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285 Frank Löhrer 8. Doppeldiagnosen 8.1 Begriffsdefinition Der Begriff „Doppeldiagnose“ ist sozialmedizinisch mehrdeutig und un- scharf. Er hat sich in der sozialarbeiterischen und klinischen Praxis seit Mitte der 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts als Bezeichnung für das gleichzei- tige Vorliegen einer Abhängigkeitserkrankung und einer Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis eingebürgert. Das gleichzeitige Vorkommen von mehr als einer Erkrankung ist klinisch keine Seltenheit. Gerade bei alten und behinderten Menschen liegen häu- fig mehrere Erkrankungen vor. Klinisch exakt spricht man in einem solchen Fall von einer „Komorbidität“. Komorbiditäten sind daher keine Ausnahmen sondern Regelfälle. Doppeldiagnosen wären nach dieser Terminologie F1/F2 Komorbiditäten, wobei sich F1 auf den unter Kategorie F1 des ICD-10 verschlüsselten For- menkreises von Abhängigkeitserkrankungen oder missbräuchlichem Subs- tanzkonsum bezieht. Unter der Kategorie F2 klassifiziert der ICD-10 Erkran- kungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Neben dieser F1/F2 Komorbidität sind aus psychiatrischer Sicht noch F1/F3 Komorbiditäten (gleichzeitiges Vorkommen einer Abhängigkeitserkrankung und einer depressiven Erkrankung), häufig und klinisch wichtig. Die gleich- zeitige Erkrankung an einer Depression und einer Abhängigkeitserkrankung kommt sehr häufig vor. Die F1/F3 Komorbiditäten werden klinisch bisher nur ungenügend gewürdigt. Hier bieten sich eine antidepressive Medikation und eine auf beide Erkrankungen eingehende Psychotherapie an. Fernerhin müssen die ebenfalls häufig anzutreffenden F1/F6 Komorbiditäten (gleich- zeitiges Vorkommen einer Abhängigkeitserkrankung und einer Persönlich- keitsstörung) beachtet werden Aus psychotherapeutischer Sicht ist die F1/F6 Komorbidität hoch relevant. Die Prognose von Entwöhnungsbehandlungen wird wesentlich durch gleich- zeitig vorkommende Persönlichkeitsstörungen mitbestimmt. Daher wird in Zukunft auch den Persönlichkeitsstörungen erhöhte Aufmerksamkeit zu zol- len sein. Dies gilt insbesondere für die nach DSM IV so bezeichneten Cluster- C- und Cluster-B Persönlichkeitsstörungen:

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Frank Löhrer

8. Doppeldiagnosen

8.1 Begriffsdefinition

Der Begriff „Doppeldiagnose“ ist sozialmedizinisch mehrdeutig und un-scharf. Er hat sich in der sozialarbeiterischen und klinischen Praxis seit Mitte der 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts als Bezeichnung für das gleichzei-tige Vorliegen einer Abhängigkeitserkrankung und einer Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis eingebürgert.

Das gleichzeitige Vorkommen von mehr als einer Erkrankung ist klinisch keine Seltenheit. Gerade bei alten und behinderten Menschen liegen häu-fig mehrere Erkrankungen vor. Klinisch exakt spricht man in einem solchen Fall von einer „Komorbidität“. Komorbiditäten sind daher keine Ausnahmen sondern Regelfälle.

Doppeldiagnosen wären nach dieser Terminologie F1/F2 Komorbiditäten, wobei sich F1 auf den unter Kategorie F1 des ICD-10 verschlüsselten For-menkreises von Abhängigkeitserkrankungen oder missbräuchlichem Subs-tanzkonsum bezieht. Unter der Kategorie F2 klassifiziert der ICD-10 Erkran-kungen aus dem schizophrenen Formenkreis.

