altes handwerk das leben in zwei bildernihn motiviert, «nur de hegel zui ha» (das muss man sich...
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Der Grabkreuz-Schnitzer in seiner Werkstatt in Jaun FR. An der Schleif-maschine schärft Reynold Boschung, 54, eines seiner Schnitzeisen. Auf einer Art Staffelei liegt das Arven-brett zum Schnitzen bereit.
In Jaun FR bekommt jeder Verstorbene ein Grabkreuz. Darauf eingekerbt sind zwei Motive aus seinem Leben und Werken.
Reynold Boschung schnitzt diese Lebensfurchen ins Arvenholz.Text Marcel Huwyler Fotos Kurt Reichenbach
Das Leben in zwei Bildern
Altes Handwerk
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Welche zwei Sujets kämen auf
Ihr Grabkreuz?
E rst der Tod zwingt uns manchmal, darüber nachzudenken, wo im Leben wir wahr haftig lebendig, echt und
ganz bei uns sind. Angenommen, ich bin übermorgen tot: Welche Motive aus meinem Leben würden mich so darstellen, wie ich wirklich war? Welche Bilder würden mein Lebenswerk am treffendsten illustrieren? Ist es der Beruf, ein Hobby, die Familie vielleicht? Eine Szene aus der Kindheit, meine schönste Reise oder ein oft geträumter, aber nie erlebter Herzenswunsch? Unser Leben bringt eine Vielzahl erwähnenswerter Andenken hervor. Doch jetzt stelle man sich vor, lediglich zwei Bilder dürfen verwendet werden. Zwei Motive nur bezeugen, was ich war, wer ich war – aus welchem Holz ich geschnitzt war.
JESUS UND ZWEI RELIEFS Reynold Boschung verwendet am liebsten Arvenholz. Ab und zu, wenn es von trauernden Angehörigen oder zukünftigen Toten gewünscht wird, auch Eiche. Aber Arve, sagt Boschung, sei am besten, weich, gleich mässig und fein im Aufbau, perfekt zum Schnitzen. Der 54jährige Boschung führt eine Tradition weiter, die in seinem Dorf, im freiburgischen Jaun, seit bald siebzig Jahren besteht: Jeder Verstorbene bekommt ein auf sein Leben «massgeschneidertes» Grabmal. Ein grosses, überdachtes Holzkreuz samt Christusfigur und eine Rückwand. Und eben diese Rück
wand hat es in sich – oder besser auf sich: Zwei Reliefs sind darauf eingekerbt, eines links, eines rechts von Jesus; geschnitzte Szenen, die charakteristisch sind für das Leben des Verstorbenen. Dargestellt ist meist der Beruf des Toten und sein Hobby. Die Grabkreuze auf dem Jauner Friedhof sind ein schweizweit einzigartiges Kulturgut.
DIE BESONDERE MUNDARTNähert man sich Jaun von Osten her, fährt vom Berner Simmental über den Jaunpass in Richtung Greyerzerland, sieht man die SanktStephanDorfkirche schon von Weitem. Ihr weisser Turm strahlt in der Sonne. Jaun hat gut 700 Einwohner und liegt auf 1015 Meter über Meer. Südlich der Gemeinde ragen die Gastlosen auf, eine beeindruckende Kette schroffer Kalkfelsen. Im Jahr 1644 wurde die hiesige Hebamme wegen Hexerei gehängt, 1711 brannte das halbe Dorf nieder, und um 1870 wurde hier nach Gold gesucht – es blieb beim Suchen. Heute profitiert Jaun vom Sommer und Winter tourismus. Jaun ist das einzige deutsch sprachige Dorf des Bezirks Greyerz, man spricht Jaundeutsch. Eine manch mal nur schwer zu v erstehende Sprache, die mal wie Simmen taler, dann wieder eher wie Sensler Mundart tönt.
