adorno: Über tradition (gs10.1)

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 7.902 GS 10.1, 310 Über Tradition Über Tradition 1 Tradition kommt von tradere, weitergeben. Gedacht ist an den Generationszusammenhang, an das, was von Glied zu Glied sich vererbt; wohl auch an hand- werkliche Überlieferung. Im Bild des Weitergebens wi rd le ib ha ft e he , Un mi tt el ba rk eit au sg ed ck t, eine Hand soll es von der anderen empfangen. Solche Unmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüch- siger Verhältnisse etwa familialer Art. Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal, so wie Sombart die feudale Wirtschaft traditionalistisch nannte. Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medi- um, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlich- keit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergange- nen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertra- gen. Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition stren- gen Sinnes unvereinbar. Das Prinzip des Tauschs von Äquivalenten hat, als das der Leistung, das der Fami- lie zwar nicht abgeschafft. Doch es hat die Familie sich untergeordn et. Die in kurzen Abständen sich wie- derholenden Inflationen we isen aus, wi e sinnfällig anachronistisch die Idee des Erbes wurde, und das  Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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7.902 GS 10.1, 310Über Tradition

Über Tradition

1

Tradition kommt von tradere, weitergeben. Gedachtist an den Generationszusammenhang, an das, was

von Glied zu Glied sich vererbt; wohl auch an hand-werkliche Überlieferung. Im Bild des Weitergebenswird leibhafte Nähe, Unmittelbarkeit ausgedrückt,eine Hand soll es von der anderen empfangen. SolcheUnmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüch-

siger Verhältnisse etwa familialer Art. Die KategorieTradition ist wesentlich feudal, so wie Sombart diefeudale Wirtschaft traditionalistisch nannte. Traditionsteht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diesein jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medi-um, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlich-keit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergange-nen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertra-gen. Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition stren-gen Sinnes unvereinbar. Das Prinzip des Tauschs vonÄquivalenten hat, als das der Leistung, das der Fami-

lie zwar nicht abgeschafft. Doch es hat die Familiesich untergeordnet. Die in kurzen Abständen sich wie-derholenden Inflationen weisen aus, wie sinnfälliganachronistisch die Idee des Erbes wurde, und dasheoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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geistige war nicht krisenfester. Jene Unmittelbarkeitdes Von-Hand-zu-Hand ist in den sprachlichen Aus-

drücken für Tradition bloßer Rückstand im gesell-schaftlichen Getriebe universaler Vermittlung, in demder Warencharakter der Dinge herrscht. Längst hat dieTechnik die Hand, die sie schuf und die sich in ihrverlängert, vergessen lassen. Angesichts der techni-

schen Produktionsweisen ist Handwerk so wenigmehr substantiell, wie etwa der Begriff der handwerk-lichen Lehre noch gilt, die für Tradition, und geradeauch die ästhetische, sorgte. In einem radikal bürgerli-chen Land wie Amerika wurde daraus allseitig die

Konsequenz gezogen. Tradition sei verdächtig oderImportartikel mit vermeintlichem Seltenheitswert. DieAbwesenheit traditioneller Momente drüben, und derErfahrungen, die mit ihnen verbunden sind, verhindertein Bewußtsein zeitlicher Kontinuität. Was nicht heutund hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt

sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen. Nochwenn einer stirbt, ist es so gut, als wäre er nie gewe-sen, und er so absolut ersetzlich wie alles Funktiona-le; unersetzlich ist nur das Funktionslose. Daher dieverzweifelten und archaistischen Einbalsamierungsri-

tuale. Sie möchten den Verlust des Zeitbewußtseinsmagisch bannen, der doch im gesellschaftlichen Ver-hältnis selber gründet. In all dem ist Europa nichtAmerika voran, das dort Tradition lernen könnte, son-

