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psychiatrie (Aber)Glaube, Wahn, Normalität Warum Glaube so viel attraktiver ist als Wissen F. Langegger Der Österreichisch/Schweizerische Psy- chiater und Autor zahlreicher Bücher, PD Dr. Florian Langegger, über Grenzen und Gemeinsamkeiten von Glaube und Wahn sowie therapeutische Implikatio- nen von Glaubensvorstellungen. Viel ist die Rede von, wie man sagt, neuer Spiritualität, einem wieder erwachten Be- dürfnis zu glauben, bis hin zu fanatischen Überzeugungen und Fundamentalismus. Es erstaunt, was alles Menschen bereit sind zu glauben, wo gleichzeitig ein sorg- fältiger erarbeitetes und besser kontrol- liertes Wissen zur Verfügung stünde. Das alte Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen hat durch die explosionsartige Vermehrung von Wissen in den letzten Jahrzehnten eine neue Dimension be- kommen. Weshalb nun haben Glaubens- überzeugungen für viele Menschen eine größere Attraktivität als Wissen? Einer Antwort stehen nicht geringe Widerstände entgegen. Glaubensinhalte sind Gläubi- gen heilig. Dennoch ist kritisches, wie- wohl respektvolles Fragen, das sich seiner Grenzen bewusst ist, geboten und muss erlaubt sein, will man zu einem vertieften Verständnis gelangen. Das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens definiert Aberglaube als den Glauben an die Wirkung und Wahrneh- mung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind. Die Einschränkung im Nachsatz fordert Widerspruch heraus, weil der Umstand, dass etwas von vielen Menschen geglaubt wird, keine Garantie für dessen Wahrheitsgehalt ist. Spätestens bei Religionskriegen wird deutlich, dass auch große Glaubensgemeinschaften vor Kritik nicht gefeit sind. Die strengste Zen- sur übt wohl die Zeit. Selbst die mächtigs- ten Götter sterben mit dem letzten, der an sie glaubt. Angelus Silesius hat das poeti- scher ausgedrückt: Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu könnt leben. Er müsst, wär ich zunicht, vor Not den Geist aufgeben. Glaubensgewissheit, Wahngewissheit Der Psychiater ist gewöhnt, den Maßstab der Psychopathologie anzulegen, die Glaubensinhalte auf die klassischen Wahnkriterien hin zu befragen, die da sind: irreal, überwertig, kritiklos und un- korrigierbar. Dies führt zu folgenden Über- legungen: Die Realitätsprobe ist nicht zu erbringen, weil Glaubensinhalte sich we- der verifizieren noch falsifizieren lassen. – Religiöser Glaube ist definitionsgemäß ein höchster Wert. – Bezeichnend für Gläubige ist ihre Sicherheit im Glauben. Glaubensge- wissheit ist da in der Nähe von Wahnge- wissheit angesiedelt. Das Handwörterbuch des Aberglaubens (2. l.66) zieht die beiden Begriffe zusammen und spricht von Wahnglaube. Gläubige sind überzeugt von der Existenz unsichtbarer, überirdischer oder außerirdischer Wesen und Kräfte, die nicht an die Naturgesetze gebunden sind, die allwissend, allgegenwärtig und ewig sind, von denen sie sich dauernd beobach- tet fühlen, Anordnungen erhalten und die sie mit ihren Gebeten günstig zu stimmen versuchen. Gläubige glauben auch, dass ihre Gebete Auswirkungen in dieser Welt haben. – Solche Überzeugungen erfüllen die ich-psychologischen Kriterien Fremd- beeinflussung, Gedankeneingebung und Gedankenausbreitung. Einzig das Wahnkriterium, die eigene Überzeugung müsse im Gegensatz zu dem Erleben der Mitmenschen stehen, scheint nicht zuzutreffen, weil große Gemein- schaften von Gleichgläubigen sich gegen- seitig in ihren Ansichten bestätigen. Selbst Fachleute entscheiden die Frage, ob eine Glaubensüberzeugung religiös oder wahnhaft ist, danach, wieweit jemand in die Konventionen seiner Gesellschaft ein- gebunden ist oder sich von ihnen entfernt. Auf die Kleinen geht man los, die Großen lässt man laufen. Legt man jedoch einen globalen und eine längere Zeit einschlie- ßenden Maßstab an, erweisen sich auch große Glaubensgemeinschaften als nicht Foto: Lulu Berlu / fotolia.com 3/2012 psychopraxis 9 © Springer-Verlag

