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CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Ergebnisse einer Kurzexpertise des ISG
Vortrag am 21. September 2016 in Chemnitz
Dr. Dietrich Engels
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG DER
ARBEITSWELT FÜR DIE BESCHÄFTIGUNG VON
MENSCHEN MIT BEHINDERUNG
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Gliederung
(1) Ausgangslage: Entwicklung, St ruktur und Erwerbsbeteiligung
von Menschen mit Schwerbehinderung
(2) Hypothesen zur Auswirkung der Digitalisierung
(Basis: Literaturauswertung)
(3) Quant itat ive Entwicklung der Beschäft igung in IKT-Berufen und
Spitzentechnologie (Basis: Mikrozensus)
(4) Qualitat ive Untersuchung: 8 Experten-Interviews
(5) Fazit
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
1. Ausgangslage (1)
Schwerbehinderte Menschen: quantitative Entwicklung
1997 2005 2013 Veränderung
Anzahl insgesamt (Mio.) 5,4 6,8 7,5 41%
darunter 18 - 64 Jahre 3,0 3,2 3,5 15%
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
1. Ausgangslage (2)
Schwerbehinderte Menschen im Alter von 18-64 Jahren (2013):
18 bis 44 Jahre: 22%, 45 bis 64 Jahre: 78%
Art der
Behinderung:
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
1. Ausgangslage (3)
Erwerbsbeteiligung im Alter von 18 – 64 Jahren (MZ 2013):
• Ohne Beeinträchtigung 80%
• Mit Beeinträchtigung 49%
• Darunter mit Schwerbehinderung 42% (Nichterwerbspersonen: 56%)
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
2. Hypothesen (1)
(1) Wegfall von Arbeitsplätzen durch neue Technologien
• Ersatz von Rout inetät igkeiten, steigende Nachfrage nach abst rakten
Tät igkeiten (IAB/ZEW 2015)
• Gering Qualif izier te mit Behinderungen: entweder gewinnen einfache
Tät igkeiten in Ergänzung zu automat isierten Arbeitsprozessen an Bedeutung
(Polar isierung), oder Arbeitsmöglichkeiten werden eingeengt .
(2) Neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen
• Personenbezogene assist ive Technologien bieten für Personen mit
Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit , des Sehens oder des Hörens neue
Chancen.
• Neue Chancen für hoch qualif izier te Personen mit körper lichen oder Sinnes-
beeint rächt igungen - erfordern fachkundige Beratung und passgenaue
Vermit t lung.
• Den Chancen stehen neue Barr ieren gegenüber: höhere Anforderungen an
Reakt ionsschnelligkeit , stärkere Visualisierung und finanzielle Kosten für
Ausrüstung.
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
2. Hypothesen (2)
(3) Exklusionsrisiken durch neue Technologien
• Für geist ige Behinderung, Lernbehinderung, psychische Behinderung:
Digitalisierung = steigende Anforderungen an Qualif ikat ion und
Konzent rat ionsfähigkeit verstärken Exklusion aus dem allgemeinen
Arbeitsmarkt .
• Nutzung von Home-Office erhöht soziale Exklusionsr isiken für Menschen mit
Behinderung: Kontakte zu Kolleg/ innen, zur Arbeitnehmer-Interessen-
vert retung, Anerkennung persönlicher Leistung, Vernetzung durch
informelle Arbeitsgespräche.
• Bereitstellung von angepasstem Arbeitsplatz im Bet r ieb und angepasstem
Arbeitsplatz zu Hause hohe Kosten.
(4) Veränderter Wettbewerb der Werkstätten für Menschen mit Behinderung
• Nischen: einfache menschliche Arbeitsleistungen komplementär zu
automat isierten Abläufen
• Entwicklung zu stärker durchlässigen Arbeitsformen, die mit anderen
Unternehmen kooperieren und deren Produkt ion ergänzen.
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
3. Quant itat ive Entwicklung der Beschäft igung (1)
(1) Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)
• im IKT-Bereich: 3,1% aller Erwerbstät igen (MZ 2009 und 2013)
• Anteil der Erwerbstät igen mit Behinderung: Rückgang von 2,2% (2009) auf 2,1% (2013)
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
3. Quant itat ive Entwicklung der Beschäft igung (2)
(2) Bereich der hochwertigen Technik und Spitzentechnologie
• In diesem Bereich: rd. 9% aller Erwerbstät igen, darunter 2% Spitzentechnologie
• Anteil der Erwerbstät igen mit Behinderung: ebenfalls rd. 9% / rd. 2% Spitzentechn.
• Spitzentechnologie: Chancen vor allem mit Abitur
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
3. Quant itat ive Entwicklung der Beschäft igung (3)
(3) Zwischenfazit
• IKT-Branchen: Anteile der Erwerbstät igen von 2009 bis 2013 etwa gleich
geblieben
• Quoten der Erwerbstät igen mit Behinderung etwa ein Drit tel unter den
Quoten der Erwerbstät igen ohne Behinderung
• Erwerbstät ige mit Abitur sind hier zu höheren Anteilen tät ig, aber Anteil der
Erwerbstät igen mit Abitur und Behinderung ist zurückgegangen.