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dern folgt Amerika nach, und dazu bedarf es keines-wegs der Nachahmung. Die vielfach in Deutschland

bemerkte Krise jeglichen historischen Bewußtseins,bis zur blanken Unkenntnis des noch nicht einmalallzu lang Vergangenen, ist einzig Symptom eines tra-genden Sachverhalts. Offenbar zerfällt für die Men-schen der Zusammenhang der Zeit. Daß diese philo-

sophisch so beliebt ward, bezeugt, daß Zeit aus demGeist der Lebendigen sich verflüchtigt; der italieni-sche Philosoph Enrico Castelli hat das in einem Buchbehandelt. Auf den Traditionsverlust reagiert die ge-genwärtige Kunst insgesamt. Sie hat die traditional

verbürgte Selbstverständlichkeit ihres Verhältnisseszum Objekt, zum Material, und die ihrer Verfahrungs-weisen verloren und muß diese in sich reflektieren.Das Ausgehöhlte, Fiktive der traditionalen Momentewird gefühlt, und die bedeutenden Künstler schlagenes wie Gips mit dem Hammer weg. Was immer als

Intention der Sachlichkeit sich bezeichnen läßt, hatden traditionsfeindlichen Impuls. Darüber zu klagen,Tradition als heilsam zu empfehlen, ist ohnmächtigund widerspricht deren eigenem Wesen. Zweckratio-nalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich

oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu be-sitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationali-tät kassiert ist.

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Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surro-gieren. Eben das tut die bürgerliche Gesellschaft.Auch die Gründe dafür sind real. Je weniger ihr Prin-zip duldet, was ihm nicht gleicht, desto eifriger beruft

es sich auf Tradition und zitiert, was dann, von außen,als »Wert« erscheint. Dazu ist die bürgerliche Gesell-schaft gezwungen. Denn die Vernunft, die in ihremProduktions- und Reproduktionsprozeß waltet undvor deren Gericht sie alles bloß Gewordene und Da-

seiende ruft, ist nicht die volle. Der selbst durchausbürgerliche Max Weber definierte sie als eine im Ver-hältnis von Zwecken und Mitteln, nicht in den Zwek-ken an sich; die überantwortete er der subjektiven, ir-rationalen Entscheidung. Das Ganze bleibt, in derVerfügung Weniger über die Produktionsmittel und inden unerbittlich davon verursachten Konflikten, sounvernünftig, schicksalhaft und bedrohlich wie vonaltersher. Je rationaler sich das Ganze ineinanderfügtund schließt, desto furchtbarer wächst seine Gewaltüber die Lebendigen an samt der Unfähigkeit von

deren Vernunft, es zu ändern. Will aber das Bestehen-de in solcher Irrationalität rational sich rechtfertigen,so muß es Sukkurs suchen bei eben dem Irrationalen,das es ausrottet, bei der Tradition, die doch, ein Un-

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willkürliches, dem Zugriff sich entzieht, falsch wirddurch den Appell. Die Gesellschaft appliziert sie

planvoll als Kitt, in der Kunst hält sie her als verord-neter Trost, der die Menschen über ihre Atomisierungauch in der Zeit beruhigen soll. Seit den Anfängen derbürgerlichen Periode haben die Angehörigen des Drit-ten Standes gefühlt, daß ihrem Fortschritt und ihrer

Vernunft, die virtuell alle qualitativen Differenzen desLebendigen ausmerzt, etwas fehlt. Ihre Dichter, diemit dem Hauptstrom schwammen, haben über denprix du progrès gespottet, von Molières Komödie ›LeBourgeois Gentilhomme‹ bis zu Gottfried Kellers Fa-

milie Litumlei, die sich synthetische Ahnenbilder zu-legt. All die Literatur, welche den Snobismus anpran-gert, der doch einer Gesellschaftsform immanent ist,in der die formale Gleichheit der inhaltlichen Un-gleichheit und der Herrschaft dient, verdeckt dieWunde, in die sie Salz streut. Schließlich verwandelt

sich die vom bürgerlichen Prinzip abgetötete und ma-nipulierte Tradition in Giftstoff. Auch genuin traditio-nale Momente, bedeutende Kunstwerke der Vergan-genheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußt-sein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer

Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damitam Gegenwärtigen nichts sich ändere, es sei denndurch ansteigende Gebundenheit und Verhärtung.Wer Vergangenes liebt und, um nicht zu verarmen,

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solche Liebe nicht sich austreiben läßt, exponiert sichsogleich dem perfid begeisterten Mißverständnis, er

meine es nicht so böse und lasse auch über die Ge-genwart mit sich reden.