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psychiatriepsychiatrie

(Aber)Glaube, Wahn, Normalität

Warum Glaube so viel attraktiver ist als Wissen

F. Langegger

Der Österreichisch/Schweizerische Psy-chiater und Autor zahlreicher Bücher, PD Dr. Florian Langegger, über Grenzen und Gemeinsamkeiten von Glaube und Wahn sowie therapeutische Implikatio-nen von Glaubensvorstellungen.

Viel ist die Rede von, wie man sagt, neuer Spiritualität, einem wieder erwachten Be-dürfnis zu glauben, bis hin zu fanatischen Überzeugungen und Fundamentalismus. Es erstaunt, was alles Menschen bereit sind zu glauben, wo gleichzeitig ein sorg-fältiger erarbeitetes und besser kontrol-liertes Wissen zur Verfügung stünde. Das alte Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen hat durch die explosionsartige Vermehrung von Wissen in den letzten Jahrzehnten eine neue Dimension be-kommen. Weshalb nun haben Glaubens-überzeugungen für viele Menschen eine größere Attraktivität als Wissen? Einer Antwort stehen nicht geringe Widerstände entgegen. Glaubensinhalte sind Gläubi-gen heilig. Dennoch ist kritisches, wie-wohl respektvolles Fragen, das sich seiner Grenzen bewusst ist, geboten und muss erlaubt sein, will man zu einem vertieften Verständnis gelangen.

Das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens definiert Aberglaube als den Glauben an die Wirkung und Wahrneh-mung naturgesetzlich unerklärter Kräfte,

soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind. Die Einschränkung im Nachsatz fordert Widerspruch heraus, weil der Umstand, dass etwas von vielen Menschen geglaubt wird, keine Garantie für dessen Wahrheitsgehalt ist. Spätestens bei Religionskriegen wird deutlich, dass auch große Glaubensgemeinschaften vor Kritik nicht gefeit sind. Die strengste Zen-sur übt wohl die Zeit. Selbst die mächtigs-ten Götter sterben mit dem letzten, der an sie glaubt. Angelus Silesius hat das poeti-scher ausgedrückt: Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu könnt leben. Er müsst, wär ich zunicht, vor Not den Geist aufgeben.

Glaubensgewissheit, Wahngewissheit

Der Psychiater ist gewöhnt, den Maßstab der Psychopathologie anzulegen, die Glaubensinhalte auf die klassischen Wahnkriterien hin zu befragen, die da sind: irreal, überwertig, kritiklos und un-korrigierbar. Dies führt zu folgenden Über-legungen: Die Realitätsprobe ist nicht zu erbringen, weil Glaubensinhalte sich we-der verifizieren noch falsifizieren lassen. – Religiöser Glaube ist definitionsgemäß ein höchster Wert. – Bezeichnend für Gläubige ist ihre Sicherheit im Glauben. Glaubensge-wissheit ist da in der Nähe von Wahnge-

wissheit angesiedelt. Das Handwörterbuch des Aberglaubens (2. l.66) zieht die beiden Begriffe zusammen und spricht von Wahnglaube. Gläubige sind überzeugt von der Existenz unsichtbarer, überirdischer oder außerirdischer Wesen und Kräfte, die nicht an die Naturgesetze gebunden sind, die allwissend, allgegenwärtig und ewig sind, von denen sie sich dauernd beobach-tet fühlen, Anordnungen erhalten und die sie mit ihren Gebeten günstig zu stimmen versuchen. Gläubige glauben auch, dass ihre Gebete Auswirkungen in dieser Welt haben. – Solche Überzeugungen erfüllen die ich-psychologischen Kriterien Fremd-beeinflussung, Gedankeneingebung und Gedankenausbreitung.

