amazonen zwischen griechen und skythen

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  • Amazonen zwischen Griechen und Skythen

  • Beitrge zur Altertumskunde

    Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall, Ludwig Koenen und Clemens Zintzen

    Band 310

  • Amazonen zwischen Griechen und Skythen

    Gegenbilder in Mythos und Geschichte

    Herausgegeben von Charlotte Schubert und Alexander Wei

  • Gedruckt mit Untersttzung der Deutschen ForschungsgemeinschaftSonderforschungsbereich 586 Differenz und Integration Teilprojekt E7 Antikes Nomadenbild Antike Nomadenbilder

    ISBN 978-3-11-028609-0e-ISBN 978-3-11-028616-8ISSN 1616-0452

    Library of Congress Cataloging-in-Publication DataA CIP catalog record for this book has been applied for atthe Library of Congress.

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.dnb.de abrufbar.

    2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/BostonDruck und Bindung: Hubert&Co. GmbH & Co. KG, Gttingen Gedruckt auf surefreiem PapierPrinted in Germany

    www.degruyter.com

  • Inhalt

    Einleitung 1

    I Bipolaritt als Mythos und Funktion

    Michaela RckerNomaden als das ganz Andere? 13

    Christine TaubeLiterarische Amazonenbilder der Antike 39

    Hildegard FrbisDie Amazonen in der Neuen WeltDie visuelle Reprsentation des kulturell Anderen im Mittelalter und der FrhenNeuzeit 57

    II Geschlechterdiskurs, Kontakt und Austausch

    Askold IvantchikAmazonen, Skythen und Sauromaten: Alte und moderne Mythen 73

    Charlotte SchubertAmazonen und TransvestitenZur Konstruktion von Mythen, Riten und Krankheiten 89

    Claudia TierschVon den Grnden, eine Amazone zu besiegen Bezhmung des gefahrvollWeiblichen? 111

    Alexander WeiPerpetua als Anti-Amazone 137

  • III Bilddiskurse Offenheit und Unschrfe

    Anton Bammer und Ulrike MussStratigraphie und Kontext der Funde im sog. Tierstil aus dem Artemision vonEphesos 153

    Wolfram MartiniDie visuelle Prsenz der Amazonen in Athen im 6. und 5. Jh. v. Chr. 171

    Jochen Fornasier unter Mitarbeit von Jana Nathalie BurgDer Amazonenmythos in der Kunst griechischer Schwarzmeerstdte 185

    Martin LangnerAmazonen auf Kertscher VasenWechselnde Blickwinkel auf ein populres Bildmotiv 221

    Robert FleischerDie Amazonen und das Asyl des Artemisions von Ephesos 259

    Stellenregister 265Ortsregister 273Sachregister 275Abbildungsnachweise 279

    Tafelanhang

    VI Inhalt

  • Einleitung

    Die Faszination, die die Amazonen ausben, ist ein zeitstabiles Phnomen.Ausstellungen und Publikationen bezeugen dies reichlich. Mit dem antikenEphesos und dem Artemision sind die Amazonen eng verbunden und so war esnaheliegend, an diesem durch den genius loci inspirierten Ort vom 27.9. bis zum 1.10. 2011 eine internationale Tagung einzuberufen, die in den gastlichen Rumender Crisler Library Ephesos in Seluk (Trkei) stattfand. Veranstaltet wurde dieTagung vom Teilprojekt E7 des Sonderforschungsbereichs 586 Differenz undIntegration. Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebens-formen in Zivilisationen der alten Welt. Dieses Projekt hat sich im Rahmen derSFB-Forschungen mit der literarischen Darstellung des antiken Nomadenbildesbeschftigt. In der Regel ist die altertumswissenschaftliche Forschung, die dasThema der Nomaden (z.B. Skythen) in der antiken Literatur aufgreift, bisher vonder Annahme geprgt, dass die antike Literatur hier vorzugsweise Stereotypenund Topoi verwende, und unterscheidet selten zwischen Barbaren und Nomaden,so dass letztere immer unter dem u.E. viel engeren und historisch ganz anderskonnotierten Begriff Barbaren subsumiert werden. Nomadismus beschreibt so-wohl ein historisches Phnomen als auch ein Phnomen der Wahrnehmung undKonstruktion. Beschreibungen von Nomaden begegnen in der antiken Literaturseit Homer und sind einerseits beeinflusst von Kontakten, Austausch und Kriegenmit Nomaden in den Regionen des Donau-Schwarzmeerraums, Nordafrikas unddes syrisch-arabischen Raums. Andererseits vermischen sich Selbst- undFremdbildkonstruktionen mit dem Barbarenbild und je nach regionalem undhistorischem Kontext reprsentieren sie sowohl idealisierte als auch ablehnend-kritische Vorstellungen von Nomaden.

    Das Bild der Amazonen weist auf die gleiche Gegensatzstruktur hin und hatauch weitere Verbindungen mit dem Nomadenbild, die in den Vortrgen der Ta-gung thematisiert und analysiert wurden. Die Amazonen sind quer durch alleEpochen und Gattungen der Antike paradigmatisch im Hinblick auf die Repr-sentationvonGegenbildern. Dies umfasst sowohl die Thematik des SFB (Nomadenund Sesshafte) als auch Gender- und Methodenfragen.

    1 Ausgewhlte Verffentlichungen des Projektes: A. Gerstacker/A. Kuhnert/F. Oldemeier (Hgg.),Die Skythen. Ein lateinisches Quellenbuch (erscheint Berlin 2013); R. Kath/M. Rcker (Hgg.), DieGeburt der griechischen Weisheit oder: Anacharsis, Skythe und Grieche (Halle/S. 2012); M.Rcker/Ch. Taube (Hgg.), Wandern, weiden, Welt erkunden. Das Nomadenbild in der griechi-schen Literatur (in Vorb.); Ch. Schubert, Anacharsis der Weise. Skythe, Nomade, Grieche (T-bingen 2010); A. Wei (Hg.), Der imaginierte Nomade. Formel und Realittsbezug bei antiken,mittelalterlichen und arabischen Autoren (Wiesbaden 2007).

  • So stellen die Amazonen einen Gegenpol zur traditionellen griechischenWelt,aber auch zu derWelt der Skythen dar. Dies kann sowohl anhand der literarischenberlieferung als auch anhand der bildlichen Zeugnisse besprochen werden.Darber hinaus sind sie ein weiterer Gegenpol in der griechischen Welt selbst:Einerseits als Gegner der bekannten Heroen und andererseits als Erscheinung desganz Anderen im gngigen antiken Geschlechterverhltnis. In den Untersu-chungen zu dem Verhltnis von Sesshaften und Nomaden spielten die Amazonenbisher kaum eine Rolle. So bleibt trotz der prominenten Ausstellungen auch zuuntersuchen,wie die Konzepte Fremd, Anders oder ganz Anders in der besonderenSpannung zwischen den sesshaften Griechen und den oft als Nomaden charak-terisierten Amazonen verarbeitet wurden.

    Von dieser der Thematik des SFB verpflichteten Ausgangsposition herkom-mend, widmen sich die hier versammelten Beitrge sowohl den literarischen,bildlichen als auch lokalen Traditionen der antiken Amazonendarstellungen.Regionale, chronologische und historische Kontexte ganz unterschiedlicher Artwerden behandelt: Als regionale Zentren stehen Ephesos, Athen und dieSchwarzmeerregion im Vordergrund, der historische Bogen spannt sich vom7. Jahrhundert v. Chr. mit den Kimmeriereinfllen ber das 6. Jahrhundert, demBeginn der nachweislich ersten Amazonomachien in der Kunst, der Epoche derattischen Demokratie im 5. und 4. Jahrhundert bis in den Hellenismus und dieKaiserzeit.

    Die Vielfalt der dabei behandelten Aspekte, die Polyvalenz des Amazonen-bildes je nach Epoche, Region,Gattung und vor allem je nach Diskurskontext lsstsich in einer synoptischen Einfhrung kaum zusammenfassen. Trotzdem sei hierder Versuch gewagt, die Beitrge nicht nur in ihren spezifischen Inhalten zucharakterisieren, sondern sie auch einigen Schwerpunkten der Diskussion zu-zuordnen so wie sie sich im Verlauf der Tagung ergeben haben.

    So zeigte sich einerseits deutlich, wie Bipolaritt als Mythos und Fiktioncharakteristische Elemente des Amazonenmythos vom Beginn seines Auftretensin der griechischen Literatur gewesen sind, andererseits dies auchmit der Spezifikdes Geschlechterdiskurses verbunden wurde. Dieser Thematik haben sich ins-besondere die Beitrge von M. Rcker, C. Taube, C. Tiersch und H. Frbis gewid-met, so dass wir sie in der ersten Abteilung zusammengefasst haben:

    Der Beitrag Nomaden als das ganz Andere? von Michaela Rcker erluterteanhand von drei ausgewhlten Beispielen die Bipolaritten von eigen-fremd,sesshaft-nomadisch und Realitt-Fiktion. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt,inwieweit antike Autoren Kontrast und Gegenstzlichkeit benutzen, um das Ei-gene zu betonen und welchen Einfluss die Faszination fr das Wunderliche aufdie Beschreibungen hatte. Die Beispiele illustrierten die Darstellung einiger no-madischer Vlker, in deren Beschreibungen sich Vorstellungen von Randvlkern

    2 Einleitung

  • und andersartiger Lebensweise vermischten. Stmme wie die Blemmyer, beiStrabon noch Nomaden in thiopien, werden bei Pomponius Mela und vor allemPlinius zu kopflosen Gestalten, die Augen und Mund auf der Brust tragen. DurchIsidor von Sevilla tradiert wird die Beschreibung des Plinius von mittelalterlichenAutoren wie John Mandeville, Sebastian Mnster und Hartmann Schedel ber-nommen. Der Vortrag sollte verdeutlichen, dass sich nicht hinter jedem fantas-tischen Volk eine real existierende Ethnie verbirgt, sich aber in den Quellen realeNamen und wunderliche Vorstellungen vermischen knnen.

    Christine Taube zeigt in ihrem Beitrag Amazonen Das zweifach Andere? wieder antike Amazonenmythos in eine Reihe teils widersprchlicher Motive zerfllt.Dies erweist sich nicht nur an den stdte- und heiligtumsgrndenden AmazonenIoniens einerseits und den kriegerischen Frauen der Attischen Amazonomachieandererseits, sondern beispielsweise auch an verschiedenen antiken Etymologiendes Namens Amazones. Einmal wird das Fehlen der rechten Brust, die zurbesseren Kampffhrung weggebrannt wurde, betont. Dann wird ihr kriegerischesWesen unterstrichen, indem man an die bekannte Sage von Herakles, der auszogder Amazonenknigin ihren (Waffen)Grtel zu rauben, erinnerte. In einer wei-teren Etymologie werden sie ber ihre ungewhnliche Ernhrungsweise (ohneGetreide und Brot, viel Fleisch) in die Nhe der Nomaden und damit in die Zoneeines vollstndig anderen Lebensstils gerckt. Dort werden sie zudem ber ihrbesonderes Gemeinwesen verortet, in dem sie (grtenteils) ohne Mnner aus-kommen, alle Staatsgeschfte und Kriege selbst fhren und keinen klassischenPrivathaushalt mit seinen Familienangehrigen kennen. Jedoch gibt es in denantiken Berichten immer wieder Darstellungen, in denen sich das Verhalten derAmazonen doch nicht gnzlich von der zivilisierten Lebensfhrung und Rol-lenverteilung unterscheidet. So werden die Amazonen grundstzlich als schnund begehrenswert beschrieben,mehrere griechischeHeldenverfallen ihnen.Undauch die Amazonen gebren und werden Mtter. Die Amazonen sind fremde,kriegerische Frauen aber nicht ausschlielich.

    Der antike Mythos der Amazone lebte weiter bzw. wurde wiederbelebt in dervisuellen Reprsentation der EntdeckungAmerikas zu Beginn der FrhenNeuzeit,wie Hildegard Frbis eindrucksvoll in ihrem Beitrag Die Amazonen in Amerika Mythen, Legenden und Bilder belegt. Die Figur der Amazone wurde im Kontexteines ganzen Repertoires von Figuren und Vorstellungen betrachtet, die alsgeographische Mythen zu bezeichnen sind und zu denen sowohl die Amazone,wie auch die Fabel- und Wunderwesen (Blemmyer, Akephale oder Kynokephalen)zhlen, die durch das christliche Mittelalter tradiert und in der Entdeckungszeitwiederbelebt wurden. Die Renaissance der antiken Mythen ber die Bewohnerfremder Lnder, ihrer Sitten und Gebruche waren ein charakteristischesMerkmalder visuellen wie literarischen Narration der Entdeckungsgeschichte Amerikas.

