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Kapitel E1 ausT.Brandt, H.C.Diener, C.Gerloff (Hrsg.)
Therapie und Verlaufneurologischer Erkrankungen6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012
Kohlhammer
C.Gerloff, H.C.Diener, C.Weimar, W.Hacke
ZerebraleIschämieISBN 978-3-17-024548-8
349
E1
E 1 Zerebrale IschämieC. Gerloff, H. C. Diener, C. Weimar und W. Hacke*
E 1.1 Klinik
Zerebrale Ischämien umfassen ischämische Hirnin-farkte mit klinischen Symptomen von ≥ 24 StundenDauer und die (klinisch definierten) transitorisch is-chämischen Attacken (TIA) mit Symptomdauer un-ter 24 Stunden. Das Konzept »TIA« ist nur noch be-dingt sinnvoll, da a) die TIA ein vergleichbar hohesSchlaganfall(rezidiv)risiko hat wie die ischämischenHirninfarkte, b) das Akutmanagement der TIA, ab-gesehen von einer Thrombolyse, analog zum Akut-management des Hirninfarkts sein muss und c) sichkernspintomographisch bei 30–35 % der TIA struk-turelle ischämische Läsionen, also Infarkte, zeigen(Mlynash et al. 2009, Oppenheim et al. 2006).
Das charakteristische klinische Zeichen der zere-bralen Ischämie ist das akute, binnen Sekunden auf-tretende fokale neurologische Defizit. Ab diesemZeitpunkt kommt es auf jede Minute an. Ziel derprähospitalen Akutversorgung ist es daher, die Ret-tungskette bis zur Einweisung auf eine Stroke Unitmaximal zu beschleunigen. Generell gilt, dass jederPatient mit zerebraler Ischämie auf einer Stroke Unitzu behandeln ist. Derzeit wird dieses Ziel erst beietwa 60 % der Patienten mit zerebraler Ischämiedeutschlandweit erreicht (Grau et al. 2010).
Zwar ist die initiale Symptomatik meist eindeutig,dennoch bleiben 10–14 % sog. »stroke mimics«(komplizierte Migräne, Anfälle mit Todd’scher Pare-se, Entzündungen, Konversionssymptom) (Cherny-shev et al. 2010, Winkler et al. 2009). Dies sprichtdafür, dass auch bei atypischen, akut auftretendenneurologischen Defiziten eine differenzierte Schlag-anfalldiagnostik durchzuführen ist.
Die wichtigste Diagnostik bei V. a. zerebrale Ischä-mie ist die kraniale Bildgebung, in aller Regel inForm des cCT, das unverzüglich durchgeführt wer-den sollte (A). Das cMRT kann zusätzliche Informa-tionen liefern und ist insbesondere bei infratento-riellen Ischämien sensitiver als das cCT. Das cMRTkann statt dem cCT als primäre Bildgebung einge-setzt werden, wenn eine geeignete Gradienten-Echo-Sequenz zum Blutungsausschluss durchge-führt wird und wenn dadurch kein nennenswerterZeitverlust entsteht (B). Routinelaborparameter,EKG und Pulsoxymetrie gehören bei jedem Patien-ten zur Basisdiagnostik (A). Der Blutzucker solltebereits vom Erstversorger per Stix bestimmt werden(B). Bei Lyseindikation kann auch die INR-Bestim-
mung in der Notaufnahmesituation per Stix erfol-gen, um Zeit zu sparen (B). Möglichst rasch unddefinitiv binnen 24 Stunden. sollte eine Ultraschall-untersuchung der hirnversorgenden Arterien er-folgen (B). Diese darf aber nicht den Beginn all-gemeiner oder spezifischer Therapiemaßnahmenverzögern. In den ersten 24 Stunden sollen alleSchlaganfallpatienten ein 12-Kanal-EKG erhalten.Bei Verdacht auf Arrhythmien sollte ein 24-Stun-den-EKG-Monitoring erfolgen (A). Die Echokardi-ographie ist geeignet, kardiale Emboliequellen zudetektieren, wobei das TEE (transösophagealeEchokardiogramm) sensitiver ist als das TTE (trans-thorakal) (B).