ZWEIMAL 20 STUNDEN ARBEIT «Mir gugge das zäme a», sagt Reynold Boschung (das versteht man ja noch gut), öffnet die Tür zu seiner Werkstatt, einem kleinen
Chalet, das er selbst gezimmert hat, und zeigt, wo er seine Holzkreuze schnitzt. Boschung ist von Beruf Schreiner; das hier, betont er, sei nur ein Hobby – aber eines, das ihn immer mehr fordere, zeitlich wie geistig. Erst später wird er berichten, was er damit meint und wie ihn die Sache manchmal mehr beschäftigt, als ihm lieb ist. Auf der Hobelbank hat Boschung eine Art Staffelei montiert, auf der ein Arvenbrett, die spätere Kreuzrückwand, festgeschraubt ist. Auf der linken Brettseite präsentiert
Reynold Boschung schnitzt an einem Relief für ein Grabkreuz. Der Verstorbene war als Bub Geissenhirt.
Mit seinen Schnitz eisen kerbt Boschung die
Sujets ins Arvenholz.
Jaun am Morgen. Die letzten Nebel- fetzen ver ziehen sich. Die Dorfkirche leuchtet im Sonnenlicht.
Boschung ein fast fertiges Relief: ein Hirtenbub, zwei Geissen, im Hintergrund die Jauner Hausberge, die Gastlosen. Mit einem seiner feinsten Schnitzeisen (er besitzt etwa vierzig davon) kerbt Boschung jetzt an den Bergschuhen des Hirtenbuben herum. Leise Schab geräusche sind zu hören, Minispäne bröseln zu Boden, hier gehts um weniger als Millimeter. Rechts vom Relief liegt die Vor lage, ein farbiges gemaltes Bild mit eben diesem HirtenbubenSujet. Der Verstorbene, erklärt Boschung,
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habe in Jaun seine Kindheit verbracht und als Bub Geissen gehütet. Und was für ein Schnitzbild kommt rechts auf die Kreuzwand? Dieses Kreuz sei eine Ausnahme, sagt Boschung, das werde auf einem Doppelgrab stehen. Die Ehefrau des Mannes sei nämlich ein paar Monate zuvor gestorben, nun schnitze er halt ein einziges Kreuz für zwei Personen; links also der Geissenhirt, rechts werde er eine Szene aus dem Leben der Frau schnitzen, «sie hat gern gelesen, also mache ich etwas mit einem Buch». Das hat Boschung so mit dem Sohn des toten Ehepaars besprochen. Solche Gespräche mit den Angehörigen sind ein Teil seiner Arbeit. Manche Trauernde kämen, erzählt Boschung, und wüssten genau, welche zwei Lebenssujets zum Toten passen, andere täten sich schwer, studierten lange herum. Da spielt Boschung dann halt auch ein wenig Psychologe, spricht mit den Angehörigen über den Toten, versucht herauszufinden, wer dieser war, was er gern tat, was ihn prägte, «und oft mache ich der Familie dann einen MotivVorschlag». Die allermeisten seiner «Kunden» kennt – oder besser kannte – Boschung sowieso sehr gut. Alles Einheimische, Bekannte, Nachbarn, Kollegen gar. Jaun ist nicht sehr gross.
DAS KREUZ MIT DEM KREUZDoch eben diese Nähe ist nicht immer nur ein Vorteil. Wenn Boschung da abends in seiner Werkstatt sitzt, schnitzt, schabt, kerbt, stundenlang, bis in alle Nacht hinein, und am Verstorbenen herumstudiert, «dann beschäftigt mich das mehr, als mir lieb ist». Die Aus einandersetzung mit dem Leben und Sterben drückt ihm manchmal aufs Gemüt. Ganz besonders wenn er, wie letzthin passiert, das Kreuz für einen Zehnjährigen schnitzen muss, der an Leukämie starb, «das geht mir ans Lebendige». Vor seiner Werkstatt steht ein kleines, altes Grabkreuz mit der Gravur «Hansli Boschung, 1963 –1967». Sieben Jahre alt sei er gewesen, erzählt Reynold Boschung, als sein
Grabkreuz- Galerie auf dem Jauner Friedhof.
