. Die Autorin gibt interessante Einblicke indie Kulissen- und Produktionswelt dieserSerien, ihrer Macher und Fans. Sie ist sichbewusst: Die Serien sind eine Gratwan-derung zwischen Fiktion und Wirklichkeit(193ff), wobei die Soaps diese Grenzezunehmend diffus erscheinen lassen. DerFernseher werde zur Sinnstiftungsinstanz:Er ist mehr als ein banaler Einrichtungsge-genstand, er hat sich zur „Lebensrhyth-musmaschine gemausert“ (195f). Für Trostund Orientierung ist nicht mehr dieKirche, sondern das Fernsehen zuständig,das den Alltag regelt. Interessant wäre es,den Fokus stärker auf die Vorabendserienzu richten. Welche Bedeutung hat Reli-gion in den Serien? Sind sie selbst eineKonsumreligion? Ein Götze? Oder gibt esim Strickmuster der Serien latente Sinn-und Orientierungsangebote?

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Hanne Landbecks Buch bietet Unterhalt-sames, Anschauliches (knapp zehn Foto-seiten) und mancherlei Informatives. Un-terrichtenden, nicht nur an Mädchen-schulen, ist es zur Lektüre unbedingt zuempfehlen, vor allem dann, wenn Lehrerwissen wollen, was ihre Schülerinnen undSchüler am Vorabend getan bzw. gesehenhaben.

Matthias Pöhlmann

Christoph Elsas, Religionsgeschichte Eu-ropas. Religiöses Leben von der Vorge-schichte bis zur Gegenwart, Wissen-schaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt2002, 239 Seiten, 12,90 €.

Die religionswissenschaftliche Forschungist immer schon gerne in die Fernegeschweift. Die Darstellung der „Weltreli-gionen“ aus ihrer Genese im asiatischenoder mittelöstlichen Raum gehört zu denStandardaktivitäten dieses Forschungs-zweiges und hat auch bis heute ihr Recht,natürlich unter stetiger interdisziplinärerAusdifferenzierung der Methoden und Er-weiterung der Aspekte. Erst seit kurzem,vermutlich angeregt durch die Präsenz derReligionen im ursprünglich christlich do-minierten Westen, boomt das Thema „Re-ligionsgeschichte Europas“ im religions-wissenschaftlichen Veranstaltungsange-bot, und in den Veröffentlichungen bahntsich ähnliches an. Elsas, Marburger Professor für Religions-geschichte, hat nun als erster eine um-fassende und zugleich kompakte Gesamt-darstellung des Stoffes vorgelegt. Er bettetseine Darstellung ein in eine Hommagean Rudolf Otto und die Aktivitäten deseinstmals von ihm betreuten Lehrstuhls,sowie in den Ansatz einer „dialogischenReligionswissenschaft“, die er am Endedes Buchs noch einmal konkretisiert. DieDarstellung stellt er unter eine um-

fassende Definition von Religion, bzw.programmatisch stattdessen Religiosität:„Religiosität bedeutet eine Offenheit desMenschen für zutiefst Lebenswichtiges,das durch eine Überzeugung qualifiziertwird, die in gewisser Diskontinuität zumgegebenen Kontext steht und in dessenKategorien weder bewiesen noch wider-legt werden kann.“ Ausgehend von diesem Ansatz wird derLeser tief in die historisch erforschbarenAnfänge der Menschheitsgeschichte ge-führt und mit archäologischen Fundenund anderen Zeugnissen der frühenZeiten vertraut gemacht. Die für die Scha-manismus-Forschung wichtige, vermutlich20.000 Jahre alte Höhlenmalerei von Las-caux (Zentralfrankreich) wird ebenso er-wähnt wie die Kulthöhlen der Île-de-France, die auf ein frühes Symbolsystemschließen lassen. Ein gewisser Schwer-punkt der Darstellung auf frühen religiö-sen Kulturen ist nicht zu übersehen: ca.2/3 des Buches halten sich in der Zeit biseinschließlich der Antike auf. Unter derÜberschrift „Auseinandersetzung zwi-schen zentralistischen Monotheismen“gibt Elsas einen Versuch an die Hand, dieEpoche von der Zeitenwende bis zumEnde des 7. Jahrhunderts (von Jesus biszur Entstehung des Islam) anhand voninhaltlichen Kategorien zu verstehen(137-148). Es gehe um „den christlichenImpuls aus der Erfahrung, dass in Lebenund Lehre Jesu für seine Gemeinde dieGottesherrschaft anbrach“ (137). DerAnspruch des Gottesvolkes wird am Endedes 7. Jahrhunderts vom Islam aufgenom-men, der seine Ausbreitung als Kampfgegen die Gegner des jüdisch-christlichenMonotheismus verstand. In nunmehr etwas größerem Tempo gehtder Weg dann durch die Renaissance, dieals Stichwort vor der Reformation firmiert,durch die Aufklärung in die Gegenwartbis hinein in die Präsenz der vielen Reli-