E 1.1.1 Häufige Symptomkonstellatio-nen bei zerebralen Ischämien
Die klinische Symptomatik hängt vom betroffenenGefäßterritorium ab. Die Grundzüge der funktio-nellen Anatomie werden an dieser Stelle vorausge-setzt, z. B. das Auftreten einer häufig brachiofazialbetonten Hemiparese rechts mit globaler Aphasiebei proximalem Verschluss der A. cerebri medialinks (und linkshirniger Sprachdominanz), das Auf-treten einer kontralateralen beinbetonten Hemipa-rese bei Verschluss der A. cerebri anterior oder einerhomonymen Hemianopsie zur Gegenseite bei Ver-schluss der A. cerebri posterior.Im Folgenden wird die Darstellung auf spezielle As-pekte des klinischen Bildes fokussiert. Eine Häufig-keitsverteilung von ischämischen Infarkten nachStromgebieten gibt Tab. E 1.1.
Tab. E 1.1: Verteilung ischämischer Infarkte: Häufig-keit des Vorkommens nach Stromgebieten(eigene Metaanalyse der Daten von Bo-gousslavsky et al. 1988, Grau et al. 2010,Michel et al. 2010, Ng et al. 2007)
* Autoren dieses Kapitels in der 5. Auflage: H. C. Diener, W. Hacke und A. R. Luft.
Stromgebiet Häufigkeit
A. cerebri media 54,9 %
A. cerebri anterior 4,5 %
A. cerebri posterior 7,8 %
Lakunen 13,7 %
Hirnstamminfarkte 11,8 %
Zerebelläre Infarkte 3,3 %
Infarkte in > 1 Territorium 7,2 %
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Zerebrovaskuläre Erkrankungen
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E 1.1.2 Besondere Symptom-konstellationen
Gefäßverschlüsse im vertebrobasilären Stromkreislauf(einschließlich Basilaristhrombose):Die Symptomatik hängt vom verschlossenen Seg-ment ab und kann in ihrem Ausprägungsgradzwischen völligem Fehlen von neurologischen Defi-ziten (z. B. proximaler Vertebralisverschluß beiguter Kollateralisierung) über schwere Ausfälle vonHirnstammfunktionen und Funktionen der langenmotorischen und sensiblen Bahnen bis hin zu Soporund Koma führen (z. B. Basilaristhrombose). Ty-pisch ist das Fluktuieren und von klinischen Symp-tomen mit einer Art »Crescendo«-Verlauf, also letzt-lich einer progredienten, erst »stotternden«, dannanhaltenden Verschlechterung. Ischämische Infark-te im hinteren Stromkreislauf können nuchal oderokzipital betonte Kopfschmerzen verursachen. Ty-pische Zeichen, die auf eine Hirnstammdysfunktionhinweisen, sind Drehschwindel, Doppelbilder (im-mer auch nach »skew deviation« fragen), bilateraleSensibilitätsstörungen oder Paresen, gekreuzte mo-torische oder sensible Ausfälle (ipsilaterale Hirnner-venausfälle, kontralateral im Bereich der Extremi-tät). Weniger spezifisch sind Stand- und Gangataxie,Extremitätenataxie, Kopfschmerzen. Die Kombina-tion mit einer Hemianopsie oder gar kortikalerBlindheit (vgl. Anton-Syndrom = kortikale Blind-heit bei bilateralen Posteriorinfarkten verbundenmit Anosognosie) spricht dafür, dass Teile einesThrombus via A. basilaris nach distal in die Aa. ce-rebri posteriores vorgedrungen sind. Der Verschlussder A. vertebralis mit Affektion der A. cerebelli infe-rior posterior (PICA) führt zum Wallenberg-Syn-drom: Ipsilateral brennende Missempfindungen imGesicht, Horner-Syndrom, horizontaler Spontan-nystagmus, Extremitätenataxie, Gaumensegelpare-se, Stimmbandlähmung und Fallneigung nach ipsi-lateral. Der Patient bemerkt dazu Drehschwindel,Heiserkeit und eine Schluckstörung. Kontralateralim Bereich des Rumpfes und der Extremitäten be-stehen eine Hypalgesie und Störungen der Tempera-turempfindung.
