am burgholz 2 erich von kahler und das haus st. georg

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Bürgertum und Boheme Die Wolfratshauser Bergwaldvillen und ihre Bewohner ____________________________________________________________________________________ Am Burgholz 2 ERICH VON KAHLER UND DAS HAUS ST. GEORG Unter den Villen im Wolfratshauser Bergwald war das Haus St. Georg, das der heute eigentlich nur noch in Wissenschaftskreisen bekannte Erich von Kahler 1916 erworben hatte, wie wohl kein anderes über eineinhalb Jahrzehnte lang ein Zentrum höchsten geistigen Lebens und einer sehr regen wissenschaftlichen Arbeit. Der Eigentümer der Villa, Erich von Kahler, 1885 in Prag geboren und aus einer recht begüterten, auch bildungs- und kulturbeflissenen jüdischen Industriellenfamilie stammend, hatte nach seinem Studium der Geschichte, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Wien aus seinem Elternhaus so viel Vermögen mitgebracht, dass er sein Leben hier am Ort, finanziell nun unabhängig, als Privatgelehrter verbringen konnte. Auf ein besoldetes Amt, etwa eine Professur in Heidelberg, zu der ihn der zu seiner Zeit ebenfalls sehr geschätzte Sozialwissenschaftler und Nationalökonom Alfred Weber, der Bruder des großen Soziologen Max Weber, überreden wollte, konnte er folglich gut verzichten. Noch in Wien und noch als Student hatte Erich von Kahler 1912 die ebenso kluge wie modern denkende Josefine Sóbotka, die in Heidelberg Medizin studierte, geehelicht. Die Verbindung der beiden war jedoch schon nach wenigen Jahren so sehr von den Gegensätzlichkeiten ihrer Charaktere und ihrer Interessen belastet – die Folge waren permanente, nicht mehr auszuhaltende Konflikte und Krisen –, dass man sich nach langen Ehejahren, in denen man sich immer fremder wurde, 1940 endlich zu einer Trennung entschied. In den Gemeinderegistern von Wolfratshausen waren die Eheleute Kahler seit 1914 als Einwohner und seit 1916 als Eigentümer von Haus St. Georg notiert. In der Zurückgezogenheit seines Bergwaldrefugiums konnte der in seinem Wesen als freundlich reserviert geschilderte Erich von Kahler die Endphase des Ersten Weltkriegs und anschließend die Epoche der Weimarer Republik bis zum Beginn der NS-Diktatur (1933) ganz ruhig und wohl sehr unbehelligt von den heftigen Turbulenzen in München, zum Beispiel dem Sturz der bayerischen Monarchie, der kommunistischen Räteregierung oder dem Hitler-Putsch, verbringen. Die größten politischen Erschütterungen nahm der Privatier Kahler höchstens aus der Ferne wahr. Denn als sich in der Hauptstadt die dramatischen Ereignisse abspielten, wirkte das stille, gastfreundliche Haus Kahler zur selben Zeit als eine Stätte effektivster geistiger und wissenschaftlicher Arbeit. Es wurde zu einem Ort der leidenschaftlichen Dispute und eines höchst intensiven Gedankenaustausches, etwa zwischen den Kahlers und dem Soziologenpaar Max und Alfred Weber. von 1 4

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Bürgertum und Boheme Die Wolfratshauser Bergwaldvillen und ihre Bewohner

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Am Burgholz 2

ERICH VON KAHLER UND DAS HAUS ST. GEORG

Unter den Villen im Wolfratshauser Bergwald war das Haus St. Georg, das der heute eigentlich nur noch in Wissenschaftskreisen bekannte Erich von Kahler 1916 erworben hatte, wie wohl kein anderes über eineinhalb Jahrzehnte lang ein Zentrum höchsten geistigen Lebens und einer sehr regen wissenschaftlichen Arbeit. Der Eigentümer der Villa, Erich von Kahler, 1885 in Prag geboren und aus einer recht begüterten, auch bildungs- und kulturbeflissenen jüdischen Industriellenfamilie stammend, hatte nach seinem Studium der Geschichte, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Wien aus seinem Elternhaus so viel Vermögen mitgebracht, dass er sein Leben hier am Ort, finanziell nun unabhängig, als Privatgelehrter verbringen konnte. Auf ein besoldetes Amt, etwa eine Professur in Heidelberg, zu der ihn der zu seiner Zeit ebenfalls sehr geschätzte Sozialwissenschaftler und Nationalökonom Alfred Weber, der Bruder des großen Soziologen Max Weber, überreden wollte, konnte er folglich gut verzichten.