Neben dieser F1/F2 Komorbidität sind aus psychiatrischer Sicht noch F1/F3 Komorbiditäten (gleichzeitiges Vorkommen einer Abhängigkeitserkrankung und einer depressiven Erkrankung), häufig und klinisch wichtig. Die gleich-zeitige Erkrankung an einer Depression und einer Abhängigkeitserkrankung kommt sehr häufig vor. Die F1/F3 Komorbiditäten werden klinisch bisher nur ungenügend gewürdigt. Hier bieten sich eine antidepressive Medikation und eine auf beide Erkrankungen eingehende Psychotherapie an. Fernerhin müssen die ebenfalls häufig anzutreffenden F1/F6 Komorbiditäten (gleich-zeitiges Vorkommen einer Abhängigkeitserkrankung und einer Persönlich-keitsstörung) beachtet werdenAus psychotherapeutischer Sicht ist die F1/F6 Komorbidität hoch relevant. Die Prognose von Entwöhnungsbehandlungen wird wesentlich durch gleich-zeitig vorkommende Persönlichkeitsstörungen mitbestimmt. Daher wird in Zukunft auch den Persönlichkeitsstörungen erhöhte Aufmerksamkeit zu zol-len sein. Dies gilt insbesondere für die nach DSM IV so bezeichneten Cluster-C- und Cluster-B Persönlichkeitsstörungen:

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Cluster C: (Ängstliches oder furchtsames Verhalten)1. Dependente Persönlichkeitsstörung2. Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung3. Zwanghafte PersönlichkeitsstörungHier fungiert Alkohol als ein sozial leicht zugängliches Sedativ.

Unter Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (Dramatisches, emotionales oder launenhaftes Verhalten) werden folgende Varianten verstanden:1. Antisoziale Persönlichkeitsstörung2. Borderline Persönlichkeitsstörung3. Histrionische Persönlichkeitsstörung4. Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Bei diesen Störungen werden häufig chaotische Konsummuster beobach-tet.In der Psychopathologie gibt es keine exakte Abgrenzung von der Persön-lichkeitsstörung zur Persönlichkeitsakzentuierung, vielmehr stellen beide Kategorien ein Kontinuum dar. Eine Akzentuierung wird allein durch die so-ziale Konnotation, dass das Muster von Verhalten und Erleben, das bei die-ser Person vorliegt, ihn selbst oder seine soziale Mitwelt stört, zu einer Stö-rung. Die Diagnose der Persönlichkeitsstörung ist daher immer eine Diag-nose unter Bezugnahme auf den sozialen Kontext und darf sich daher kon-textabhängig auch ändern. In diesem Buchkapitel wollen wir uns jedoch nur mit den F1/F2 Komorbiditäten beschäftigen.

8.2 Ein wachsendes Problem?

In der Psychiatrie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte die F1/F2 Komorbidität keine Rolle. Allenfalls als ein Randphänomen wurde erwähnt, dass Alkoholkonsum in einem bedenklichen Umfang auch bei Schizophre-nen beobachtet wurde. In der Suchthilfe, der ambulanten oder stationären Versorgung tauchten Komorbide jedoch kaum auf. Sie galten als unbehan-delbar, da die Konzepte der Suchtarbeit (konfrontatives Vorgehen) und die Konzepte der Arbeit mit Psychoseerkrankungen des schizophrenen Formen-kreises (stützende, auch „zudeckende“ Arbeit) einander ausschlossen.

Heute stellen Komorbide einen nennenswerten Anteil der Patienten in Kli-nik, Praxis und Beratung. Ihr Anteil scheint stetig zu wachsen. Was sind Ursa-chen dieser deutlichen Zunahme?

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Hierfür können drei voneinander unabhängige Ursachen angenommen wer-den:

8.2.1 Veränderte Konsumspektren

Zum einen hat sich das Spektrum der konsumierten Drogen in den letzten Jahren deutlich verändert. Wurden von Abhängigen um 1990 herum vor al-lem Alkohol, Heroin und Benzodiazepine konsumiert, so spielen inzwischen LSD, Kokain, Amphetamine und Entactogene eine erhebliche Rolle. Neben den natürlich vorkommenden Drogen wurden Substanzen mit psychotro-per Wirkung gezielt entwickelt und künstlich hergestellt: „Designerdrogen“. Diese Drogen haben jeweils die unerwünschte „Nebenwirkung“, dass sie bei einer gewissen Zahl der Konsumierenden psychotische Zustandsbilder aus-klinken können. Diese nehmen mitunter, abhängig von der benutzten Subs-tanz, der Vorschädigung des Konsumenten und den Umständen des Konsu-mes, dann eigengesetzliche Verläufe. Diese „drogeninduzierten“ Psychosen sind psychopathologisch von schizophrenen Erkrankungen nicht mehr zu unterscheiden. Da die Konsummenge und die Konsumfrequenz dieser hallu-zinatorisch wirksamen Drogen bei Drogenabhängigen permanent zugenom-men hat, steigt auch die Frequenz der F1/F2 Komorbiden.

Die F1/F2 Komorbidität wird in dem ersten Fall mitunter als eine „drogen-induzierte Psychose“ beschrieben. Diese Terminologie ist aber nicht unum-stritten, da sie eine evtl. vorbestehende Vulnerabilität für eine Schizophre-nie außer Acht lässt.

8.2.2 Das Sonderproblem Cannabis

Ein besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang die Droge Cannabis. Die Hanfpflanze Cannabis wird seit Jahrhunderten konsumiert. In unserer Population ist sie spätestens seit den 68iger Jahren des 20. Jahrhun-derts hochfrequent anzutreffen. In den letzten Jahren mehrt sich der Kon-sum bei jungen Abhängigen oder experimentellen Substanzgebrauchern.

Bereits seit Jahrzehnten ist eine psychotische Exazerbationsneigung unter Cannabiskonsumenten aus kasuistischen Berichten bekannt. Dies hat zu großen epidemiologischen Untersuchungen Anlass gegeben. Heute besteht keinerlei Zweifel mehr daran, dass bei einem auch nur niederfrequenten

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Cannabiskonsum das Risiko, eine eigengesetzlich verlaufende Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis zu entwickeln, deutlich höher ist als bei der Grundgesamtheit. Mehrere Studien deuten darauf hin, dass sich die Schizophreniehäufigkeit unter Cannabiskonsumenten vervielfacht (Kap 7). Da der Konsum von Cannabis inzwischen in einer erheblichen Stichprobe der Bundesdeutschen Jugendlichen und Jung-Erwachsenen üblich ist, ist die Entwicklung einer cannabis-induzierten Psychose oder die Induktion einer Schizophrenieerkrankung durch Cannabiskonsum ein klinisch häufiges Er-eignis.

Lässt sich der Cannabiskonsum nicht zügig eindämmen, so werden wir in Zu-kunft mit einer wachsenden Zahl von komorbiden Erkrankungen und auch von Schizophrenen rechnen müssen.

8.2.3 Konsum als frustrane Selbsttherapie

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Drogen legaler und illegaler Art auch spezifische und unspezifische Krankheitszeichen der Schizophrenie tempo-rär durchaus positiv beeinflussen können. So ist ein erhöhter Konsum von Alkohol in einer prodromalen Krankheitsphase der Schizophrenie nachge-wiesen. Die Konsumenten verschaffen sich damit offenbar Entspannung, Be-ruhigung und eine gewisse psychische Nivellierung bei ihrer hohen Anspan-nung, Reizbarkeit und verdrießlichen Verstimmung. Aus analogen Gründen ist heute auch ein erhöhter Konsum von Cannabis anzunehmen.

Schizophrene fühlen sich subjektiv durch Drogenkonsum oftmals zunächst entlastet, das begünstigt eine erlernte Drogeneinnahme. Einige Kliniker sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „sekundären“ Abhän-gigkeitserkrankung. Eine Fülle von Studien deutet darauf hin, dass unter Schizophrenen eine Symptomverbesserung wie Entspannung, Besserung der Schlafstörung usw. angenommen wird. Eine objektive Verbesserung der Symptomatik war jedoch nicht nachzuweisen.