»Top-of-the-basilar syndrome« Basilarisspitzenver-schluss:Hier kommt es neben einer quantitativen Bewusst-seinsstörung, die aufgrund einer Perfusionsstörungim Versorgungsgebiet des Stamms der A. basilarisentsteht und beim typischen Basilarisspitzensyn-drom temporär ist, zu einer komplexen Okulomoto-rikstörung mit peripheren und zentralen Anteilen(bilaterale Okulomotoriusdysfunktion, vertikaleBlickparese), Gedächtnisstörungen (uni- oder bila-terale Thalamusläsionen), Hemianopsie oder korti-kaler Blindheit.
Verschluss der A. cerebelli inferior anterior (AICA):Zum einen treten Symptome ähnlich wie beimPICA-Infarkt auf (Hemiataxie, zerebelläre Okuko-motorikstörung), zusätzlich kann es zu einer nukle-ären ipsilateralen Fazialisparese, zu Hörverlust undeinem vestibulär (peripher) anmutenden Dreh-schwindel kommen.
Verschluss der Heubner’schen Arterie (Ast der A.cerebri anterior, auch A. striata anterior):Mutismus oder Verwirrtheit, Amnesie, Konfabula-tion, Perseveration, Antriebsstörung: reduzierteSprache und kognitive Verlangsamung, exekutiveDysfunktion, kontralaterale Hemiparese bei Beteili-gung der inneren Kapsel.
Verschluss der A. chorioidea anterior:Kontralaterale Hemiparese, Hemihypästhesie undHemianopsie, meist ohne kognitive Einbußen oderStörungen des Verhaltens.
Verschluss der »Perforatoren« der A. cerebri mediazur Capsula interna oder der A. basilaris zum Pons:Die genannten Gefäßverschlüsse verursachen laku-näre Ischämien und sind zwei typische Ursachen fürden sog. »pure motor stroke«, eine Entität, die sichin reiner Hemiparese ohne sensible, visuelle oderkognitive Störungen äußert und prognostisch güns-tiger zu sein scheint als Hemiparesen aufgrund an-derer Läsionsverteilungen.
Verschluss von »Perforatoren« (inferolaterales Terri-torium, A. thalamogeniculata) der A. cerebri poste-rior (P1-Segment):Hierbei entsteht ein lakunärer Thalamusinfarkt mitreiner Hemihypästhesie, ohne motorische oder kog-nitive Ausfälle, ein sog. »pure sensory stroke«.
E 1.2 Epidemiologie und Verlauf
Die Inzidenz eines erstmaligen Schlaganfalls liegtzwischen 200 und 300 pro 100 000 pro Jahr (Heu-schmann et al. 2010, Kulesh et al. 2010, Palm et al.2010), sodass in Deutschland von rund 200 000neuen Schlaganfällen jährlich auszugehen ist. InDeutschland leben über 1 Mio. Menschen mit denFolgen eines Schlaganfalls. Die Wahrscheinlichkeit,nach einem ersten Schlaganfall einen weiteren zu er-leiden, beträgt 12 % im ersten Jahr und danach 5 %pro Jahr (Hankey 2003). Die altersadjustiertenSchlaganfall-Mortalitätsraten in der deutschen Be-völkerung zeigen in den letzten Jahren einendeutlichen Rückgang und liegen derzeit bei rund100/100 000 für Frauen und 90/100 000 für Männer(offizielle Todesursachenstatistik Deutschland 2008[http://www.destatis.de)]). Ein Teil stirbt an den un-mittelbaren Folgen des Hirninfarkts mit Raumfor-derungswirkung, ein anderer Teil durch sekundäreKomplikationen wie Pneumonie, Lungenembolien,Blutung in das Infarktareal oder einen zweitenSchlaganfall. Weitere Faktoren, die über die Progno-se entscheiden, sind neben dem Alter und derSchwere des Schlaganfalls das Geschlecht, der ethni-sche Hintergrund und der sozioökonomische Statusdes Patienten, Alkohol- und Nikotinkonsum, Risi-kofaktoren wie Hypertonus und Diabetes sowieBegleiterkrankungen wie Vorhofflimmern und ko-ronare Herzkrankheit (Weimar et al. 2004, Wolfe etal. 2005).
Etwa 20–25 % der Schlaganfälle treten im Schlaf aufund werden erst beim Aufwachen bemerkt (sog.»Wake-Up-Stroke«; vgl. Huisa et al. 2010, Silva et al.2010). In diesen Fällen lässt sich das Zeitfenster seitSymptombeginn nicht erfragen, sodass nach derzei-
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