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Aus der Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kie ferheilkunde
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.
Abteilung für Kieferorthopädie
Die Bewegung des Sechsjahrmolaren unter Lipbumper-Therapie
bei Anwendung der röntgenkephalometrischen Superimpositionstechnik
INAUGURAL-DISSERTATION
zur
Erlangung des Zahnmedizinischen Doktorgrades
der Medizinischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg im Breisgau
Vorgelegt 2008
von Felix Tobias Prömm
geboren in Ostfildern - Ruit
Dekan: Prof. Dr. med. Ch. Peters 1. Gutachter: Prof. Dr. I. Jonas 2. Gutachter: PD Dr. D. Schulze Jahr der Promotion: 2008
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
2 Geschichtlicher Überblick 3
3 Physiologische Grundlagen der Studie 6
3.1 Anteriore Komponente der okklusalen Kraft 6
3.2 Verankerung 6
3.3 Wachstum und Röntgensuperimposition 7
3.3.1 Kraniofaziale Wachstumsmechanismen 8
3.3.2 Endostale und periostale Apposition und Resorption 8
3.3.3 Displacement, Relokation, Kortikalis-Drift oder Translation 9
3.3.4 Remodellierung (Transformation) 10
3.3.5 Funktionelle Matrix und Wachstumsfelder 10
3.3.6 Wachstumsäquivalente im Unterkiefer 11
3.3.7 Umsetzung für die Superimpositionstechnik 12
3.4.1 Unterkiefer-Wachstum 13
4 Der Lipbumper 16
4.1 Wirkung des Lipbumpers 16
4.1.1 Zahnaufrichtung 16
4.1.2 Platzhalter 17
4.1.3 Hemmung von Dyskinesien 17
4.1.4 Engstandsauflösung 18
4.1.4.1 Engstandsauflösung mittels Leeway-Space 18
4.1.4.2 Engstandsauflösung mittels Expansion 18
4.1.4.3 Engstandsauflösung mit Distalisation 19
4.1.5 Bisshebung 20
4.1.6 Nebenwirkungen 21
4.2 Klinik 21
4.2.1 Labialbogen 21
4.2.2 Vestibuläre Schilder 21
4.2.3 Positionierung 22
4.2.4 Einsetzen 23
4.2.5 Tragedauer 24
2
4.3 Literaturübersicht 25
4.3.1 Vertikale Effekte 25
4.3.2 Transversale Effekte 25
4.3.3 Sagittale Effekte 26
4.3.4 Skelettale Effekte 27
4.3.5 Beziehungen zu Alter, Geschlecht und zweiten Molaren 28
4.3.6 Verankerung 28
4.3.7 Beziehungen zwischen Lipbumpern und zirkumoralen Kräften 29
4.3.7.1 Kieferorthopädische und orale Kräfte 29
4.3.7.2 Lipbumper-Kräfte 30
4.3.8 Therapiezeitpunkt 30
5 Indikationen zur Lipbumpertherapie 32
5.1 Zahnkippung 32
5.2 Zahnwanderung 32
5.3 Orofaziale Dyskinesie 33
5.4 Dentale Engstände 33
5.5 Kontraindikation 35
6 Fragestellung 36
7 Material und Methode 37
7.1 Patientengut 37
7.2 Behandlungsgerät 38
7.2.1 Lipbumper-Design 38
7.2.2 Positionierung 38
7.2.3 Manipulation und Kontrollen 39
7.3 Dokumentation und Auswertung 39
7.4 Odontometrische Analyse 39
7.4.1 Platzanalyse und Diskrepanzberechnung 40
7.5 Röntgenkephalometrische Analyse 41
7.6 Methode 42
7.6.1 Superimpositionstechnik 42
7.6.2 Referenzpunkte 43
7.6.3 Anwendung der Superimpositionstechnik 45
3
7.6.4 Orthopädische Verlagerung 46
7.6.5 Nomenklatur zu den Überlagerungen 49
7.6.6 Messung und Koordinatensystem 49
7.6.7 Winkelmessung 50
7.7 Therapie im Oberkiefer 51
7.8 Statistische Auswertung 51
8 Ergebnisse 52
8.1 Methodischer Fehler 52
8.2 Patientengut 53
8.3 Röntgenkephalometrische Analyse 54
8.3.1 Winkelmessung 54
8.3.2 Y-Achse 55
8.3.3 Sagittale Diskrepanz 55
8.4 Odontometrische Analyse 56
8.5 Röntgenbild-Überlagerung 56
8.5.1 Erster unterer Molar 56
8.5.2 Unterkiefer-Frontzahn 60
8.5.3 Menton 61
8.5.4 Pogonion 62
8.5.5 Condylion, Gonion 65
9 Diskussion 67
9.1 Material und Methoden 67
9.2 Zahnbewegungen 68
9.3. Knöcherne Bewegungen 71
9.4 Schlußfolgerung 73
10 Zusammenfassung 74
11 Literaturverzeichnis 75
12 Abkürzungsverzeichnis 80
13 Lebenslauf 81
14 Danksagung 82
1
1 Einleitung
Lipbumper eignen sich zur Auflösung von anterioren Engständen, da sie verschiedene Effekte
gleichzeitig errreichen76; dazu gehört das Aufrichten gekippter Zähne, labial Bewegen der unteren
Frontzähne, bukkale Expansion, Derotation der Molaren30, die Distalisierung unterer Seitenzähne
und die Sicherung des Leeway-Space46. Gleichzeitig können potentielle Verursacher von Eng-
ständen wie ein erhöhter Unterlippen- oder Mentalis-Tonus gehemmt werden.
Anteriore Engstände treten oft früh in Erscheinung und sind zudem auf lange Sicht vom erneuten
Verlust des erworbenen Platzes gekennzeichnet64,105. Die Anomalie basiert auf einem multifaktoriel-
len Geschehen und vor allem die skelettale Basis scheint die Unveränderbarkeit der intercaninen
Distanz auszumachen. Eine Behandlung ohne Rezidiv sollte zum optimalen Zeitpunkt des Wachs-
tums stattfinden, andererseits kommt es generell - auch bei unbehandelten Personen – mit zuneh-
mendem Alter (ca. ab dem 20. Lebensjahr) zu einer langsamen, aber progredienten Engstands-
ausbildung in der Front97,105. Die Biomechanik ist essentieller Bestandteil der Kieferorthopädie,
weswegen die Therapie meist mechanisch orientiert ist37. Die biomechanischen Umstände zu ver-
stehen, ist somit die Basis, um den physiologischen und natürlichen Weg der Engstandsauflösung
nutzen zu können37.
Im Zeitalter des Platzes – des „space age“ – nach Graber wird darauf hingewiesen, den durch den
Zahn hervorgerufenen Wachstumsimpuls nicht durch Extraktion zu verlieren37. Der Zahn soll seine
Kapsel bestimmen. Das geht nur wenn er ohne Hindernis dazu in der Lage ist. Wenn Moss72 den
Zahn als funktionelle Matrix für das Alveolarknochenwachstum bezeichnet, dann geht Fränkel39
einen Schritt weiter zur perioralen Muskulatur. Man muss vorbeugend die schädlichen Einflüsse der
Kapsel auf die Dentition abfangen, damit die Entwicklung der Mundhöhle nicht behindert wird.
Dazu führte Fränkel die Funktionsregler ein, welche mit vestibulär liegenden Kunststoffschilden den
Zug der Muskulatur modulieren38.
Moss´ Prinzip der funktionellen Matrix und ihr Einfluss auf die skelettalen Einheiten kann man
nicht nur für die Prävention anwenden, sondern auch auf eine schmerzfreie Methode der
kieferorthopädischen Behandlung übertragen. So können zur Korrektur von Deformationen die
gleichen Muskeln genutzt werden, welche mit ihrer Dysfunktion die Fehlstellung erst hervorriefen50.
Wenn im Unterkiefer eine hyperaktive Muskulatur über die Unterlippe das Profil abflacht, können
vestibuläre Schilde den entstehenden Engstand behandeln. Ohne ein hemmendes Lippenhabit wird
die Zunge dann die Unterkieferfrontzähne labial bewegen, was den Zahnbogen verlängert und den
2
Overjet und Engstand auflöst50. Vestibuläre Schilde oder Lipbumper werden dafür als exzellente,
interzeptive kieferorthopädische Geräte beschrieben, um eben solche Lippenhabits zu
stoppen40,50,109. Sie schirmen entgegenwirkende Kräfte der perioralen Spannungsumklammerung
(„perioral tension brace“39) ab, die, wie bei Mundatmung, zu einer Deformation des Viszero-
kraniums führen.
Die Weichgewebssteuerung des Zahndurchbruchs durch Lippen, Zunge und Wangen ist ein
epigenetischer Faktor, also indirekt hereditär und formt funktionell. „Genauer gesagt, können wir
genetisches Wachstum nicht stimulieren, aber wir sind in der Lage, die biomechanischen
Bedingungen sowohl für die Wachstumsdynamik als auch für die funktionellen Kräfte zu ändern.
Unter diesem Gesichtspunkt bieten die vestibulären Schilde des Funktionsreglers einen neuen Weg
einer funktionellen Therapie sowie der klinisch-experimentellen Methodologie“37. Wenn man mit
dem Wachstum arbeitet und früh das Training für ein korrektes Zusammenspiel der Muskulatur
ermöglicht, kann man sozusagen ein Habit der Norm schaffen.
Doch genauso wie die Funktionskieferorthopädie an ihre Grenzen stößt, ist auch die biomecha-
nische, distalisierende Komponente der Behandlung mit dem Lipbumper begrenzt. Zur Engstands-
Auflösung ist sie nur mit Unterstützung der Molarenaufrichtung und der Expansion bei der Therapie
des mäßigen anterioren Engstandes wirkungsvoll. Eine größere distale Zahnbewegung im Unter-
kiefer zu erreichen, ist gefragt. Daß es die Distalisation mit Lipbumper tatsächlich gibt, hat sich
durch tomographische Untersuchungsmethoden gezeigt. Ob man die Begrenzung des Ausmaßes der
Distalbewegung mit dem Lipbumper überschreiten kann, wird sich in Zukunft durch neue Studien
und Herangehensweisen an schon Bekanntem zeigen. Im Folgenden wird die Technik der
Behandlung mit dem Lipbumper in Bezug auf den orthodontischen Anteil der Bewegung des
unteren Molaren betrachtet werden.
3
2 Geschichtlicher Überblick
Roux´ Konzept der funktionellen Anpassung (1883) – die Fähigkeit der Organe sich in höherem
Maße ihren Funktionen anzupassen – und J.B. de Lamarcks biologische Entwicklungstheorie bilden
die Basis der Funktionskieferorthopädie. Der Knochen und seine Form sind Produkt der Funktion
der Muskulatur39. Die Abhängigkeit des Wachstums von der Funktion wird von Moss 196272 mit
dem Prinzip der funktionellen Matrix und ihrem Einfluss auf die jeweilige skelettale Einheit
bestätigt. Die Form ist demzufolge abhängig von der funktionellen Beanspruchung. Der Vorreiter in
der Umsetzung von Roux´ Theorie ist 1902 Robin. Er setzt sein Ziel, die Zungenfunktion bei
Kleinkindern mit Pierre-Robin-Syndrom zu ändern, im so genannten Monobloc um, der noch ohne
Einbiss angefertigt wird.
1907 meint Angle, und wird 1918 von Alfred Paul Rogers zitiert: „The influence of the lips is an
interesting study and almost every malocclusion has some manifestation of it”2. Der Einfluss der
Lippen bekundet sich beinahe in jeder Malokklusion. Damit spricht Angle im Sinne der Funktions-
kieferorthopädie von der Wechselwirkung zwischen Hart- und Weichgewebe.
Das Ziel der funktionellen Behandlung ist das Gleichgewicht von Kieferbasen und Weichgewebs-
funktion, d.h. die harmonische Funktion des Kausystems herzustellen. Somit sollen die genetischen
Anlagen der Kiefer, Zähne und Muskeln, sowie deren Funktion und ihre epigenetische
Beeinflussung in ein harmonisches Gleichgewicht gebracht werden – ohne Kraftapplikation,
sondern durch Führung der Entwicklung bzw. sogar nur durch Hemmung von dysfunktionellen
Einflüssen.
1913 beschreibt Newell ein Schild, um Mundatmung zu verhindern81. Der „mouth shield“ oder „oral
screen“ ist ein gummiertes Schild im Vestibulum und entwickelt sich von einem Abschirmgerät zur
Behandlung von Mundatmern in verschiedene Formen für den Einsatz bei Zungen- und
Lippendyskinesien, als Verankerungseinheit und zur Bewegung von Frontzähnen.
Körbitz verwendet 1913 den so genannten Lippenformer als Mundvorhofplatte (MVP), der aber
auch den Zähnen anliegt60.