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Die falsche Tradition, die fast gleichzeitig mit derKonsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam,wühlt in falschem Reichtum. Er stand der alten, erstrecht der neuen Romantik lockend vor Augen. Auch

der Begriff der Weltliteratur, der gewiß von der Engeder nationalen befreite, verleitete von Anbeginn dazu.Falsch ist der Reichtum darum, weil er, im bürgerli-chen Geist des Disponierens über Besitz, verwertetwurde, als stünde dem Künstler alles zu Gebote, was

 je an künstlerischen Stoffen und Formen hoch undteuer war, nachdem einmal die Historie seiner sichversicherte. Gerade weil keine Tradition dem Künstlermehr substantiell, verbindlich ist, falle eine jeglicheihm kampflos als Beute zu. Hegel hat die neuereKunst, die er die romantische nannte, in diesem Sinnbestimmt; Goethe war nicht spröde dagegen, erst dieAllergie gegen Tradition heute ist es. Währendscheinbar dem autonom gewordenen Künstler allesgleich offen steht, schlagen ihm ausgegrabene Schätzekeineswegs zum Guten an, wie es zuletzt noch, bereits

gebrochen, die neoklassizistischen Richtungen, in derLiteratur etwa der spätere Gide und Cocteau, verhie-ßen. Macht er davon Gebrauch, so verfertigt er Kunst-gewerbe, erborgt sich aus Bildung, was seinem eige-

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nen Stand widerspricht, Leerformen, die nicht sichfüllen lassen: denn keine authentische Kunst hat je

ihre Form gefüllt. Der Künstler nach dem Zerfall derTradition erfährt diese vielmehr an dem Widerstand,den das Traditionale ihm entgegensetzt, wo immer erseiner sich bemächtigen will. Was in den verschieden-sten künstlerischen Medien heute Reduktion heißt,

gehorcht der Erfahrung, nichts mehr ließe sich ver-wenden als das von der Gestalt jetzt und hier Gefor-derte. Die Beschleunigung im Wechsel ästhetischerProgramme und Richtungen, die der Philister als Mo-deunwesen begrinst, rührt her von dem unablässig

sich steigernden Zwang zum Refus, den Valéry als er-ster notierte. Das Verhältnis zur Tradition setzt sichum in einen Kanon des Verbotenen. Er saugt, mit an-wachsendem selbstkritischen Bewußtsein, immermehr in sich hinein, auch scheinbar Ewiges, Normen,die, direkt oder indirekt der Antike entlehnt, im bür-

gerlichen Zeitalter wider die Auflösung der traditiona-len Momente mobilisiert wurden.

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Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oderideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichteweiter Macht über alles, was ist und worin sie einsik-kerte. Daß die Welt aus bloßen Gegebenheiten, ohne

die Tiefendimension des Gewordenen, sich zusam-menaddierte, das positivistische Dogma, das von äs-thetischer Sachlichkeit zu unterscheiden mitunterschwerfällt, ist so illusionär wie die autoritätsgläubigeBerufung auf Tradition. Was sich geschichtslos, rei-

ner Anfang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte,bewußtlos und darum verhängnisvoll; an den archai-sierenden ontologischen Richtungen der Philosophieist das mittlerweile dargetan worden. Der Schriftstel-ler, der des scheinhaften Moments an der Traditionsich erwehrt, und der sich selbst in keiner mehr emp-findet, ist doch in sie eingespannt, vorab durch dieSprache. Die schriftstellerische ist kein Agglomeratvon Spielmarken, sondern die Valeurs eines jedenWorts und einer jeden Wortverbindung empfangenobjektiv ihren Ausdruck aus ihrer Geschichte, und in

dieser steckt der geschichtliche Prozeß überhaupt.Das Vergessen, von dem einmal Brecht das Rettendesich versprach, ist unterdessen ins mechanisch Leereübergegangen; die Armut des reinen Jetzt und Hier

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hat sich als bloß abstrakte Verneinung des falschenReichtums herausgestellt, vielfach als Apotheose des

bürgerlichen Puritanismus. Der jeglicher Erinnerungs-spur entäußerte Augenblick ist ganz hinfällig in demWahn, gesellschaftlich Vermitteltes sei natürlicheForm oder Naturmaterial. Was in den Verfahrungs-weisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, re-

grediert. Verzicht hat seinen Wahrheitsgehalt nur, woer als verzweifelter sich gestaltet, nicht wo er stur tri-umphiert. Das Glück der Tradition, das Reaktionärepreisen, ist nicht nur die Ideologie, die es ist. Wer lei-det unter der Allherrschaft des bloß Seienden und

Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der magmehr Wahlverwandtschaft zu einem süddeutschenMarktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl erweiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung vonMuff herhält, dem Komplement technifizierten Un-heils. Wie die in sich verbissene Tradition ist das ab-

solut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, wasan Vergangenem in der vermeintlich reinen, vomStaub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu denSachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weildas akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die ge-

schichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben undTönen ist immer die vergangenen Leidens. Darumstellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Wider-spruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist

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aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Ein-marsch in die Unmenschlichkeit.