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gionen und der Ethnien. Der Beziehungs-aspekt ist Elsas wichtig, auch in Gestaltseiner unterdrückerischen Varianten. DasVerhältnis Christen – Juden und Christen –Muslime sowie die Geschichte der „Zi-geuner“ und der „Dunkelhäutigen“ erfah-ren spezifische und gut informierte Be-handlung. Elsas scheut sich auch nicht, inden Bereich der Präsenz von Neureligio-nen in Europa vorzudringen (207ff). DerGewohnheit folgend, hier und dort Ein-blick in Detaildebatten zu geben, zeich-net er hier (212-214) kurz Problempunkteim Zusammenhang der Baha’i nach. Das Buch endet mit einem engagiertenEintreten für einen dialogisch-kommuni-kativen Ansatz in der Begegnung der Reli-gionen. Alle Religionen sind ambivalentund können in außerreligiös verursachtenZusammenstößen zusätzlich affirmierendwirken, aber umgekehrt hat auch, soElsas, der Islam mindestens in mehrheitlichnichtislamischen Ländern die menschen-rechtsstützenden Tendenzen des Koranbetont. An dieser Stelle eine kleine Kor-rektur: weder in Sure 2,30 noch in irgend-einer anderen Sure des Koran sind Men-schen als „Stellvertreter“ (khalifa) Gottesgemeint (219), immer nur als Stellvertreteroder Nachfolger anderer Menschen (oderEngel).Der teilweise nicht ganz einfache Stil desBuchs und die reichhaltige Kursivsetzungvon Worten, die der Autor betont wissenmöchte, erschweren das Lesen ein wenig;die Verbannung der Anmerkungen an denSchluss ist nicht leserfreundlich, und diethemen- bzw. kapitelbezogenen Literatur-hinweise könnten etwas übersichtlichersein, ebenso wie das eher knappe undzweigeteilte Register. Insgesamt jedoch bietet der Autor einesehr kondensierte Darstellung und interes-sante und anspruchsvolle Auseinanderset-zung mit der religiösen Geschichte Euro-pas. Er setzt dabei ein deutliches Schwer-

gewicht auf Zeiten, in denen auch überdie nicht- und vorchristliche und schließ-lich wieder nachchristliche Welt einigeszu schreiben ist.

Ulrich Dehn

PD Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer,Religionswissenschaftler, EZW-Referent fürnichtchristliche Religionen.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer,EZW-Referent für christliche Sondergemein-schaften.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953,Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig für Grund-satzfragen, Strömungen des säkularen und re-ligiösen Zeitgeistes, pfingstlerische und charis-matische Gruppen.

Heinz-Jürgen Loth M.A, geb. 1942, Religions-wissenschaftler, Lehrbeauftragter für Religions-geschichte an der Universität Wuppertal undDuisburg-Essen.

Dr. theol. Andreas Obenauer, geb. 1968, istPfarrer der Evangelischen Landeskirche inBaden und arbeitet als Gemeindepfarrer inGraben-Neudorf (Landkreis Karlsruhe).

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfar-rer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für reli-giöse Aspekte der Psychoszene, weltanschau-liche Strömungen in Naturwissenschaft undTechnik.

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AUTOREN

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

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Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

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Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

66. Jahrgang 6/03

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

„Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“ –Weltanschauungsarbeit als ökumenischeAufgabe

Gott auf MTV –Religiöse Botschaften von Videoclips

Postmoderne Heilung durch Energiemedizin

Der Koran als Quelle militärischer Stärke

Wie naiv ist unser Dialog mit Muslimen?

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226