Grundlagen zur funktionellen Behandlung von Dysgnathien und deren Rezidiv bildet die Myo-
funktionelle Therapie A.P. Rogers´ 1918, die Beispiele funktioneller Behandlung aufzeigt98. Als
Begründer der Funktionskieferorthopädie (FKO) gelten heute Viggo Andresen (1870-1950) und
Karl Häupl (1883-1960). Mit ihrem Vorläufergerät des Aktivators nutzen sie 1936 körpereigene
4
Kräfte zur Korrektur von Bissanomalien. Das aus Pierre Robins Monobloc entwickelte Gerät übt
durch eine Veränderung des funktionellen muskuloskelettalen Gleichgewichtes einen Reiz aus, der
Kau,- Zungen- und Wangenmuskulatur aktiviert und damit eine knöcherne Anpassung bewirkt.
Da das neurologische Umprogrammieren bei einem Gerätetragen während der Nacht nicht unbe-
dingt erfolgreich sei, entwickelt Fränkel 1955 die MVP weiter. Daraus entsteht der Funktionsregler
(FR), der im Prinzip eine skelettierte und im Oberkiefer abgestützte MVP ist. Der FR dient als
Übungsgerät, dessen kleinere Dimensionen auch das Tragen tagsüber ermöglicht.
Der FR benutzt auch das Vestibulum als apparative Basis, um einen „unnatürlich neuromotorischen
Stereotyp“ funktionell zu beeinflussen. Er soll nicht nur zum Bissausgleich und zur Bissnivellierung
dienen, sondern darüber hinaus auch die apikale Basis in ihrem Wachstum fördern oder
hemmen38,39.
1956 führt Kraus die so genannte „Hemmungstherapie“ ein62. Er sieht die Wirkung von Lippen-
schildern in der spontanen Rehabilitation durch Hemmung der Dsyfunktionen und durch Ermög-
lichen des physiologischen Reflexes in natürlicher Haltung („rehabilitation by inhibition“).
Kraus´ Konzept basiert auf der Idee, dass eine durch einen reinen Reflex ausgelöste Bewegung mehr
physiologische und deswegen verlässliche Ergebnisse erzielt, als bei durch den Willen kontrollierten
Übungen nach Rogers. Das Problem von Rezidiven sei die bleibende Fehlmotorik, die durch
natürliche Reflexbewegungen am Besten verändert werden könne. Im gewissen Sinne sind die
Hemmungsschilder „ortho-muskulär“. Die so genannten „Screens“ oder Hemmungsschilder sollen
unnatürliche Funktionen hemmen, abnorm gebildeten Geweben bei dem Zurückkommen zum
individuellen Trend der Entwicklung helfen und den originalen Stimulus ersetzen. Kraus´ Schilde
kann man nicht benutzen, um Zähne oder Kieferteile aktiv zu bewegen. Sie liegen abstehend von
den Zähnen locker im Vestibulum, weswegen sie die ersten nicht orthodontischen Geräte darstellen.
Nach dem zweiten Weltkrieg kommt die interzeptive orthodontische Behandlung im Wechselgebiss
mehr zur Geltung. In der Folge stellt Denholtz 1964 seine Labialbogenkonstruktion vor, das
Denholtzsche Muskelverankerungsgerät („The Denholtz Muscle Anchorage Appliance“) (s. Abb. 1).
Die Apparatur hat ihre volle Verankerung an der Lippe und überträgt deren Kraft auf die Zähne. Die
Verankerung ist nach Denholtz an der Oberlippe und hält die oberen ersten Molaren am Ort,
wodurch die Antagonisten im Unterkiefer in die gewünschte Angle-Klasse-I-Beziehung geführt
werden. Der Oberkiefermolar wird zurückgehalten, um einen Distalbiss durch Mesialwanderung im
5
Oberkiefer zu verhindern.
Die Einsatzmöglichkeiten sind weit gefächert. Man soll dieses Gerät verwenden können, um obere
sowie untere Molaren nach dorsal bewegen zu können, als Platzhalter im Wechselgebiss, als
Retainer, als Trainer für hypotone Lippen, um Mundatmern einen Lippenschluss beizubringen oder
in verschiedenen Variationen mit Gummizügen, auch extraoral und als Adjuvans bei anderen
Therapien27.
Abb. 1. The Denholtz Muscle Anchorage Appliance für den Oberkiefer; nach27.
Der Draht nach Denholtz wird von Duyzings31 Lipbumper genannt. Er ähnelt einer halben MVP mit
einem Labialbogen, der bukkal in die Schlösser der unteren Molarenringe inseriert wird. Dadurch ist
der Unterkiefer frei im Wachstum nach anterior und lateral und die Apparatur schafft dadurch
gleichzeitig Platz im Zahnbogen.
Aus dem Jahr 1965 stammt ein früher Bericht über den Lipbumper von Renfroe. Dabei dient das
Gerät dazu, hypertone Unterlippen von den Zahnreihen abzuhalten, wobei in einem Fall sogar eine
Angle-Klasse I zu einer Klasse II überstellt wird96.
Seit 1968 taucht der Lipbumper häufiger in der Literatur auf. Klinische Fallstudien beschreiben und
vergleichen das Gerät in der klinischen Praxis. Gruppenstudien und Übersichtsartikel belegen
mittlerweile die Platz erhaltende und Platz schaffende Wirkung. Als unimaxilläres Gerät zur
funktionellen Behandlung von mäßigen Engständen im Wechselgebiss wird der Lipbumper heute
anerkannt und eingesetzt12,15,22,71,80,109.
1966 berichten Subtelny et al. über die Distalbewegungen von Molaren mittels Lipbumper bei 22
von 25 Patienten109. Dennoch wird die Möglichkeit der Distalbewegung des Molaren bis heute noch
in Frage gestellt. Mit dem Analyseverfahren nach Baumrind et al.9,10 soll daher die Molaren-
bewegung bei diesem therapeutischen Vorgehen besonders betrachtet werden.
6
3 Physiologische Grundlagen der Studie
Nach frühzeitigem Zahnverlust, bei Zahndurchbruchsstörungen und bei vererbten oder erworbenen
Engständen kann es zu unkontrollierten Zahnbewegungen kommen. Diese Bewegungen werden
durch die mesial gerichtete Kraftkomponente ausgelöst. Um sie zu verhindern, muss entgegen der
Kraft eine Verankerung stattfinden. Mittels Lipbumper kann ein in die Lücke gekippter Zahn
aufgerichtet, verankert und ein mäßiger Engstand ausgeglichen werden. In diesem Kapitel wird auf
die für diese Arbeit notwendigen Begriffe und Mechanismen der Kräfte eingegangen. Dazu gehören
die anteriore Kraftkomponente, die Verankerung und die Wachstumsprinzipien.
3.1 Anteriore Komponente der okklusalen Kraft
Jeder Zahn unterliegt nach seinem Durchbruch in die Mundhöhle einer nach anterior gerichteten
Wanderung. Zahnwanderungen können nach Verlust eines Zahnes vorkommen. Man spricht auch
von Mesialwanderung oder Mesialdrift.
Für die Zahnwanderung ist eine gerichtete Kraft notwendig. Diese wird aus mehreren Komponenten
bestehend erklärt. Dazu gehören der nach anterior gerichtete Kraftvektor der Kaukraft, der Druck
der intra- und perioralen Weichgewebe, die mit dem Alter zunehmende Kraft der Muskulatur, die
Form und Winkelstellung der Zähne und der Zug der transseptalen Fasern.
Dieser lebenslang anhaltende Prozess hat als physiologischen Hintergrund den Ausgleich der ap-
proximalen Attrition, so wie bei Elefanten der Hauptmahlzahn nachrückt oder Haie Revolvergebisse
benutzen, weswegen die anteriore Kraftkomponente mit als Ursache des tertiären Engstandes gilt.
3.2 Verankerung
Als Verankerung bezeichnet man den Widerstand eines Objektes, wenn es als Widerlager für eine
Kraft benutzt wird29. Jede Verankerung im menschlichen Organismus kann nicht absolut sein, da sie
innerhalb des Systems Gegenkräfte auslöst (actio ↔ reactio).
Die Verankerung mit Zähnen als Widerlager ist abhängig von der Zahnform und Anzahl der Zähne,
der Anzahl der Wurzeln und deren Länge, sowie der Achsenstellung der verankernden Zähne. Dies
spiegelt sich auch in den Verankerungsgraden wider:
7
- Minimale Verankerung
Die Abstützung der zu verankernden Molaren erfolgt über die Front, weswegen sie sich nach mesial
bewegen können.
- Mittlere Verankerung
Hier stützen sich die 1. Molaren gegen die Frontzähne, wobei sie sich etwas nach mesial bewegen
dürfen. Diese Verankerung wird auch reziproke Verankerung genannt, weil beide Segmente sich
gleich stark bewegen.
- Maximale Verankerung
a.) eine zahnunabhängige, stationäre Verankerung kann im Oberkiefer extraoral mit einer
Tragedauer eines Headgears von 12 Stunden erreicht werden
b.) relativ stationär intraoral im Unterkiefer mittels
- Lingualbogen an möglichst vielen Zähnen
- bukkaler Wurzeltorque, d.h. Wurzelkippung in die Kortikalis
- intermaxillärer Klasse-III-Gummizüge
- funktionskieferorthopädisch mittels Lipbumper, also Weichgewebsabstützung
c.) stationäre Verankerung durch retromolar oder im teilbezahnten Gebiss eingefügte Implantate.
Da alle Gewebe auf Zug und Druck reagieren, kann es nur eine relative Verankerung in verschiede-
nen Stärken geben. Einzig retromolar oder im teilbezahnten Gebiss eingefügte Implantate sind trotz
reziproker Krafteinwirkung ortsstabil und stellen eine Möglichkeit der stationären Verankerung dar,
weswegen sie sich zunehmender Beliebtheit erfreuen110.
Die Einschränkung der maximalen Verankerung, die auch als kritische Verankerung bezeichnet
wird, offenbart schon die Definition: „Bei der maximalen Verankerung erfolgt nach Zahnextrak-
tionen der Lückenschluss vorwiegend von mesial“56.
3.3 Wachstum und Röntgensuperimposition
Zur Differenzierung zwischen lokalen ossären Wachstumsvorgängen, sekundärer Knochen-
verlagerung und Therapie bedingten Einflüssen auf Fernröntgenseitenbildern mittels der Über-
8
lagerungstechnik nach Baumrind et al.10, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wurde
(s. Kap. 7.6.1), ist die Kenntnis der unterschiedlichen Entwicklungsmechanismen der Gesichts-
schädelknochen notwendig.
3.3.1 Kraniofaziale Wachstumsmechanismen
Das kraniofaziale Knochenwachstum geschieht nicht einfach durch eine symmetrische
Vergrößerung der Knochen. Prinzipiell liegen ihm die drei Mechanismen Größenzunahme,
Knochenumbau und Verlagerung zugrunde. In der Wachstumsphase regt das Weichgewebe als
Schrittmacher die Hartgewebestrukturen gezielt an, sich durch Resorption und Apposition zu
verändern, wodurch sie sich im Raum verdrehen oder als ein Ganzes verlagern können.
Abb. 2. a) appositionelles b) resorptiv-appositionelles c) Kortikalis-Drift Wachstum Wachstum nach94
3.3.2 Endostale und periostale Apposition und Resorption
Knochenanlagerung wird als appositionelles Wachstum bezeichnet, während der Abbau von
Knochen Resorption genannt wird (s. Abb. 2). Während der Entwicklung überwiegt das appositio-
nelle Wachstum leicht, wodurch sich die Knochen vergrößern.
Wachstum findet sowohl an den äußeren Oberflächen, dem Periost, als auch den inneren
Oberflächen, dem Endost, der Knochen statt. Bewegt sich das Wachstum in eine Richtung, so findet
an der in Wachstumsrichtung liegenden Seite periostale Apposition und endostale Resorption statt.
An der der Wachstumsrichtung entgegengesetzten Seite wird dementsprechend periostal resorbiert
und endostal Knochen neu gebildet (s. Abb. 3).
9
Abb. 3. Periostal-endostales Zusammenspiel; nach94 Abb. 3 a) Periostales und endostales Wachstum Abb. 3 b) Rotation an einer Umkehrlinie führen zusammen zu einem Drift des gesamten Knochens
3.3.3 Displacement, Relokation, Kortikalis-Drift oder Translation
Bei gleich bleibender Wachstumsrichtung verlagern sich beide Kortikalisflächen zusammen und
man spricht von einer „direkten Relokation“ (s. Abb. 2 c und 3 a), bzw. einem Kortikalis-Drift33.