• Spitzentechnologie: Anteil der Erwerbstät igen zwischen 2009 und 2013
leicht gest iegen, profit ier t haben besonders Erwerbstät ige mit Abitur und
darunter auch diejenigen mit Behinderung
• Steigende Zahlen von Erwerbstät igen mit Behinderung - gest iegene
„ Inklusivität “ dieser Branche, oder auch demografischer Effekt?
altersbedingt höheres Behinderungsr isiko, Abbau der
Frühverrentungsmöglichkeiten
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
4. Qualitat ive Untersuchung: 8 Interviews
(1) Wegfall von Arbeitsplätzen in früheren „Nischen“
• Beispiel Telefonauskunft : jetzt über Web-Informat ionen und Call-Center
organisiert
(2) Neue Beschäftigungsmöglichkeiten unter bestimmten Voraussetzungen
• Neue Arbeitsformen wie Crowd Working, Telearbeit , Home Office etc.:
Beschäft igungschancen für kleine Teilgruppe von hoch Qualif izier ten mit
körper licher Behinderung oder mit Sinnesbehinderung
• … wenn sie intellektuell in der Lage sind, komplexe Arbeitsanforderungen
zu bewält igen, mit den neu entwickelten Techniken umzugehen und
ständige Weiterentwicklungen mitzuvollziehen
(3) Neue Arbeitsfelder für Werkstätten für behinderte Menschen
• neue Arbeitsfelder z.B. durch Einscannen von Dokumenten
• Zweitverwertung von nicht mehr benöt igter Firmenhardware
• aber nur wenige Nischen – nicht beliebig erweiterbar
• Andererseits: verschärfter Wet tbewerb, Just -in-Time-Produkt ion
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Beispiel 1: Integrationsunternehmen: AfB gGmbH social and green IT
Beschäft igungsmöglichkeit für Menschen mit Schwerstbehinderung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt - infolge der Digitalisierung entstanden, als „ IT-Systemhaus“ at t rakt iv
Inhalt lich: Wiedernutzung von gebrauchter IT-Hardware – wir tschaft licher, sozialer und
ökologischer Zweck
Arbeitsfelder:
• Menschen mit psychischer Beeint rächt igung: Datenlöschung und Aufbereitung von
IT-Hardware regelmäßig wiederkehrende Tät igkeiten, sorgfält ige Bearbeitung in
immer gleicher Form und ohne Zeitdruck
• Menschen mit Sehbeeint rächt igung: Datenlöschung große Bildschirme mit sehr
großer Schrift
• Gehörlose: im Lagerbereich Gabelstapler m it akust ischen und opt ischen Signalen,
Apple-Watch, die m it akust ischen / visuellen / takt ilen Signalen über eingegangene
Anrufe / Arbeitsauft räge informiert
Schwierigkeiten:
• hoher Bedarf an sozialpsychologischer Begleitung und Stabilisierung der Mitarbeiter m it
Behinderung
• Sensibilisierung der Mitarbeiter ohne Behinderung und der Kunden für die
Beeint rächt igungen
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Beispiel 2: Vert reter der BAG Werkstät ten für behinderte Menschen
Chancen für WfbM:
Erschließung neuer Nischentät igkeiten - Menschen mit psychischer Behinderung können
Teile komplexer Tät igkeiten bearbeiten, z.B. Einscannen von Dokumenten
Probleme und Grenzen:
• Psychisch beeint rächt igte Menschen: Durchhaltevermögen, Kommunikat ionsfähigkeit ,
persönliche Ängste stabilisierende Arbeitsbedingungen, sich wiederholende
Arbeitsschr it te unter gleich bleibenden Raum- und Zeitst rukturen
• Menschen mit geist iger Beeint rächt igung: Umgang mit neuen Medien eher schwier ig.
Manche Tät igkeiten funkt ionieren mit unterstützenden Rahmenbedingungen, vieles ist
aber auch zu kompliziert .
• Wicht ig ist der Zeit faktor: Der Bedarf an leichter Sprache, Symbolen und Piktogrammen,
kleinen Lehrfilmen etc. ist hoch, und deren Nutzung muss ohne Zeitdruck möglich sein.