Spannend für die Besucher ist, herauszufinden, welche Hobbys
und Berufe die Verstorbenen hatten. Das Kreuz
oben rechts gehört dem Grab-
kreuz-«Erfinder» Walter Cottier.
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sägen, Registrierkassen und Landwirt schafts fahrzeuge (samt dem Firmennamen «Aebi» und dem FRNummernschild). Kaminfeger, Kran kenschwestern, Näherinnen und Viehzüchter hat Boschung verewigt. Und bei einem Skilehrer war es den Angehörigen enorm wichtig, dass der prestigeträchtige Skilehrer
vier jähriger Bruder verunglückte, unter eine Landmaschine geriet und starb.
DER GRABKREUZ-PIONIERDie Geschichte der Jauner Grabkreuz schnitzerei beginnt 1948. Damals schnitzt ein Mann namens Walter Cottier für seinen Grossvater ein Grabkreuz. Den Jaunern gefällts, und Cottier bekommt weitere Aufträge; über 150 Kreuze werden es in all den Jahren. Reynold Boschung wird wegen seiner Ehefrau zum KreuzSchnitzer. 1985, zu seiner Hochzeit, zimmert er einige Möbel, verziert sie mit Schnitzereien und staunt selber, «dass ich ein Talent dazu habe». 1988 dann gestaltet Boschung sein erstes Grabkreuz, für den Schwieger vater. Er habe erst Cottier um Rat gefragt, doch der hatte keine Zeit für Lehrstunden. «Musst keine Angst haben», habe er ihn motiviert, «nur de Hegel zui ha» (das muss man sich nun doch übersetzen lassen), er solle einfach nur das Schnitzeisen mutig anwenden. 1995 stirbt der grosse Cottier. Dessen Grabkreuz – darf Reynold Boschung schnitzen. Er stellt ihn als Bauer mit der Sense und als Schnitzer dar (siehe KreuzGalerie, Foto oben rechts). Ihm sei wichtig, so Boschung, die Hobbys und Berufe der Verstorbenen realistisch darzustellen. Und so schnitzt er detailgetreue Bau maschinen, Lastwagen, Ketten
Streifen auf dem Pullover zu sehen ist. Boschung erfüllt alle Wünsche. An zwei Reliefs schnitzt er vierzig Stunden, dafür verlangt er 400 Franken.
DAS EIGENE KREUZBoschung hat in den letzen 26 Jahren wohl 150 Grabkreuze geschaffen, vierzig davon gingen an Auswärtige.
Gestern eben lieferte er ein Kreuz nach Wien, bestellt von einer Witwe; das Ehepaar verbrachte oft Ferien in der Region und bewunderte den Jauner Friedhof. Es gebe auch Menschen, so Boschung, die ihr eigenes Grabkreuz in Auftrag geben, die noch zu Lebzeiten selber bestimmen, mit welchen zwei Sujets
sie verewigt werden. Das eigene Kreuz bestellen – ist das nicht etwas makaber, Herr Boschung? Der Mann lächelt, schreitet in eine Ecke seiner Werkstatt, lupft ein staubiges Tuch und zieht eine unfertige Kreuzwand hervor. Daran arbeite er seit Jahren, immer mal wieder ein kleines Stück. Die «Berufs»Seite ist noch leer;
auf der «Hobby»Seite ist ein halbfertiger Jägersmann eingekerbt. Dessen Gesichtszüge, der schmale Kopf, der Bart, die hohe Stirn, das ist doch … Boschung schmunzelt, nickt, dazu sagen mag er nichts. Das hier wird mal sein Grabkreuz, sein Leben, sein Wirken – in Arve verewigt. C
Es gibt Menschen, die ihr eigenes
Grabkreuz bestellen
Reynold Boschung montiert auf dem
Friedhof Jaun eines seiner Kreuze auf
einen vom Steinmetz gelieferten Sockel. So
ein Holzkreuz wiegt gut fünfzehn Kilo.
Seit Jahren schnitzt Boschung an seinem eigenen Grabkreuz. Das «Hobby»-Sujet ist fast fertig: Es zeigt Boschung als Jägersmann.