Durch direkte Relokation kann der Knochen als Ganzes durch eigenes Wachstum relativ zu anderen
Strukturen bewegt werden. Dadurch wird im Bereich der gelenkigen Verbindungen Platz für
Knochenzuwachs geschaffen. Man spricht hier von primärem, weil selber verursachtem
Displacement (s. Abb. 4). Findet die Verlagerung eines ganzen Knochens durch Wachstum an einer
anderen entfernten Stelle statt, spricht man von sekundärem Displacement oder auch Translation33
(s. Abb. 5). An Umkehrungslinien treffen sich appositionelles und resorptives Wachstum an einer
Knochenoberfläche, was zu einer Rotation der Knochenstruktur führt (s. Abb. 3 b).
Abb. 4. Primäres Displacement und dorsale Remodellierung Abb. 5. Sekundäres Displacement und alveoläre
des Unterkiefers; nach94 Repositionierung des Unterkiefers; nach94
10
3.3.4 Remodellierung (Transformation)
Wenn der Kondylus wächst, wird der Unterkiefer nach anterior verschoben. Der aufsteigende Ast
wird für den Erhalt der Funktion daraufhin nach dorsal angepasst, was als Remodellierung
bezeichnet wird (s. Abb. 4). Die Remodellierung findet nach den Prinzipien der peri- und endostalen
Resorption und Apposition statt und formt so den Knochen nach den funktionellen Ansprüchen.
Diese Anpassung wird nach Enlow auch Transformation genannt33.
3.3.5 Funktionelle Matrix und Wachstumsfelder
Der Impuls zu den knöchernen Wachstumsvorgängen liegt in den Weichgeweben. Als funktionelle
Matrix bestimmt das Weichgewebe die so genannten Wachstumsfelder, an denen es ansetzt, und
schafft auf diese Weise viele Flächen mit unterschiedlichem Anpassungsbedarf (s. Abb. 6). Nach
diesem Prinzip der Oberflächen können an ein und derselben Kortikalis appositionelle und
resorptive Umbauvorgänge auftreten. Diese Schrittmacherfunktion des Weichgewebes regt das
Wachstum sehr gezielt an und kann damit die Kortikalis im Raum verdrehen oder verlagern. Jede
Knochenverlagerung beginnt mit einer Wanderung der Wachstumsfelder innerhalb der zugeordneten
Bindegewebsmembranen (z.B.: Periost und Endost, Suturen, Parodont). Diese Weichgewebe
bestimmen dann ihrerseits die Veränderungen des darunter liegenden Knochens, der von ihnen, den
Wachstumsfeldern, kontrolliert wird94. Als funktionelle Matrix steuert das Weichgewebe also das
Knochenwachstum. Über das Bindegewebe entsteht eine Rückkopplung zum Knochen – wenn
Form, Größe und biomechanische Eigenschaften übereinstimmen – welche die histogenetische
Aktivität der osteogenen Membranen vermindert112.
Abb. 6. Wachstumsrichtungen des Unterkiefers; nach94
11
Abb. 7. Besonders aktive Wachstumsfelder; nach94
Dabei gibt es viele Wachstumsfelder, die sich summieren können (s. Abb. 6 und 7), aber keine
einzelnen Oberzentren, wie bisher z. B. vom Kondylus angenommen. In der Summe ist die Haupt-
wachstumsrichtung des Unterkiefers nach hinten und oben gerichtet (s. Abb. 6).
Da sich dabei einzelne Teile des Schädels (vordere Schädelbasis, sphenookzipitaler Komplex,
nasomaxillärer Komplex und Unterkiefer) in unterschiedliche Richtungen bewegen, spricht man von
Wachstumsäquivalenten, die sich in direkter Wechselwirkung ausgleichen34.
3.3.6 Wachstumsäquivalente im Unterkiefer
Für die vorliegende Arbeit von speziellem Interesse ist der Bezug dieser Vorgänge auf den Unter-
kiefer. Wachstumsäquivalent des Corpus mandibulae ist der Oberkiefer, weswegen auch der Unter-
kiefer am Ramus ascendens nach dorsal remodelliert. Der hintere Ramusanteil und der Kondylus
wachsen schräg nach hinten oben und der Unterkiefer verlagert sich nach vorne unten. Zusammen
werden beide Kiefer durch primäres Displacement, also eigenes Wachstum mit sekundärer
Relokation, nach vorne verlagert. Durch das Wachstum der mittleren Schädelbasis wird der
Unterkiefer zudem sekundär (sekundäres Displacement) nach vorne unten verlagert. Die dabei
auftretende stärkere Anteriorverlagerung der Maxilla gleicht der Unterkiefer mit der
Remodellierung des Ramus ascendens hierbei wieder aus. Die mittlere Schädelgrube stellt das
Wachstumsäquivalent des Ramus ascendens dar.
Gleichzeitig wandern (driften) die Zähne in den Alveolen dorsal. Resorption und Apposition der
Alveolarflächen führen zu einem Drift der Zähne, durch den sie ihre relative Position im
Kieferkamm beibehalten können (s. Abb. 5).
12
3.3.7 Umsetzung für die Superimpositionstechnik
Kieferorthopädische Bewegungen bestehen meist aus einem orthodontischen und einem
orthopädischen Anteil. Die orthodontische Zahnbewegung wird üblicherweise als die Bewegung des
Zahnes im Knochen angesehen, während die orthopädische Zahnbewegung sekundär aus der Lage-
veränderung des Knochens selber entsteht9.
Abb. 8. Mandibuläre Überlagerung Abb. 9. Überlagerung auf der vorderen Schädelbasis
Bei der Überlagerung von Fernröntgenseitenbildern (FRS) kann man je nach Ort der Super-
imposition die Wachstumsanteile unterscheiden und somit eine Zahnbewegung in orthopädische und
orthodontische bzw. lokale Anteile aufteilen. Eine Superimposition auf dem Umriss der Mandibula
zeigt die lokale Dislokation bzw. im Vergleich mit der Kontrollgruppe die rein orthodontische
Zahnbewegung (s. Abb. 8).
Abb. 10. Durchzeichnung der drei Überlagerungen der Röntgenbilder; die Pfeile zwischen den Referenzpunkten der mesialen Höckerspitze stellen die unterschiedlichen Wachstumsanteile dar: 1 die totale Verlagerung, 2 die orthopädische
Verlagerung und 3 die orthodontische Verlagerung.
13
Bei Überlagerung auf der vorderen Schädelbasis ist die totale Verlagerung der Knochen,
hervorgerufen durch die verschiedenen Wachstumszentren des Gesichts, unter anderem der Fossa
mandibularis, des Kieferköpfchens und Kieferwinkels, zu erkennen. Es sind hier die resultierenden
Vektoren aus der kombinierten orthodontischen und -pädischen Bewegung des Zahns zu sehen
(s. Abb. 9). Der orthopädische Anteil der Bewegung wird durch Subtraktion des lokalen vom Vektor
der totalen Verlagerung erkenntlich (s. Abb. 10 und Kapitel 7 „Material und Methoden“).
3.4.1 Unterkiefer-Wachstum
In den USA führten hohe Rückfallraten nach Expansionstherapie in den 40er Jahren des letzten
Jahrhunderts zu einer Phase der Extraktionstherapie. Dazu trug auch Brodies Meinung18 bei, man
könne durch Kieferorthopädie keine Knocheneffekte hervorrufen. Die „genetisch vorbestimmte
Unantastbarkeit der Knochendimension“ stammt hauptsächlich aus der Missinterpretation von
Brodies Studie über das mandibuläre Wachstum10. Während des zweiten Weltkrieges wurden in
Europa einfache Geräte gefragter und damit auch einfache Methoden wie die funktionelle Therapie.
Wo Breitner 1940 die Condylus-Modellierung in Tierversuchen erforscht hatte, setzen nach dem
Krieg nun viele wieder an. Darunter waren Baume, Derichsweiler, Moss, Enlow, Harris und
Fränkel, sowie McNamara, Harvold und Petrovic, welche die Frage des Knochen- bzw.
Unterkieferwachstums wieder aufwarfen10.
Heute weiß man, die Knorpelspangen des Unterkiefers bilden beim Neugeborenen eine Synarthrose,
die im 1. Lebensjahr in eine Synostose übergeht und später desmal eingeschlossen wird; das Kinn
mineralisiert also im 1. Lebensjahr.
Abb. 11. Unterkieferwachstum zum Zeitpunkt; nach114
(a) der Geburt (b) 12 Monate (c) 10 Jahre
Zur bildlichen Darstellung der Gegebenheiten zeigen uns die Abbildungen zum Zeitpunkt der
Geburt die knorpelige Struktur an der Mittelinie des Unterkiefers, die ein schnelles Wachstum in
14
transversaler Richtung ermöglicht (s. Abb. 11 a. Unterkieferwachstum).
Im Alter von 12 Monaten hat der vordere Teil des Unterkiefers, in dem das Milchgebiss
untergebracht ist, im Großen und Ganzen seine Erwachsenengröße erreicht (s. Abb. 11 b).
Im Alter von 10 Jahren ist der Unterkieferkörper durch dorsale Erweiterung länger geworden
(s. Abb. 11 c)114.
Nach Graber51 ist das Kinn beim männlichen Geschlecht in der Lage, bis über das 20. Lebensjahr
hinaus zu wachsen. Vergleicht man die vereinfachten Werte der perinatalen Zahnbogenbreite von
ungefähr 30 mm mit der von Erwachsenen mit 40 mm106, muss der Unterkiefer in den Jahren von
der Geburt bis zum 20. Lebensjahr um etwa 10 mm wachsen69.
Während der ersten Wechselgebissperiode kommt es nur zu einer geringen Breitenzunahme der
Kieferbögen von durchschnittlich 2,0-3,0 mm, wohingegen die Länge um 10-12 mm zunimmt,
wodurch das Molarenfeld entsteht – der wichtigste Platzfaktor im posterioren Unterkiefer.
Baumrind und Korn konnten ein systematisches laterales Displacement von Implantaten im Alter
zwischen 8 und 12 Jahren nachweisen8. Die Schwierigkeiten des Beweises zeugen von dem
geringen Ausmaß dieser Breitenzunahme der internen Unterkieferstrukturen im Alter zwischen acht
und zwölf Jahren.
Hervorzuheben ist aber die potentiell gegensätzliche Meinung Miethkes, die Synarthrose der
Knochenspangen des Unterkiefers spiele für die Breitenentwicklung praktisch keine Rolle, ganz im
Gegensatz zum V-Wachstum70. Dies verweist auf die Frühbehandlungsphase104, denn Schädeldach
und -basis haben 90% ihres Wachstums im Alter von sechs Jahren abgeschlossen114. Auch nach van
der Linden ist bei keiner dieser beiden Strukturen ein puberaler Wachstumsschub zu beobachten,
beziehungsweise wenn, dann nur von geringer Bedeutung114.
Man geht davon aus, dass über die Gelenkpfannen eine Grenze des Breitenwachstums der Mandibel
gegeben ist114. Dies ist im Zusammenhang mit dem gesamten Schädelbreitenwachstum zu sehen,
das mit etwa 2 bis 3 Jahren beendet ist. Somit ist die endgültige Lage der Gelenkgruben an der
Unterseite der Schädelbasis frühzeitig festgelegt, und der Breitenentwicklung der Mandibula sind
relativ enge Grenzen gesetzt70. Außerdem findet eine Remodellierung der Kinnprominenz – mit
kranialer Rückbildung – statt, wodurch die anterioren Platzverhältnisse eingeschränkt werden108.
Die mögliche transversale Bewegung wird durch das Nachlassen der Aktivität des Wachstums
erschwert. Während dieses Problem in sagittaler Richtung erst nach der Pubertät auftritt, ver-
langsamt sich das Breitenwachstum schon um den Zeitpunkt der Geburt. Insgesamt wächst der
15
Kiefer intrauterin vor allem transversal, nach der Geburt entgegengesetzt mehr sagittal und um so
weniger in der Breite103. Man kann daraus schließen, dass das größte Transversalwachstum perinatal
abgeschlossen ist, woraus Burstones Äußerung resultiert: „Ohne Sutur in der Mandibel ist keine
echte skelettale, sondern nur eine dentale Dehnung möglich“21. Matthews meinte 1961, eine Zu-
nahme der intercaninen Dimension ist ab einem Alter von 6 bis 7 Jahren nicht zu erwarten, da zu
diesem Zeitpunkt das grundlegende Wachstum der Symphyse als beendet angesehen wird und nur
noch eine Zunahme in der Struktur der Mandibula unsere Beobachtung findet66. Nach Matthews
Einschätzung ist es „Wunschdenken den Unterkiefer während oder nach der Wechselgebissphase
mechanisch zu verbreitern und ein stabiles Ergebnis zu erwarten, [...] desgleichen unnütz einen
Retainer zu setzen und zu hoffen, es festigt damit den Platz“66. Das erklärt die Retentions-
schwierigkeiten der intercaninen Breite und das Problem der Wachstumszunahme der anterioren
Unterkieferregion24.
