8. mai 1945 8. mai 2015 erinnern bedenken lernen thayngen vortrag 70 jahre... · der aktivdienst...
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Kulturverein Thayngen – Förderkreis für Kultur und Heimatgeschichte Gottmadingen
Kurzreferat Andreas Schiendorfer, Präsident Museumsverein Schaffhausen
8. Mai 1945 – 8. Mai 2015
Erinnern / Bedenken / Lernen
Theo Lenhard im Jahr 1995 vor der Thaynger Friedenslinde. Foto Bruno und Eric Bührer
Das Spezielle des heutigen Anlasses ist es, dass er von Schweizern und Deutschen
gemeinsam durchgeführt wird. Damit ist er Ausdruck des Willens, unserer Nachbarschaft
eine neue Dimension zu verleihen. Zudem sollten wir in diesem Gedenkjahr versuchen, den
Zweiten Weltkrieg in einen grösseren Zusammenhang zu stellen und das Bild, das wir vom
Verhalten unseres Landes und unserer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg vor einigen Jahren
gezeichnet haben, erneut zu betrachten und, wenn nötig, die eine oder andere Retusche
anzubringen. Dies kann in meinem Kurzvortrag genauso wenig gelingen wie an dieser
anderthalbstündigen Veranstaltung. Aber es ist wichtig, dass wir es unter Anwesenheit der
Aktivdienstgeneration versuchen, und es ist wahrscheinlich, dass wir zu besseren Resultaten
kommen, wenn wir uns in der Zeitzeugendiskussion ganz auf unsere überschaubare Region
konzentrieren. Gerade deshalb will ich in meinem Einleitungsreferat den Bogen etwas weiter
spannen.
Anfang und Ende des Zweiten Weltkriegs
Wie schwierig es ist, sich ein schlüssiges Bild über den Zweiten Weltkrieg zu machen, sieht
man allein schon daran, dass man die Frage nach dessen Dauer verschieden beantworten
kann. Die Standardantwort lautet: Der Zweite Weltkrieg begann mit dem Angriff von
Grossdeutschland auf Polen am 1. September 1939 und endete mit dem Inkrafttreten der
bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945.
Eigentlich dauerte der Zweite Weltkrieg aber bis zur Kapitulation Japans am 2. September
1945. Die ausschliesslich europazentrierte Betrachtungsweise des blutigsten aller Kriege mit
55 Millionen Toten ist eigentlich nicht mehr zeitgemäss.
Aus Schweizer Sicht könnte man das Ende der letzten Nachbeben nochmals anders datieren:
Der Aktivdienst wurde am 20. August 1945 beendet, die Rationierungsmassnahmen wurden
am 24. Juni 1948 aufgehoben. Die vollständige Rückkehr zur direkten Demokratie erfolgte
1949, die Reparationszahlungen für die Bombardierungsschäden gingen 1951 ein und die in
Schaffhausen angestrebten Grenzbereinigungen – die Verenahöfe in Wiechs/Büttenhardt –
wurden 1967 realisiert.
Wann aber beginnt ein Krieg? Mit dem ersten Schuss oder dann, wenn klar ist, dass er nicht
mehr zu vermeiden ist? Und wann wäre Letzteres anzusetzen? Mit der Besetzung des
entmilitarisierten Rheinlands im März 1936? Dem Anschluss Österreichs im März 1938? Der
Abtretung der sudetendeutschen Gebiete durch die Tschechoslowakei im Oktober 1938?
In der Schweiz bewog der offensichtlich bereits 1935 erahnte Weltkrieg die Sozialdemo‐
kraten und damit die grösste Partei des Landes erstmals bedingungslos Ja zur Landes‐
verteidigung zu sagen. Dazu trug der zum Sozialdemokraten bekehrte Kommunist Walther
Bringolf entscheidend bei.
Rückblickend kann man sogar sagen, dass der Zweite Weltkrieg bereits im Friedensvertrag
von Versailles von 1919 angelegt war, da Deutschland diesen nur unter Protest
unterschrieben hatte. Mittlerweile gibt es Historiker, welche die beiden Weltkriege als einen
einzigen Krieg ansehen, der mit einem Unterbruch von 1914 bis 1945 dauerte.