    Einleitung 3

  • Betont wurde dabei das Neu und Alt kombinierende Vorgehen von Bild undText: Einerseits sind die Bilder geographische Darstellungen der kolonialenWirklichkeit und andererseits sind sie bertragungen des mythischen WissensEuropas auf die fremdeWirklichkeit Amerikas. Als ein charakteristischesMerkmaldes Mythos der Amazone wurde das Prinzip der rumlichen Wanderung her-ausgestellt: In Antike wie Frher Neuzeit ist die Amazone eine Figur, die mit derVerschiebung der geographischen oder territorialen Grenzen der bekannten Weltweiter wandert und mit den neuen (Grenz) Regionen identifiziert wird. Die Bilderinkorporieren hierbei das Fremde in das Eigene. Die neu entstehenden Bildergestalten so einen Prozess der Angleichung und Assimilierung des Unbekanntenund Fremden an das Bekannte was zu neuen, hybriden Formationen fhrt wiebeispielsweise in der allegorischen Darstellungsweise Amerikas.

    Gegenber dem thematischen Fokus der Bipolaritt hat das Amazonenthemajedoch auch charakteristische Elemente, die auf den Kontakt, den Austausch undwiederum auch im Zusammenhang des Diskurses ber Geschlecht und das Ver-hltnis der Geschlechter auf ungewhnliche Verarbeitungsprozesse hinweisen,die hier in der zweiten Abteilung in den Beitrgen von A. Ivantchik, Ch. Schubertund A.Wei behandelt werden:

    Askold Ivantchik betont in seinem Beitrag Amazonen, Skythen und Sauro-maten: Alte und moderne Mythen, dass neben mythischen Erzhlungen ber dieAmazonen schon in der Antike und dann ebenso in der modernen Wissen-schaftsgeschichte Mythen entstanden sind, die durch methodisch fehlerhafteInterpretationen literarischer und archologischer Quellen hervorgerufen wur-den. So ist das bei Homer denAmazonen beigefgte Epitheton antianeirai, nicht sozu verstehen, dass die Amazonen eine Gegenwelt zur mnnerdominierten grie-chischen Gesellschaft bilden wrden, sondern analog zu hnlichen epischenWortbildungen ist das Kompositum mit mnnergleich zu bersetzen. Die Verbin-dung der Amazonen mit den Skythen und Sauromaten ist jnger als der Ama-zonenmythos selbst, wie sich aus den Homerischen Epen zeigen lsst.

    Im Hinblick auf die Rolle der Skythen und Sauromaten in der spteren Ent-wicklung des Amazonenmythos haben insbesondere mehrere Nekropolen undKurgane, die im Gebiet des Don in jngster Zeit ergraben worden sind undFrauengrber mit Waffenbeigaben enthalten, eine Rolle gespielt. Diese sind vorallemvon Jeannine Davis-Kimball als archologische Zeugnisse fr Kriegerfrauen,mithin als Hinweis auf einen mglichen historischen Kern der Amazonen-Mythengedeutet worden. Eine exakte Auswertung der Funde aus den Nekropolen zeigtallerdings, dass sich dort sowohl Mnner- als auch Frauenbestattungen befindenund unter den Bestattungen mit Waffenbeigaben machen die Frauengrber nuretwa ein Fnftel aus. Die Waffenbeigaben in Frauengrbern knnten also auflokale Gebruche, wahrscheinlich aber auch nur in Extremsituationen, zurck-

    4 Einleitung

  • zufhren sein und es ist methodisch fragwrdig, sie mit Kriegerfrauen oder gardem mythischen Volk der Amazonen in Verbindung zu bringen. Zu vermuten istdaher, dass es bei den Skythen, abermehr noch bei den Sauromaten, aufgrund derzahlreichen militrischen Auseinandersetzungen zu einer zunehmenden Milita-risierung gekommen ist, in deren Kontext in Ausnahmesituationen auch Frauenan den Kmpfen beteiligt waren. Nachrichten darber knnen ber die Skythen,die Nachbarn der Griechen im pontischen Raum, im griechischen Bereich bekanntund in den eigenen Mythos integriert worden sein.

    In ihrem Beitrag Amazonen und Transvestiten Zur Konstruktion von Mythen,Riten und Krankheiten zeigt Charlotte Schubert, dass sich die frhesten Amazo-nenbeschreibungen in einem nicht-poetischen Kontext bei Herodot und demmedizinischen Autor der dem Corpus Hippocraticum zugerechneten Schrift Deaeribus finden. Beide Autoren setzen ein Volk der Amazonen in den Kontext ihrerBeschreibung skythischer Nomaden. Ihnen geht es dabei um ein Verstehenfremder Kulturen. Das Verstehen des Fremden wird durch ein epistemischesModell ermglicht, das Fremdes, Anderes, Unverstndliches konzeptionalisiert.Beide gehen dabei sehr unterschiedlich vor: Sie beschreiben ein wechselseitigesVerhltnis zwischen Mann und Frau am Beispiel der Amazonen bzw. ein wech-selseitiges Verhltnis zwischen Griechen und skythischen Nomaden. Das Ver-hltnis wird aber nicht asymmetrisch oder symmetrisch gedacht, sondern es wirdanhand von Grenzberschreitungen erlutert, im Fall der weiblichen Amazonenmit mnnlichen Verhaltensweisen und im Fall der mnnlichen Anaries/Enarer beiHerodot mit der Bezeichnung als androgynoi und in De aeribus mit eunuchen-hnlich. Dies fhrt zu einer Verunklarung der blichen, geschlechtlichen Veror-tung. Der Autor von De aeribus legt ein geographisch-klimatisches Modell zu-grunde, innerhalb dessen er eine mnnlich-weibliche Taxonomie aufstellt, diezum einen das Kauterisieren der weiblichen Brust, zum anderen den Verlust derZeugungsfhigkeit als physiologisches Merkmal einer anderen als der blichengeschlechtlichen Identitt deutet. Damit werden kulturelle Unterschiede, die derAutor ja durchaus kennt und bercksichtigt, in den Rang von Naturordnungengehoben. Herodot hingegen deutet die kulturellen Unterschiede historisch undpolitisch. Die Skythen knnten sich einerseits jedem Feind entziehen und lieenandererseits niemanden entkommen. Dies habe seine Grnde in der nomadischenLebensweise ohne Stdte, ohne Mauern, ohne Ackerbau, aber mit berittenenBogenschtzen und bodenvagen Behausungen und Viehzucht. Die Skythen seiendie Entdecker bzw. Erfinder dieser Lebensweise, d.h. die Einfhrung wird alsAusdruck einer selbstbestimmenden, verantwortlichen Handlung betrachtet. DasWechseln der geschlechtlichen Identitt dient beiden Autoren als entscheidendesDarstellungsmerkmal des Anderen. Als Grundberzeugung beider Autoren ergibt

    Einleitung 5

  • sich, dass sie keine unvernderliche, menschliche Natur in einer biologischfestgelegten Geschlechtlichkeit voraussetzen.

    Der Beitrag von Claudia Tiersch Von den Motiven, eine Amazone zu besiegen Bezhmung des gefahrvoll Weiblichen widmet sich der Bedeutung des Amazo-nenmythos fr den griechischen Geschlechterdiskurs. Obwohl auer Frage steht,dass Amazonen in den griechischen Mythenerzhlungen als gleichwertige Kon-kurrentinnen und prestigesteigernde Gegner von Heroen wie Achilles oder Hektorwahrgenommen wurden, zeigte sich doch, dass deren Bedeutung fr reale Dis-kurse ber weibliche Identitten gering blieb. Die Ursache hierfr war, dassAmazonen trotz ihrer weiblichen Identitt eher als auerweltliche Heroinenwahrgenommen wurden. Diskurse ber weibliche Geschlechterrollen vollzogensich eher ber die groen Frauengestalten des griechischen Mythos wie Medea,Antigone oder Klytaimnestra, nicht jedoch ber die Amazonen.

    AlexanderWeiwidmet sich in seinem Beitrag Perpetua als Anti-Amazone derFigur der christlichen Mrtyrerin Perpetua. Hingerichtet etwa im Jahre 203 in derrmischen Provinz Africa, hat sie ber ihre Zeit im Gefngnis bis zur Hinrichtungeine Art Tagebuch verfasst. Darin erzhlt sie unter anderem von vier Visionen,wohl literarisch stilisierte Traumschilderungen. Die vierte und letzte Visionhandelt von ihrem Kampf in der Arena gegen einen gypter, der den Teufelsymbolisiert. In der bisherigen Diskussion um diese Vision wurde nie berck-sichtigt, dass Auftritte von Gladiatorinnen und Amazonen in der Arena zumAlltag von Gladiatorenspielen gehrten. Perpetua musste davon gewusst haben.In ihrer Vision scheint sie ein christliches Gegenbild zu den Amazonen in derArena zu entwerfen: Ihr htte ohne weiteres die Mglichkeit zur Verfgung ge-standen, sich als Amazone, die den Teufel eigenhndig besiegt, zu stilisieren. Siewhlt jedoch einen anderen Weg. Sie verwandelt sich in der Arena in einemnnliche Figur. Allerdings behalten smtliche Pronomina in der vierten Visiondas grammatische Femininum. Diese uerlich mnnliche, innerlich weiblicheGestalt ist so stark mit Christus-Symbolen aufgeladen, dass die Vision als Ver-sinnbildlichung der neutestamentlichen Formel in Christus verstanden werdenmuss: Perpetua berwindet den geistlichen Kampf des Glubigen gegen denTeufel in Christus und nicht als Amazone.

    Augenfllig wurde whrend der gesamten Tagung, dass Bild- und Textdiskursin der Antike deutlich auseinander treten: Ausgehend von dem Fokus Ephesos mitdem Artemision, das nach antiken berlieferungen von Amazonen gegrndetworden sein soll, ebenso aber auch ablesbar an der bildlichen Darstellung derAmazonomachie sowie den Amazonenikonographien im Schwarzmeergebietzeigen sich darin einerseits Offenheit und Unschrfe, die den auch hier deutlichzutage tretenden Aspekt von Austausch und kultureller Diffusion ermglichen,andererseits aber im Gegensatz zu den Texten die krperliche Unversehrtheit

    6 Einleitung

  • betonen. Diese Offenheit der Amazonendarstellungen in vllig unterschiedlichen,regionalen Foci lsst sich als gemeinsamer Aspekt der Beitrge in der drittenAbteilung von A. Bammer/U. Muss,W. Martini, J. Fornasier/J. N. Burg, M. Langnerund R. Fleischer herausstellen.

    Anton Bammer und Ulrike Muss verweisen in ihrem Aufsatz Tierstil undKontext im Artemision von Ephesos auf die Singularitt von vier aus dem Ar-temision stammenden Elfenbeinobjekten im sog. Tierstil mit Motiven der Stepp-enkunst. Diese Objekte stammen von drei verschiedenen Fundpltzen im Ar-temision: Von der sog. Kultbasis C (2 Objekte), von einer Basis sdlich des sog.Hekatompedos (1 Objekt) sowie von der sog. nrdlichen Kultbasis D, die sich unterdem Fundament des archaischen Tempels befindet (1 Objekt). Zwei Darstellungenwurden whrend der Grabungen von D. G. Hogarth 1904/05 gefunden: eineWildziege und ein Eber. Aus den sterreichischen Grabungen stammen einWiddersowie eine weitere Wildziege. Die Objekte haben eine identische Funktion undsind als Teile von Riemenkreuzungen beim Pferdezaumzeug zu interpretieren. Derstratigraphische Kontext weist fr ihre Datierung in das 3.Viertel des 7. Jh.s v. Chr.Ihre Vergesellschaftung mit anderen Votiven und Tierknochen lassen Rck-schlsse auf dieWeihenden zu. Die Objekte knnen als materielle Belege fr sonstausschlielich historisch berlieferte Kontakte mit den Kimmeriern in Ephesosgelten.