Nach gewöhnlicher transversaler Expansion mit Lingualbogen und Edgewise-Mechanik ist in der
Retention ein stabileres Ergebnis im posterioren Anteil des Unterkiefers zu erwarten als anterior im
Bereich der intercaninen Breite57. Wenn nun der Abstand intermolar vergrößert werden kann, aber
intercanin keine Erweiterung möglich ist, scheint es im Sinne der funktionellen Behandler logisch,
früher zu agieren, solange noch genügend transversales Wachstumspotential in der Symphyse
vorhanden ist92.
Wenn man von einem Idealfall ausgeht, so sollten die Platzverhältnisse im Sinne von Angle
ausreichend sein. Das Breitenwachstum sollte dann rein theoretisch aber auch bis zur Einstellung
aller Frontzähne noch aktiv sein oder aber über gewisse Reserven verfügen. Die physiologischen
Reserven sind durch das Unterkieferwachstum, den Leeway-Space und das alveoläre Wachstum mit
dem Zahndurchbruch gegeben. Dabei vergrößert sich der Korpus beinahe in alle Richtungen.
Die Zahnbogenausformung und das zircumorale Kräftegleichgewicht stellen zusammen mit einer
stabilisierenden Okklusion und Funktion die Grundlage für Stabilität im orofazialen System dar90.
Die genetische Veranlagung kann man nicht verändern. Was aber wenn Umweltbedingungen die
skelettale Reifung beeinträchtigen. Einige Formen des frontalen Engstandes sind nach Woodside119
neuromuskulären oder umweltbedingten Ursprunges und teilweise auch ohne Behandlung rever-
sibel.
16
4 Der Lipbumper
Der „Draht nach Denholtz“28 wurde von Duyzings „Lipbumper“ (Lb) genannt30. Lipbumper nutzen
körpereigene Kräfte und zählen daher zu den funktionskieferorthopädischen Geräten. Das aber nur,
sofern man ein nur teilweise herausnehmbares und mit Halteelementen versehenes, das heißt nicht
lose eingelegtes Gerät überhaupt zu den funktionskieferorthopädischen Geräten rechnet. Zudem
sollten funktionskieferorthopädische Geräte im Sinne Andresens und Häupls über den Einbiss die
Kieferrelation verändern. Nach Fränkel liegt der Zweck von funktionskieferorthopädischen Geräten
sogar nur im Abhalten und Ermöglichen einer anderen Funktion. Da der Lb sowohl Kräfte abhält als
auch direkt eine Kraft auf die Molaren ausübt, liegt er zwischen den theoretischen Definitionen.
Lipbumper sind unimaxilläre Geräte, im Gegensatz zu ähnlichen funktionellen Apparaturen wie der
Mundvorhofplatte. Im Oberkiefer werden sie auch im Sinne von Pelotten eingesetzt. Der im
Unterkiefer verwendete Lipbumper ist vielseitig einsetzbar. Subtelny bezeichnet die Verwendung
des Lipbumpers im Unterkiefer als gleich bedeutend mit der des Headgears im Oberkiefer109. Die
starke Verankerung eines Headgears hat deutliche Vorteile gegenüber einem Lipbumper, schließt
gleichzeitig aber die Verwendung im Unterkiefer wegen einer Beeinträchtigung der Kiefergelenke
durch Einwirkung von Druckkräften aus. Im Gegensatz zu anderen Molaren aufrichtenden Thera-
pien, wie Platten oder Multiband-Apparaturen, findet bei dem Lipbumper die Abstützung nicht
dental, sondern muskulär statt.
4.1 Wirkung des Lipbumpers
4.1.1 Zahnaufrichtung
Primäre Wirkung des Lipbumpers ist der aufrichtende Effekt des Lippendrucks auf die Molaren 15,26,35,54,80,85. Das Aufrichten spielt zur Platzgewinnung bei Engstand eine wichtige Rolle, sorgt für
eine bessere parodontale Situation und damit auch eine bessere Prognose bei eventuell folgender
Prothetik63. Der Druck der perioralen Muskulatur wird über die Lippen genutzt, indem der
Labialbogen diesen auf die ersten oder zweiten Molaren, bzw. den zweiten Milchmolaren
überträgt58. Über die nach posterior gerichtete Kraft werden die Molaren gehalten, aufgerichtet oder
unter Umständen sogar distalisiert30,52.
Bei einem Vergleich der Therapiemethoden steht hier die festsitzende Variante mit Bebänderung
17
mehrerer Zähne, versehen mit Bögen und aufrichtenden Federn, dem halb-herausnehmbaren
Lipbumper gegenüber, der daher eine bessere Mitarbeit des Patienten voraussetzt. Sein Vorteil ist
die Verankerung in der Lippe, wodurch reziproke Kräfte auf die Zähne, wie bei der Edgewise-
Technik, ausgeschlossen werden.
4.1.2 Platzhalter
Die Frühbehandlung und die Korrektur im Wechselgebiss helfen der weiteren normalen Entwick-
lung und verringern die Notwendigkeit eines späteren kieferorthopädischen oder chirurgischen
Eingriffs50,67,68,86,101. Ziele dabei sind Unregelmäßigkeiten der Zahnbogenform, der Okklusion und
der Kieferrelation frühzeitig vorzubeugen bzw. zu korrigieren und funktionelle Störungen
auszuschalten95.
Das Ergebnis der Verankerung mittels Lipbumper ist so einfach wie wirkungsvoll. Durch den Erhalt
der Bogenlänge kann der für die Eruption der bleibenden Zähne notwendige Platz erhalten und
somit Engständen vorgebeugt werden43,46,47,101. Ohne Vorbehandlung verhindert ein Lb bei 67% der
Lb-Patienten eine Mesialbewegung der unteren Molaren. Wenn vor dem Einsatz eines Lb durch
Elastics 1 mm distalisiert wird, verhindert er bei 86% eine Mesialbewegung der unteren Molaren bei
einer Tragedauer von mindestens 83 Tagen12.
4.1.3 Hemmung von Dyskinesien
Wenn keine anderweitigen Gründe dem entgegenstehen, kann durch die Verwendung eines Lip-
bumpers mit großem labialen Schild die Abstellung von Lippenhabits oder Dyskinesien erreicht
werden40,50,109, Subtelny spricht auch von dem „Mentalis-Habit“109. Die schlechte Gewohnheit des
Lippenbeißens oder -saugens wird damit verhindert23,29, da das Schild den hyperaktiven M. mentalis
abhält. Das vestibuläre Schild macht den Lipbumper zu einem halben funktionskieferorthopädischen
Gerät. Die Wirkung liegt im Training regelgerechter Lippenhaltung und damit der Atmung, der
Zungenlage und des Mundinnendrucks. Dieselbe Muskulatur, die für die Dysgnathie verantwortlich
ist, kann eingespannt werden, um die Malokklusion zu korrigieren50. Das orofaziale System wird
harmonisiert und gibt gehemmte zentrifugale Kräfte frei, was eine Entwicklung nach ventral
ermöglicht.
18
Bei einem Lb mit Labialbogen kann der spielerische Anreiz eines Drahtbogens bei insuffizientem
Lippenschluss im Sinne eines Lippenschlusstrainings für hypotone Lippen eingesetzt werden27.
Dieser trainiert die Lippen und die periorale Muskulatur nach myofunktionellen Gesichtspunkten 98.
4.1.4 Engstandsauflösung
Zur Engstandsauflösung bedarf es eines stabilen Widerlagers in oder auch außerhalb der
Mundhöhle. Dehngeräte wie im Oberkiefer mit Quadhelix oder Pendulum würden die Zunge stören.
Die extraorale Verankerung mittels Headgear ist wegen der Kiefergelenksbeeinträchtigung nicht
möglich und intraorale Geräte bedürfen einer dentalen Verankerung mitsamt ihrer Nachteile. Einzig
ein Implantat umgeht die reziproken Auswirkungen. Daher eignen sich die Lb mit ihrer muskulären
Verankerung für die Therapie, die zugleich die körpereigenen Kräfte nutzen, die oftmals auch zu
dem klinischen Bild geführt haben.
4.1.4.1 Engstandsauflösung mittels Leeway-Space
Die Sicherung des Leeway-Space, der im Unterkiefer im Mittel 1,7 mm beträgt, kombiniert mit dem
Platz distal der Molaren ist oft schon ausreichend zur Auflösung eines moderaten Eng-
stands43,46,47,101. Dies ist mit der Platzhalterfunktion des Lipbumpers gut möglich. Durch das
Abhalten der Weichteile wird das untere Frontzahnsegment entlastet und die spontane Nachentwick-
lung in sagittaler und transversaler Richtung gefördert15,79. Die Größe des Gerätes im Vergleich zu
anderen Platzhaltern rechtfertigt sich dann, wenn gleichzeitig eine weitere Therapie wie z.B. ein
Lippentraining angezeigt ist.
4.1.4.2 Engstandsauflösung mittels Expansion
Nach Nance77 gibt es folgende Möglichkeiten der Platzgewinnung im Unterkiefer. Durch Aufrichten
gekippter Seitenzähne, Distalbewegung unterer Seitenzähne, durch Labialbewegung der unteren
Frontzähne und durch transversale Expansion. Durch eine transversale Aktivierung des Lipbumpers
kann hierbei der Unterkiefer vergrößert werden13,36,52,80,116. Dabei hält der Labialbogen das Weich-
gewebe von der unteren Dentition ab und ermöglicht der Zunge, einen expansiven Druck auf die
Seitenzähne auszuüben37. Die Lippen werden durch die Pelotten von den Zähnen abgehalten, was zu
19
einer Protrusion und Proklination der unteren Frontzähne durch die Zunge führt52, wobei aber die
Stabilität des Ergebnisses gefährdet werden kann.
Durch eine Derotation der Molaren, die TenHoeve mittels Lipbumper beschreibt, werden zudem
versteckte Platzreserven im Zahnbogen genutzt30,61,111 (s. Abb. 12).
Abb. 12. Derotieren mit Lipbumper; nach 30
4.1.4.3 Engstandsauflösung mit Distalisation
Auf der Suche nach einer Möglichkeit im Unterkiefer zu distalisieren, liegt der Vergleich des Lb im
Unterkiefer mit dem Headgear im Oberkiefer nahe109. Das Problem eines Headgears als extraorale
Verankerung im Unterkiefer ist die Schädigung des Kiefergelenks. Unterschiedliche Ergebnisse von
Studien zeigen, wie umstritten die Distalbewegung der Molaren mittels Lipbumper ist. Mit der
Empfehlung einer tomographischen Untersuchungstechnik wurde der skelettale Effekt des Lb
bestätigt25, doch gleichzeitig auch das geringe Ausmaß der Wirkung deutlich, da erst die feinere
Auflösung des Computertomographen die Wirkung beweisen konnte. Das Ausmaß der Molaren-
bewegung ist aber auch abhängig von technischen Aspekten wie der Schildgröße40,80,118 und des
Behandlungszeitraumes12. „Aufgabe eines Unterlippenschildes ist es ausschließlich bei Klasse II/1
[…] das Einlagern der Lippe zu verhindern […] bei gleichzeitiger Distalisierung der
Sechsjahrmolaren ist ein Lipbumper indiziert“93. Die Funktionskieferorthopädie erreicht eine
Positionsänderung der Zähne und der Kieferbasen durch Änderung bzw. Normalisierung der
Funktionsmuster der Kau- und orofazialen Muskulatur, einschließlich passiver und keiner aktiven
Zahnbewegung. Ein Lipbumper, der sowohl funktionell arbeitet, als auch einen dentalen Angriffs-
punkt hat, kann jedoch die Zahnbewegung auch entgegen der anterioren Kraftkomponente direkt
verursachen5,25,26,30,80,84,99,109. Das Ausmaß dieser Bewegung ist jedoch beschränkt12 (s. Tab. 1).
20
Autor Bjerregard et al. 1980
Attarzadeh & Adenwalla 1988
O´Donnel et al. 1990
Nevant et al. 1991* Nevant et al. 1991**
Molar Distal. (mm) 0 1,5 0,95 -0,02 1,5 * ohne Schild; ** mit Schild
Tabelle 1. Distalbewegung des Molaren durch Lipbumper.
Ein leichter bis mittlerer Engstand bei einer Angle-Klasse I kann mit dem Lipbumper aufgelöst
werden26,36,46. Dennoch ist der Platzgewinn nur selten ausreichend, um kieferorthopädisch indizierte
Zahnextraktionen zu vermeiden12. Wenn bei ausgeprägtem Engstand oder Platzmangel im Rahmen
des Zahndurchbruchs eine Expansion des Zahnbogens nicht ausreicht, kann mittels Klasse-III-Zügen
behandelt werden40,101(s. Abb. 13). Mit Klasse-III-Zügen zum Distalisieren der unteren Seitenzähne
ist auf diese Weise ein Platzgewinn von 4 mm pro Seite erreichbar, was bei schwachem Muskel-
tonus von Vorteil ist40.