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Diese Antinomie schreibt die mögliche Stellung desBewußtseins zur Tradition vor. Kants Satz, der kriti-sche Weg sei allein noch offen, ist einer von jenenverbürgtesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich

viel größer ist als das an Ort und Stelle Gemeinte. Ertrifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kantsich lossagte, die der rationalistischen Schule, son-dern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihrdoch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal er-

reichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschritten-sten, konfrontieren und fragen, was trägt und wasnicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur inder Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohlaber eine Beziehung zur Vergangenheit, die nichtkonserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeitzum Überleben verhilft. Bedeutende Traditionalistender vergangenen Generation wie die Georgeschuleund wie Hofmannsthal, Borchardt und Schröderhaben, bei aller restaurativen Absicht, davon etwasgefühlt, wofern sie dem Nüchternen, Gedrungenen

den Vorzug gaben vor dem Idealischen. Sie schonklopften die Texte ab nach dem, was hohl klingt undwas nicht. Sie haben den Übergang von Tradition ansUnscheinbare, nicht sich selbst Setzende registriert,

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liebten mehr Gebilde, in denen der Wahrheitsgehalttief dem Stoffgehalt eingesenkt ward, als solche, in

denen er als Ideologie darüber schwebt und deshalbkeiner ist. An nichts Traditionales ist besser anzu-knüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verra-tenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdischeTradition des Antitraditionellen. Aber auch der inte-

gre Wille zur Wiederherstellung hatte seinen Zoll zuentrichten. Seine Positivität wurde einer ganzen geho-benen Literatur zum Vorwand. Das Körnige, Gedie-gene von Stifter-Imitatoren und Hebel-Auslegern istheute so billig wie die hochtrabende Geste. In die all-

gemeine Manipulation sanktionierter Kulturgüter istdas vermeintlich Unverschandelte unterdessen einver-leibt; auch bedeutende ältere Gebilde wurden durchRettung zerstört. Sie weigern sich der Restaurationdessen, was sie einmal waren. Objektiv, nicht erst imreflektierenden Bewußtsein lösen kraft ihrer eigenen

Dynamik wechselnde Schichten von ihnen sich ab.Das jedoch stiftet eine Tradition, der allein noch zufolgen wäre. Ihr Kriterium ist correspondance. Siewirft, als neu Hervortretendes, Licht aufs Gegenwärti-ge und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Sol-

che correspondance ist keine der Einfühlung und un-mittelbaren Verwandtschaft, sondern bedarf der Di-stanz. Schlechter Traditionalismus scheidet vomWahrheitsmoment der Tradition sich dadurch, daß er

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Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringli-chem greift, während es beredt wird allein im Be-

wußtsein der Unwiederbringlichkeit. Ein Modell ge-nuiner Beziehung durch Distanz ist Becketts Bewun-derung der ›Effi Briest‹. Es lehrt, wie wenig die unterdem Begriff der correspondance zu denkende Traditi-on das Traditionelle als Vorbild duldet.

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Fremd ist dem kritischen Verhältnis zur Tradition derGestus des »Das interessiert uns nicht mehr«, nichtanders als die naseweise Subsumtion von Gegenwär-tigem unter allzu weite geschichtliche Begriffe wie

den des Manierismus, insgeheim gehorsam der Maxi-me »Alles schon dagewesen«. Solche Verhaltenswei-sen nivellieren. Sie frönen dem Aberglauben an unge-brochene historische Kontinuität und, in eins damit,ans historische Verdikt; sind konformistisch. Wo die