Beispiel von Rationierungscoupons und einer Soldatenmarke
Zum Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs
Jede Generation sollte die Geschichte neu schreiben und diskutieren. Dies gilt für die
Thaynger Ortsgeschichte genauso wie für den Zweiten Weltkrieg. Dabei gilt es neue Fakten
zu berücksichtigen und teilweise neue Fragestellungen zu beantworten. Die grosse
Schwierigkeit besteht darin, sich als Nachgeborene auf eine faire Art und Weise in die
früheren Zeiten zurückzuversetzen. Umgekehrt müssen die Zeitgenossen akzeptieren, dass
ihre Optik eine eingeschränkte gewesen ist und sie nicht alles gewusst hatten.
Die grundsätzliche Problematik möchte ich am Beispiel der Schlacht von Marignano vom
13./14. September 1515 darlegen. Vor 500 Jahren verloren die Eidgenossen den Kampf um
das Herzogtum Mailand gegen Frankreich. Allgemein werden damit das Ende der Expan‐
sionsbestrebungen der Eidgenossenschaft und der Beginn der Neutralität verbunden. Wir
gehen dabei automatisch von den heutigen Grenzen aus. So geht vergessen, dass Bern
knapp 20 Jahre nach Marignano die zum Herzogtum Savoyen gehörende Waadt eroberte.
Die erste Aufarbeitung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg erfolgte in den Sechzigerjahren
durch Edgar Bonjour (1898‐1991). Die drei letzten Bände seiner Geschichte der
schweizerischen Neutralität entstanden ab 1962 im Auftrag des Bundesrats. Um Objektivität
bemüht und unzensuriert publiziert, war der Bonjour‐Bericht letztlich doch ein Produkt
seiner Zeit und bestrebt, im Kalten Krieg den Sinn der Neutralität zu untermauern. Die
ambivalente Rolle der Wirtschaft beispielsweise wurde wenig beleuchtet. Hinzu kam, dass
die Banken damals in der Frage der nachrichtenlosen Vermögen formal‐juristisch korrekt,
aber mit wenig Empathie und Menschlichkeit vorgingen.
Die zweite Aufarbeitung erfolgte gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch die unabhängige
Expertenkommission unter der Leitung des Wirtschaftshistorikers Jean‐François Bergier
(1931‐2009). Sie war bestrebt, die Rolle der politischen Schweiz sowie der Wirtschaft
mustergültig kritisch zu beleuchten. Es fehlte jedoch eine Gesamtschau und vor allem wurde
die Schweiz und wurden die Schweizer aus Mitgefühl für die Opfer des Nationalsozialismus
in manchen Belangen den eigentlichen Tätern gleichgesetzt.
Nun wäre es also Zeit, den Zweiten Weltkrieg erneut und möglichst unvoreingenommen zu
betrachten. Dies ist nicht einfach. Zum einen leben naturgemäss immer weniger Zeitzeugen,
zum anderen umfasst allein der 2002 publizierte Bergier‐Bericht 25 Bücher und 10 000
Seiten. Allerhöchstens vollamtliche und auf diese Zeit spezialisierte Historiker können die
mittlerweile Bibliotheken füllende Literatur bewältigen und weiterverarbeiten. Für heute soll
die Feststellung genügen, dass jede eindimensionale Betrachtung à priori falsch ist.
Verschiedene Faktoren führten dazu, dass die Schweiz nicht direkt in den Krieg
hineingezogen wurde. Diese Faktoren gegeneinander abzuwägen, ist unmöglich, unsinnig
und führt zu verhärteten Fronten. Der Widerstandswille der gesamten Bevölkerung – zu
Hause und im Aktivdienst – wird jedoch meiner Ansicht nach zu wenig gewürdigt.
Flüchtlinge prägten im Frühjahr 1945 das Stadtbild Schaffhausens. Foto: Alfred Bollinger
Solidarität und deren Grenzen
Die Schweiz rückte vor und während des Zweiten Weltkriegs näher zusammen und wurde
innerlich stark dank einer bewusster gelebten Solidarität. Diese manifestierte sich auf ganz
verschiedenen Ebenen, durch Sammelaktionen, ein einkommensunabhängiges
Rationierungssystem oder durch eine neu geschaffene Lohn‐ und Verdienstersatzordnung
während des Wehrdienstes, der für Infanteristen im Auszug durchschnittlich 828 Tage und in
der Landwehr 652 Tage betrug.
Diese Solidarität schätzten auch knapp 300 000 Schutzsuchende: Die rund 60 000 Kinder, die
einen Erholungsaufenthalt in der Schweiz verbringen durften, die 66 500 Grenzflüchtlinge
und letztlich auch die rund 167 000 weiteren zivilen oder militärischen Flüchtlinge. Die
Möglichkeiten der Schweiz, Flüchtlinge aufzunehmen, waren unbestrittenermassen
begrenzt. Doch schon während des Kriegs und erst recht danach hätten sich viele Schweizer
eine grossherzigere Haltung gewünscht. Das Boot war nicht überfüllt und auch nicht voll.