Einzig das Wahnkriterium, die eigene Überzeugung müsse im Gegensatz zu dem Erleben der Mitmenschen stehen, scheint nicht zuzutreffen, weil große Gemein-schaften von Gleichgläubigen sich gegen-seitig in ihren Ansichten bestätigen. Selbst Fachleute entscheiden die Frage, ob eine Glaubensüberzeugung religiös oder wahnhaft ist, danach, wieweit jemand in die Konventionen seiner Gesellschaft ein-gebunden ist oder sich von ihnen entfernt. Auf die Kleinen geht man los, die Großen lässt man laufen. Legt man jedoch einen globalen und eine längere Zeit einschlie-ßenden Maßstab an, erweisen sich auch große Glaubensgemeinschaften als nicht

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angepasst. In anderen Kulturen wird An-deres geglaubt und kaum jemand glaubt heute noch an die Götter der alten Grie-chen. Unabweisbar ist die Frage: Wie wird man in einer fernen Zukunft die heutigen Glaubensinhalte beurteilen?

Mindestens kontrovers ist, ob man von Irrglaube oder Wahn nur dann sprechen darf, wenn ein Mensch in seinem sozio-kulturellen Kontext versagt. Wahnsinnige sind im Leben oft erschreckend erfolg-reich. Nicht selten gehen selbst Kulturvöl-ker in die Irre. Das soll man beim Namen nennen. Ein allgemeiner Konsens mag im Moment als Legitimierung erscheinen, mit etwas Abstand aber durchaus als irrig zu erkennen sein. Die sich ausbreitende religiös motivierte Gewaltbereitschaft ist besorgniserregend. Man schreibt religiö-sen Glauben wieder auf die Kriegsfahnen und ist überzeugt, Gott auf seiner Seite zu haben. Gegner werden dämonisiert und die eigenen Aggressionen legitimiert. Es wird wieder für den Glauben gestorben und getötet. Und man fühlt sich in dieser Haltung gerechtfertigt, als hätte es nie eine Aufklärung gegeben.

Sorge bereiten Glaubensüberzeugun-gen auch, weil sie, wie Wahnvorstellun-gen, zunächst eine psychisch stabilisie-rende Funktion haben, in einem zweiten Schritt aber Schaden verursachen, weil sie falsche Voraussetzungen für künftiges Wahrnehmen, Denken und Handeln dar-stellen. Ein Gebäude, das auf unkorrekten Fundamenten steht, ist vom Einsturz min-destens bedroht. Und nicht selten stiften Menschen, die von falschen Ideen geleitet sind, auch bei anderen Verwirrung und Unheil.

Glaubensvorstellungen entstehen zum einen via Überlieferung, zum anderen durch eigene Erfahrung. Das meiste Glau-bensgut übernimmt man von der Sozietät, in der man aufwächst, wie Muttersprache, Vaterlandsliebe und andere gemeinsame Werte. Damit verbunden ist ein Gefühl von Selbstverständlichkeit und Richtigkeit. Kinder nehmen an, was sie vorfinden. Später tut die Gewöhnung das ihre, ein-mal Erworbenes und Eingeübtes zu ver-festigen.

Gemeinsamkeiten einer Gesellschaft sind wichtig. Die Gruppe ist effizienter als der Einzelne; bei der Aufzucht der Jungen, der Nahrungsbeschaffung, der Arbeitstei-lung und der Verteidigung. Die Gruppe stellt einen größeren Genpool dar, der re-sistenter gegen Krankheiten ist. Koopera-tion bedeutet einen Selektionsvorteil und hat im Lauf der Evolution zu besseren Überlebenschancen geführt. Einzelgänger

und Außenseiter sind eher vom Ausster-ben bedroht. Vermutlich sind deshalb die Kräfte des Beharrens in menschlichen Ge-meinschaften so enorm stark. Die Kurzfor-mel dazu lautet, katholische Länder blei-ben über Jahrhunderte katholisch, protestantische protestantisch, usw., und das aus nationaler Gewohnheit, an deren Beginn im Gefolge von Reformation und Gegenreformation der Entscheid eines Landesfürsten – cujus regio ejus religio – gestanden war.