Abb. 13. Kombination mit Klasse-III-Zügen Abb. 14. Headgear-Kombination; nach40
Zur Distalisierung der Seitenzähne bei mandibulärem Engstand wird auch die Kombination eines
Lipbumpers mit Headgear im Oberkiefer empfohlen4,120. Hierbei wird eine Angle-Klasse II/1 mit
Headgear überkorrigiert, mit dem Lipbumper der Unterkiefer geweitet und anschließend mit Klasse-
III-Zügen distalisiert111 (s. Abb. 14).
4.1.5 Bisshebung
Fränkel beschreibt den Lipbumper als eine gute Möglichkeit, bei Tiefbissfällen parallel den Biss zu
heben37, indem zuerst die zweiten und dann die ersten Molaren bewegt werden. Nach Meinung von
Autor Osborn et al. 1991 Werner et al. 1994 Davidovitch et al. 1994
Davidovitch et al. 1997
Seefeld 2003
Molar Distal. (mm) 0,36 -0,55 1,75 0,61 0
21
Gerety können die ersten und zweiten Molaren gleichzeitig distalisiert werden, damit die Siebener
während der Distalisation nicht extrudieren40.
4.1.6 Nebenwirkungen
Angaben zu Nebenwirkungen der Lipbumpertherapie sind selten. Der Abstand des Labialbogens zur
Zahnreihe schützt die Gingiva labial und ermöglicht eine regelmäßige Hygiene der Bebänderung an
den Molaren. An der Unterlippe können durch die Schilde vereinzelt entzündliche Reaktionen
auftreten12. Wenn Mucosairritationen bei Anwendung von Stahlbögen auftreten, können Plastik-
röhrchen oder auf den Draht übergezogene Schläuche aus elastischem Material Linderung ver-
schaffen71.
4.2 Klinik
4.2.1 Labialbogen
Ein Lipbumper besteht aus einem im Vestibulum liegenden, starren Bogen aus federhartem
Edelstahl, der 1,10 bis 1,14 mm (0.045 inch) stark ist. Manchmal wird nur mit einem auf-
geschrumpften Gummibezug des Labialbogens gearbeitet, je nach Indikation; so z.B.:
a) bei moderatem Engstand zum Erweitern des Unterkiefer-Frontzahnbogens und Halten des Platzes
bei Durchbruchssteuerung40 oder während der nachfolgenden Distalisierung der Seitenzähne mittels
Multiband-Apparatur,
b) zum einfachen Abhalten der Muskulatur bei Lippenbeißen,
c) zum Lippenschlusstraninig56.
4.2.2 Vestibuläre Schilder
Vestibulär können Pelotten oder ein Kunststoffschild am Lipbumper angebracht sein. Apikal sollen
die Kunststoffschilder in die Umschlagfalte hinein und posterior bis an die ersten Molaren heran-
reichen. Koronal enden die Pelotten ungefähr an den Labialflächen der unteren Frontzähne. Das
Schild darf die Wangen- und Lippenbändchen sowie den Lippenschluss nicht behindern und muss
deswegen anatomische Einziehungen aufweisen.
22
In der anterioren Region soll der Abstand des Gerätes zur Gingiva zwischen 4 und 7 mm betragen.
Diese Werte variieren stark in der Literatur. Ein größerer Abstand bringt mehr Kraft und schafft
mehr Platz. Dabei können durch die vestibulären Schilde rote Eindruckstellen entstehen. Hier muss
auf einen schmerzfreien Sitz geachtet werden, damit keine traumatischen Bedingungen auftreten.
Auf Höhe der Zähne und mit möglichst großer Ausdehnung bietet ein Schild die beste
Kraftangriffsfläche55. Zudem können größere Schilde Lippenhabits abstellen40.
In einer Übersichtsarbeit vergleichen Nevant et al.80 Lipbumper mit gummierten Drahtbögen
gegenüber vorgefertigten Lipbumpern mit Acrylschild. Die Beschilderten führten dabei zu mehr
distal gerichteter Kippung der Molaren und größerer Expansion in der Transversalen80. Anzufügen
wäre hier, dass in der Drahtbogengruppe das Gerät alle zwei bis drei Monate aktiviert wurde,
während die Schildgruppe alle vier bis fünf Wochen einbestellt wurde. Hodge et al. bestätigen die
höhere Kraft von Lipbumpern mit Schild. Sie geben eine 25 - 43% größere Kraft gegenüber
Drahtbogen-Lipbumpern an55.
4.2.3 Positionierung
Ein Abstand des Labialbogens in der Horizontalen von etwa 2 mm zur Gingiva schont diese und hält
die Wangen und Lippen ab. Es sollte also kein Kontakt mit dem Zahnfleisch oder den Zähnen
existieren, außer an den bebänderten Molaren. Der Drahtbogen kann im Frontsegment zwischen den
Eckzahnschlaufen tiefer gelegt werden als der hintere Anteil des Bogens. Dies erlaubt der Lippe,
sich anzulagern und die Front zu stützen40,71.
Abb. 15. Labialbogen-Positionierung; nach71 a: mittig b: gingival c: zu viel Platz
23
Zur Labialbewegung der Unterkieferfront wird der Labialbogen ins mittlere Drittel der Krone gelegt
(s. Abb. 15 a), ansonsten gingival positioniert (s. Abb. 15 b), damit die Lippe sich stützend anlagern
kann40. Die Lippe darf nicht die Möglichkeit haben sich zwischen Drahtbogen und Zähnen
einzulagern, da sie sonst einen gegenteiligen Effekt provozieren würde (s. Abb. 15 c)71.
Je näher ein Kraftvektor am Widerstandszentrum des Zahnes liegt, desto größer ist das Verhältnis
der Translations- zur Rotationsbewegung. Den Ansatzpunkt des Lb so nahe wie möglich an das
Widerstandszentrum zu legen, ohne das Parodont zu schädigen, wird über Bajonettbiegungen zu
erreichen versucht (s. Abb. 16). Wird die Wirkungslinie der Kraft mit Hilfe einer vertikalen Stufe
des Labialbogens von etwa 5 mm durch das Widerstandszentrum des Zahnes geführt, kann der
Molar körperlich bewegt werden30. Anders herum kommt es nach Dijkman unbedingt zu
Kippungen, wenn diese Stufe nicht eingebogen wird30.
Abb. 16. Kraftangriff im Widerstandszentrum; nach30
4.2.4 Einsetzen
Der Stahlbogen des Lipbumpers wird in Röhrchen an bebänderten Molaren eingesetzt und
horizontal ein- und ausgegliedert. In der Regel sind dies die unteren Sechsjahrmolaren. Vor den
Röhrchen können U-Schlaufen, Bajonettbiegungen oder angelötete Stopps zur Verankerung des
Bogens dienen. Durch Vordehnen der Apparatur in der Transversalen kann man ein Lingualrollen
der Molaren verhindern80. Die Patienten werden alle zwei bis vier Wochen zur Kontrolle oder
Justierung des Gerätes einbestellt117.
Der „Draht nach Denholtz“ wird zur Aktivierung mit Spiralfeder vor den Röhrchen eingesetzt
(s. Abb. 17).
24
Abb. 17. Draht nach Denholtz; nach28
4.2.5 Tragedauer
Das Gerät sollte ganztägig getragen werden, auch während der Mahlzeiten, wobei hier die
Patientenmitarbeit der ausschlaggebende Faktor ist. Zur Mundhygiene wird der Bogen heraus-
genommen und geputzt.
Die Dauer für welche ein Lb zum Abstellen von Dyskinesien eingegliedert wird, richtet sich nach
den funktionellen Gewohnheiten und deren Umstellung.
Zur Expansion gibt eine Studie von Murphy et al. einen guten Anhaltspunkt. Sie zeigt, dass während
der ersten 100 Tage 50% der gesamten Expansion mittels Lipbumper erreicht werden. Zwischen
dem 100. und dem 300. Tag werden weitere 40% gedehnt. In der Zeit nach dem 300. Tag ist nur
noch eine weitere 10%ige Erweiterung zu erwarten (s. Abb. 18). Murphy et al. schlussfolgern
daraus, dass es unnötig sei, einen Zahnbogen länger als 300 Tage mit Lipbumper zu erweitern74.
Abb. 18. Schematische Darstellung der Expansion bei Lipbumpertherapie in Abhängigkeit zur Tragedauer, nach74
25
4.3 Literaturübersicht
4.3.1 Vertikale Effekte
Perillo et al. schreiben von einer 0.9 mm höheren dentalen Basis nach einem Jahr Lipbumper-
therapie88. Dies kann auf die Bissöffnung bei Zahndistalisation zurückzuführen sein15.
4.3.2 Transversale Effekte
Eine Zunahme des Zahnbogenumfangs bei Lipbumpertherapie ist in der Literatur bekannt und wird
häufig erwähnt3,15,22,25,26,42,61,71,84,101,109,111. Bei Expansion bewirkt die Zunahme der Zahnbogenbreite
um 1 mm eine Vergrößerung des Zahnbogenumfangs von 0,37 mm 73.
Die größte Breitenzunahme ist dabei zwischen den Prämolaren zu erwarten71,118, während zwischen
den Molaren die Expansion am stabilsten ist48.
Der nicht mechanischen, sondern funktionellen Therapie, unter anderem mit dem Lipbumper,
schreibt Vanarsdall eine beeindruckende Stabilität der Zahnbogenbreite zu115. Werner et al.
berichten über eine auffällige Stabilität der Ergebnisse nach Lb-Therapie. Nach ihrem Ergebnis sind
die postretentiv gemessenen Zahnbögen alle breiter als nach Ende der Lb-Behandlung, besonders im
anterioren Segment. Gleichzeitige Kronen- und Zahnhalsmessungen zeigen eine vermehrte Trans-
versalbewegung der Wurzeln der Eckzähne und die Zahnbogenlänge nimmt in der Retention ab118.
Bei anderen Behandlungsmaßnahmen kommt es meist zu einem Rückfall der gewonnenen inter-
caninen Distanz nach der Retention20,64,65,87,105. Oft nimmt die Distanz um dieselbe Dimension
wieder ab, um die sie gedehnt wurde20,32. Nicht nur die Expansion in der Transversalen, sondern
auch die Resultate in der Sagittalen sind dabei nicht von Rückbewegungen verschont5. In einer
Übersichtsarbeit wird das Rezidiv der Unterkieferfront als unausweichlich bezeichnet, egal welche
Technik benutzt wird105. Auch eine Extraktionstherapie und das Aufrichten unterer Frontzähne
schützt dabei auf lange Sicht nicht vor der Ausbildung von Engständen17,32.
Durch eine andere Ausformung des Zahnbogens kann man zusätzlichen Platz gewinnen. Bei fixer
intercaniner Breite macht eine kontrollierte Frontzahnkippung um 1mm eine Zunahme der Zahn-
bogenlänge von 1,21 mm in Ellipsen, 1,51 mm in Parabeln und 1,61 mm in Hyperbeln möglich75.
Germane et al. berechneten mathematisch, dass eine Zahnbogenlängenzunahme durch Frontzahn-
protrusion im Unterkiefer den besten Vergrößerungseffekt des Zahnbogenumfangs hat, gefolgt von
26
der Eckzahn- und als drittes der Molarenexpansion41 (1 x Inzisivi = 2 x Canini = 4 x Molares).
Die Molaren- und die Eckzahn-Expansion zusammen erbringen nur wenig mehr als die Frontzahn-
Protrusion alleine41.
Die prozentuale Beteiligung der Front-, Eck- und Seitenzahnbereiche am Platzgewinn wurde von
Davidovitch et al. untersucht. Die Verringerung des Engstandes beruht auf einer Verteilung von 45-
55% durch Unterkieferfrontzahnkippung, 35-50% durch Molarendistalisation und -kippung, sowie
5-10% durch transversale Zahnbogenzunahme25.
4.3.3 Sagittale Effekte
Frontzähne
In der Sagittalen ist die Protrusion der Unterkieferfront (Auffächerung) bei Lipbumper-Therapie
bekannt3,12,23,25,26,40,82,84,99 und gleichzeitig mit am fragwürdigsten. Oft werden Veränderungen in der
Sagittalen allein der Frontzahnprotrusion zugesprochen; Gerety bezeichnet es als Mythos, dass die
alleinige und unzulängliche Wirkung des Lb die Unterkiefer-Frontzahn-Protrusion sei40. Es gibt
Beweise für deutliche Zunahmen der Unterkieferlänge durch verschiedene Anteile von Molaren-
distalisation gleichzeitig kombiniert mit Frontzahn-Proklination als auch -Protrusion84,99.