    Das zeitgleiche Einsetzen der Amazonomachie mit den anderen mythischenMachien wie der Kentauromachie oder der Gigantomachie, aber auch der Ho-plomachie gegen 570 v. Chr. in den Vasenbildern legt fr Wolfram Martini inseinemBeitragDie visuelle Prsenz der Amazonen in Athen im 6. und 5. Jh. v. Chr.dieVermutung nahe, dass ihr Auftreten nicht auf ein spezifisches Interesse an denAmazonen, sondern auf ein allgemeines Interesse an dem Kampf mit realen undmythischen Feinden zurckzufhren ist. Im hochklassischen Athen zeigen dasBild Athenas und das der Amazonen zwei vllig gegenstzliche Entwrfe vonWeiblichkeit, die im Gtterbild durch die wehrhafte Athena und die erotischkonnotierte Aphrodite reprsentiert werden. Mit der bildlichen Annherung derAmazonen an Aphrodite kontrastieren die Wunde unter dem erhobenen Arm unddie ermattete Haltung, die sie als Besiegte kennzeichnen. Wie diese Verbindungvon Eros und gebrochener Wehrhaftigkeit zu interpretieren ist, muss zunchstoffen bleiben. Die gngige Tendenz der aktuellen (Gender)Forschung, die Ama-zonomachie als Kampf der Geschlechter zu deuten, erscheint allerdings nichtberzeugend. Die Amazonen sind offenbar Teil einer Gegenwelt, die den grie-chischen Kosmos bedroht und daher bekmpft werden muss. In weit hheremMae als die in ihrem Erscheinungsbild eindeutig als nichtmenschlich charak-terisierten Giganten oder Kentauren unterliegen die Amazonen dem Einfluss der

    Einleitung 7

  • sich wandelnden athenischen Wertvorstellungen zur gesellschaftlichen Funktionder feindlichen Gegenwelt.

    Im Gegensatz zur schriftlichen Tradition, die das sagenhafte Volk der Ama-zonen bereits frh und in zahlreichen Mythosvarianten im Schwarzmeergebietverortet hat, ist die archologische Evidenz quantitativ sehr bescheiden. DiesemAspekt gehen Jochen Fornasier und Jana Nathalie Burg nach (Der Amazonenmy-thos in der Kunst griechischer Schwarzmeerstdte). Der Groteil der erhaltenenAmazonendarstellungen aus den griechischen Kolonien und ihremUmfeld datiertzudem erst in sptklassische Zeit und ist auf den selten hochwertig gearbeitetenGefen des sog. Kertscher Stils wiedergegeben. Diese in Attika speziell fr denExport gearbeitete Keramik fandvor allem in der zweitenHlfte des 4. Jh.s v.Chr. ingroer Stckzahl ihren Weg in die Schwarzmeerregion und bediente formal wiethematisch die rtlichen Sehgewohnheiten.

    Die Amazonenikonographie, die u. a. auf diesem Weg Verbreitung im Pon-tosgebiet gefunden hat, eignete sich aber offensichtlich auch fr die bildlicheUmsetzung lokaler Wertvorstellungen im graeco-skythischen Umfeld. Der Rck-griff auf fest tradierte Bildchiffren ermglichte es dem griechischen, der eigent-lichen Thematik mglicherweise unkundigen Betrachter, das Dargestellte auf-grund einer gedanklichen Verbindung mit dem Amazonenmythos in seinerhochrangigen Aussagekraft zu erfassen, whrend der lokale Auftraggeber dieneuen gestalterischen Mglichkeiten fr die von ihm gewhlte Thematik aufgrundder Erweiterung des Motivschatzes sicher sehr zu schtzen wusste. Diese bewussterzielte Offenheit in den Bildwerken, die gerade hier an einer direkten Schnittstellezwischen der griechischen und der skythischen Kultur existierte, war aber nurmglich, weil die griechische Amazonenikonographie selbst ab dem 5. Jh. v. Chr.eine immer strker werdende Unschrfe offenbarte, die eine klare Unterschei-dung in Amazone, Skythe oder Perser vielfach nicht mehr beabsichtigte und dienur durch den jeweiligen Kontext eine spezifische Konnotation erfuhr. DieseOffenheit der Amazonenikonographie belegen fr die sptklassische Zeit die sog.Aquarellpeliken aus dem Bosporanischen Reich und das sog. Kampfrelief ausJubilejnoe. Die Leoxos-Stele aus Olbia verdeutlicht zudem, dass dieses Charak-teristikum bereits sptestens in frhklassischer Zeit einsetzte.

    Martin Langner beschftigt sich mit der Darstellung der Amazonen im Bos-poranischen Reich.Als Quelle fr die allgemeine, fr breite Bevlkerungsschichtenrelevante Bedeutung des Amazonenmythos bietet sich das figrlich bemalte Ta-felgeschirr aus Athen an, das zum einen fr die Athener selbst als Bildtrger beimSymposion die Gesprche der Gelageteilnehmer beeinflusste und das zum an-deren im nrdlichen Schwarzmeerraum eine beliebte Grabbeigabe darstellte.Whrend die Amazonen im 5. Jh. v. Chr. unter dem Einfluss der Perserkriege alsaggressive Gegner dargestellt werden, lokalisieren die Vasenbilder des 4. Jh.s sie in

    8 Einleitung

  • einer sagenhaften Umgebung, in der riesige Goldvorkommen existieren und Fa-beltiere hausen. Dabei entwickeln die Vasenmaler eine gemeinsame Bildformelfr die Bewohner am Rande der griechischen Welt, indem sie diese in ein ori-entalisch anmutendes Einheitskostm kleiden, und verstrken damit den exoti-schen Reiz dieser Bilder. Die politische BedeutungdesMythoswird nun zugunstenmrchenhafter Unterhaltungsgeschichten, in die sich auch erotische Kompo-nenten mischen, aufgegeben. Im Bosporanischen Reich, in direkter Nhe derReiternomaden, lassen die lokal produzierten Imitationen attischer ImportvasenRckschlsse auf die dortige Lesart zu. Auch hier waren die Bilder nicht geeignet,die Grzitt der ansssigen Griechen zu betonen. Die bosporanischen Mythen-bilder haben keinen erzhlenden Charakter, sondern die Figuren bringen losgelstvon einander bestimmte Eigenschaften zur Darstellung, eine Sichtweise, die diesemantische Offenheit der attischen Vasenbilder befrdert hatte.

    Robert Fleischer gibt in Die Amazonen und das Asyl des Artemisions vonEphesos eine bersicht der langen Geschichte des Artemis-Heiligtums vonEphesos, das vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr. als Asyl fungierte. Als Zu-sammenfassung seiner langjhrigen Forschungen konzentriert er sich hier auf dieVerbindung mit den Amazonen im Detail anhand von vier Monumenten: DerAmazonenfries, der am sog. Hadrianstempel angebracht war, ist nach Fleischertheodosianisch und in seinen Bezgen auf Androklos als den Ktistes von Ephesos,Herakles und die fliehenden Amazonen, den Rckzug der Amazonen aus Indienund ihre Niederlage in Ephesos als Hinweis auf einen paganen Polispatriotismusin Westkleinasien zu verstehen. Als zweites geht Fleischer auf die ephesischenAmazonen ein, deren Statuen nach dem Bericht des Plinius (n. h. 34,75) aus demWettstreit des Phidias, Polyklet und Kresilas hervorgegangen waren und nachPlinius in templo Dianae Ephesiae aufgestellt waren. Aus der Tatsache, dassPhidias trotz seiner Reputation nicht als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgingsowie aus dem Bildprogramm friedlicher, asylsuchender Amazonen leitet Flei-scher eine ephesische Lesart ab, die in klarem Gegensatz zu der attischen Ama-zonomachie steht. Als drittes bespricht er denGiebel des Artemisions, in demnachden Mnzdarstellungen ein Figurenschmuck mit einer Darstellung der gerettetenAmazonen angebracht war. Ulrike Muss wies whrend der Tagung mndlichdarauf hin, dass sich deren Hhe, ca. 3 m, aus den gefundenen Fragmenten re-konstruieren lsst. Als viertes geht Fleischer ausfhrlich auf das Kultbild derArtemis von Ephesos ein, von dem zwei rmische Kopien im Prytaneion vonEphesos gefunden wurden.Von den zahlreichen Attributen der Kultstatue weisen

    2 Ausfhrlich: Robert Fleischer, Die Amazonen und das Asyl des Artemisions von Ephesos,Jahrbuch des Deutschen Archologischen Instituts 117 (2002), 185216.

    Einleitung 9

  • vor allem die Wollbinden auf das Asyl hin. Darin muss auch die Verbindung zudemAmazonenmythos gelegen haben, die als Asylsuchende fr das Heiligtum derArtemis wohl seit dem 5. Jahrhundert zu wichtigen Reprsentationselementen desKultes wurden.

    Abschlieend lsst sich durchaus festhalten, dass die Forschung zur Ama-zonenthematik, trotz ihrer Allgegenwrtigkeit, im Hinblick auf ihr Verhltnis zumMythos und auch im Hinblick auf die erkennbaren Verarbeitungsprozesse in denverschiedensten historischen Kontexten bisher kaumweiterfhrende Paradigmenentwickelt hat, die die historisch durchgngige Prsenz der Amazonen erklrenknnte. Der Zusammenhang mit dem Thema des Nomadismus, der Anlass undAusgangspunkt der Tagung war, hat sich dabei als ein neuer und fruchtbarer Wegerwiesen und weitere Perspektiven fr die interdisziplinre Arbeit an dem Themaerffnet.

    Den Herausgebern bleibt die angenehme Pflicht, Dank zu sagen. Dieser richtetsich zuerst an den Vorstand des SFB 586, der die Tagung in Seluk auf dasGrozgigste finanziell untersttzt und schlielich auch einen namhaftenDruckkostenzuschuss fr die vorliegende Publikation bewilligt hat. Desweiterenergeht ein groer Dank an Janet Crisler, Prsidentin der Crisler Library Ephesos,die uns die Rumlichkeiten fr die Tagung zur Verfgung gestellt und somit eineKonferenz in einer nicht nur anregenden, sondern auch angenehmen Umgebungermglicht hat. Die technische und logistische Organisation der Tagung lag beiAndreas Gerstacker, Fritz Oldemeier und Patrick Pfeil in den besten Hnden. DenHerausgebern der Beitrge zur Altertumskunde sind wir dankbar fr die Auf-nahme des Bandes in diese Reihe. Fr die freundliche und kooperative Begleitungder Publikation von Seiten des Verlages ergeht schlielich unser Dank an Ka-tharina Legutke und Mirko Vonderstein.

    Charlotte SchubertAlexander Wei

    10 Einleitung

  • Bipolaritt als Mythos und Funktion

    I

  • Michaela Rcker

    Nomaden als das ganz Andere?

    Die Beschreibungen antiker Autoren von den Vlkern am Rand der Welt sindgeprgt von deren auergewhnlicher Physiognomie, ihrer ganz anderen Le-bensweise und den Landschaften, in denen sie leben, mit eigener Flora undFauna. Begriffe wie Eigen und Fremd oder Identitt und Alteritt sind derLeitfaden, der sich durch die griechischen und lateinischen Quellen zieht. Fr dienachfolgende Analyse von drei fremden Vlkern dient vor allem die Art ihrerLebensweise sie werden in den Quellen teilweise als Nomaden beschrieben alsKriterium fr die Auswahl. Die Annahme, dass die menschliche Lebensweisegrundstzlich bipolar sesshaft und nomadisch angelegt ist, prgte die Ar-beitsweise im griechischen und rmischen Teil des Projektes E 7 Antikes No-madenbild Antike Nomadenbilder in den vergangenen 3 Jahren. Durch dieHinzufgung einesweiteren diachronen Aspektes Real und Fiktiv anhand derBeispiele, soll aufgezeigt werden, dass der fremden Lebensweiseweitere Elementezur Abgrenzung der eigenen Identitt seitens der griechischen und lateinischenAutoren beigegeben werden konnten. Das fhrte zu einer Vermischung vonWundervlkern und mehr oder weniger gut bekannten Nomadenstmmen. DieGegenden, die ins Blickfeld der Untersuchung rcken, sind Indien und Afrika(Libyen/thiopien); bereits Plinius bemerkt darber:

    Vor allem Indien unddasGebiet der Aithioper sind reich anwunderbaren Erscheinungen. Diegrten Tiere bringt Indien hervor: bezeichnend sind die Hunde, die grer sind als an-derswo. Die Bume erreichen, wie man berichtet, eine solche Hhe, da man ber sie mitPfeilen nicht hinwegschieen kann; und dies bewirkt die Fruchtbarkeit des Bodens, dieMildedes Klimas undder berflu anWasser, da,wennman esglaubenwill,unter einemeinzigenFeigenbaum sich ganze Reiterabteilungen verbergen knnen. (Plinius, naturalis historia 7,21,bers. Knig)

    Eigen und Fremd

    Die Forschungsarbeit innerhalb des SFB 586 Differenz und Integration Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen in Zi-vilisationen der Alten Welt und speziell auch in der Arbeitsgruppe Reprsen-tationwar und ist geprgt durch die Dichotomie von Eigen und Fremd, die fr dieBegegnung der Griechen und Rmer mit den Nomaden am aussagekrftigstenerscheint. Der SFB 541 Identitten und Alteritten. Die Funktion von Alteritt fr

  • die Konstitution und Konstruktion von Identitt hat sich u. a. mit Fragen nachder fiktiven Konstruktion von Identitt beschftigt und Prozesse des AbgrenzensundAusgrenzens untersucht.Vor allem die Analyse der Bedeutungdes/der jeweilsAnderen (Alteritt) fr das eigene Selbstverstndnis und kollektive Verhaltensowie die Formierung der kollektiven Identitt stellte einen wichtigen Anknp-fungspunkt fr die weiterfhrenden Diskussionen dar.