Diesen stabilisierenden Kräften steht die Notwendigkeit gegenüber, für neue Si-tuationen neue Lösungen zu finden. Das ist der andere Weg, auf dem Glaubens-überzeugungen entstehen. Das menschli-che Gehirn neigt dazu, zwischen bereits vorhandenen Informationen Verknüpfun-gen herzustellen, es sucht nach Gesetzmä-ßigkeiten und macht Brückenschläge. Fantasievolle Vermutungen, gläubige An-nahmen und Spekulationen sind Assozia-tions- und Kombinationsleistungen des Gehirns. Gläubiges Sich-Vorantasten in ei-nem noch ungenügend erschlossenen Ge-biet ist ein Bewältigungsversuch. Wem Besseres einfällt, der hat im Überlebens-kampf mehr Chancen. Wissen buchstäb-lich als Macht.

Die Bereitschaft zu solchen assoziati-ven Schlussfolgerungen ist sehr unter-schiedlich. Das Spektrum reicht von den Leichtgläubigen, die überall Bezüge her-stellen, wo in Wirklichkeit keine existie-ren, bis zu den Kritikern und Zweiflern die selbst offensichtliche Zusammenhänge nicht sehen. Der mediale Temporallappen des Gehirns scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen.

Glaube um Ängste zu bannen

Glaubensneubildung, so gesehen, resul-tiert aus dem Versuch, über das Gewusste und Wissbare suchend und spekulativ hi-nauszugehen, mit dem Ziel, das bisherige Weltbild zu erweitern und zu besseren Strategien zu gelangen. In Notlagen kann es lebensrettend sein, sich etwas einfallen zu lassen, als eine Art Testlauf, vergleich-bar der Hypothesenbildung in den Wis-senschaften. Vermutender Glaube als Wagnis und so nicht selten als Vorläufer von Wissen. Mit dem Risiko freilich, zu

schnell eine Antwort zu geben, wo noch keine zur Verfügung ist, und wo die geis-tige Disziplin verlangen würde innezuhal-ten. Freud ist in diesem Punkt streng, wenn er sagt: Die Unwissenheit ist die Un-wissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab. In der Erzählung Die Braut zeichnet Cechov einen Wortwechsel zwischen einem orthodoxen Geistlichen und einer Dame. Sie sagt, ich muss geste-hen, dass es in der Natur viele unbegreifli-che und geheimnisvolle Dinge gibt. Der Geistliche antwortet, Ich stimme völlig mit Ihnen überein, obwohl ich von mir aus hin-zufügen muss, dass der Glaube den Bereich des Geheimnisvollen für uns bedeutend verkleinert. – Wer glaubt, hat weniger Un-sicherheiten zu ertragen.

Die Not, auf die mit dem Glauben an das Übernatürliche geantwortet wird, schürt sich vermutlich aus Ängsten. Ängs-ten vor Unglück, Krankheit, Tod; Angst vor Ungerechtigkeit und Zufällen. Dass man im Leben Pech haben kann und einem niemand zur Seite steht; dass man viel-leicht nicht stärker, nicht besser, einer Er-lösung nicht würdiger ist als der Nachbar; Angst schließlich, dass es eine zweite Le-benschance nicht geben wird … – Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Höl-