Nachteile für WfbM:
• Verschärfter Wet tbewerb, eng term inierte Auft räge, „Just in t ime“-Arbeiten
• für Auft ragsspitzen Bedarf an weiteren nicht beeint rächt igten Arbeitskräften
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
4. Qualitat ive Untersuchung: 8 Interviews
(4) Unterstützung durch assistive Technologien wirkt nicht voraussetzungslos
• Assist ive Technologie muss hinreichend zugänglich sein (auch Kostenfrage)
• über Schnit tstelle m it den eingesetzten Geräten und Programmen kompat ibel
• Ergänzung durch weitere Rahmenbedingungen: reduzierter Arbeits- und Zeitdruck,
opt imale Abläufe und Organisat ionsst rukturen
(5) Technologien wirken je nach Art der Behinderung
• Sehbehinderung: Screen-Reader, Audioversionen, Braille-Schrift leiste hilfreich, aber
Softwareanpassungen nöt ig; zunehmende Visualisierung/ Komplexität als Barr iere
• Hörbehinderung: Er leichterung durch Implantate und Gebärdensprachvideos, aber
Umwelt muss auf besondere Kommunikat ionserfordernisse abgest immt sein
• Kognitive Beeinträchtigung: Verschlechterung der Chancen durch komplexere
Arbeitsprozesse und höhere Qualif ikat ionsanforderungen
• Psychische Beeinträchtigung: benöt igen ver lässliche, wiederkehrende Abläufe,
reizarme Umgebung, keinen Termindruck; durch Digitalisierung erschwert
• Körperliche Beeinträchtigung: Chancen durch neu entwickelte Prothesen, spezielle
Tastaturen etc.; meist höherer Zeitbedarf
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
5. Fazit
(1) Erwerbstät igkeit von Menschen mit Behinderung niedr iger als der Menschen ohne
Behinderung (IKT-Bereich: etwa ein Drit tel niedr iger, kaum Beschäft igungszuwachs)
(2) Prozess der Digitalisierung verstärkt Barr ieren aufgrund der zunehmenden Komplexität
von Arbeitsprozessen und senkt Beschäft igungschancen
(3) Assist ive Technologien können dazu beit ragen, dass insbesondere Behinderungen durch
Körper- und Sinnesbeeint rächt igungen teilweise kompensiert werden - sofern die
Umgebungsbedingungen darauf abgest immt werden
(4) Menschen mit Beeint rächt igungen benöt igen in Ausbildung und Beschäft igung
förder liche Rahmenbedingungen, um ihre Potenziale entwickeln und berufliche
Kompetenzen er lernen zu können; diese Bedingungen sind oft nicht gegeben.
(5) Eine hohe Qualif ikat ion ist für Menschen mit Beeint rächt igungen von Vorteil, wenn diese
so spezif isch ist und auf eine solche Nachfrage t r ifft , dass die Nachteile wegen der
Behinderung dadurch ausgeglichen werden.
(6) Weiterer Forschungsbedarf und bessere Datengrundlagen erforder lich
• Mikrozensus: differenziertere Angaben zur Form der Beeint rächt igung
• Teilhabesurvey: diff. Angaben zu Qualif izierung, Erwerbstät igkeit und Arbeitsuche
• St ichprobe integr ierter Arbeitsmarktbiografien: Aufnahme des Merkmals Behinderung
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Diet r ich Engels
ISG Inst itut für Sozialforschung und Gesellschaftspolit ik GmbH
Weinsbergst raße 190, 50825 Köln
Tel. 0221 – 23 54 73
Email: engels@isg-inst itut .de
Internet : www.isg-inst itut .de
Bundesminister ium für Arbeit und Soziales (BMAS):
FORSCHUNGSBERICHT 467
Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für
die Beschäft igung von Menschen mit Behinderung
www.arbeitenviernull.de
CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG
Operat ionalisierung nach WZ 2008 (Expert ise S. 44):
IKT-Branchen :
• IKT-Warenprodukt ion umfasst WZ 26.1 bis WZ 26.4 und WZ 26.8
Hersteller von Datenverarbeitungsgeräten (z.B. Computer), elekt ronischen Bauelementen sowie von
Gütern der Telekommunikat ionstechnik und Unterhaltungselekt ronik (z.B. Mobiltelefone, Fernseher).
• IKT-Handel umfasst Unternehmen aus dem Großhandel dieser IKT-Waren (WZ 46.51 und WZ 46.52),
ausgenommen der Unterhaltungselekt ronik und des Einzelhandels mit IKT-Gütern.
• IKT-Dienst leistungen umfasst die Telekommunikat ionsbranche (WZ 61) und IT-Berater (WZ 62) sowie
Unternehmen, die mit Verlegen von Software (WZ 58.2), m it Datenbank- und Web-Dienst leistungen
(WZ 63.1) oder mit der Reparatur von IKT-Geräten (WZ 95.1, ausgenommen Unterhaltungselekt ronik)
ihre größte Wertschöpfung erzielen.
Spitzentechnologie:
• pharmazeut ische Erzeugnisse (20.2, 21.1, 21.2), 25.4 Herstellung von Waffen und Munit ion,
• Herstellung von elekt ronischen Bauelementen und Leiterplat ten, Datenverarbeitungsgeräten,
Telekommunikat ionstechnik, Mess-, Kont roll-, Navigat ions- u. ä. Inst rumenten, Uhren,
elekt romedizinische Geräte, opt ische und fotografische Geräte (26.1-26.7), Luft - und
Raumfahrzeugbau, militär ische Kampffahrzeuge (30.3, 30.4).
Hochwertige Technik:
• Herstellung von chemischen Grundstoffen, Kunststoffen, sonst igen chemischen Erzeugnissen, (20.1,
20.5, 22.1), Unterhaltungselekt ronik (26.4), Elekt romotoren, Generatoren, Transformatoren,
Elekt r izitätsverteilung, Bat ter ien und Akkumulatoren, elekt r ische Lampen (27.1-27.9) und 28, 29, 30, 32
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