Eine Studie zu Verankerungsversuchen bei unilateraler Molarendistalisationen mittels Lingualbogen
zeigt auf, wie auch mit diesem Verankerungstyp die Unterkieferfront um 7.6° mesial kippt und um
2.6 mm protrudiert. Eine Kombination mit dem Lipbumper verändert diese Werte auf 1.7° und
1.2 mm59.
Molaren
Manche Autoren stellten nur einen aufrichtenden Effekt des Lb auf die Unterkiefermolaren fest15,109,
während andere berichten, dass eine leichte Translation des Widerstandszentrums nach distal bei
vornehmlicher Kippung der Front und der Molaren stattfindet78,85. Über eine eindeutige Distalisation
der Molaren mittels Lipbumper wird von verschiedenen Autoren berichtet3,5,25,30,61,78,80,82,84,109.
Sather et al. zeigten sich „beeindruckt von der Fähigkeit, mit dem Lb eine Distalbewegung zu
erreichen“, wobei sie dafür den Headgear zur Vorarbeit benutzten, und den Lipbumper mit Klasse-
III-Zügen kombinierten101. Auch andere Autoren geben an, dass deutliche Ergebnisse nur erreicht
werden, wenn das Gerät mit dem Tragen intermaxillärer Gummizüge kombiniert wird12,22,40.
Andernorts wird die „signifikante Distalisation der Verankerungszähne“ als unerwünschter Effekt
27
angesehen83.
Aufgrund unterschiedlicher Angaben ist die distalisierende Wirkung des Lipbumper nicht voll
anerkannt. Zudem ist sie in kombinierten Therapien schwer zu vergleichen.
Eine weitere Studie mit Anwendung intermaxillärer Züge zeigte, dass die erreichte distale Position
der Molaren allein im Zusammenhang mit der Tragedauer des Lipbumpers steht, aber nicht mit der
Tragedauer der Elastics12. Die Distalbewegung ist also abhängig von der Tragedauer des Gerätes.
Dessen Vorspannung, d.h. wie weit die Position in die Lippe hinein gewählt ist, bestimmt das
Ausmaß des Effektes12.
Das Konstruktionsdesign, speziell in Bezug auf die Größe der Schilde, hängt direkt mit der
übertragenen Kraft und damit auch mit dem Ausmaß der Distalbewegung zusammen80,85. Die
Molarenbewegung ist also abhängig vom verwendeten Lipbumpertyp78.
4.3.4 Skelettale Effekte
Skelettale Effekte erhofft man sich in der funktionellen Kieferorthopädie, sind aber schwer zu
erreichen. Funktionelle Geräte rufen kleine Zunahmen der Unterkieferlänge hervor, deren Ergebnis
nicht von den physiologischen Wachstumsvorgängen unterscheidbare, skelettale Veränderungen
sind24. Nur selten tauchen Berichte einer signifikanten skelettalen Zunahme auf und die finden meist
nur am Ramus ascendens oder den Condylen statt, wie z.B. nach Vanarsdall et al.116 in der Trans-
versalen zwischen den Punkten Antegonion. Und oft sind die Ergebnisse schwer zu vergleichen,
wenn, wie bei Vanarsdall et al., zeitgleich im Oberkiefer eine Gaumennahtsprengung durchgeführt
wurde. Andererseits wäre es übereilt, die Arbeit von Vanarsdall et al. unter zu bewerten, da nach
Grossen und Ingervall eine gleichzeitige Therapie im Oberkiefer keinen Einfluss auf das Ergebnis
einer Lb-Behandlung zu haben scheint52. Nach Bishara und Ziaja wird der zur Korrektur einer
Angle-Klasse II benötigte Platz von 6 mm mittels Funktionskieferorthopädie durch eine
Kombination orthopädischer (30-40%) und dentoalveolärer (60-70%) Wirkung erreicht14. Ganz
allgemein stellen die Autoren funktionelle Geräte nicht besser als festsitzende. Sie stellen eine
Möglichkeit der Behandlung dar, benötigen dazu aber Kooperation und Wachstum. Zudem sei eine
spätere, festsitzende Behandlung praktisch immer notwendig14.
Zu einem Durchbruch im Verständnis führt eine Arbeit von Davidovitch et al. über Lipbumper,
deren Wirkung tomographisch analysiert wurde. Messtechnisch bedingt gibt es einen signifikanten
28
Unterschied zwischen Messungen mit Tomographen und üblichen Röntgenaufnahmen. Die
Standardabweichung ist bei Röntgenaufnahmen größer und die Qualität ist ungenauer gegenüber der
Computertomographie. 1994 liefert ein Tomograph Davidovitch et al. signifikante Werte zur sagit-
talen Lipbumperwirkung25. Die andere Technik zeigt, dass nicht nur eine distale Kippung, sondern
tatsächlich auch eine posteriore Translationsbewegung stattfindet. Dieser Effekt tritt bei den klas-
sischen Röntgenbildern nicht signifikant in Erscheinung, auch wenn im Mittel die Werte doppelt so
hoch sind und bei der anteroposterioren Bewegungen der Molaren sogar drei mal so hoch. Die
Ergebnisse der Röntgenbilder zeigen einen Trend auf, als nicht signifikante, aber in die gleiche
Richtung weisende Daten, die denen der computertomographischen Bildauswertung gleichen25. In
der Sagittalen sind in den Tomogrammen signifikante Unterschiede im Gegensatz zu klassischen
Röntgenbildern zu erkennen, was Auswirkungen auf viele vorangegangene Studien zur Wirkung
funktionskieferorthopädischer Geräte hat. Bisher also traten die größten quantitativen Unterschiede
in der Bestimmung der Molarenposition bei der Analyse im FRS aufgrund der Einschätzung
unterschiedlicher Beobachter auf. Was lange diskutiert wurde, war einfach aufgrund der
eingeschränkten technischen Möglichkeiten früher nicht nachweisbar gewesen.
4.3.5 Beziehungen zu Alter, Geschlecht und zweiten Molaren
Bei Lipbumperbehandlung konnte keine eindeutige Beziehung gefunden werden zwischen Ver-
änderungen in Umfang oder Länge des Zahnbogens mit Therapiedauer, Zahndurchbruchsstatus oder
Alter der Patienten85.
Auch das Geschlecht scheint keinen Einfluss zu haben55,85. Selbst die zweiten Molaren üben keinen
Einfluss auf die Therapie bzw. den therapeutischen Effekt aus52,84,85. Nur einer aus 300 Personen mit
Lipbumperbehandlung wies einen verlagerten zweiten Molar auf53.
4.3.6 Verankerung
Der Vorteil des Lipbumpers ist die Lösung des Problems der reziproken Verankerung, bei welchem
die Wurzeloberflächen der Frontzähne denen des ersten Molaren gegenüber stehen. Eine maximale
oder stationäre, zahnunabhängige Verankerung ist nur mit Hilfe einer extraoralen Apparatur oder
mit Implantaten zu erreichen. Intraoral an Zähnen erreicht man eine relative stationäre Ab-
stützung102. Der entscheidende Vorteil der „muskulären Verankerung“28, wie sie bei einem Lip-
29
bumper möglich ist, liegt darin, das reziproke Kräfte nicht direkt auf die Frontzähne übertragen
werden. Bei Lipbumpertherapie liegt die Verankerung in der Unterlippe, wodurch die Wurzelober-
flächen des ersten Unterkiefer-Molaren dem Lippendruck gegenüberstehen, der sich nach dem
Kapsel-Matrix-Prinzip wieder auf die Zähne und Zahnstellung überträgt72. Ohne die Verankerung an
Zähnen können die negativen reziproken Auswirkungen wie Kippung und Drehung oder
Schädigung des Parodonts und der Ankerzähne anderer kieferorthopädischer Geräte vermieden
werden.
4.3.7 Beziehungen zwischen Lipbumpern und zirkumoralen Kräften
4.3.7.1 Kieferorthopädische und orale Kräfte
Kräfte des zweiten biologischen Wirkungsgrades, die mit 0,15-0,2 N/cm² auf die Wurzeloberfläche
einwirken, sind optimal zur orthodontischen Zahnbewegung, da die desmodontale Blutzirkulation
erhalten bleibt49. Dadurch werden Schäden vermieden und kontinuierlich angewandt führen sie zu
den erwünschten Umbauvorgängen. Für Zahnbewegungen in der Sagittalen bedeutet die En-face-
Wurzeloberfläche, dass nur 1/3 bis 1/5 der gesamten Wurzeloberfläche in Bewegungsrichtung zeigt
und dort belastet wird. Bei körperlicher Bewegung von Molaren bedeutet dies ein Widerlager von
1,5 bis 2,5 Newton (N), beziehungsweise 0,5-0,75 N bei kippender Bewegung. Dies sind
Richtwerte, da es im Einzelfall unmöglich ist, die optimale Kraftgröße zu bestimmen49. Interessant
hierbei ist, dass bei Expansion mittels Lb und Zunahme der Zahnbogenlänge inklusive Aufrichten
der Sechs-Jahr-Molaren, die zweiten Molaren keinen Einfluss ausüben trotz ihrer verankernden
Wurzeloberfläche52,85.
Ein Headgear erreicht in den Kraftspitzen Werte von 4-7 N, eine Plattenapparatur bis zu 4 N, und
ein Aktivator 3 bis 5 Newton, wobei diese Kräfte nur diskontinuierlich oder intermittierend sind.
Beim Sprechen, Kauen und beim Schlucken entstehen die größten Kräfte55 mit gleichzeitig kurzen
Wirkungsmomenten. Diese Kräfte gehören zu dem Gleichgewicht des „muskulären Schlauches“ der
Dentition. Zu diesem Gleichgewicht gehören auch die Kräfte des parodontalen Ligaments, der
Eruption und der Okklusion. Die Hauptfaktoren der auf die Zähne und das harmonische Gleich-
gewicht wirkenden Kräfte stellen jedoch die schwachen aber lang andauernden Kräfte der Zunge
und der Lippen in Ruhe dar91; ähnlich dem Prinzip der therapeutisch angewandten langsamen,
kontinuierlichen Kräfte des zweiten biologischen Wirkungsgrades.
30
4.3.7.2 Lipbumper-Kräfte
Man unterscheidet zwischen Lippenkraft und Lippendruck. Der Druck resultiert aus dem Gewicht
des Weichgewebes ohne Kontraktion der Muskulatur. Dabei gibt es keine Korrelation zwischen
Lippenkraft und Lippendruck113. Während mit Schild immer größere Kräfte übertragen werden
können als ohne, haben die Dicke und die Höhe der Lippen keinen Einfluss auf die Kräfte55.
Die Lippenkräfte, übertragen von Lipbumpern, variieren je nach vertikaler und anteroposteriorer
Position55. Zwei Millimeter vor der Front mittig auf Höhe der Zahnkrone liegen sie bei ungefähr 5 g.
Demgegenüber liegen sie bei 4 mm Abstand und auf Höhe der Gingiva signifikant höher, bei um die
15 g55. Sakuda und Ishizawa bestimmten den Lippendruck bei Lipbumpertherapie mit 100 bis 400 g,
beim Schlucken mit 105 g bis 330 g (46.7-88.7 g/cm²)99.
Die Effizienz wird gesteigert, wenn man einen Lipbumper bei kräftiger Muskulatur und erhöhtem
Mentalis-Tonus einsetzt51. Auch nach Subtelny und Sakuda ist eine straffe Unterlippe bei der Lip-
bumpertherapie von Vorteil109. Allein hohe Kräfte sind jedoch nicht der Garant für kieferortho-
pädische Zahnbewegungen.
Nach Bergersen ist der Betrag der Bewegung abhängig von der Dauer der Behandlung. Bergersen
hebt außerdem die Abhängigkeit von der Vorspannung in die Lippe hervor, die ausschlaggebend für
die Distalbewegung ist12. Es konnte aber bei Lipbumpertherapie kein korrelativer Zusammenhang
zwischen Lippen-Kraft und dem Ausmaß der Zahnbewegung festgestellt werden84. Dabei ist
anzumerken, dass gerade Bergersen betont, dass eine Indikation zur Extraktionstherapie nicht durch
einen Lipbumper abgewendet werden kann12.
Die Kombination aus Schildgröße, Vorspannung in die Weichteile hinein und kräftiger Muskulatur
spielen also zusammen. Große Schilde entlasten dabei die Lippen12 und vermindern Druckstellen
durch Arbeit in physiologischen Kraftbereichen.
4.3.8 Therapiezeitpunkt
Der Lipbumper wird im Wechselgebiss gegen Engstände oder deren Etablierung eingesetzt104.