Idiosynkrasie gegen Vergangenes sich automatisierthat, wie Ibsen oder Wedekind gegenüber, sträubt siesich gegen das in solchen Autoren, was unerledigtblieb, geschichtlich nicht sich entfaltete oder, wie dieEmanzipation der Frau, bloß brüchig. In derlei Idio-synkrasien stößt man auf das wahrhafte Thema derBesinnung auf Tradition, das am Weg liegen Geblie-bene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter demNamen des Veraltens sich zusammenfaßt. Dort suchtdas Lebendige der Tradition Zuflucht, nicht im Be-stand von Werken, die da der Zeit trotzen sollen. Dem

souveränen Überblick des Historismus, in dem derAberglaube ans Unvergängliche und die eifrige Angstvorm Altmodischen fatal sich verschränken, entgehtes. Nach dem Lebendigen der Werke ist in ihrem In-

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neren zu suchen; nach Schichten, die in früheren Pha-sen verdeckt waren und erst sich manifestieren, wenn

andere absterben und abfallen. Daß Wedekinds›Frühlings Erwachen‹ Ephemeres, das Pult von Gym-nasiasten und die finsteren Abtritte von Wohnungendes neunzehnten Jahrhunderts, das Unsägliche desFlusses vor der Stadt in der Dämmerung, den Tee,

den die Mutter den Kindern auf dem Tablett herein-bringt, das Plappern der Backfische von der Verlo-bung mit Forstreferendar Pfälle zum Bild eines Un-vergänglichen, von je Gewesenen bereitete, offenbartsich erst, nachdem die Wünsche des Stücks nach

rechtzeitiger Aufklärung und Toleranz für Halbwüch-sige längst erfüllt und gleichgültig geworden sind,ohne die doch jene Bilder nie sich formiert hätten.Gegen das Verdikt des Veralteten steht die Einsicht inden Gehalt der Sache, der sie erneuert. Rechnung trägtdem nur ein Verhalten, das Tradition ins Bewußtsein

hebt, ohne ihr sich zu beugen. Sie ist ebenso vor derFurie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nichtminder mythischen Autorität zu entreißen.

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Das kritische Verhältnis zur Tradition als Mediumihrer Bewahrung betrifft keineswegs bloß das Vergan-gene, sondern ebenso die der Qualität nach gegenwär-tige Produktion. Soweit sie authentisch ist, beginnt

sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nichteine ersonnene Verfahrungsweise durch die nächste.Vielmehr ist sie bestimmte Negation. Die Bühnen-werke Becketts bilden in all ihren Perspektiven dietraditionelle dramatische Form parodisch um. Die

furchtbaren Spiele, in denen mit tierisch-komischemErnst Gummigewichte gestemmt werden und an derenSchluß alles bleibt, wie es von Anfang an war, repli-zieren auf die Vorstellungen von steigender und fal-lender Handlung, Peripetie, Katastrophe, Entwicklungder Charaktere. Solche Kategorien sind scheinhafterÜberbau über dem geworden, was wirklich Mitleidund Furcht erregt, dem Immergleichen. Der Zusam-mensturz jenes Überbaus in seiner leibhaft gegenwär-tigen Kritik gibt Stoff und Gehalt einer Dramatik ab,die nicht wissen will, was es ist, was sie sagt. Inso-

fern ist der sei's auch clichéhafte Begriff Antidramanicht schlecht gewählt, auch nicht der des Antihelden.Die Zentralfiguren bei Beckett sind nur noch schlot-ternde Vogelscheuchen des Subjekts, das einmal die

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Szene beherrschte. Die Clownerie, die sie betreiben,hält Gericht über das Ideal der selbstherrlichen Per-

sönlichkeit, die bei Beckett verdientermaßen zugrundegeht. Das Wort absurd, das für seine Dramatik unddie ihr verpflichtete sich eingebürgert hat, ist gewißinferior. Dem konventionellen gesunden Menschen-verstand, dem hier der Prozeß gemacht wird, konze-

diert es allzuviel; tut so, als sei das Absurde die Ge-sinnung solcher Kunst, nicht das objektive Unwesen,das sie entblößt. Einverstandenes Bewußtsein ver-sucht, noch das ihm Unversöhnliche zu verschlucken.Dennoch ist selbst die peinliche Parole nicht durchaus

falsch. Sie designiert die fortgeschrittene Literatur alskonkret durchgeführte Kritik des traditionellen Be-griffs von Sinn, dem des Weltlaufs, den bis dahin diesogenannte hohe Kunst, auch und gerade wo sie Tra-gik als ihr Gesetz erkor, bestätigte. Das affirmativeWesen der Tradition bricht zusammen. Tradition

selbst behauptet durch ihre pure Existenz, daß imzeitlich aufeinander Folgenden Sinn sich erhalte, fort-erbe. Soweit die neue Literatur zählt, rüttelt sie, ana-log übrigens zur Musik und Malerei, an der Ideologiedes Sinns dessen, was in der Katastrophe dessen