Unabhängig von der Frage, ob biographisch zunächst die Drogenerkrankung oder zunächst die Abhängigkeitserkrankung vorlag, ergeben sich bei län-gerem Krankheitsverlauf vielfältige und komplexe Interaktionen zwischen den Krankheitsbildern, so dass die Unterscheidung zwischen „primären“ und „sekundären“ Suchterkrankungen allenfalls einen akademischen und

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epidemiologischen Wert hat. Für das konkrete Einzelfallmanagement ist die Frage meist unerheblich.

8.3 Die soziale Realität der Menschen mit F1/F2 Komorbidität

Doppeldiagnosenpatienten sind ganz normale Suchtkranke. Wie die poli-toxikomanen Probanden auch haben sie häufiger als die altersgewichtete Grundgesamtheit soziale Probleme. Die Schule wurde häufig nicht been-det, eine Ausbildung bleibt fragmentarisch. Selten nur werden Lehren ab-geschlossen oder Berufe vollständig erlernt. Wie alle politoxikomanen Men-schen haben auch F1/F2 Komorbide häufiger als die Vergleichsgruppe Kon-flikte mit dem Gesetz, fallen durch Bagatelldelikte wie Rauschfahrten, Fah-ren ohne Führerschein oder Kleinkriminalität auf. Seltener als bei Polito-xikomanen finden wir jedoch schwere Delikte wie Körperverletzung, Raub oder Totschlag. Auch ein Handel mit Betäubungsmitteln bleibt häufig auf einem eher amateurhaften Niveau.

Doppeldiagnosenpatienten sind ganz normale Patienten mit einer Schizo-phrenieerkrankung. Wie die F2-Erkranken allgemein bleiben sie häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt ohne festen Partner. Häufige Rehospitalisati-onen, nicht nur zur Entgiftung, kennzeichnen ihren Lebensweg. Ein Berufsle-ben wird durch die zahlreichen Klinikaufenthalte zu Entgiftung und Psycho-sebehandlung fragmentiert. Eine berufliche Karriere ist selten. Nur im Aus-nahmefall finden sich stabile Partnerschaften. Die Kinder von F1/F2-komor-biden leben häufig in Pflegefamilien oder anderen Pflegesituationen.

Wie schizophrene Menschen auch haben auch die Komorbiden häufig äu-ßert komplizierte Elternbeziehungen. Bei allen politoxikomanen Patienten finden sich Rumpffamilien in der Biographie gehäuft, so auch bei den Dop-peldiagnosepatienten. Bestehen jedoch Anbindungen an die Ursprungsfa-milie, so sind emotional überfrachtete Beziehungen zu den Eltern die Regel. Das permanente Scheitern und die offensichtliche Erkrankung der Kinder hält die Eltern in einer kraftzehrenden Anspannung, die von überdauern-der Verantwortungsübernahme, auch bei erwachsenen Kindern einerseits und einer oft rigiden Ablehnung wegen der disziplinarischen Auffälligkeit und der Unbotmäßigkeit der Kinder andererseits geprägt ist. Komorbide Er-krankungen sind daher immer Erkrankungen des gesamten familiären Sys-temes.

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Doppeldiagnosepatienten verfügen häufig nicht über eine soziale Basissi-cherung. Diese Indikationsgruppe ist zunehmend sozial unversorgt. Einer-seits sind die Einkommensverhältnisse, auch wegen der häufigen Erkran-kungen, häufiger Berufsverluste und langer Arbeitslosigkeit oder völlig feh-lender Erwerbstätigkeit gering. Andererseits ist die soziale Kompetenz oft so wenig ausgeprägt, dass auch Anträge auf Sozialhilfe etc. nicht gestellt wer-den. So lebt ein nennenswerter Anteil der Menschen mit F1/F2 Komorbidität unter miserabelsten Bedingungen, z. B. in Obdachlosigkeit.

Komorbide Patienten nehmen im Strafvollzug immer eine Sonderrolle ein. Die klare Hackordnung, die mit der sozialen Realität innerhalb einer Justiz-vollzugsanstalt einhergeht, verweist Komorbide auf die untersten Rangstu-fen. Daher ist Unterdrückung dieser Personen im Strafvollzug keine Selten-heit. Sie werden häufig im Insassenkollektiv gedemütigt, oft Opfer sexueller Übergriffe und von Quälereien, die dann wieder paranoiden Verarbeitungen Nahrung und Anlass geben. Komorbide Gefangene bedürfen daher oft be-sonderer Haftbedingungen. Ihre Haftfähigkeit ist – abhängig von der psycho-tischen Aktivität – fortwährend zu überprüfen. Eine rein medikamentöse Be-handlung ist oft nicht angemessen.