Damit gehört er zur Frühbehandlung, mit der generell jede kieferorthopädische Therapie gemeint ist,
die vor dem üblichen, dentalen biologischen Behandlungsalter erfolgt. In der Regel findet sie um die
zweite oder späte Phase des Wechselgebisses statt; im engeren Sinn spricht man bei Therapie im
31
reinen Milchgebiss von Frühbehandlung, im erweiterten Sinne auch noch während der ersten
Wechselgebissphase29. Fürsprecher betonen die Notwendigkeit einer präventiven Therapie, um
durch die Frühbehandlung größeren dentalen Problemen zu späteren Zeitpunkten vorzubeugen. So
kann bei Patienten mit Engstand eine Lipbumperbehandlung die Notwendigkeit eines späteren und
deswegen schwereren Eingriffs ausschliessen50,68,101.
Bramante meint hierzu: „Nach einer Phase starker Extraktionstherapie vor Angle, seiner Umkehr
und den heutigen Erkenntnissen, dass bei 90% nicht zufrieden stellende Engstände nach der Reten-
tionsphase vorliegen – und wir nicht in der Lage sind die anderen 10% vorherzusagen – bleibt nur
übrig zu sagen, dass eine frühere Behandlung zu stabileren Ergebnissen bei Nicht-
Extraktionstherapie führt17. Des Weiteren kommt es zu besserer Leeway-Space-Kontrolle und
weniger Karies, zu weniger Fächerständen (Labialkippung) als […] in Nichtextraktions-Fällen […]
zu Anfang des Jahrhunderts17“.
Die Behandlung von Engständen durch den Erhalt der Bogenlänge ist kurz vor dem Verlust des
unteren Milch-Vers bzw. nach Durchbruch der ersten Prämolaren vielversprechend45. So kann der
Leeway-Space erhalten werden, der inklusive des Platzes distal der Molaren meist zur Ausformung
und der achsengerechten Frontzahneinstellung ausreicht101.
32
5 Indikationen zur Lipbumpertherapie
Indikationen der Lipbumpertherapie:
- mesial gekippte Seitenzähne
- Verankerungsverlust
- Dyskinesien der Unterlippe
- Engstand
- als Retainer nach Expansionstherapie
- Rotation der unteren Molaren und Prämolaren
- Lingualstand der Unterkiefer-Frontzähne
5.1 Zahnkippung
Nach Zahnverlust oder Nichtanlage eines Zahnes können die nachfolgenden Zähne aufwandern.
Bedingt durch die Festigkeit des Unterkieferknochens und die peripher angreifenden
Okklusionskräfte treten dabei häufig Kippungen auf, die parodontale Nischenbildung mit
erschwerter Mundhygiene und therapiebedürftigen Parodontalverhältnissen zur Folge haben.
Therapiert wird dies durch das Aufrichten des Zahnes, auch um eventuell folgenden Zähnen Platz
zum Durchbrechen zu gewährleisten.
5.2 Zahnwanderung
Verfrühte Milchzahnverluste sind Resultat von Traumen, Erkrankungen, schlechter Ernährung mit
Karies, entwicklungsbedingten Fehlbildungen oder genetischen Veränderungen wie Dysplasien oder
Nichtanlagen. Als Folge kann dabei die Lücke durch das Vorwandern der posterior stehenden
Nachbarzähne mehr oder weniger geschlossen werden oder der Antagonist extrudieren, was zu
Artikulationsschwierigkeiten führt. Je nach Knochendicke über dem nachfolgenden Zahnkeim
kommt es zu einem verfrühten oder verspäteten Durchbruch des bleibenden Zahns. Außerdem kann
sich eine Dyskinesie – z.B. mit Zungeneinlagerung in der Lücke – etablieren, die zu weiteren
Entwicklungsstörungen führt. Und nicht zuletzt bedeutet vorzeitige Milchzahnextraktion auch
immer eine Wachstumshemmung des Kiefers. Wenn die posterior stehende Zahnreihe noch nicht
aufgewandert ist, eignet sich zur Therapie ein Lückenhalter, der alle drei Dimensionen der Lücke
33
aufrecht erhält, ohne den Durchbruch des nachfolgenden bleibenden Zahnes zu stören.
5.3 Orofaziale Dyskinesie
Zu den orofazialen Dyskinesien gehören alle unnatürlichen Funktionen des Kauorgans, wie Beißen
oder Saugen der Wangen, Lippen, Zunge, Bleistiften oder Fingern. Die morphologische
Dysfunktion, die in den Therapiebereich des Lipbumpers fällt, ist die Lippendyskinesie. Für die
anderen Fehlfunktionen gibt es passendere Geräte, weswegen hier nur auf die Fehlmotorik der
Lippen eingegangen wird.
Lippendyskinesie
Zu Lippenfehlfunktionen zählen Lippenpressen, -saugen und -insuffizienz94.
Lippenpressen ist u.a. durch einen hypervalenten M. mentalis bedingt und führt durch eine
Stauchung dieser Weichgewebe zu einem Steilstand der Frontzähne.
Beim Saugen wird die Unterlippe hinter den oberen Schneidezähnen eingelagert. Die oberen Front-
zähne werden dabei protrudiert und die Sagittalentwicklung des anterioren Unterkiefer-Alveolar-
fortsatzes gehemmt. Oft tritt dieses klinische Bild gemeinsam mit einer Hypervalenz des M.
mentalis auf.
Anatomisch zu kurze Lippen sind der Grund für eine Insuffizienz. Erst durch aktive Kontraktion des
M. orbicularis oris kann der Lippenschluss erreicht werden.
5.4 Dentale Engstände
Engstände können vererbt oder durch Mesialwanderungen der Zähne erworben sein. Physiologische
Faktoren, die im eugnathen Gebiss zu Engstand führen, sind das im Verhältnis zum Oberkiefer
längere Wachstum des Unterkiefers mit gleichzeitiger kranialer Rotation, die kontinuierliche
Mesialwanderung der Zähne und ein vertikaler Wachstumstyp mit seinen schmalen apikalen Basen.
Man unterscheidet bei Engstand anatomisch den koronalen vom apikalen und den anterioren vom
posterioren Engstand. Unter Berücksichtigung der Genese spricht man vom primären, sekundären
und tertiären Engstand, wobei der tertiäre Engstand nicht in den Bereich des Lipbumpers fällt. Das
Ausmaß des Engstandes wird in Grade eingeteilt.
34
Bei koronalem Engstand ist genügend Platz in der Alveolarbasis vorhanden, weswegen der
Engstand durch Dehnen des Zahnbogens aufgelöst werden kann.
Beim apikalen Engstand besteht eine anatomisch zu kleine Knochenbasis gegenüber einem relativ
groß angelegten Zahnbogen. Er ist oft genetisch bedingt oder als Folge einer transversalen ossären
Entwicklungsstörung der Kiefer. Zu dieser Gruppe zählt auch der sogenannte primäre Engstand.
Primärer Engstand
Der primäre Engstand tritt im Alter von 7-8 Jahren im Bereich der Frontzähne auf. Er ist genetisch
bedingt durch eine kleine Kieferbasis mit im Gegensatz dazu relativ großen Zähnen charakterisiert.
Die kleine Knochenbasis ist Ursache für den Durchbruch der Zähne in der Anordnung ihrer
Keimstellung, wobei die typischen Dachziegel-, Staffel-, Pflugschar- oder Flügeltürformationen der
Zähne auftreten.
Das Auftreten des Engstandes an den Frontzähnen definiert den anterioren Engstand.
Sekundärer Engstand
Von sekundärem Engstand spricht man, wenn der Platzmangel aufgrund exogener Faktoren
erworben wurde. Die Engstandsform tritt meistens im Bereich der Stützzone auf. Die Stützzone wird
von den Milcheckzähnen und den Milchmolaren gebildet. Die Milchmolaren sind etwas größer als
die nachfolgenden bleibenden Zähne; die Summe dieses Größenunterschiedes wird als Leeway-
Space bezeichnet. Die Milchzähne der Stützzone dienen normalerweise den bleibenden Zähnen als
Platzhalter und gewähren mit dem Leeway-Space als Platzreserve den störungsfreien Durchbruch
des bleibenden 3ers, 4ers und 5ers.
Sekundärer Engstand entsteht daher erst im Laufe des Zahnwechsels durch Milchzahnkaries mit
Kontaktpunktverlust, vorzeitiger Milchzahnextraktion, Zahnbogenverformung, Zahnstellungsano-
malien, unterminierender Resorption an den zweiten Milchmolaren oder Milchzahn-Ankylosen.
Anschliessend führt die anteriore Kraftkomponente dazu, dass die distal der Lücke stehenden Zähne
aufwandern beziehungsweise nach mesial kippen. Es kommt zum Stützzoneneinbruch. Dieser
sagittale Platzverlust ist exogener Natur, was einer erworbenen Anomalie entspricht.
35
Engstandsgrade
Die Einteilung von Engständen erfolgt nach deren Ausmaß, was für die Therapieentscheidung
wichtig ist. Nach Graden werden Engstände wie folgt eingeteilt:
Von Engstand ersten Grades spricht man, wenn eine leichte oder geringe Stellungsanomalie der
Frontzähne vorliegt ohne Beteiligung in der Stützzone oder wenn, dann nur in der Stützzone.
Bei Engstand zweiten Grades liegt eine deutliche Stellungsanomalie der Frontzähne vor, mit oder
ohne Platzverlust in der Stützzone.
Bei einem Engstand dritten Grades bestehen ausgeprägte Stellungsanomalien mit einem Platz-
mangel größer als die Breite des seitlichen Schneidezahnes und die Stützzonen sind ungünstig.
Engstände mit einem Platzmangel bis zu 2 mm werden als leicht bezeichnet, bis 4,5 mm gelten sie
als moderat und darüber als schwerer Engstand.
Zur Engstandsprognose gibt es nach Gianelly44 drei Parameter, die beachtet werden sollen:
- Das Fehlen von interdentalen Lücken im Milchgebiss
- Engstand der bleibenden Frontzähne bereits im Wechselgebiss
- Frühzeitiger Verlust eines Milcheckzahnes als Anzeichen dafür, dass der bleibende 2er nicht
genügend Platz für den anstehenden Durchbruch hat.
5.5 Kontraindikation
Die Begrenzung der Lipbumpertherapie liegt darin, dass sie allein durch Abschirmung lokaler
Einflüsse erbbedingte dysplastische Entwicklungen nicht hemmen kann93.
Bei dentalen oder skelettalen Klasse-III-Anomalien besteht durch die vestibulären Schilder die
Gefahr der Verstärkung des transversalen und möglicherweise sagittalen Unterkieferwachstums,
was zusammen mit der Therapie-bedingten Proklination der unteren Inzisivi zu einem negativen
Überbiss der Kiefer führen kann.
36
6 Fragestellung
Die Angaben zur Lipbumper-Wirkung auf den unteren Zahnbogen sind in der Fachliteratur sehr
unterschiedlich. Daher sollte mit einer differenzierten Auswertungstechnik anhand der FRS-Bilder
kieferorthopädischer Patienten, die mit diesem Gerät behandelt wurden, und durch Vergleich mit
einem unbehandelten Kontrollkollektiv der Effekt dieser Apparatur neu evaluiert werden.
Mit der Röntgen-Überlagerungsmethode nach Baumrind et al.9,10 können die orthopädischen und
orthodontischen Anteile der Bewegung des ersten unteren Molaren differenziert werden. Damit soll
die orthodontische Bewegung des Molaren und der Frontzähne, sowie deren Inklination im
Zusammenhang mit dem Platzgewinn im Zahnbogen bei Lipbumper-Therapie untersucht werden.
Auf diese Weise kann beobachtet werden, inwiefern der Platzgewinn aus der Kippung der Front, der
Aufrichtung der Molaren oder aus der körperlichen Bewegung der Zähne stammt.
37
7 Material und Methode
In der Studie wurde retrospektiv die Zahnbewegung des Sechs-Jahr-Molaren des Unterkiefers unter
Lipbumpertherapie mittels der Überlagerungstechnik nach Baumrind et al.9,10 untersucht. Mit dieser
Methode kann zwischen lokaler und entfernter Verlagerung differenziert und die orthopädische und
die orthodontische Komponente der Zahnbewegung analysiert werden. Daraus wird ersichtlich, zu
welchen Anteilen die Engstandsauflösung mittels Lipbumper erfolgt und welche Rolle dabei die
relative alveoläre Lageänderung des ersten Unterkiefermolaren spielt.
Hierfür wurden die prä- und posttherapeutischen Fernröntgenseitenbilder (FRS) von 14 kieferortho-
pädisch behandelten Patienten mit Engstandssituationen im Wechselgebissalter ausgewertet und mit
einer Gruppe Jugendlicher ohne Therapie verglichen.