Bei der Beurteilung muss man unterscheiden zwischen der Bevölkerung und dem offiziellen
Apparat. Dieser hatte bereits im April 1938 von Deutschland den J‐Stempel verlangt sowie
am 13. August 1942 die rigorose Schliessung der Schweizer Grenze beschlossen und diese
erst am 12. Juli 1944 wieder gelockert. Die Zahl der abgewiesenen Flüchtlinge ist unbekannt;
der offizielle Bericht des Juristen Carl Ludwig ging 1957 von 10 000 Abgewiesenen aus, der
Bergier‐Bericht von 20 000. Vielleicht waren es aber auch nur 3500 Personen, wie eine
durchaus seriöse Genfer Studie besagt. In Fragen der Menschlichkeit nützen Statistiken
allerdings wenig. Die Schaffhauser Bevölkerung, die an verschiedenen Orten dem
Flüchtlingselend persönlich ins Auge schaute, verhielt sich fast ausnahmslos sehr menschlich.
Allein zwischen dem 21. und 25. April 1945 betraten 5500 Flüchtlinge bei uns die Schweiz,
insbesondere durch die offiziellen Grenztore Schleitheim und Ramsen. Doch bis zuletzt gab
es Härtesituationen, bei denen man sich einen anderen Verlauf gewünscht hätte.
Die Nationalsozialisten holten vor 1933 in den dunkeln Gebieten – im Norden und Osten und in den
Industriestädten. Karte aus Schweizer Illustrierte vom 8. Mai 1945
Zur Bedrohungslage der Schweiz
Die Schweiz war von 22. Juni 1940 an mit Ausnahme eines kleinen Abschnitts am Genfersee
von den Achsenmächten Grossdeutschland und Italien umschlossen, von Herbst 1942 bis
August 1944 sogar vollständig. Von daher fühlte sich die Bevölkerung ständig latent bedroht,
der wirtschaftliche Spielraum war stark eingeschränkt. Die grösste Gefahr bestand nach
damaliger Ansicht am 10. Mai 1940. Deshalb setzte eine Fluchtbewegung auf die andere
Seite des Rheins und ins Landesinnere ein. Das wurde damals und wird heute immer wieder
kritisiert. Man muss jedoch bedenken, dass die Schweizer Armee die Verteidigung der
rechtsrheinischen Gebiete aufgegeben hatte und dass Evakuationen zum damaligen
Zeitpunkt keineswegs verboten waren. Dass es sich um ein geschicktes Täuschungsmanöver
Deutschlands handelte, auf das nicht nur die Schweizer, sondern auch die Franzosen
hereingefallen waren, merkte man anlässlich des einsetzenden Blitzkrieges schnell.
Historiker fanden später heraus, dass tatsächlich die grösste Gefahr wenige Tage nach der
Demobilisation bestand. Gereizt vom Abschuss von elf deutschen Flugzeugen auf Schweizer
Gebiet, liess Hitler ab dem 23. Juni 1940 einen Angriffsplan gegen die Schweiz ausarbeiten,
der später unter dem Decknamen Operation Tannenbaum kursierte. Die an der Westgrenze
aufmarschierte 12. Armee List sollte das Gros der schweizerischen Armee im Mittelland
zerschlagen, während italienische Kräfte den Alpenraum zu erobern hätten. Die ahnungslose
Schweiz wäre wohl innert weniger Stunden überrollt worden. Doch Unstimmigkeiten
zwischen Hitler und Mussolini und der allgemeine Kriegsverlauf verhinderten
glücklicherweise die Ausführung.
Vormarschrouten der Franzosen –Die Bombardierung von Altdorf. Die Bilder stammen von Johann Metzger, zur
Verfügung gestellt von Hansruedi Bolli und Fritz Fuchs.
Die militärische Verteidigung des Kantons Schaffhausens in den letzten Kriegswochen. Die Skizze stammt aus
der Broschüre „Wie das Appenzeller Inf. Rgt.34 die letzten Brandungen des 2. Weltkrieges vom Kanton
Schaffhausen fernhielt. Das Grenzgeschehen im April/Mai 1945 beim Durchstoss der Franzosen zum Bodensee“,
Herisau 1965. Leihgabe Christian Meier.