8.4 Die Symptomatik der F1/F2 Komorbidität

F1/F2 Komorbide sind ganz normale Suchtkranke. Wie andere Abhängig-keitskranke auch zeigen sie körperliche und/oder seelische Phänomene der Abhängigkeit: Das Verlangen nach den Substanzen, das überwertige Su-chen nach den Substanzen, ihre Zuführung, auch wenn sich diese als sozial schlecht erweist, usw. Genau wie andere Suchtkranke auch kann es bei Ent-zug von Alkohol, Benzodiazepinen oder anderen Sedative zu deliranten Zu-standsbildern kommen. Ein Entzug von diesen Substanzen ist daher klinisch überwachungspflichtig, mitunter ist eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich.

F1/F2 Komorbide zeigen jedoch ein leicht anderes Konsummuster als die Grundgesamtheit der Konsumierenden. Der Einstieg in den Konsum von Opi-aten geschieht später. Ein intravenöser Konsum ist niederfrequenter. Entac-togene, Amphetamine und halluzinatorisch wirksame Pilze werden hinge-gen häufiger konsumiert. Der Einstieg in den Cannabiskonsum findet meist früh statt. Eine gleichzeitige Abhängigkeit von Cannabis- und Alkohol ist die Regel.

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F1/F2 Komorbide sind ganz normale Erkrankte aus dem schizophrenen For-menkreis. Häufig aber nicht zwingend finden sich phasenweise oder perma-nent auftretende Halluzinationen akustischer oder optischer Art. Häufig sind Denkstörungen, die sich nur dem in der Exploration von psychisch Kranken geübten erschließen, oder die in besonderen psychodiagnostischen Verfah-ren gemessen werden müssen. So können wahnhafte Denkstörungen vorlie-gen. Es kann zu formalen Denkstörungen wie einer erhöhten Suggestabilität, einer Lenkbarkeit und Ablenkbarkeit kommen. Das Denken kann kontamina-tiv beeinflusst werden. Die Patienten klagen dann über das Gefühl des Ge-machten. Häufig findet sich auch Beziehungs- und Bedeutungserleben.

Von besonderer sozialmedizinischer Bedeutung sind die sogenannten „hö-heren kognitiven Funktionen“, wie Alertness (allgemeine Wachheit), die Fä-higkeit, multimodale Reize zu verarbeiten, Texte verstehend zu lesen, Ar-beitsgedächtnis zu bilden oder motorische Handlungsroutinen zu vollzie-hen. Diese Funktionen sind z. B. für das Arbeitsleben, das Bedienen von Ar-beitsgeräten, das Führen eines Kraftfahrzeuges oder für Lernleistungen im schulischen oder studentischen Alltag relevant. Meist ist die allgemeine Alertness, die Umstellfähigkeit, das visuelle Scanning und die Fähigkeit, mul-timodale Reize zu verarbeiten, hartnäckig gestört. Mitunter sind Luzidität (Bewusstseins-Klarheit), Assoziation und Diskrimination beeinträchtigt, die mnestische Ebene gestört, wobei besonders das Kurzzeitgedächtnis und die Engrammbildung betroffen sind. Bei solcherart gestörten Probanden erge-ben sich oft überdauernde Einschränkungen der arbeitstechnischen und so-zialen Rehabilitierbarkeit. Ihre Integration macht spezialisierte rehabilitative Techniken notwendig, deren Effizienz inzwischen jedoch eindeutig belegt ist. Neben die therapeutischen und medikamentösen Strategien ist hier eine er-gotherapeutische senso-motorische Übungsbehandlung notwendig.