Schein so gründlich abwarf, daß der Zweifel daranauch den vergangenen in sich hineinreißt. Sie kündigtdie Tradition und folgt ihr doch: Hamlets Frage nachSein oder Nichtsein nimmt sie so buchstäblich, daß

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sie die Antwort Nichtsein sich zutraut, die in der Tra-dition so wenig ihren Ort hatte wie im Märchen der

Sieg des Ungeheuers über den Prinzen. Derlei pro-duktive Kritik bedarf nicht erst der philosophischenReflexion. Sie wird geübt von den exakt reagierendenNerven der Künstler und ihrer technischen Kontrolle.Beides ist gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung.

Jede von Becketts Reduktionen setzt die äußersteFülle und Differenziertheit voraus, die er verweigertund die er in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnenkrepieren läßt, bis in die Sprachform und die beschä-digten Witze hinein. Dem verwandt ist das Ungenü-

gen der neuen Romanciers an der Fiktion jenes Guck-kastens, in den sie hineinschauen und über den siealles wissen. All das reibt sich an der Tradition, ärgertsich an ihr als an dem Ornament, der täuschendenHerstellung eines Sinns, der nicht ist. Ihm halten siedie Treue, indem sie es verschmähen, ihn vorzuspie-

geln.

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Nicht minder dialektisch als die Stellung der authenti-schen Gebilde zur Kritik ist die der Autoren. Sowenig wie je muß ein Dichter Philosoph sein; sowenig wie je darf er es, wenn damit die Verwechslung

des hineingepumpten Sinngehalts, für den mit Rechtnur noch das grauslige Wort Aussage übrig ist, mitdem Wahrheitsgehalt der Sache gemeint wird. Leiden-schaftlich wehrt Beckett jede Besinnung über den ver-meintlichen Symbolgehalt seines Schaffens von sich

ab: der Gehalt ist, daß kein Gehalt positiv vor Augensteht. Gleichwohl hat in der Stellung der Autoren zudem, was sie tun, etwas Konstitutives sich geändert.Daß sie weder in Tradition mehr sich finden, noch imVakuum operieren können, zerschlägt den mit Tradi-tion so innig verwachsenen Begriff künstlerischerNaivetät. In der unumgänglichen Reflexion, was mög-lich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Ein-sicht in Techniken und Materialien und die Stimmig-keit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtli-ches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlampe-

rei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte. Aber imtraditionsfeindlichen Bewußtsein des geschichtlichFälligen überlebt auch die Tradition. Das Verhältnisdes Künstlers zu seinem Werk ist ganz blind gewor-

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den und ganz durchsichtig in eins. Wer traditionellderart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbil-

det, daß der Schnabel ihm gewachsen sei, wird imWahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erstrecht schreiben, was nicht mehr geht. Damit jedochtriumphiert nicht der sentimentalisch reflektierendeKünstler, dessen Typus das ästhetische Selbstver-

ständnis seit Klassizismus und Romantik der Naivetätkontrastiert hatte. Er wird Gegenstand einer zweitenReflexion, die ihm das sinnsetzende Recht, das auf die »Idee«, entzieht, welches der Idealismus ihm zu-gesprochen hatte. Insofern konvergiert das fortge-

schrittene ästhetische Bewußtsein mit dem naiven,dessen begriffslose Anschauung keinen Sinn sich an-maßte und vielleicht darum zuzeiten ihn gewann.Aber auch auf diese Hoffnung ist kein Verlaß mehr.Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie inengstem Kontakt mit der Tradition diese von sich ab-

stößt. Wer die Seligkeit, die sie in manchen ihrer Bil-der stets noch verheißt, nicht verraten will, die ver-schüttete Möglichkeit, die unter ihren Trümmern sichbirgt, der muß von der Tradition sich abkehren, wel-che Möglichkeit und Sinn zur Lüge mißbraucht. Wie-

derzukehren vermag Tradition einzig in dem, was un-erbittlich ihr sich versagt.