Die letzten Kriegstage in Südwestdeutschland / Schaffhausen
In den letzten Kriegstagen war die Gefahr für die Schweiz erneut sehr gross. Dazu einige
kurze Angaben: Am 6. Juni 1944 erfolgte die Landung der Alliierten unter General Eisen‐
hower in der Normandie, vom 4. bis 11. Februar 1945 trafen sich Franklin D. Roosevelt
(USA), Winston Churchill (UK) und Josef Stalin (UdSSR) auf Jalta auf der Halbinsel Krim, um
über die Eroberung Deutschlands und die Aufteilung in Besatzungszonen zu diskutieren.
Stalin war nachweislich der Ansicht, man dürfe sich zu Gunsten eines schnelleren
Truppenaufmarsches getrost über die schweizerische Neutralität hinwegsetzen. Frankreich,
das damals von den „Grossen Drei“ noch nicht als Siegermacht anerkannt wurde, sollte
wenige Wochen später zum Sicherheitsschild der Schweiz werden.
Am 7. März 1945 konnten die Amerikaner auf der unversehrten Brücke von Remagen den
Rhein überqueren. Drei Wochen später, das heisst am 29. März, wurde General De Lattre de
Tassigny im Wettlauf um schnelle Geländegewinne von General De Gaulle angewiesen,
ebenfalls „den Rhein zu überqueren, selbst wenn die Amerikaner dagegen sind.“ Statt
danach mit aller Energie nach Karlsruhe und Stuttgart vorzudringen, liess de Lattre zum
Schutz der Schweizer Grenze eine Division unter General Béthouart dem rechten Rheinufer
entlang gegen Süden nach Lörrach und danach in Richtung Schaffhausen vorstossen. Auf
diese Weise sollte das 18. SS‐Korps im Schwarzwald eingeschlossen werden. Bis Ende April
waren die Franzosen über den Schwarzwald und nördlich des Bodensees ins Tirol
vorgedrungen. Anfang Mai 1945 kapitulierten die Reste der deutschen 19. Armee in
Innsbruck, womit der Krieg im Südwesten beendet war.
Auch wenn man um das Vorrücken der befreundeten Franzosen wusste, darf man sich heute
die Frage stellen, ob die Schweizer Armee die Schaffhauser Grenze nicht etwas spät und zu
wenig intensiv bewachen liess. Erst am 22. März 1945 wurde die 7. Division unter
Oberstdivisionär Frey von General Guisan zur Bewachung des Kantons Schaffhausen und des
Raums südlich der Munotstadt aufgeboten. Das Appenzeller Regiment 34 unter Oberst
Speich, bestehend aus den Füsilier‐Bataillonen 83, 84 und 79 (Landwehr), war für den
unmittelbaren Schaffhauser Grenzraum zuständig, zeitweise wurden sie von den Thurgauer
Füsilier‐Bataillonen 73, 74 und 76 (Landwehr) unterstützt.
Wertvolle Zeitdokumente aus Altdorf.
Schreckensmomente für Schaffhausen
Neun Gemeinden des Kantons Schaffhausen wurden in den letzten 13 Kriegsmonaten durch
Bomben in Mitleidenschaft gezogen. Die Bombardierung der Stadt Schaffhausen am 1. April
1944 geht mit 40 Todesopfern als die schwerste Verletzung der schweizerischen Neutralität
in die Geschichte ein. Damals fielen Bomben auch auf Neuhausen und Hallau. Bereits am
Weihnachtstag 1944 folgte die Bombardierung von Thayngen, welche ein weiteres
Todesopfer forderte. Ein verheerender Angriff auf süddeutsche Ziele fand am 22. Februar
1945 statt. Im Kanton Schaffhausen waren davon Stein am Rhein (9 Tote), Neuhausen,
Beringen, Neunkirch und Lohn betroffen. In der Nacht vom 28. Februar liess ein einzelnes
Flugzeug in der Nacht Bomben auf Altdorf fallen, und schliesslich wurde am 27. April die
Sottenegg in Altdorf von französischen Panzern beschossen. Ich gehe davon aus, dass die
hier anwesenden Zeitzeugen uns über diese Reiater Schreckensmomente berichten werden.
Ihnen verdanken wir auch Fotos von der Bombardierung Altdorfs, die mir bis vor wenigen
Tagen völlig unbekannt waren. ‐ Damit möchte ich meine Ausführungen beenden, in der
Diskussion bin ich später gerne bereit, Ihnen einige zusätzliche Angaben zu liefern.