Komorbide F1/F2 Probanden zeigen meist eine normale Intelligenz. Teilleis-tungsstörungen sind selten. Problemlösendes Denken gelingt in der Regel regelrecht. Häufig finden sich jedoch Störungen in der Arbeitspräzision, eine rasche Ermüdbarkeit, nur kurzfristig erhaltene Konzentrationszeit und eine hohe Spontaneität, was sich negativ auf die meisten Arbeitsprozesse aus-wirken kann. So haben Komorbide F1/F2 Probanden auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen.

In affektiver Hinsicht finden sich viele Symptome, die abhängig von der Dy-namik der Psychoseerkrankung, nebeneinander oder phasenweise wech-selnd vorkommen können. Sowohl depressive wie manisch hochgestellte

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Verstimmungen kommen vor. Die Schwingungsfähigkeit ist meist reduziert. Im Sinne von Basisstörungen liegen meist Antriebsdefizite vor. Selten kommt es zu eingehenden Antriebsstörungen, mit hoher Unruhe, psychomotori-scher Erregung und großer Hektik. Eine motorische Unruhe kann sich auch als Folge neuroleptischer Medikation einstellen. Daher wird heute in der Re-gel der medikamentösen Behandlung mit den Neuroleptika neuerer Gene-ration, den sogenannten „Atypika“ der Vorzug gegeben (Kap. 5).

Häufig finden sich apraktische Störungen. Störungen der Planung von Hand-lungsabläufen oder der Handlungsexekution sind überwiegend vorhanden, jedoch in sehr unterschiedlichem Ausprägungsgrad. So können oft auch be-reits erlernte Handlungssequenzen, z. T. so basaler Art wie „Waschen“, „Zäh-neputzen“ etc. verschüttet werden und müssen dann neu erlernt werden. Planungsaufgaben gelingen ohne vorangegangene Übung häufig nicht. Pro-banden sind oft schon bei zwei einfachen Arbeitsaufträgen völlig überfor-dert. Die amerikanische Terminologie spricht in solchen Fällen von einem „desorganisierten“ Verhaltensmuster. Es ist bei Doppeldiagnosen besonders häufig zu finden und weist auf eine besonders gravierende frühe Störung hin.

Liegt eine hebephrene Erkrankungsform der Schizophrenie vor, so finden wir regelhaft sehr chaotisch konsumierende, meist noch junge Probanden. Das Erstexacerbationsalter ist dann sehr jung, meist mit einem massiven puber-tären Leistungsknick. Wie bei anderen Hebephrenen auch imponieren weni-ger die halluzinatorischen Symptome, sondern die massive affektive Inkohä-renz, die zu fortgesetzten Konsum motivierte. Diese hebephren Erkrankten stellen Behandlungsinstitutionen vor große Herausforderungen. Eine thera-peutische Zugangsweise gelingt jedoch erfreulich rasch und ist dann auch nicht selten erfolgreich.

Die klinischen Karrieren der Patienten sind bunt und unerfreulich. Sie wer-den oft rehospitalisiert, häufig mit „Dreh-Tür-Effekten“. Die Compliance, in der Neuroleptika eingenommen werden, ist oft erschreckend gering. Für die Behandlungsprognose ist es von entscheidender Bedeutung, ob eine ver-trauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Arzt und Patient erreichbar ist, und ob der Patient bereit ist, Mitverantwortung für seine Krankheitsentwicklung und medikamentöse Behandlungsführung zu übernehmen. Gelingt dies, ist die Prognose durchaus günstig. Die Patienten zeigen unbehandelt eine hohe Suizidquote, weshalb klinische Behandlungen regelhaft angezeigt sind.

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8.5 Doppeldiagnosenpatienten in der Behandlungskette

Eine klinisch überwachte körperliche Entgiftung ist auch wegen der psychi-schen Erkrankung praktisch immer zwingend notwendig. Daher ist eine gute und niederschwellige Organisation klinischer Entgiftungsplätze nötig. Viele Entgiftungsinstitutionen setzten für Abhängigkeitserkranke das regelmäßige Bekunden von Entgiftungsinteresse vor der Aufnahme voraus. Solche An-sprüche sind für Komorbide meist nicht realisierbar. Die ambulante Betreu-ung wird hier eine höhere Verantwortung übernehmen und vermittelnd tä-tig werden müssen.