derlin, Patmos.) Und in dem Maß, in dem wir mit Glaubensvorstellungen Ängste bannen, erfüllen wir uns Hoffnungen und Wünsche: Dass wir mit Hilfe der überna-türlichen Kräfte eines allmächtigen Hel-fers, den wir durch Opfer und einen tu-gendhaften Lebenswandel für uns zu gewinnen suchen, unsere Begrenztheit, Ohnmacht, Gefährdung und Vergänglich-keit zu überwinden vermöchten. – Es ist nicht unfair, das eine Zufluchtnahme zum Glauben zu nennen. Eugen Bleuler sagt, im Glauben erfüllen wir uns Herzensbe-dürfnisse. Je nachdem, wie diese Bedürf-nisse aussehen, schneidern wir uns Glau-bensinhalte sozusagen nach Maß und schaffen uns ein Gefühl von Sicherheit, Schutz vor Existenzbedrohung, von Sinn, Halt und Geborgenheit im Kosmos.

Lösung existenzieller Krisen

Wahn hat etymologisch eine indogerma-nische Wurzel wen, engl. win, und ist ver-wandt mit neuhochdeutsch Gewinn. Psy-

Es wird wieder für den Glauben gestorben und getötet. Und man fühlt sich in dieser Haltung gerechtfertigt, als hätte es nie eine Aufklärung gegeben.

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chotische Wahnideen verstehen wir heute nicht als primäre Krankheitssymptome, sondern als sekundäre Bewältigungsstra-tegien. Sie helfen, bedrohte Selbst- und Objektbilder hochzuhalten. Scharfetter spricht von Wahn als Ersatzwirklichkeit für armselige Realität und Wahn bei uner-träglicher Selbstkränkung. – Ähnliches

könnte man von den Glaubensinhalten sagen: Dass sie Hilfsmittel sind angesichts der Erfahrung, wie bedroht unser Leben ist, und dass sie Lösungen für existentielle Krisen anbieten.

Einer der Gründe, warum die Bereit-schaft zu glauben sich bis heute so stand-haft hält, mag sein, dass gläubig zu sein in

der Evolution einen Selektionsvorteil dar-stellt. Glaube tröstet, stützt das Selbstwert-gefühl, macht mutig, hilft gegen Resigna-tion und wirkt antidepressiv. Zahlreiche Untersuchungen aus verschiedensten Ge-bieten der Medizin bestätigen, dass reli-giös Gläubige eine bessere Prognose ha-ben als Ungläubige. Menschen, die von

einem Glauben getragen sind, scheinen eher zu überleben. Das mag im Lauf der Zeiten dazu geführt haben, dass vor allem sie übrig geblieben sind. Die Ungläubigen sterben schneller aus.

Es ist aber nicht nur die Not, die die Fantasie anregt, Fantasie hat auch etwas eigenständig Spielerisches, etwas von ei-

nem schönen Luxus, dem wir viel Faszi-nierendes und Interessantes und viele An-nehmlichkeiten verdanken, die nicht unbedingt aus Notwendigkeit entstanden. Eine Eigenheit der Fantasie ist ihre Leich-tigkeit, ihre Fähigkeit, sich buchstäblich alles Mögliche auszudenken. Diese Leicht-füßigkeit führt oft zu einem Missverhältnis mit der vergleichsweise schwerfälligen Realität, die da nicht mithalten kann. Die Diskrepanz zwischen Fantasie und Reali-sierbarkeit lässt uns unser Beheimatetsein in dieser Welt mitunter als ein Gefangen-sein erleben. Zu verlockend ist da der Wunsch, die durch die Naturgesetze gege-benen Grenzen möchten aufgehoben wer-den, Raum, Zeit, Schwerfälligkeit, Dumm-heit, Bosheit könnten überwunden werden, dass es etwas Allmächtiges gebe, das stärker ist als alle Hindernisse, etwas Allwissendes, Allgegenwärtiges, Allheilsa-mes, Gütiges, Gerechtes, Ewiges. Das Ende unserer Mühen scheint da verführe-risch nahe und man möchte sich nicht verbieten daran zu glauben. Und wenn die Realität zu schmerzlich, zu angstvoll, zu

Einer der Gründe, warum die Bereitschaft zu glauben sich bis heute so standhaft hält, mag sein, dass gläubig zu sein in der Evolution einen Selektionsvorteil darstellt. Glaube tröstet, stützt das Selbstwertgefühl, macht mutig, hilft gegen Resigna-tion und wirkt antidepressiv.