Noch in Wien und noch als Student hatte Erich von Kahler 1912 die ebenso kluge wie modern denkende Josefine Sóbotka, die in Heidelberg Medizin studierte, geehelicht. Die Verbindung der beiden war jedoch schon nach wenigen Jahren so sehr von den Gegensätzlichkeiten ihrer Charaktere und ihrer Interessen belastet – die Folge waren permanente, nicht mehr auszuhaltende Konflikte und Krisen –, dass man sich nach langen Ehejahren, in denen man sich immer fremder wurde, 1940 endlich zu einer Trennung entschied.

In den Gemeinderegistern von Wolfratshausen waren die Eheleute Kahler seit 1914 als Einwohner und seit 1916 als Eigentümer von Haus St. Georg notiert. In der Zurückgezogenheit seines Bergwaldrefugiums konnte der in seinem Wesen als freundlich reserviert geschilderte Erich von Kahler die Endphase des Ersten Weltkriegs und anschließend die Epoche der Weimarer Republik bis zum Beginn der NS-Diktatur (1933) ganz ruhig und wohl sehr unbehelligt von den heftigen Turbulenzen in München, zum Beispiel dem Sturz der bayerischen Monarchie, der kommunistischen Räteregierung oder dem Hitler-Putsch, verbringen. Die größten politischen Erschütterungen nahm der Privatier Kahler höchstens aus der Ferne wahr.

Denn als sich in der Hauptstadt die dramatischen Ereignisse abspielten, wirkte das stille, gastfreundliche Haus Kahler zur selben Zeit als eine Stätte effektivster geistiger und wissenschaftlicher Arbeit. Es wurde zu einem Ort der leidenschaftlichen Dispute und eines höchst intensiven Gedankenaustausches, etwa zwischen den Kahlers und dem Soziologenpaar Max und Alfred Weber.

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Bürgertum und Boheme Die Wolfratshauser Bergwaldvillen und ihre Bewohner

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Auch dass oftmals recht illustre Gäste in der Villa ein und aus gingen, wie zum Beispiel der Dichterfürst George mit seinen Jüngern Gundolf und Wolfskehl – insbesondere Kahlers Frau hatte sich stark verbunden gefühlt mit diesem esoterischen Kreis – oder ein D.H. Lawrence, der Autor der damals einen ziemlichen Eklat auslösenden „Lady Chatterley“, dass all diese Dichtergrößen, auch Rilke und Hugo von Hofmannsthal wären noch zu nennen, zu Kahlers Gästen, zu seinen Freunden und langjährigen Briefpartnern zählten, das wird den meisten Wolfratshausern damals sicherlich verborgen geblieben sein.

Umbauplan von Haus St. Georg 1916

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Selbst mit Thomas Mann, der 1924 seinen „Zauberberg“ herausgebracht und 1929 für seine „Buddenbrooks“ den Literaturnobelpreis erhalten hatte, stand Erich von Kahler schon in seiner Wolfratshauser Zeit in persönlich engem Kontakt. Die feste freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden blieb bestehen, im Kern unbeschadet von ein paar Eintrübungen, bis 1955, dem Todesjahr Thomas Manns.

In seinem Bergwaldidyll in Wolfratshausen schrieb Kahler sein erstes bedeutsames Buch, „Das Geschlecht Habsburg“ (1918), eine große philosophisch-historische Darstellung des österreichischen Kaiserhauses. Diesem epochalen Werk folgte 1920 die Schrift „Der Beruf des Wissenschaftlers“, in der sich der Verfasser mit den in seinen Augen nur geistige Öde hinterlassenden materialistischen Folgen des letzten Jahrhunderts und den Schreckensbildern des eben zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs auseinander setzte. Woraus er denn auch die Verpflichtung ableitete für sein Bestreben, die Wissenschaften ethisch neu zu definieren und pragmatischer auszurichten. Diesen auf großes öffentliches Interesse stoßenden Publikationen sollten später, nachdem seine Wolfratshauser Villa, seine umfangreiche private Bibliothek und das gesamte Inventar nach Hitlers Machtergreifung 1933 von der Bayerischen Politischen Polizei beschlagnahmt und sein Haus St. Georg im Jahr 1936 höchst wohlfeil an einen mit dem Nazi-Regime offenkundig verstrickten Wolfratshauser Notar veräußert worden war, weitere in der Fachwelt viel beachtete Werke folgen: 1933 wurde in München noch kurz vor dem Publikationsverbot für jüdische Schriftsteller Kahlers historische religionsphilosophische Schrift „Israel unter den Völkern“ gedruckt – und sofort von der NS-Zensur zur Einstampfung befohlen.