    Wichtig fr die folgende Untersuchung ist an dieser Stelle der Vermerk, dassdie Betrachtung von Nomaden und Randvlkern seitens der antiken Autorenimmer Fremdreprsentation ist; es sind keine Texte von diesen Fremden ber-liefert, so dass eine vergleichende Perspektive nicht mglich ist.

    Die Sorge, die fr die Griechen und Rmer vom Fremden ausgeht, nhrt sichvon einer Ambivalenz, die sich bis in die Sprache hinein zeigt. Sowohl dasgriechische xenos als auch das lateinische Wort hostis bewegen sich in ihrer Be-deutung zwischen Gastfreundschaft und Feindschaft, bezeichnen den Freund,aber auch den Fremden und somit das Unbekannte.

    Nach Stagl (1997, 86), der sich mit den verschiedenen Graden von Fremdheitbefasst hat, bildet das Eigene eine organisierte Gruppe, welche dem Fremdenentgegentritt und bestimmt, was als normal und was als andersartig zu geltenhat. In Bezug auf den Umgang der Griechen und Rmer mit dem Fremden, andieser Stelle besonders mit den Nomaden, bedeutet das die Festlegung von Sitten,Normen und Verhaltenskriterien, die auerhalb des Gewohnten liegen bzw. sogarnoch gesteigert werden: Kontrast und Gegenstzlichkeit werden benutzt, um dasEigene zu betonen. Dabei spielte sicherlich auch die Faszination fr das Wun-derliche eine Rolle, so dass es innerhalb der Beschreibungen mitunter zu einerVermischung von Realitt und Fiktion kommt, wie beispielsweise die Beschrei-bungen der indischen Pflanzen, Tiere und Wundervlker bei Ktesias und Me-gasthenes oder des Plinius von den Blemmyern, den Machlyern, Skiratai oder denTroglodyten zeigen. Die reine Wahrnehmung des Fremden ist nicht allein Em-pirie, sondern befindet sich auch in einem Prozess der Identifikation und Dis-tanzgewinnung, der in verschiedene Richtungen laufend vor allem die Differenz

    1 Frderung: 1997 bis 2003.2 Die Forschungsarbeiten adressieren jedoch nicht das spezifische nomadische Element imAlterittsdiskurs, welches fr die Arbeit im SFB 586 und die vorliegende Untersuchung ma-geblich ist.3 Waldenfels 1997, 74.4 Beispielsweise widmet sich Platon in den Nomoi (949e-953e) sehr ausfhrlich den Reisen insAusland und der Aufnahme auslndischer Gste unter sorgfltiger Beachtung von Kontaktre-geln, die der Einfhrung ungeprfter Neuerungen entgegenwirken. Mit der Gastfreundschaftverbanden sich politische und konomische Interessen.

    14 Michaela Rcker

  • zum Eigenen schaffen soll und sich demzufolge an Vorurteilen, Gerchten, Dif-famierungen und bertreibungen bedient. Ausgangspunkt fr die Beobachtun-gen ist dabei immer das vertraute Eigene. Und trotz aller Faszination und Be-geisterung stellte der fehlende Einfluss bzw. die fehlende Kontrolle ber dasFremde auch eine latente Bedrohung dar. Daraus ergibt sich die Frage, ob durchdie Hinzufgung von fiktiven Elementen in die Beschreibungen dem eigentlichBekannten, wie beispielsweise dem nomadischen Stamm der Blemmyer, das Be-drohliche genommen werden sollte oder ob man die bestehende Furcht nochpotenzieren wollte.

    Der von Stagl erwhnte zeitliche Aspekt der Fremdheit, in dem sich diesedurch allmhliches Vertrautwerden verliert, ist fr die antiken Autoren in Bezugauf die Beschreibungen der Randvlker irrelevant und lsst sich sehr gut amBeispiel Indiens verdeutlichen: Mit der Eroberung durch Alexander 326 v. Chr.nderte sich der westliche Begriff von Indien vllig. Alexanders vage Vorstel-lungen dieser Region machten ihn glauben, er habe die Quellen des Nils erreicht.Diese Verwechslung von Indien und thiopien dauerte teilweise bis ins Mittelalteran.

    Die Erwartungen, mit denen Alexander und sein Heer nach Indien zogen,waren gro: Ganz abgesehen von der militrischen Komponente, ist das Gebietvor allem geographisch interessant. Im uersten Osten Asiens gelegen folgtenach der allgemeinen berzeugung nur noch der Okeanos, der Urozean, der alsletzte Grenze dieWelt vomUnbegrenzten (peiron) abteilte. Der erste Grieche, derIndien nher erkundete, war Skylax von Karyanda, der im Auftrag des Perserk-nigs Dareios I. Ende des 6. Jh. v. Chr. den Indos abwrts zur indischen Kste be-fuhr. Sein Interesse galt wohl nicht nur den geographischen Beschreibungen

    5 Petermann 2007, 19.6 Stagl 1997, 86.7 Das als Indien bezeichnete Gebiet umfasste das Kabul-Tal, die sogenannte Nordwestprovinz(Gandhara), den Panjab (Fnfstromland) und Sindh (unteres Industal), vgl. Hahn 2002, 9 Anm. 1.8 Strab. 15,25.9 Dazu u.a. Dihle 1962, 99 ff.10 Die Faszination fr den Okeanos lag zum einen in dem Bestreben begrndet, die Welt bis zuihren Grenzen zu erfassen, zum anderen war damit vor allem seit der Zeit Alexanders auchdie Idee von der Beherrschung der gesamten bekannten Welt verbunden.11 Ambhl u.a. 2000.12 Den grten Teil Asiens aber hat Dareios entdeckt. Er wollte gern die Mndung des Indoserforschen, der als zweiter von allen Strmen Krokodile aufweist. So schickte er Leute mitFahrzeugen aus, in deren Wahrheitssinn er Vertrauen setzte, darunter einen Griechen namensSkylax aus Karyanda. Sie fuhren von der Stadt Kaspatyros und dem paktyischen Lande aus undsegelten stromab ostwrts ins Meer hinaus, dann auf dem Meere nach Westen zurck, bis sie im

    Nomaden als das ganz Andere? 15

  • seiner Reise, sondern er vermittelte einen ersten Eindruck von dem,wasAlexanderund sein Heer an fabelhaften Vlkern in Indien zu finden gedachten: Skiapoden(Schattenfler), Otoliknoi (Groohrige), Monophthalmoi (Einugige) u.a.

    Ausfhrliche Angaben ber die Geographie Indiens, ber seine Bewohner,seine Geschichte und Mythologie finden sich bei Ktesias (FGrH 688) und Me-gasthenes (FGrH 715; FHG 2,397439). Megasthenes verbrachte um 300 v.Chr. alsGesandter von Seleukos I. einige Zeit in Indien und galt wegen seines Material-reichtums lange Zeit als unbertroffen, obwohl sein Werk auch zahlreiche Ge-schichten von indischen Wundern, Vlkern und Tieren enthlt. Dabei scheinensowohl Ktesias als auch Megasthenes ebenso auf indische Quellen zurckge-griffen zu haben.

    Der Hellenismus frderte die weitere Entwicklung im Bereich der Ethnogra-phie und Geographie; die ersten Diadochen setzten in der Tradition Alexandersdie Erkundungsfahrten fort und hielten ihre Erkenntnisse literarisch fest. Nebender geographischen, zoologischen, botanischen oder mineralogischen Fachlite-ratur fanden sich im Bereich der Ethnographie bei der Darstellung fremder Vlkerweiterhin nichtwissenschaftliche Berichte. Auf diese Weise prgten sich dieseBilder fremder Lnder und Vlker bei der interessierten Leserschaft ein, undAutoren wie Agatharchides (FGrH 86; FHG 3,190 197; GGM 1,111 195) schafftenes, auch sehr fremdartigen Vlkern und ihren Verhaltensweisen mit Verstndniszu begegnen. Aber alle diese Autoren und ihre ethnographischen Beschreibungenverndern durch die Verwendung von fiktionalen Elementen die literarischeIdentitt der dort lebenden Volksgruppen. Trotz der in den Folgezeiten beste-henden Handelsbeziehungen u.a. griechischer und arabischer Kaufleute nach

    dreiigsten Monat an die Stelle kamen, von welcher der gypterknig die Phoiniker, die ich ebenerwhnt habe, abschickte, um Libyen zu umfahren. Nach dieser Reise unterwarf Dareios dieInder und befuhr jenes Meer. So ist das brige Asien auer den stlichen Gebieten erforscht undbekannt, dass es sich hnlich verhlt wie Libyen. (Hdt. 4,44, bers. Feix)13 Skylax bei Tzetz. chil. 7,62936; dazu vgl. Romm 1992, 8485.14 Ktesias von Knidos verbrachte einige Jahre (405398/7 v. Chr.) als Leibarzt am Hofe vonArtaxerxes. Er gilt als der Urheber vieler Erzhlungen von Indien als Land des Wunderbaren,indem er den bereits bestehenden Geschichten neue hinzufgte: So siedelte er die mit Kranichenkmpfenden Pygmen nicht mehr im sdlichen Afrika an, sondern in Indien, nennt auerdemnoch Skiapoden, Greifen u.v.m. berliefert sind die Fragmente der Indik bei Photios (ed.Bekker).15 berliefert bei Diodor, Strabon, Plinius, Arrian und Aelian. Neben Jacoby und Mller gibt esnoch die Fragmentsammlung von Schwanbeck 1846.16 Ausfhrlich zu Ktesias Quellen Reese 1914. Megasthenes bezog sich auf Gesprche mitindischen Brahmanen.17 Historiker und Geograph des 3./2. Jh. v. Chr. In seiner Geschichte Asiens (Asiatik) liefert eru.a. eine Beschreibung Arabiens und thiopiens, auf die Diodor zurckgreift.

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  • Indien und bereits neu erschlossener Gebiete im Sden, schrieben sptereAutorenwie Arrian weiterhin die klassischen Schilderungen von Ktesias und Megasthenesab. Auch Strabon (2,1,9; 11,6,3), der in seinem Werk vor allem die fantastischenDarstellungen der frheren Autoren kritisierte, bernimmt in groen Teilen derenAusfhrungen. Fr das Publikum war Indien ein weit entferntes Land, das nichtimmer von thiopien getrennt werden konnte: Lange Zeit galten beide Gegendenals benachbart und waren als Randzonen der Welt Heimat von Langohrigen,Grolippigen, Nasenlosen und anderen Gestalten, deren Existenz von den antikenAutoren mal in dem einen und mal in dem anderen Land verortet wurde. Seit denEpen Homers, der Argonautensage und anderen Erzhlungen sind diese Be-schreibungen fester Bestandteil der griechischen Literatur und haben ihren Ein-gang in die antike Historiographie gefunden. Wie Petermann ausfhrt, sprichtdiese Verwendung von fantasievollen Beschreibungen fr eine Ethnographie desUnbekannten und soll die Unwissenheit ber die entsprechenden Gebiete ka-schieren. Fr die antiken Autoren spielt jedoch auch die Unterhaltung des Pu-blikums eine entscheidende Rolle, selbst wenn sich der geographische Horizontim Laufe der Jahrhunderte erweiterte, blieben die Bilder zu den Randvlkernbestehen:

    So wollte man den Leser durch den Bericht ber nachahmenswerte oder verwerfliche Sittenmoralisch belehren, sein Interesse durch die fesselnde Beschreibung besonders merkwr-diger Vorgnge gewinnen oder durch die Buntheit und Flle des Dargestellten sein sthe-tisches Wohlgefallen erregen.