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unerträglich ist und/oder die Fantasie zu lebhaft, dann wird die Grenze zwischen Realität und Fantasie durchlässig. Es wird nicht mehr sorgfältig zwischen beiden un-terschieden und die Einsicht, dass solche Erlösungsvorstellungen einer realen Grundlage entbehren, wird ausgeblendet. Mit der Zeit werden die tröstenden, scheinbar schützenden, rettenden Ideen zu einer lieben Gewohnheit, die das seeli-sche Gleichgewicht stabilisiert. Und je notwendiger sie für das eigene Wohlbefin-den sind und je ungewisser man über ih-ren Wahrheitsgehalt ist, desto hartnäcki-ger wird an ihnen festgehalten und desto kämpferischer werden sie verteidigt.

Warum ist Wissen vergleichsweise unattraktiv?

Wissenschaft ist eine strenge Disziplin. Als gesichertes Wissen darf nur gelten, was überprüft ist. Die Antworten, die wir von den Wissenschaften bekommen, entspre-chen unseren Erwartungen oft nicht, brin-gen uns keinen Seelenfrieden, sind unver-ständlich und unbequem. Unsere geistige Ausstattung ist evolutionsbiologisch nicht sehr alt. Sie reicht für ein Überleben auf diesem Planeten knapp aus. Unsere Wahr-nehmung, unser Gedächtnis und unsere Logik sind fehlerhaft und spielen uns häu-fig Streiche. Für viele Gegebenheiten ha-ben wir überhaupt keine Sinnesorgane und können sie nur mit aufwendigen Ap-paraturen indirekt erschließen. Das macht den Zugang zu Wissen kompliziert und unerfreulich und es wird auch immer schwieriger, sich über Sachfragen korrekt zu informieren. Kommt dazu, dass Wissen ständig im Fluss ist und durch neue Er-kenntnisse bald überholt und relativiert wird. Das rastlose Weiterschreiten in den Wissenschaften beschert uns nicht nur eine gewaltige, einschüchternde Menge an Wissen, es befriedigt auch unsere Sehnsucht nach existentiellem Halt und ewigen Werten im besten Fall nur vorü-bergehend.

Natur ist, soweit wir wissen, kein We-sen, das in menschlicher Weise auf irgend etwas Rücksicht nimmt. Naturgesetze gab es schon lange, bevor es Menschen mit ih-ren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten gab. Die Fakten kümmern sich nicht da-rum, welche Welt uns gefallen würde. Sie sind, wie sie sind. Die Wissenschaften zeichnen je länger je mehr ein Weltbild, das ausgesprochen nicht heimelig ist. Deshalb werden sie vielfach als kalt und unmenschlich abgelehnt. Die Produkte unserer Fantasie dagegen werden als

menschlicher, gefühlswärmer und die Herzen mehr anrührend empfunden. Die Welt der Naturwissenschaften, entkleidet von religiösen Glaubensinhalten, ist eine Welt, in der es nur die Naturgesetze gibt, keine Non Ordinary Reality, keine alterna-tive Physik, keine Ausnahmen, nichts Hö-heres, Suprahumanes, nur Natur pur, ohne irgendeine Absicht oder einen Sinn und ohne ein Interesse an uns Menschen.