Die körperliche Entgiftung wird unter klinischer Überwachung, ggf. auch un-ter Einsatz von Psychopharmaka, sofern diese als Intervall- oder Akutbe-handlung nötig sind, durchgeführt. Sie obliegt dem psychiatrischen Fach-krankenhaus und wird internistische oder pädiatrische Fachabteilungen rasch an ihre Leistungsgrenze führen. Sie richtet sich technisch nach den vor der Behandlung konsumierten Drogen. Bei Alkohol- und Benzodiazepin-entzügen ist eine medikamentöse Behandlung zur Prophylaxe von deliran-ten Zustandsbildern meist nicht zu umgehen.

Nach der Entgiftung bedürften komorbide Patienten einer Entwöhnungsbe-handlung. Die differenzierte kognitive Funktionsdiagnostik erlaubt dem ge-schulten Personal eine Beschreibung der kognitiven Möglichkeiten, der le-bens- und arbeitspraktischen Nutzung und damit der Rehabilitierbarkeit. Die Rehabilitation der F1/F2-Komorbiden geschieht in spezialisierten Ein-richtungen mit hohem Erfolg. Die technischen und psychotherapeutischen Möglichkeiten der Rehabilitation von F1/F2-Komorbiden sind inzwischen weit entwickelt. Fast in allen Behandlungsfällen kann eine Arbeitsfähigkeit induziert werden. Ein Training sozialer Kompetenzen, das zu einem alltags-tauglichen Leben führen soll, gelingt in Regel. Meist sind stationäre Hilfs-konstruktionen und -institutionen nach einer Rehabilitationsbehandlung vermeidbar.

Ein kleinerer Teil der komorbiden Patienten ist auch nach Rehabilitation auf dauernde Hilfe angewiesen. Für diese Klientel müssen die sozialpsychiatri-schen Strukturen voll genutzt werden. Leider lehnen viele Heimeinrichtun-gen die Aufnahme von suchtkranken Psychotikern noch rundweg ab. Doch müssen sich diese Institutionen umstellen, weil „reine“ Psychosepatienten ohne Abhängigkeitsproblematik immer seltener werden. Auch in Institutio-nen des 2. Arbeitsmarktes, z. B. den Werkstätten für Behinderte, werden ko-morbide Menschen noch häufig abgelehnt. Langsam beginnt jedoch auch

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F1/F2 Komorbide „Nur Sucht“

N % N %

vor Behandlung:

arbeitsfähig 91 32,7 % 69 41,6 %

arbeitsunfähig 187 67,3 % 95 57,2 %

sonst. 2 1,2 %

nach Behandlung:

arbeitsfähig 252 90,6 % 159 95,8 %

arbeitsunfähig 26 9,4 % 3 1,8 %

sonst 4 2,4 %

Tab. 1: Arbeitsfähigkeit bei N=444 Patienten einer spezialisierten REHA-Klinik vor und nach Behandlung:

in diesen Institutionen das Bewusstsein zu wachsen, dass die Entwicklung spezialisierter Angebote unabdingbar ist. Für die ambulante fachärztliche Behandlung stellen die Komorbiden kein Problem dar. Ein guter Arzt-Patien-ten-Kontakt ist allerdings – wie sonst auch – Voraussetzung für einen dauer-haften Behandlungserfolg. Menschen mit komorbiden Diagnosen erfüllen in der Regel die Anforderungsprofile für Betreutes Wohnen (SGB IX).

Im Ganzen gilt: Komorbide Probanden bedürfen häufiger einer Einzelfall-lösung und einer Einzelfallentscheidung. Dabei müssen die strengen Gren-zen des Deutschen Leistungsrechtes auch flexibel und auf den einzelnen pathisch betroffenen Probanden bezogen angewandt werden. Die Grenzen der Zuständigkeiten zwischen Entwöhnung und Akutbehandlung sind be-sonders bei Komorbiden oft nicht einzuhalten.