    Bevor nun die in denQuellen immerwieder verwendete Verbindung vonNomadenund Wundervlkern nher beleuchtet wird, soll noch einmal ein Bogen zumskythischen Weisen Anacharsis geschlagen werden. Dabei sei auf den von Staglerwhnten rumlichen Aspekt der Fremdheit verwiesen: Die Raumgebundenheitdes Fremden, der auerhalb der bekannten Gegenden siedelt, ergibt sich erst,wenn er seine Eigengruppe verlsst und dadurch zum Fremden wird. Durch dasVerlassen seiner skythischen Heimat wird Anacharsis gleich in zweifacher Hin-sicht zum Fremden: Auf der einen Seite natrlich fr die griechischen und r-mischen Autoren, die sich mit seiner Person befassen und die immer wieder seineeinfache skythische Lebensweise ansprechen, auf der anderen Seite aber auch frsein eigenes Volk, dem er nach seiner Rckkehr beispielsweise durch die mitge-brachten neuen Sitten ebenfalls fremd erscheint was dann auch zu seinem Tod

    18 Petermann 2007, 17.19 Dihle 1994, 71.20 Stagl 1997, 89.

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  • fhrt. Diese Form des Kulturkontaktes funktioniert nur fr Einzelpersnlichkeiten,die den Griechen und Rmern zum Teil als Belustigung und zur Unterhaltungdienen, zumTeil als Vorbild fr die besondere Lebensweise herangezogenwerden.Im Falle der monstrsen und sonderbaren Randvlker sind derartige Begegnun-gen weder vorstellbar noch realisierbar: Die Enden der Welt verschieben sich mitden jeweiligen geographischen Entdeckungen. Diese geographische Lage be-deutete, dass man die Grenze der allgemein bekanntenWelt berschreiten mssteund demzufolge nur selten hinkommt. Die antiken Historiographen vermittelnihrem Publikum aber die Vorstellung, dass diese Orte von dem entferntesten unterden wohl bekannten Lndern aus erreichbar seien. Der Wahrheitsgehalt der er-zhlten Geschichten wird durch Autopsie-Beteuerungen des Autors und durchZeugen aus angrenzenden Lndern betont. Diemeisten Randvlker bleiben auchrelativ unberhrt von den Ereignissen der zivilisierten Welt und erleben somitkeinerlei Wandel durch historische Vernderungen.

    In den Quellen finden sich unzhlige, vom Eigenen distanzierende Be-schreibungen anderer Vlker. Den antiken Autoren reichte es oftmals nicht aus,die Unterscheidung beispielsweise anhand der Lebensweise vorzunehmen, viel-fach erscheinenweitere ganz unterschiedliche Kennzeichen in den Texten, die dasAnderssein klar hervorheben. Die merkwrdigen Sitten der am Rand der WeltverortetenVlker erscheinen als zeitlos gltigeMuster einer primitiv anmutendenAndersartigkeit. Ein immer wieder genannter Aspekt ist die Menschenfressereiin den antiken Mythen und ethnographischen Berichten. Die Annahme kanni-balischer Sitten, die sich vielfach auf nomadische Vlker konzentrierte, stellt et-was vollkommen Gegenstzliches zur griechischen Kultur dar. Kannibalismus inder Form von Altenttung und Verzehrung der Toten wird auch fr andereVolksstmme beschrieben: Die indischen Kalatier essen die Leichen ihrer Eltern(Herodot 3,38,4), die indischen Padaier, die auch Nomaden sind, tten und essenihre Kranken (Herodot 3,99), und auch die Issedonen vermischen das Fleisch desVerstorbenen mit dem von Opfertieren und verzehren es (Herodot 4,26,1).

    Die gleichenQuellen, die diese eher grausamen Sitten und Bruche aufzeigen,werfen gleichzeitig auch einen Blick auf viele, fr den ueren Betrachter positiveBesonderheiten, die diese fremden Vlker als anders erscheinen lassen. Hierbei

    21 Dihle 1994, 13 f. Als Beispiel sei hier auf Aristeas von Prokonnesos verwiesen, der in seinemEpos Arimspeia von seinen Reisen zu den Skythen und den weiter nrdlich lebenden Isse-donen berichtet. Seine Informationen ber die einugigen Arimaspen, die Gold htendenGreifen und die Hyperboreer erhielt Aristeas von den Issedonen, deren Glaubwrdigkeit sich ausder direkten Nachbarschaft zu diesen Wundervlkern ergibt (Hdt. 4,13 15).22 Bichler 2000, 57.23 Bichler 2000, 57.

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  • treten wiederum die thiopier und Inder deutlich hervor, denen erstaunlicheEigenschaften zugeschrieben werden. So trifft bereits Herodot Aussagen ber dieGre, Schnheit und Langlebigkeit der thiopier (3,20,1; 3,23,1; 3,97,2; 3,114),Strabon (15,1,34.37), Diodor (2,36,1), Arrian (Anabasis 5,4,4; Indike 1,2; 17,1) undPomponius Mela (3,63) wissen hnliches ber die Inder zu berichten. WeitereAspekte betreffen die auerordentliche Gesundheit beispielsweise der libyschenNomaden (Herodot 4,187) oder der Hyperboreer (Pindar, Pythien 10,4243) oderdie Gerechtigkeit der homerischen Abier (Ilias 13,6), der Hyperboreer (Plinius,naturalis historia 4,89) und der Skythen (Strabon 7,3,9). Und so wie Herodot diekannibalischen Sitten der Issedonen dem Leser bekannt macht, weist er ebensodarauf hin, dass diese Leute rechtlich denken und dass die Frauen bei ihnen diegleichen Rechte haben wie die Mnner (Herodot 4,26). Damit enthlt sein Berichtzwei Nachrichten: Zum einen verweist er darauf, dass die Issedonen ein Rechts-system haben, ohne dieses genauer zu przisieren, und zweitens nimmt er Bezugauf die rechtliche Gleichstellung der Frauen. Er kombiniert den Griechen Be-kanntes mit Unbekanntem und schafft dadurch eine gewisse Vertrautheit, durchverschiedene Grade von Fremdheit: Er liefert dem Publikum damit Aspekte,die das eigentliche Fremde in bestimmten Bereichen vertraut erscheinen lassen.Diese Tendenz ist nicht nur bei Herodot, sondern auch bei anderen antiken Au-toren feststellbar und soll im Folgenden anhand der gewhlten Beispiele reflek-tiert werden.

    1 Die Machlyer

    Die libyschen Machlyer werden bereits von Hekataios (FGrH 1 F 334) als noma-disch lebendes Volk genannt. Herodot (4,178. 180) lokalisiert sie westlich derLotophagoi und stlich derAuseer,whrend Plinius (naturalis historia 5,28;7,15) siezu Nachbarn der Nasamones an der Groen Syrte erklrt. Der lateinische Autorund sein Gewhrsmann Kalliphanes sind es auch, die die Machlyer als androgyni(Menschen beiderlei Geschlechts) charakterisieren eine Beschreibung, die inden griechischen Quellen nicht zu finden ist:

    Supra Nasamonas confinesque illis Machlyas androgynos esse utriusque naturae, inter se vi-cibus coeuntes, Calliphanes tradit. Aristoteles adicit dextram mammam iis virilem, laevammuliebrem esse. (Plinius, naturalis historia 7,15)

    24 Stagl 1997, 86.25 Eine bersicht zu den bei Ktesias, Megasthenes und vor allem Plinius genannten Wunder-vlkern findet sich bei Friedman 1981, 821.

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  • Jenseits der Nasamonen und ihnen benachbart wohnen, wie Kalliphanes berichtet, die an-drogynen Machlyer, Zwitterwesen, die sich wechselweise begatten. Aristoteles fgt nochhinzu, da ihre rechte Brust mnnlich, ihre linke weiblich gebildet sei. (bers. Knig)

    Die sonderbare uere Erscheinung der Machlyer bei Plinius weicht stark von denanderen antiken Quellen ab: Herodot berichtet von ihrem Jungfrauentest, dasssie sich von Lotos ernhren und wie sie ihre Haare tragen, und auch Nikolaos vonDamaskus erzhlt von Verlobungsbruchen, aus denen keinerlei Informationenzu irgendwelchen biologischen Anomalien hervorgehen. Die von Plinius be-schriebenen androgyni weichen auch von der blichen Erscheinungsweise ab,die lediglich eine Kombination aus weiblichen und mnnlichen Geschlechts-merkmalen vorsieht: Sie haben einerseits mnnliche und weibliche Ge-schlechtsorgane zugleich und erinnern so an den androgynen Kugelmenschen ausPlatons Symposion (189e), andererseits bedingt die Doppelgeschlechtlichkeit aberbei ihnen einen Unterschied bei den Brsten wie Aristoteles hinzufgt. In dermedizinischen Literatur findet sich ein genetischer Erklrungsansatz: Zwitter-wesen entstehen dann, wenn der mnnliche Samen des weiblichen Elternteils,den weiblichen Samen des mnnlichen Elternteils berlagert. Der Rhetor Po-lemon behauptet, dass es zwei Arten von Androgynen gibt; die einen sind zahmund die anderen eher rau und wild, wobei er selbst sich den zahmen zuwendet.Gleason vermutet, dass Polemon diese Unterscheidung eingefhrt hat, aberauch sofort wieder fallen lie. Seine Beschreibungen der Zweigeschlechtlichensind auch gnzlich verschieden von dem, was Plinius ber ihre Physiognomiesagt, und lehnen sich eher an das an, was die Rmer als cinaedus, als ver-weichlichten Menschen, ansehen. Plinius aber meint offensichtlich etwas ganzanderes, und das Phnomen der androgyni erscheint bei ihm ein weiteres Mal:

    26 Am jhrlichen Fest der Athene kmpfen ihre Jungfrauen in zwei Gruppen mit Steinen undKnppeln gegeneinander. Sie erklren, damit erfllten sie eine von den Vtern ererbte Pflichtgegenber der einheimischen Gttin, die wir Athene nennen. Sie nennen die Mdchen, die anihren Wunden sterben, falsche Jungfrauen. (Hdt. 4,180 bers. Feix)27 FGrH 90 F 103q: , , .28 De victu 28,4; dazu ausfhrlicher der Aufsatz von Charlotte Schubert in diesem Band.29 Adamantios, 2,5859; 1,42024F; Anon. Lat. 104, 2.12628F.30 Gleason 1990, 395.31 Polemon 50, 1.262F; Anon. Lat. 76, 2.100F: Polemon spricht u.a. von Mnnern mit fleischigenHften und weichen Knien; von einem halben weiblichen und einem halben mnnlichen Krperwie in der Beschreibung des Plinius ist keine Rede.32 Gleason 1990, 396 weist darauf hin, dass androgynos describes an appearance of gender-indeterminacy, wohingegen cinaedus describes sexual deviance. Aber beide Begriffe sind in

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  • Gignuntur et utriusque sexus quos hermaphroditos vocamus, olim androgynos vocatos et inprodigiis habitos, nunc vero in deliciis. (Plinius, naturalis historia 7,34)

    Es werden auch Zwitterwesen geboren, welche wir Hermaphroditen nennen; frher wurdensie Androgyne genannt und zu denWundern gerechnet, jetzt aber dienen sie demVergngen.(bers. Knig)

    Ein Hermaphrodit ist eine androgyne Gestalt, derenName sich aus der Verbindungvon Hermes und Aphrodite als seltene Zwillingsbildung analog zu andrgynos(mannweiblich) ableitet. Diemythologische Erzhlung von der Verschmelzungdes Hermaphroditos mit der Nymphe Salmacis zu einem zweigeschlechtlichenKrper findet sich in den Metamorphosen des Ovid (4,274388). Plinius beziehtsich mit dieser Erwhnung mglicherweise auf Livius (27,11,45), der unter denverschiedenen Prodigia auch ein Kind erwhnt,

    ambiguo intermaremac feminam sexu infantem, quos androgynos uolgus, ut pleraque, facilioread duplicanda uerba Graeco sermone appellat [].

    [] dessen Geschlecht als mnnlich oder weiblich nicht zu bestimmen war, dergleichen dergemeine Mann nach einer im Griechischen fr die meisten Flle leichteren Zusammenset-zung, Androgynon nennt []. (bers. Gthling)

    Die Aussage beider Autoren, dass androgyni ursprnglich zu den negativen Vor-zeichen gehrten, deren Shnung ein wesentlicher Bestandteil der rmischenreligio darstellte, symbolisiert deutlich die Gefahr, die von ihnen ausgeht. ImZusammenhang mit den Prodigien erwhnt neben Livius auch Cicero (de divi-natione 1,98) die Geburt von Zwitterwesen als schlechtes Omen. Der Zusatz desPlinius aber, dass zweigeschlechtliche Menschen inzwischen dem Vergngendienen, schwcht diese Gefahr jedoch sofort wieder ab. Damit stellen auch diewenige Abschnitte zuvor erwhnten androgynen Machlyer trotz ihrer Anders-artigkeit fr das rmische Volk bei einem mglichen Kontakt keine Gefahr mehrdar.

    Bezug auf die Beschreibung von verweichlichtem Aussehen und Verhalten von Mnnern kaumzu unterscheiden.33 Heinze 1998.34 Prodigien zeigen die Strung der pax deorum an; vgl. dazu Rosenberger 1998 und Rosenstein1990.

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  • 2 Die Skiratai

    Zu den in Indien beheimateten Vlkern mit ungewhnlichen physiognomischenMerkmalen gehrt auch der StammvonNasenlosen (Amykteres).Wie diemeistenFabelvlker des Ostens verfgen sie ber einen ihre physische Abnormitt be-schreibenden Namen.