Als Folge von Mutation und Selektion heißt es, sei zufällig menschliches Leben entstanden. Niemand wird gefragt, ob er das, was er später mein Leben nennen wird, haben will. Das individuelle Leben ist begrenzt von Zeugung und Tod. Man kann sich die Umstände, in die man hin-eingeboren wird, nicht aussuchen, auch nicht die eigenen Eigenschaften, mit de-nen man sich im Leben besser oder schlechter wird behaupten können. Wenn wir uns nicht umbringen, sind wir lebens-länglich Gefangene dieses Lebens, für das wir als Erwachsene dann auch noch Ver-antwortung übernehmen sollen. Gefühle wie Liebe, Fürsorge, Treue, Hass, Neid oder Verachtung stellen sich weitgehend als Ausdruck von Überlebensstrategien dar, die sich als Überlebenshilfen im Lauf

der Evolution notwendend bewährt ha-ben. Und es gibt niemanden über uns, der von den Naturgesetzen ausgenommen wäre, der mehr wüsste und mehr könnte; der etwas mit uns im Sinn hätte, dem wir etwas bedeuten, der für Gerechtigkeit be-sorgt wäre und uns zuletzt erlöst oder ver-dammt. Ein solches Welt- und Menschen-bild, wie es sich aus dem heutigen Wissensstand in etwa ableiten lässt, ge-nügt unseren emotionellen Bedürfnissen so wenig, dass es wirklich schwer fällt, Freude daran zu haben. Nietzsche sagt, Das Interesse am Wahren hört auf, je weni-ger es Lust gewährt. (Menschliches Allzu-menschliches) Das Aufgeben liebgewor-dener Glaubensvorstellungen lässt uns deprimiert zurück. Verunsichert fragt man, liegen denn die Wissenschaften falsch, dass sie so ungemütliche Ergeb-nisse liefern? Oder sind wir mit unseren Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten für diese Welt falsch programmiert? Soll man es den Wissenschaften hoch anrech-nen, dass sie sich bei ihrer Wahrheitssuche von unseren Erwartungen nicht beeinflus-sen lassen? Oder sind Wissenschaftler

heimliche Sadisten, die es darauf abgese-hen haben, die liebgewordenen Bilder zu zerstören?

Naturwissenschaft und Glaube

Können Menschen überhaupt ohne Ver-mutungen, ohne unbewiesene Annah-men, ohne Glaubensvorstellungen aus-kommen? Legen wir an den Rändern unseres Wissens nicht immer einen fan-tastischen und zauberhaften Glaubens-garten an? Und über wie viel Wissen verfü-gen wir tatsächlich, wenn wir meinen zu wissen?

Das neue kosmologische Weltbild be-sagt, dass wir in einem Universum leben, das nur zu 4 % aus gewöhnlicher Materie besteht, zu 96 % aus dunkler Materie und dunkler Energie, auf deren Existenz man zwar durch Messungen und Berechnun-gen schließen kann, von denen aber nie-mand weiß, worum es sich handelt. Vater-schaftsuntersuchungen ergeben, dass in 20 % der angebliche Vater nicht der biolo-gische Vater ist. – Was wissen wir also wirklich über uns selbst und über die Welt? Und ist es überhaupt möglich, sich lediglich auf überprüftes Wissen zu stüt-

zen? Die Verfassungen der meisten Län-der tragen diesem Umstand Rechnung mit dem Recht auf Glaubensfreiheit und Glau-bensausübung – Selbst ausgewiesene Na-turwissenschaftler kommen oft nicht ohne Glaubensüberzeugungen aus. Max Planck war ein tief religiöser Mensch. Einsteins Ausspruch Gott würfelt nicht!, ist schon notorisch. In die gleiche Richtung zielt ein Zitat von Heisenberg, der gesagt haben soll: Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.

Sehen wir uns in unserem eigenen Be-rufsfeld Psychiatrie und Psychotherapie um, so stoßen wir in der Geschichte unse-res Faches auf grauenhafte Ansichten und Praktiken, die zu ihrer Zeit vehement ge-glaubt und vertreten wurden. Aber auch bei unseren heutigen Kolleginnen und Kollegen finden wir jede Menge unbewie-sene Annahmen, die wir bei den anderen wohl schnell bemerken und zugleich oft blind sind für den Balken im eigenen Auge.