8.6 Voraussetzungen der Wiedereingliederung

Doppeldiagnosenpatienten sind nur unter abstinenten Lebensbedingungen sinnvoll behandelbar. Unter Konsumbedingungen ergeben sich so vielfäl-tige Interaktionen der psychoaktiven Substanzen mit der Dynamik der Psy-choseerkrankung, dass weder die klinische Entwicklung noch das Verhalten

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der Probanden prognostizierbar wird. Insofern sind abstinente Lebensbe-dingungen zwingend erforderlich. Ein mäßiger Konsum von Alkohol und ein mäßiger Konsum von Opiaten (Substitution) kann toleriert werden, wenn er regelmäßig erfolgt und ohne Beikonsum bleibt.

Daher limitieren die suchtmedizinischen Möglichkeiten und Techniken we-sentlich die soziale und klinische Prognose der Patienten. Konsumierende Komorbide fallen durch häufige Rehospitalisationen auf. Sie sind hochgra-dig suizidgefährdet, stärker als Suchtkranke und Schizophrene und damit viel stärker als die Grundgesamtheit der Menschen. Suizidale Ereignisse können, besonders bei psychotischen Exacerbationen mit stark wahnhaf-ter Färbung und Thematik, schlagartig eintreten. Eine sehr engmaschige Führung der Patienten ist daher zwingend nötig. Sowohl aus Sorgfaltser-wägungen wie aus forensischen Gründen sind daher differenzierte psycho-pathologische Explorationen mit einer eingehenden Abklärung der Gefähr-dungsaspekte dringend anzuraten. Diese bedürfen einer genügenden Fach-kompetenz. Konsumierende komorbide Menschen sind nur ausgesprochen

vor Therapie F1/F2 Komorbide „Nur Sucht“

vollschichtig 30 10,8 % 49 29,5 %

halb- bis untervollschichtig 78 28,1 % 38 22,9 %

2 Stunden bis unterhalbschichtig 45 16,2 % 13 7,8 %

weniger als zwei Stunden 121 43,5 % 62 37,3 %

keine Angabe erforderlich / möglich 4 1,4 % 4 2,4 %

nach Therapie F1/F2 Komorbide „Nur Sucht“

vollschichtig 176 63,3 % 136 81,9 %

halb- bis untervollschichtig 64 23,0 % 4 2,4 %

2 Stunden bis unterhalbschichtig 17 6,1 % 7 4,2 %

weniger als zwei Stunden 20 7,2 % 12 7,2 %

keine Angabe erforderlich / möglich 1 0,4 % 7 4,2 %

Tab. 2: Leistungsfähigkeit im letzten Beruf, vor und nach Therapie, bei N=444 Patienten eines spezialisierten Einrichtung

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schwierig pharmakologisch einzustellen. Die Wirkung einer neuroleptischen Medikation ist oft begrenzt.

An der Abstinenzfrage entscheidet sich meist die Prognose der Probanden. Gelingt es, den Probanden z. B. in einer Entwöhnungsbehandlung zu absti-nenten Lebensformen zu befähigen, so ist die Prognose einer Schizophre-nieerkrankung ohne Abhängigkeitserkrankung analog. In der Mehrzahl der Fälle ist eine soziale Gesundung zu erwarten. Bleibt jedoch ein polyvalenter Konsum bestehen, so ist mit häufigen Klinikaufenthalten zu rechnen. Eine Arbeit wird in aller Regel nicht ausgeübt werden können und meist wird eine Heimunterbringung wird auf die Dauer nicht vermeidbar sein.

8.7 Ausblick

Komorbide F1/F2 Patienten werden als besondere Problemgruppe in Zu-kunft in größerer Zahl zur Versorgung anstehen. Sie verlangen in der ambu-lanten Arbeit besonders enge Behandlungsstrukturen und hohe diagnosti-sche Fähigkeiten. In spezialisierten Einrichtungen gelingt eine arbeitstech-nische und soziale Wiedereingliederung in hoher Frequenz. Für komplemen-täre Versorgungsaufgaben müssen noch in höherer Zahl geeignete Struktu-ren aufgebaut werden.

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