Der immer schlimmere Formen annehmenden Hetze gegen die Juden und ihrer zunehmenden Gefährdung von Leib und Leben konnten sich die Eheleute Kahler im März 1933 gerade noch entziehen, zuerst durch einen kurzen Aufenthalt bei Verwandten in Wien, dann durch ein sechsjähriges Asyl in der Schweiz und schließlich, als auch das Schweizer Exil 1939 nicht mehr ganz sicher war, durch die Emigration in die USA. Dort im kalifornischen Princeton, wo ihm mit Thomas Manns Hilfe eine Professur angetragen wurde, fand Erich von Kahler zusammen mit den fast zur gleichen Zeit aus der Schweiz ausgereisten Manns und in der Nachbarschaft mit dem ebenfalls aus der Nazi-Diktatur geflohenen Einstein, endlich eine Bleibe, bis zu seinem Tod in den USA im Jahr 1970. In Amerika teilte Erich von Kahler das bedrückende Los von beinahe jedem Exilanten; als wissenschaftlicher Autor und Mensch durchlitt er nun in der zweiten Hälfte seines Lebens das Schicksal der meisten vom NS-Regime Verfolgten.

Alle waren sie, viele gleichsam über Nacht und oft unter den furchtbarsten Begleitumständen, zu Vertriebenen geworden. Sie waren zur Flucht gezwungen worden von einem Staat und aus einem Land, das einstmals ihre seelische, geistige und sprachliche Heimat gewesen war. „Fremde Heimat“ titelte daher auch der Kahler-Biograf Gerhard Lauer sein Kapitel über die amerikanischen Jahre des aus Deutschland vertriebenen Erich von Kahler.

Aus der Fülle der Veröffentlichungen Kahlers, die außerhalb Deutschlands entstanden, seien hier nur noch zwei seiner wichtigsten Werke aufgeführt: „Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas“ (Zürich 1937) – die ersten Studien zu diesem Opus hatte der Schriftsteller noch in Wolfratshausen betrieben – und die bereits für den englischsprachigen Adressatenkreis verfasste Schrift „Man the Measure“ (New York 1943).

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Doch noch einmal zurück zu dem Ort, wo Kahler seine erste wissenschaftlich bedeutsame Lebensphase verbrachte. Es wurde schon erwähnt: Seit 1916 nahmen Erich und Josefine von Kahler, um der bayerischen Kulturmetropole möglichst nahe zu sein, in Wolfratshausen im reizenden Isartal, auch durch die neue Eisenbahn nunmehr gut zu erreichen, ihren Wohnsitz. Nach längerem Suchen entschieden sie sich für das ehemalige Bergerhaus, das 1894 von dem sicher über beträchtliche Finanzmittel verfügenden Maurer Kammerer für die Summe von 7.700 RM erbaut worden war. Das in bester Wolfratshauser Wohnlage errichtete Anwesen hatte in den rund zwei Jahrzehnten seines Bestehens, ehe es die Eheleute Kahler von einem Münchner Hotelsekretär 1916 für 26.800 RM kauften und ihr Haus in „St. Georg“ umbenannten, fast ein Dutzend Vorbesitzer gehabt. Sozial gesehen waren diese fast alle wohlhabende Wolfratshauser Handwerker oder Münchner Kaufleute gewesen. Das Haus, das die Kahlers bezogen, war in einem repräsentativen Landhausstil errichtet worden.

Es war nach oben zum Bergwald hin von amphitheaterähnlichen Obst- und Gemüse-anlagen und am Hang unterhalb von einem prächtigen Rosengarten gesäumt und trug die damalige Hausnummer 131 ½. An der Stelle des einstigen Anwesens steht seit 1995 „Am Burgholz 2“, wie die jetzige Adresse lautet, ein mit der ursprünglichen Villa in der Architektur und im Stil fast identischer Neubau.

Doch weder an dieser seiner ehemaligen Wohnstätte noch sonstwo in Wolfratshausen erinnert heute an Erich von Kahler, den zu seiner Zeit so bekannten wie anerkannten Gelehrten, der einmal zur geistigen und wissenschaftlichen Elite in Deutschland und weit darüber hinaus gehörte, irgendeine Gedenktafel.

Gerhard Hämmerling

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Diese PDF-Datei ist Teil der Nachschrift des 2005 erschienenen und inzwischen vergriffenen Buches

„Bürgertum und Boheme – Die Wolfratshauser Bergwaldvillen und ihre Bewohner“ und Bestandteil der Website www.histvereinwor.de. Bei Zitaten daraus bitte immer diese Quelle nennen.

2021/01/avk

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