    , , [] : . (Strabon 15,1,57)

    Darber hinaus ins Fabelhafte geratend spricht er von fnf Spannen und drei Spannenlangen Menschen, von denen manche keine Nase, sondern nur zwei Atemlcher ber demMund htten []; und die Naselosen en alles, und zwar in rohem Zustand, und seienkurzlebig, da sie vor Eintritt des Alters strben; ihre Oberlippe rage weit voraus. (bers. Radt)

    Die mitgeteilten Informationen ber ihre Andersartigkeit umfassen die Krper-gre die Nasenlosen sind von sehr kleiner Statur , die Essgewohnheiten, dieLebenserwartung und natrlich die namengebende wichtige optische Auffllig-keit: Anstelle der Nase haben sie nur zwei Lcher ber dem Mund und ihre Un-terlippe steht weit hervor. Der Verzehr von rohem Fleisch lsst sie sehr barbarischwirken, dafr ist ihre Lebenserwartung eher kurz.

    Plinius erwhnt dieses Volk unter dem bei Megasthenes schon belegtenStammesnamen Skiratai und liefert seinem Publikum weitere Informationen zuihrer Physiognomie:

    Megasthenes gentem inter Nomadas Indos narium loco foramina tantum habentem, anguiummodo loripedem, vocari Sciratas. (Plinius, naturalis historia 7,25)

    Megasthenes erzhlt, es gebe ein Volk unter den indischen Nomaden, die Skiraten genannt,das statt der Nase nur Lcher habe und nach der Art der Schlangenmit bandfrmigen Fenversehen sei. (bers. Knig)

    Wie Strabon verweist auch er auf die fehlende Nase, fgt aber hinzu, dass siebandfrmige Fe htten. Interessant ist der Stammesname selbst, der im Ge-gensatz zu Amykteres keine beschreibende griechische Wortbildung ist und dem

    35 Sowohl Strabon als auch die nachfolgenden Autoren beziehen sich in ihrer Darstellung derindischen Wundervlker auf Megasthenes, wie bereits erwhnt eine Autoritt in Bezug aufIndien.36 Zur Bedeutung von rohem und gekochtem Essen in Bezug auf den barbarischen Aspektfremder Vlker vgl. Rcker 2012.

    22 Michaela Rcker

  • mglicherweise eine reale indische Stammesbezeichnung zugrunde liegenknnte, die von Megasthenes aufgegriffen wurde. Bei Aelian variiert die Be-schreibung. Er nennt das Volk ebenfalls Skiratai:

    , , , .(Aelian, de natura animalium 16,22)

    Esgibt aber auf der anderen Seite Indiens einen Stamm,die Skiratai, sie haben plattgedrckteNasen und zwar stndig, sei es durch einen Druck von zarter Jugend an, oder sei es, dass sieauf diese Weise geboren werden. (bers. Rcker)

    Die Ausfhrungen Aelians sind eher weniger absonderlich. In seiner Darstellungbesitzen die Skiratai Nasen, auch wenn diese nicht der bekannten Form zuge-hren, sondern plattgedrckt sind. Er stellt sogar Vermutungen darber an, ob essich um ein angeborenes Merkmal handelt oder ob die Vernderungen seitens derMitglieder des Stammes selbst beigebracht werden.

    Fgt man die verschiedenen Informationen der drei Autoren zusammen, er-gibt sich die Vermutung, dass sich hier nicht nur die verschiedenen berliefe-rungen von Indienhistorikern vermischen, sondern auch die physischen Be-schreibungen der Fremdvlker selbst. Die bei Strabon genannte Kleinwchsigkeiterinnert an die bereits bei Ktesias (FGrH 688 F45 = Phot. bibl. 72 Bekker p. 46a)erwhnten Pygmen in Indien, die mit dem Volk der Kiratas identifiziert werden.Dabei handelt es sich wohl nicht um eine Eigenbezeichnung, sondern um einenherabsetzenden Terminus fr eine nicht-arische, wahrscheinlich barbarischeRandbevlkerung in der Himalaya-Zone. Der Periplus Maris Erythrae (62) be-zeichnet ein Volk nrdlich der Gangesmndung die Kirrhadai als Volk vonwilden Menschen mit plattgedrckten Nasen. Diese Beschreibung passt sehrgut zu den Plattnasigen, die Aelian kennt. Einen weiteren Hinweis auf dieKiratas vermutet Petermann in einer anderen Passage des Plinius (naturalishistoria 6,64), in der er ber die im Himalaya lokalisierten Chirotosagi spricht.Nach Wilford gibt es ein indisches Volk namens Cipitansika, dessen ueres

    37 Singh 2008, 42 ff. lsst keinen Zweifel an der Identifikation der Skiratai mit den indischenKiratas. Bereits Schwanbeck 1846, 65 hat die Nachrichten des Megasthenes in einen Zusam-menhang mit den Pygmen des Ktesias gebracht.38 Petermann 2007, 293298, insbesondere 295.39 Mit dem Namen Kirradia bezeichnet Ptolemaios (7,2,2) das Land an der Kste Hinterindiensvon der Stadt Pentapolis im Norden bis zur Mndung des Tokasanna oder Arkanflusses. DerName ist ein Hinweis darauf, dass es von den kirata bewohnt war, vgl. Lassen 1857/58, 235.40 Petermann 2007, 293: Er bersetzt diesen Stammesnamen als Abteilung der kirta.41 Genannt bei Wecker 1927, 535536.

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  • beschriebenwird als stumpfnasig, bartlos und von kleiner Gestalt den antikenQuellen also nicht unhnlich , das ebenfalls als Vorlage gedient haben kann. Dieauerdem von Plinius erwhnte Besonderheit der bandfrmigen Fe nach Artder Schlangen entspricht den griechischen himantopodes Riemenfler undfindet sich bei verschiedenen antiken Autoren einschlielich Plinius (naturalishistoria 5,4446) wieder, allerdings werden sie zum groen Teil in Afrika loka-lisiert, zusammenmit einer ganzen Reihe anderer Vlker: den Blemmyern, Satyrn,Troglodyten, Kynokephalen und anderen realen und weniger realen Stammes-gruppen.

    Eine genaue Einordnung und Deutung dieses Stammes fllt aufgrund dervielfltigen Angaben ihrer Physiognomie schwer. Die Vermischung verschiedenerfabelhafter Randvlkermit einer real in Indien existierenden Volksgruppe ist nichtgnzlich auszuschlieen und spiegelt auf der einen Seite die Bemhung umEmpirie und Autopsie der in Indien weilenden Historiker wie Megasthenes wider,auf der anderen Seite aber ist die Gegend immer noch so weit entfernt, dass dasfiktive Element eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Der Stammesname Skirataischeint einen sehr starken Bezug zu Indien zu haben,wohingegen beschreibendeNamen wie Nasenlose geografisch frei verfgbar waren und somit in vielenRandgebieten als Volk verortet werden konnten.

    In den Beschreibungen sowohl zu den Machlyern als auch zu den Skirataierfahren wir nur sehr wenig ber ihr nomadisches Leben: Es erscheint keines derblichen Bilder vom Fortbewegen auf Wagen, Leben in Zelten oder ber dieWeidewirtschaft. Fr die Charakterisierung der beiden Vlker scheint das nichtvorrangig wichtig gewesen zu sein. Daraus ergibt sich die Frage,welche Relevanzdie Betonung der anderen Lebensweise fr die antiken Autoren hatte. Das No-madische scheint innerhalb der Erzhlung das Bekannte zu verkrpern, das sichan der Realitt orientierende Moment zu sein, das mit den fiktiven Vorstellungenzu einem fabelhaften Volk zusammengefgt wird.

    3 Die Blemmyer

    Im Gegensatz zu den beiden anderen Vlkern werden die Blemmyer vergleichs-weise hufig in den antiken Quellen erwhnt. Aufgrund der oftmals wider-sprchlichen Aussagen ist es jedoch schwierig, sich ein klares Bild von diesem

    42 Mela 3,103; Ps.-Kallisthenes 3,28.43 Petermann 2007, 299.

    24 Michaela Rcker

  • Volk zu machen. Hans Barnard zhlt 68 Texte, die sich auf die Blemmyer be-ziehen; sie reichen vom 7. Jh. v. Chr. bis ins 6. Jh. n. Chr. und sind in Hieroglyphen-gyptisch, Griechisch, Demotisch, Koptisch und Latein geschrieben. Nur 41 dieserTexte erwhnen die Blemmyer direkt, in den verbleibenden Texten handelt es sichnur um indirekte Erwhnungen.Obwohl sich diese Quellen ber einen sehr langenZeitraum erstrecken, kann die Dauer der politischen Bedeutung der Blemmyer aufdie Zeit zwischen 250550 n. Chr. datiert werden. In den Texten erscheinen dieBlemmyer als aktiv Handelnde, als exotische Phnomene,werden als Auenseiterbehandelt, sind Teil einer geographischen Beschreibung oder Feinde des Staatesbzw. der Religion.

    Die am besten informierten Autoren Strabon, Olympiodor und Prokop stimmen weder darin berein, wo die Blemmyer leben, wie viele es gibt, wer ihreNachbarn sind, oder wie sie leben. Die Vermutungen tendieren zwischenvoll- bzw.halbnomadischer Lebensweise oder sesshaftem Stammesfrstentum.

    ClydeWinters vermutet, dass die Blemmyer im 7. Jh.v.Chr. nach Unternubieneinwanderten und dort die Hoheit der Napata anerkannten. Laut Berichten des 5.und 4. Jhs.v. Chr. haben sich die Blemmyer in Ober- und Unternubien angesiedelt,wo sie von Knig Harsiyotef (404369 v.Chr.) von Kusch besiegt worden sind(Harsiyotefstele Museum Kairo, JE 48864).

    Verschiedene demotische Texte belegen Kontakte zwischen Blemmyern undgyptern zwischen dem 6. und 2. Jh. v. Chr. Interessant ist die Quelle Nummer 50der Fontes Historiae Nubiorum aus dem Jahr 513 v. Chr., der demotische PapyrusRyland 9,5/25, in dem ein Blemmyer alsWchter und Polizist agiert: Er rief nachWahibremer, einem Blemmyer, und sagt: Geh nach Taioudj und hole diesePriester, ber die Padjaset Klage fhrt (im Auftrag des Hohepriesters Iachmes).Polizeiaufgaben bernahmen zu dieser Zeit eher die Medjai, was fr eineGleichsetzung der Blemmyer mit diesen sprechen knnte, wie Rolf Herzog an-nimmt.

    Die Blemmyer bewohnten also das Wstengebiet zwischen dem Niltal unddem Roten Meer. Der erste griechische Autor, der sie erwhnt, ist Theokrit. Nach

    44 Barnard 2005, 23.45 Ausfhrliche Untersuchungen zu den Blemmyern liefert Updegraff 1988.46 Winters 2004.47 Religises Zentrum des Reiches von Kusch, am abal Barkal (nahe 4. Katarakt, heuteKarma).48 U.a. eine Heiratsurkunde P. Hauswaldt VI.49 bers. Vittmann 1994.50 Herzog 1967, 55; Updegraff 1988, 54 negiert das trotz vieler hnlichkeiten.51 Theokr. eid. 7,113114: Im Sommer aber magst du im fernsten Gebiet thiopiens weidenunter der Blemyer Fels, von wo aus der Nil nicht mehr sichtbar. (bers. Fritz).

    Nomaden als das ganz Andere? 25

  • Strabon waren sie Nomaden (17,1,53), er lokalisiert sie am rechten Nilufer, unter-halb vonMeroe gegenber denNubiern, er kennt sie als Untertanen der Aithiopier:

    , , .(Strabon 17,1,2)

    Das Gebiet weiter unterhalb zu beiden Seiten Meros wird auf der Seite zum Roten Meer amNil entlang von denMegabarern und den Blemmyern bewohnt, die denthiopen unterstehenund an die gypter grenzen, am Meer entlang von den Trogodyten. (bers. Radt)

    Aufgrund der unterschiedlichen Aussagen der antiken Autoren knnen die Ge-biete, innerhalb derer die Blemmyer sich bewegten, nicht genau abgegrenztwerden, aber die Gegend um den Ersten Katarakt kann als ungefhrer Mittelpunktihres Wirkens dienen. Klaudios Ptolemaios (4,7,31) beispielsweise lokalisiert sieweiter im Sden als Strabon.

    Ein weiterer Autor, der Angaben zu ihrer Lokalisierung gemacht hat, istDionysios Periegetes (GGM 2,114). Rufius Festus Avienus, der eine sehr freie la-teinische bersetzung des Werkes des Dionysios angefertigt hat, ergnzt auchInformationen zum Aussehen der Blemmyer: Sie sind von groer Statur, habendunkle Haut und eine schmale Taille, ihre Arme und Beine sind muskuls und siesind barfu.