Welche Möglichkeiten haben wir so-dann, um zu entscheiden, ob Glaubensin-

Die Unwissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab. Sigmund Freud

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halte bedeutende Ideen sind, die weiter-bringen, oder nur arbiträre und ephemere Füllsel oder eben Wahnideen?

Misstrauen gegen das eigene Bedürfnis zu glauben, ist angebracht. Klärend kann da wirken, Abstand zu nehmen. Manch-mal gelingt es einem selbst sich zu distan-zieren, manchmal leistet einem diesen Dienst eine gute Therapie oder ein freund-licher Kritiker. Bei kollektiven Glaubensin-halten sind es entweder die geographische Entfernung oder der zeitliche Abstand, die den Blick befreien.

Es ist ein Privileg unserer Zeit, eine enorme Fülle an einst und heute Geglaub-tem überblicken zu können. Gesetzmä-ßigkeiten des Glaubenslebens werden er-kennbar und benennbar. Die Bedeutung des Glaubens für den Einzelnen, für Ge-sellschaften und für die kurz- und länger-fristige Entwicklung der menschlichen Spezies wird ahnungsweise fassbar. Mög-lichkeiten für ein besseres Selbstverständ-nis der je eigenen Glaubensformen und -inhalte sind eröffnet. Vielleicht wäre es dem Thema dienlicher, den Spieß einmal umzukehren und statt zu fragen, ob Glau-bensinhalte die Wahnkriterien erfüllen, was, wie gezeigt, einfach zu beweisen ist, zu überlegen, weshalb Menschen, seien sie nun gesund oder krank, zu dieser oder jener Überzeugung gelangen.

Glaube in der Therapie

Bleibt für die Gilde der therapeutisch Täti-gen die Frage, wie mit Glaubensvorstel-lungen umzugehen sei. Hilfreich ist die Annahme, dass sie immer den Stellenwert eines Therapeutikums haben. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten, Bil-der und Vorstellungen hervorzubringen, die hilfreich sind. Zugleich läuft man Ge-fahr, will man im Glauben ausschließlich ein kostbares Gut sehen, einem Unsinn, einer Täuschung oder einem Wahnsinn aufzusitzen. Beide Möglichkeiten sind im-mer gegeben. Das Johannesevangelium (8,23) sagt, Die Wahrheit wird euch frei machen. In Sebastian Brants Narrenschiff von 1494 heißt es dagegen, Die Welt will betrogen sein. Von Ingeborg Bachmann stammt das Diktum, Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Ibsen sagt in der Wildente gar, Die Lebenslüge ist ein stimu-lierendes Prinzip, und, Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen, nehmen Sie ihm sein Glück. Das sind Extrempositionen pro und kontra und dahinter stehen Idealforderungen. Es kommt der Realität wahrscheinlich näher, anzunehmen, dass wir immer von unbe-wiesenen Annahmen eingenommen sind, zu unserem Wohl wie zu unserem Schaden.

Wenn man als Therapeutin oder als Therapeut mit Überzeugungen konfron-tiert ist, von denen man unschlüssig ist, was davon zu halten sei, kann es hilfreich sein, sich folgende Fragen zu stellen:■■ Wieso benötigt jemand eine bestimmte

Überzeugung? Welchen Dienst erweist sie ihm in seinem Seelenhaushalt? Wo-vor bewahrt sie ihn?

■■ Wie würde sie/er zurückbleiben, wenn dieser Glaube oder dieser Wahn weg-fiele?

■■ Wirken ihre/seine Glaubensüberzeu-gungen stützend, tröstend, ermuti-gend, Frieden stiftend oder ängstigend, verwirrend, feindselig und zerstöre-risch? Und welche Auswirkungen ha-ben sie auf Andere?

Hält man sich diese Fragen vor Augen, be-kommt man in der Regel die nötigen Hin-weise, wie man sich gegenüber Glaubens-vorstellungen therapeutisch verhalten kann. n

Literatur beim Verfasser

Korrespondenz:PD Dr. med. Florian LangeggerDufourstrasse 165CH-8008 Zü[email protected]

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