    Bekannt und berchtigt war der Stamm vor allem wegen seiner stetenberflle auf Siedlungen im Niltal. Zur Zeit Strabons waren sie jedoch wederzahlreich noch kriegerisch; daraus lsst sich schlieen, dass zum Zeitpunkt seinerBetrachtung keine Einflle seitens der Blemmyer stattgefunden haben, da siewahrscheinlich unter dem Einfluss der Meroiten standen:

    , . (Strabon 17,1,53)

    Diese [gemeint sind die an gypten grenzenden Troglodyten, Blemmyer, Nubier, Megabaroiund thiopier] sind Nomaden und weder zahlreich noch kriegerisch, obwohl sie von denAlten dafr gehalten worden sind, weil sie oftmals Schutzlose ausraubten. (bers. Rcker/Taube)

    Auch in den folgenden zwei Jahrhunderten werden in den Quellen keine Aktivi-tten der Blemmyer berichtet. Der erste Beleg fr einen Blemmyer-Einfall in

    52 GGM 2,180.53 Updegraff 1988, 64.

    26 Michaela Rcker

  • gypten gehrt in die Regierungszeit des Kaisers Decius (249251), der folgen-dermaen darauf reagierte:

    , , , , . , . (Chronicon Paschale p. 504505 ed. Dindorf)

    Derselbe Kaiser Decius fhrte von Afrika her furchteinflende Lwen und Lwinnen herbei,und er lie sie frei im stlichen Gebiet von Arabien und Palstina bis zur KirkesischenFestung, um Nachkommen zu zeugen,wegen der barbarischen Sarakenoi. Auf gleiche Weiseaber fhrte er die Kriechtiere und die giftigen Tiere und die furchteinflenden Zwitterwesenweg vom festen Land Libyens, und lie sie frei im Gebiet von gypten wegen der Nomadenund der barbarischen Blemmyes. (bers. Rcker/Taube)

    Die Berichterstattung des Chronicon paschale erscheint wenig glaubhaft, einVergleich mit anderen Quellen zu diesem Ereignis ist aufgrund des Fehlens derJahre 244259 n. Chr. in der Historia Augusta nicht mglich. Im Zusammenhangmit der Besetzung gyptens durch Palmyra 270 n. Chr. traten auch die Blemmyerwieder hervor. In der Regierungszeit des Kaisers Probus (276282 n. Chr.) er-oberten sie Koptos und Ptolemais Hermeiou in Obergypten, bevor sie 279 n. Chr.von rmischen Truppen geschlagen wurden. Um sich vor weiteren berfllen zuschtzen, trat Kaiser Diokletian das Gebiet oberhalb von Syene, den Dodeka-schoinos, an die ebenfalls plndernden Nobatai ab, gestattete diesen und denBlemmyern die gemeinsame Nutzung des Heiligtums von Philae und bezahltebeiden einen jhrlichen Tribut.

    Wahrscheinlich 336 n. Chr. wurde durch den rmischen Offizier Abinnaeuseine Gruppe blemmyischer Gesandter an den Hof von Kaiser Konstantin gebracht.Ihre Anwesenheit dort bezeugt Eusebius von Caesarea (Vita Constantini 4,7,1). AufBefehl des Kaisers brachte er sie auch in ihr Land zurck und blieb dort selbst dreiJahre. Im Jahre 421 n. Chr. besuchte Olympiodor die Blemmyer. Zu dieser Zeit

    54 Hist. Aug. Aur. 33,4: Nach der Niederschlagung fhrte Aurelian sie in seinem Triumphzug alsGefangene an.55 Hist. Aug. Probus 17; 19; eine etwas andere Version bei Zosimus 1,71.56 Zwlfmeilenland, Bezeichnung des ca. 135 km langen Nordabschnitts Nubiens zwischenSyene und Takompso/Hierosykaminos (al-Maharraqa), der von den Herrschern dem Tempel derIsis von Philae vor allem zur Erhebung von Zllen auf den Warenverkehr bereignet wurde.57 Updegraff 1988, 7476 negiert Aktivitten der Nobatai in besagter Gegend zu dieser Zeit.58 Prok. bell. Pers. 1,19.59 Barnes 1985, 369 f.

    Nomaden als das ganz Andere? 27

  • besiedelten sie die Stdte Primis, Phoinikon, Chiris, Taphis und Talmis (Haupt-stadt).

    Whrend der gesamten Sptantike bis in die Zeit Justinians (527565 n. Chr.)stellten die Blemmyer immerwieder eine Bedrohung fr die Sdgrenze der Provinzgypten dar, trotz verschiedener Vertrge kam es immer wieder zu Kampfhand-lungen. Ein wichtiger Kontaktpunkt in den folgenden Jahrzehnten zwischen R-mern und Blemmyern war das Isis-Heiligtum in Philae. Dieser Tempel war daseinzige offiziell geduldete pagane Heiligtum im christlichen Imperium Romanum.In der Zeit Justinians wurde der heidnische Kult auf Philae um 535 n. Chr. dannallerdings unterbunden.

    Von den Kopten und Arabern wurden die Blemmyer Bedscha (Beja) ge-nannt. Die Bedscha wren dann wie Rolf Herzog mehrfach anfhrt dieNachfahren der Blemmyer; diese These ist in der Fachwelt jedoch umstritten.

    Neben den zahlreichen historischen Berichten zu dem Nomadenstamm derBlemmyer, gibt es auch noch eine andere Art von Darstellung. Bereits PomponiusMela hatte diese im 1. Jh. n. Chr. in einen Zusammenhangmit diversen fabelhaftenVlkern wie den Satyrn gebracht:

    Intra, si credere libet, vix iam homines magisque semiferi Aegipanes et Blemyes et Gampha-santes et Satyri sine tectis ac sedibus passim vagi habent potius terras quam habitant. (1,23)

    Im Binnenland haben wenn man das glauben mag Wesen, die kaum noch Menschen,sondern halbe Tiere sind, nmlich die gipanen, Blemyer, Gamphasanten und Satyrn, ohneHaus und Wohnsitz berall umherschweifend, die Lndermasse mehr inne als da sie siebewohnten. (bers. Brodersen)

    Am Beginn seiner Beschreibungen nimmt Pomponius Mela wenig konkretenBezug auf die uere Erscheinungsform der Blemmyer, indem er sie als kaumMensch seiend mit Tieren gleichsetzt. Dafr charakterisiert er ihre Lebensweise,die seiner Beschreibung nach typisch nomadisch ist: Sie besitzen keine Huseroder Wohnsitze, sondern streifen umher. Damit behalten die Blemmyer bei ihmnoch das nomadische Element der anderen antiken Autoren, wie beispielsweisebei Strabon. Hinzu tritt als neue Charakterisierung ihr abnormes ueres.

    60 FHG 4,66,37.61 Eine Verbindung der Blemmyer zu Philae findet sich seit dem 2. Jh. v. Chr. im PapyrusDodgson 21 verso.62 Plumley 1975b, 245.63 U.a. findet sich ein Teil der wissenschaftlichen Debatte bei Herzog 1967, 5459.

    28 Michaela Rcker

  • Einige Abschnitte spter klassifiziert er ihr Aussehen noch genauer: Blemyiscapita absunt, vultus in pectore est (Mela 1,48). Die Beschreibung steht in einemklaren Zusammenhang mit den Darstellungen der Randvlker seit Herodot; auerAcht lsst er aber, was genau an diesem ueren mit Tieren vergleichbar ist.

    Eine weitere Textstelle zur Andersartigkeit der Blemmyer findet sich bei Pli-nius. Man kann vermuten, dass beide Autoren derselben Quelle gefolgt sind:

    Blemmyis traduntur capita abesse, ore et oculis pectori adfixis. (Plinius, naturalis historia 5,46)

    Es heit, den Blemmyern fehlen die Kpfe, da Mund und Augenmit der Brust verhaftet seien.(bers.Winkler)

    Im Gegensatz zu seinem Vorgnger widmet sich Plinius nicht der Lebensweise derBlemmyer; der nomadische Aspekt verschwindet. Sein Bericht konzentriert sichausschlielich auf das sonderbare Aussehen, mit dem sie aber hervorragend zuden anderen in diesem Abschnitt seines Werkes beschriebenen merkwrdigenVlkern passen.

    Berichte von kopflosenVlkern finden sich auch bei anderen antikenAutoren.Auch Herodot uert sich in hnlicher Weise im 4. Buch seiner Historien bei derBeschreibung Libyens:

    , , , : , , , -. (Herodot 4,191,34)

    Dieser stliche Teil Libyens bis zumTritonflu, den die Nomaden bewohnen, ist Tiefland undsandig, der westliche Teil davon aber, den die Ackerbauern bewohnen, ist sehr gebirgig,waldreich und hat viele groe,wilde Tiere. Dort gibt es Riesenschlangen, Lwen, Elefanten,Bren, Giftschlangen, Esel mit Hrnern, Leute mit Hundskpfen und Menschen ohne Kopfmit den Augen auf der Brust so erzhlen wenigstens die Libyer , ferner wilde Mnner undFrauen und dazu zahlreiche Tiere, die nicht Fabelwesen sind. (bers. Feix)

    Die Beschreibungen Herodots sind denen des Plinius sehr hnlich, nur dass dergriechische Geschichtsschreiber das wundersame Volk mit einem beschreibendenNamen versieht: Akephaloi Kopflose. Auch sind sie bei Herodot keine Noma-

    64 Den Blemyern fehlen die Kpfe, ihr Gesicht ist auf der Brust. (bers. Brodersen)

    Nomaden als das ganz Andere? 29

  • den. Plinius selbst erzhlt dem Leser auch noch von einem indischen Volk,dessen Aussehen eine Varianz zu seinen afrikanischen Blemmyern darstellt:

    non longe eos a Trogodytis abesse, rursusque ab his occidentem versus quosdam sine cerviceoculos in umeris habentes. (Plinius, naturalis historia 7,23)

    Sie [sc. die Skiapoden] sollen nicht weit von den Trogodyten entfernt wohnen, undwiederumwestlich von ihnen fnden sich andere, die keinen Nacken und die Augen auf den Schulternhtten. (bers. Knig)

    Plinius kennt also ein hnliches Volk auch in Indien,wobei diese die Augen nichtauf dem Bauch sondern auf der Schulter haben. Doch trotz der hnlichkeit beiderVlker zieht er keinerlei Verbindung zwischen den Darstellungen. In seinemWerkvermischen sich die Werke vieler griechischer und lateinischer Autoren aus un-terschiedlichen Zeiten. Ein Versuch, die verschiedenen Informationen zueinanderin Beziehungen zu setzen oder Widersprche zu korrigieren ist nicht erkennbar,was auch die Verdopplungen innerhalb der Vlkerbeschreibungen erklrt. Dabeilsst sich bei den antiken Autoren sogar eine Verbindung der Blemmyer nachIndien finden. Der wahrscheinlich im 5. Jh. n. Chr. lebende Nonnos von Panopoliserwhnt in seinem Epos Dionysiaka den Grndungsheros der Blemmyer:

    , , , . , , , , , , , , . (Nonnos, Dionysiaka 17,385397)

    Blemys, ein Krauskopf, ein Vorkmpfer der erythrischen Krieger, kniete, den friedlichenlzweig zum Zeichen des Flehens in den Hnden, demtig nieder vor Bromios, vor demVernichter der Inder. Dieser erblickte den Mann, der zum Boden sich neigt, und hob ihn aufmit der eigenen Hand. Mit seinem vielsprachigen Volke schickte er weit ihn hinweg von dendunkelhutigen Indern, bis nach Arabien. Dort grndete Blemys, der Herrschaft und Wesen

    65 Die Bezeichnung akephalos wird in den antiken Texten nicht nur zur Bezeichnung vonFabelvlkern verwendet, sondern bezeichnet auch eine Dmonengestalt des griechischenVolksglaubens, die zur Gruppe der vorzeitig Verstorbenen gehrend, dem Magier als Paredros,zur Seite steht.

    30 Michaela Rcker

  • des Deriades hate, auf reichemBoden, amMeere,Wohnsttten, nannte nach seinemNamenhinfort auch die Brger.Ungesumt zog er zur siebenarmigenMndungdes Nilstromsweiter,um ber ebenfalls dunkelhutige Stmme in Aithiopien zu herrschen. Mero, mit ewigemSommer, grte als Frsten ihn, Blemyer nannte sein Volk sich in Zukunft. (bers. Ebener)

    Blemys, der Stammvater der Blemmyer, war einer der drei Unterfeldherrn desindischen Knigs Deriades,welche gegenDionysos kmpften. Das Volk selbst wirdin dem Text nicht klassifiziert, aber die ursprngliche Heimat des Heros scheintIndien gewesen zu sein. Ein mglicher Anhaltspunkt fr die Verlegung des Volkesnach Osten seitens der spteren Rezeption?

    Ein weiterer Anhaltspunkt sind Darstellungen in indischen Quellen Me-gasthenes hat auf die Verwendung in seinem Werk hingewiesen. Im Vinaya-Pit-aka, einer Sammlung buddhistischer Ordensregeln, findet sich die gleiche Be-schreibung wie bei Plinius: I saw the headless trunk of a body going through theair. Its eyes and even its mouth were on its breast. (Book of the Discipline 3,106107, bers. Horner)

    Der Text der Vinaya-Pitaka wird als sehr alt erachtet, Teile des Werkes gehenbis ins 4. Jh. v. Chr. zurck und knnten eine der Informationsquellen der Indi-enhistoriker gewesen sein. Der groe Unterschied zu den antiken Texten liegtdarin, dass das andere uere in dem indischen Text als Strafe fr Snde(Diebstahl) angesehen wurde diese Erklrung fr die Gestalt der Wundervlkerist den antiken Texten fremd.

    Die Darstellungen des Pomponius und des Plinius bilden die Ausnahme inden Blemmyer-Beschreibungen aber dieses Bild entwickelte sich zum bekann-testen der Blemmyer, weil es von den Christen zusammen mit den anderen Dar-stellungen wunderlicher Gestalten benutzt wurde, um heidnische Vlker zu d-monisieren. Der im dritten oder vierten Jh. n. Chr. schreibende GrammatikerSolinus hat viele dieser Geschichten in sein Werk Collectana rerum memorabiliumbernommen, ebenso auch Martianus Capella. Die Rezeption ihrer Werke warschon in der Sptantike betrchtlich durch Autoren wie Ammianus Marcellinus,Macrobius und Augustinus, und erfreute sich auch im Mittelalter groer Beliebt-heit bei Historikern, Geographen und Enzyklopdisten wie Isidor von Sevilla.Durch diesen tradiert wird die antike Beschreibung vonmittelalterlichen Autoren,wie John Mandeville, Sebastian Mnster und Hartmann Schedel bernommen.

    66 Dazu ausfhrlicher Derrett 2002.67 So nennt sich der unbekannte Verfasser einer zwischen 1357 und 1371 zusammengestelltenfranzsischsprachigen Schilderung einer Reise ins Heilige Land, in den Fernen Osten und in dasKnigreich des Priesterknigs Johannes.

    Nomaden als das ganz Andere? 31

  • Whrend Isidor das Bild des Plinius zu den afrikanischen Blemmyern rezipiert,gibt Mandeville nur die Informationen zu dem in Indien lokalisierten Stamm derKopflosen wieder.

    In der Schedelschen Weltchronik, die erstmals 1493 in Nrnberg in einer la-teinischen und einer deutschen Fassung erschien, finden sich im Abschnitt zum 2.Weltalter, berschrieben mit Das ander alter der werlt detaillierte und mitHolzschnitten versehene Angaben zu wunderlichen Vlkern, die in dem landeindia, libia, Sicilia und Scithia sind. Es handelt sich dabei um einundzwanzigVertreter von Vlkern, die sich vor allem durch ihre verschiedenen krperlichenMerkmale auszeichnen: einugige Zyklopen, Antipoden mit nach hinten gerich-teten Fen, Skiapoden oder Schattenfler, Panotier mit flgelartig herabhn-genden und den Krper nahezu bedeckenden Ohren. Es finden sich Mischge-stalten beiderlei Geschlechts oder solche, die deutlich mit tierischen Krperteilenversehen sind. In dem umfangreichen Katalog der Schedelschen Weltchronikfehlen weder die Kynokephalen, hundskpfige Wesen mit Menschengestalt, nochdie Kentauren oder die Kranichmenschen mit einem langen, gebogenen Hals undeinem gewaltigen Schnabel. Und natrlich findet sich auch die Darstellung einesAkephalen (Abb. 1) nach den Beschreibungen des Plinius wrde es sich umeinen Blemmyer handeln. Die Darstellungen der wundersamen Vlker sind da-hingehend interessant, dass sie trotz ihrer andersartigen Gestalten auf den Be-trachter keinesfalls bedrohlich wirken was sich nicht immer mit den Darstel-lungen in den antiken Texten deckt.

    Es gibt in der Fachliteratur natrlich auch Erklrungsversuche fr die Dar-stellung eines kopflosen Volkes: Zum einen sind da Vermutungen, dass es Stmmegab, die sich mit Schilden schtzten, die mit Gesichtern verziert waren. Zumanderen wurde bei Ausgrabungen in Qasr Ibrim 1974 ein hoher schmaler Schildgefunden, der seinen Trger von den Knien bis zur Nase schtzen sollte. FallsSchilde tatschlich in dieser Weise genutzt wurden, knnte die Beobachtung

    68 Man glaubt, dass die Blemmyae in Libyen als Rmpfe ohne Kopf geboren werden und Mundund Augen in der Brust haben. Andere wrden ohne Hlse geboren und htten die Augen an denSchultern. (11,3,17, bers. Mller)69 Auf einer anderen Insel gen Sden wohnen schmutzige Leute von bser Natur. Sie habenkeinen Kopf, die Augen befinden sich auf Hhe der Achseln, der Mund steht am Herzen und istso krumm wie ein Hufeisen. Auf einer anderen Insel gibt es Menschen, die ein ganz flachesGesicht haben. Sie haben keinen Mund, sondern dort, wo der Mund sein msste, nur zwei kleineLcher. Wieder auf einer anderen Insel gibt es schmutzige Leute, mit Lippen, die so lang undgro sind, dass sie sich mit ihnen das Antlitz bedecken knnen, wenn sie in der Sonne liegen.(bers. Buggisch)70 Plumley 1975a, 24.

    32 Michaela Rcker

  • dieser Art zu kmpfen den antiken Autoren als Inspiration zur Beschreibung eineskopflosen Volkes gedient haben.

    Fazit

    In den Berichten von den Rndern der Welt spielt die Fantasie der Autoren einewichtige Rolle. Der Nutzen der, wie Greenblatt es nennt, Anekdoten liegt darin,den Leser mit dem Schrecken des Unbekannten zu konfrontieren, eine maloseNeugierde freizusetzen und die aufregendsten Wunder aufzubieten. Die be-schriebenen Vlker fallen zum einen durch ihre ungewhnliche Physiognomie,zum anderen durch ihre andere Lebensweise auf. Diese Darstellungen halfendabei, Unterschiede wahrzunehmen und Unterscheidungen zu treffen, da dasFremde einerseits als bedrohlich empfunden werden kann, da es dem EigenenKonkurrenzmacht, andererseits aber auchVerlockungen in sich birgt, da es eigeneMglichkeiten wachruft. Die Faszination fr das Fremde resultierte aus einer Artberdruss an der eigenen Normalitt. Von den Nachrichten aus einer verklrtenAuenwelt wusste man sich durch die Zugehrigkeit zur griechisch-rmischenZivilisation zu distanzieren und zu trennen.

    Eine Interpretation der Wundervlker ber die Aneignung des Fremden durchRckfhrung auf Eigenes bzw. die Eingliederung des Eigenen und Fremden in einGanzes findet sich schon bei Herodotmit der Identifikation einer fremden Gottheitmit einemMitglied des eigenen Pantheons oder beiMegasthenes, der im indischenKrishna den griechischen Herakles wiedererkannte. Es gab durchaus die Be-reitschaft, in der fremdenWelt Vertrautes wiederzufinden oder besser: Fremdes invertrauten Kategorien zu verstehen. Dieser Anspruch lie sich nicht immer ein-lsen, infolgedessen wird das,was im Ganzen keinen Platz findet, marginalisiert,beispielsweise werden bestimmte Vlker zu Randvlkern erklrt oder sie werdeneliminiert. Die drei untersuchten Beispiele zeigen auch die verschiedenen Mg-lichkeiten des Umgangs mit Fremdvlkern auf. Bei den relativ unbekanntenMachlyern dient die Charakterisierungals androgynoi bei Plinius zur Entschrfungeiner wohl nicht wirklich vorhandenen Gefahr, als Denunziation eines Volkes,dessen Herkunft irgendwo in Afrika lag.

    71 Greenblatt 1994, 11.72 Waldenfels 1997, 74.73 Stagl 1997, 95.74 Dihle 1994, 108.75 Megasthenes FGrH 715 F 13.

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  • Die berlieferung zu den Skiratai als nasenloses Volk resultiert vor allem ausder Schwierigkeit, die verschiedenen Aussagen der Indienhistoriker zu einemeinheitlichen Bild zu verschmelzen. Ausschlaggebend waren dabei sicher Vor-urteile ber das magebliche Aussehen der am Rand der Welt ansssigen Vlker,auch wenn Autoren wie Megasthenes vor Ort andere Informationen erhalten ha-ben mgen. So konnte sich zumindest die Benennung des Stammes ndern, d.h.der beschreibende Name ging verloren, aber die Vorstellungen der andersartigenPhysiognomie blieb erhalten.

    Bei den Blemmyern zeigt sich die Vermischung verschiedener Elemente amdeutlichsten: Der in den Quellen vergleichsweise gut belegte Nomadenstamm, dersich bereits durch seine andere Lebensweise unterscheidet, erfhrt auch optischeine nderung. Die Grnde dafr sind schlecht nachzuvollziehen und bleiben reinspekulativ. Zur Zeit des PomponiusMelaund des Pliniusging keineGefahr von denBlemmyern fr die Rmer aus; die Herabwrdigung eines potentiellen Gegnerskann wohl ausgeschlossen werden. Vermutungen, die beiden Autoren wrenZeugen einer Kampfesweise mit krperhohen Schilden geworden, worauf dannihre Beschreibung basierte, lassen sich nicht nachprfen.Viel eher ist wohl auf dieVerwendung verschiedener lterer Quellen, die sich den Rndern der Welt ge-widmet haben, zu schlieen, bei Plinius wird das sehr deutlich anhand der Va-rianzen seiner Darstellung. Der Transfer der Bilder von Indien nach Libyen/thiopien und umgekehrt hngt eng mit den Vorstellungen zu beiden Gegendenzusammen. Zumindest kann festgestellt werden, dass sich durch die Bezeichnungder Blemmyer als akephalos bis in unsere Forschungsliteratur hinein die Identi-fikation dieses Volkes mit den Kopflosen ergeben hat, obwohl in den Texten auchakephale Vlker beschrieben werden, ohne ihnen einen Namen zu geben. Es hatauch den Anschein, als ob sich fr Plinius gerade nomadische Stmme fr eineGleichsetzung mit Randvlkern eignen.

    Mit der Umsetzung des Bildes vom Blemmyer durch Umberto Eco in seinemRoman Baudolino, der nicht nur den Blemmyer wiederauferstehen lsst, sonderneinen Groteil der wunderbaren Gestalten in die Handlung einbaut, soll noch einkurzer Blick auf die zeitgenssische Literatur geworfen werden. Darin zeigt sich,dass auch heute noch eine gewisse Faszination fr das Wunderbare besteht:

    Nachwenigen Augenblicken gingen die Farnhalme auseinander, und es erschien ein anderesWesen. Es war sehr verschieden von dem Skiapoden, und tatschlich hatten unsere Freundeschon bei der Erwhnung eines Blemmyers zu sehen erwartet,was sie nun sahen. DasWesenwar breitschultrigund starkuntersetzt, dochmit schmaler Hfte, es hatte zwei kurze behaarteBeine, aber es hatte keinen Kopf und auch keinen Hals. Auf der Brust, wo wir Menschen dieBrustwarzen haben, ffneten sich zwei mandelfrmige, beraus lebhafte Augen und untereiner leichten Erhebung mit zwei Nasenlchern ein kreisrundes, aber sehr dehnbares Loch,das beim Sprechen verschiedene Formen annahm, je nach den Lauten, die es von sich gab.

    34 Michaela Rcker

  • Gavagai ging hin, um mit ihm zu tuscheln, wobei er auf die Besucher deutete, und derBlemmyer nickte erkennbar, wenn auch nicht mit dem Kopf, den er ja nicht hatte, sondernindem er die Schultern vorbeugte.

    Abschlieend lsst sich sagen, dass sich nicht hinter jedem fantastischen Volkeine real existierende Ethnie verbirgt, sich aber in den Quellen durchaus realeNamen und wunderliche Vorstellungen vermischen knnen.

    Die letzten Worte sollen Baudolino gehren:

    Darum ist es besser, ich ziehe mich in die Welt meiner Wunderwesen zurck, denn in derkann ich wenigstens selbst entscheiden, in welchem Mae sie eben wunderbar sind.

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