7.1 Patientengut
Aus dem Archiv der kieferorthopädischen Abteilung des Universitätsklinikums Freiburg wurden 14
Patienten gewählt. Folgende Selektionskriterien wurden angewendet:
- Zeitpunkt der Behandlung im Wechselgebiss
- Kaukasischer Typus mit skelettaler oder dentaler Klasse I oder II mit Indikation zur
Distalisation bzw. Stabilisierung des Zahnbogens mittels Lipbumper
- gute Compliance, sowohl bei der Mundhygiene, als auch des Therapiegerätes; Beurteilung
anhand der Patientendokumentation
- Therapiedauer mindestens 6 Monate
- Röntgenbilder in ausreichender Qualität in Bezug auf die notwendigen Messpunkte, gute
Kopfposition, d.h. minimale oder keine Rotation des Kopfes, angefertigt sowohl prä- als
auch posttherapeutisch.
Ausschlusskriterien waren:
- Abstand zwischen Therapie und Röntgenbild länger als 12 Monate
- dentale und skelettale Klasse-III-Anomalien.
Geschlecht und Alter gingen in die Statistik mit ein.
Da es sich um eine retrospektive Studie handelt, konnten anderweitige Therapieformen im
38
Gegenkiefer nicht ausgeschlossen werden. Es gestaltete sich als schwierig, identische Patienten zu
finden oder ein Röntgenbild, auf welchem nicht Effekte anderer Geräte integriert waren, die in der
Zeit vor der zweiten Aufnahme im gleichen Kiefer benutzt wurden. Insgesamt blieben nach der
Selektion nur 14 Patienten übrig. Die Patienten wurden so ausgesucht, dass der Abstand zwischen
Therapie und Röntgenaufnahme möglichst gering ausfiel. Damit sollten Auswirkungen anderer
Behandlungsgeräte so weit es möglich war, ausgeschlossen werden. Dennoch betrug bei einem
Patienten der Abstand zwischen Röntgenbild und Therapie 12 Monate.
Für die Vergleichsgruppe wurden Röntgenbilder aus dem Archiv der Poliklinik für Kieferorthopädie
des Universitätsklinikums der LMU München benutzt. Diese wurden so ausgewählt, dass sie dem
chronologischen Alter der zu vergleichenden Studiengruppe möglichst nahe kamen. Die
Kontrollgruppe stammt aus einem seltenen Kollektiv nicht kieferorthopädisch behandelter Patienten,
die nach dem Winkel SNA (>81°>) eingeteilt sind, wobei für jeden Patienten der Untersuchungs-
gruppe das Pendant mit dem passenden Typus ausgewählt wurde.
7.2 Behandlungsgerät
7.2.1 Lipbumper-Design
Zur Therapie wurden Lipbumper vom Typ Unit eingesetzt. Von einem frontal in der Umschlagfalte
des Unterkiefers gelegenen Kunststoffschild führten Drähte entlang des Vestibulums zu den
Röhrchen der bebänderten 6-Jahr-Molaren. Das Kunststoffschild befand sich labial zwischen den
Eckzähnen mit einer Dicke von ungefähr 3 mm und ca. 5 mm Höhe. Der Draht war ein 1,14 mm
starker federharter Edelstahl, der in Röhrchen an den Bändern der Unterkiefer-6-Jahr-Molaren
inserierte. Die zweiten Molaren wurden nicht in das Therapiegerät mit einbezogen.
7.2.2 Positionierung
Ein mittlerer Abstand der Therapiegeräte von 2 mm vom Gingivaverlauf wurde in der Horizontalen
eingehalten. In der Vertikalen reichten sie koronal bis zur marginalen Gingiva und kaudal
behinderten sie nicht die Bewegung des Lippenbändchens. Die Position wurde durch U-Schlaufen
vor den Röhrchen der ersten Molaren des Unterkiefers gesichert.
39
7.2.3 Manipulation und Kontrollen
Recalls zur Betreuung der Patienten und Einstellung der Geräte fanden alle zwei bis vier Wochen in
der Abteilung für Kieferorthopädie des Universitätsklinikums Freiburg statt.
7.3 Dokumentation und Auswertung
Von allen Patienten wurden sowohl vor als auch nach der Therapie FRS-Bilder und Kiefer-
Situationsmodelle angefertigt. Die Ergebnisse stellen die an Hand der Röntgenbilder und der
Modelle gemessenen prä- und posttherapeutischen Veränderungen bzw. Bewegungen des Unter-
kiefer-6-Jahr-Molaren dar. Die Modellanalyse und kephalometrische Vermessung der Fernröntgen-
seitenbilder wurde in allen Fällen durch dieselbe Person ausgewertet. Insgesamt wurden in die rönt-
genologische Auswertung 10 Referenzpunkte einbezogen (s. Kap. 7.6.2), zwei dentale Winkel-
messungen (s. Kap. 7.6.6), die Y-Achse zur Bestimmung des Wachstumstyps und der Parameter
Distanz des mittleren unteren Schneidezahnes zur Linie N-Pog (1̄ -NPog) für die Engstandsanalyse.
Des weiteren wurden, neben der Engstandsanalyse am Modell (s. Kap. 7.4), das Alter, Geschlecht,
die Therapiedauer und eine gleichzeitige Therapie im Oberkiefer in die Dokumentation aufgenom-
men (s. Kap. 7.7).
7.4 Odontometrische Analyse
Die odontometrische Analyse der Ober- und Unterkiefermodelle eignet sich, insbesondere bei
retrospektiven Studien, durch die Dauerhaftigkeit der verwendeten Gipsmodelle als Instrument der
qualitativen Vermessung der Veränderung des Zahnbogens. In dieser Arbeit wurden Modell-
messungen zur Einschätzung des Engstandes und dessen therapeutischer Veränderung vorgenom-
men. Dazu wurde die Platzanalyse nach Nance durchgeführt. Der Vergleich zwischen prä- und post-
therapeutischen Situationsmodellen zeigt die Auswirkungen der physiologischen Wachstums-
vorgänge und die der beeinflussenden kieferorthopädischen Therapie.
Alle Modelle wurden über einen Alginatabdruck aus Alabastergips hergestellt und wiesen somit, die
gegebene, natürliche Variation inbegriffen, dieselben Expansionssprünge auf. Die Modelle wurden
alle gesockelt und parallel zur Kau-, Tuber- und Raphe-Median-Ebene getrimmt. Ein Situationsbiss
aus Wachs diente der patientengerechten Kieferrelationsbestimmung.
40
7.4.1 Platzanalyse und Diskrepanzberechnung
Die Platzbedarfsanalyse nach Nance wurde am Unterkiefergipsmodell durchgeführt, bei der die
Differenz zwischen Platzangebot und -bedarf ermittelt wird. Ideale Zahnbogenbreiten, d.h. jeder
Zahn einzeln in mesio-distaler Breite abgegriffen, wurden von mesial 6 bis mesial 6 bestimmt. Die
Ist-Bogenlänge wurde mit einem weichen, der individuellen Zahnbogenform nachkonturierten
Messingdraht abgegriffen (s. Abb. 19). Am geraden Draht wurde die Distanz zwischen den mesialen
Kontaktpunkten der Sechsjahrmolaren abgemessen.
Abb. 19. Platzangebot mesial 6
Die Differenz zwischen Soll- und Ist-Wert der Zahnbogenlänge ergab den Platzmangel, wenn der
Wert negativ war, bzw. bei positiven Zahlen die Platzreserve. Zur Bestimmung der Totalen
Diskrepanz wurde die Kippung der Front und die Speekurve (s. Abb. 20) eingeschlossen. Dazu
wurde das Ausmaß der Speekurve in Millimetern vom Platzangebot subtrahiert. In der Abteilung für
Kieferorthopädie wird therapeutisch ein Nullwert der Spee-Kurve angestrebt. Das Ergebnis halbiert
ergab die dentale Diskrepanz pro Kieferhälfte.
Abb. 20. Speekurve; nach94
Der Abstand der Schneidekante des unteren mittleren Schneidezahns (¯ 1) zur N-Pog-Linie im FRS
(s. Abb. 21) soll im Unterkiefer einen physiologischen Bereich von +/-2mm betragen. Die Werte der
dentalen und sagittalen Diskrepanz wurden addiert, um die totale Diskrepanz pro Kieferhälfte zu
bestimmen. Der Messwert der dentalen Diskrepanz wurde dabei halbiert, da die sagittale Diskrepanz
41
nur eine unilaterale Analyse darstellt.
Abb. 21. Sagittale Diskrepanz 1̄ - NPog; nach94
Rotationen aller in die Messung einbezogenen Zähne fließen in die horizontalen Messungen mit ein,
da sie Platz zur Korrektur benötigen.
Beispiel Diskrepanzberechnung für den Unterkiefer:
Dentale Diskrepanz Sagittale Diskrepanz
Platzangebot : 50 mm 1-N-Pog : - 5 mm
Platzbedarf : -58 mm SD : + 5 mm
Spee-Kurve : - 4 mm + 5 mm
Summe DD : - 12 mm 1/2→ DD/2 - 6 mm
Totale Diskrepanz / Kieferhälfte : - 1 mm
7.5 Röntgenkephalometrische Analyse
Die röntgenkephalometrische Auswertung wurde mit einer Superimpositionstechnik von Fern-
röntgenseitenbildern nach Baumrind et al.9,10 durchgeführt. Für diese Überlagerungstechnik wurden
Röntgenbilder verwendet, die in der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Universitäts-
klinikums Freiburg im Verlauf der Therapie angefertigt wurden.
Für die Platzbedarfsmessung (s. Kap. 7.4) wurde der Abstand der Inzisalkante des am weitesten
labial stehenden unteren Einsers senkrecht zur Verbindungslinie von Nasion zu Pogonion gemessen
(Uk1̄ -N-Pog). Zusätzlich wurden die Veränderungen des Inklinationswinkels des ersten unteren
Molaren und des ersten unteren Frontzahnes zur Mandibularlinie gemessen (s. Kap. 7.6.6). Die
42
Röntgenbilder wurden vom Autor mit einem 0,5 mm starken Bleistift auf Acetatfolie gezeichnet und
ausgewertet.
Man kann bei der Röntgenbildanalyse zwischen individueller Methode und der Überlagerungs-
technik unterschieden. Mit der Auswertung von Fernröntgenseitenbildern nach der individuellen
Methode kann mittels linearen und Winkelmessungen ein Bild der sagittalen und vertikalen
kraniofazialen Verhältnisse und deren Veränderungen erstellt und beobachtet werden. Eine andere
Technik, die nach Brodie19 von William Downs entwickelt wurde, ist die so genannte Super-
impositionstechnik. Durch direkte Überlagerung der Röntgenbilder auf bestimmten Punkten wie
z.B. Sella oder auf anatomischen Strukturen wie der Knochenkontur der Mandibula, kann der
Wachstumsunterschied mit nur einer Messung dargestellt werden. Baumrind et al.10 verwendeten
diese Methode erfolgreich und beschrieben mit ihr die globalen und lokalen Anteile des Knochen-
wachstums9,10.
Alle FRS-Bilder aus Freiburg wurden mit einem Kephalostaten angefertigt, mit dessen Hilfe die
Medianebene des Kopfes in 0,18 m Entfernung parallel zur Filmebene ausgerichtet wurde. In
Freiburg traf der Röntgenstrahl mit einer Röhrenspannung von 85 kV aus einem Abstand von 4 m
auf die Filmkassette. Durch diese Aufnahmetechnik entstand ein konstanter Vergrößerungsfaktor
von 1,026, was einer Vergrößerung von 2,6% entspricht.
Die Vergleichsbilder der Kontrollgruppe aus der kieferorthopädischen Abteilung der LMU
München wurden mit einem Abstand von 0,18 m von der Midsagittalebene des Kopfes zur Film-
kassette und 1,5 m zum Brennpunkt angefertigt, weswegen der Vergrößerungsfaktor bei 7,1% lag,
beziehungsweise 1,071. Daraus ergab sich ein Faktor von gerundeten 0,958 = 1,026/1,071 der in die
Werte der Münchener Gruppe eingerechnet wurde.
7.6 Methode
7.6.1 Superimpositionstechnik
Die hier verwendete Überlagerungstechnik nach Baumrind et al.9,10, dient zur Unterscheidung von
Umbau- und Umlagerungsprozessen. In dieser Studie wurde diese Technik auf die Bewegung der
Krone des unteren Sechsers (6c) (s. Abb. 22) und dessen Apex (6a) angewandt. Mit der Superim-
43
positionstechnik sollten die wachstumsbedingten und therapeutisch induzierten Anteile der Bewe-
gung des ersten unteren Molaren dargestellt und im Verhältnis zu anderen skelettalen Bezugs-
punkten betrachtet werden. Zu diesen gehörten die röntgenkephalometrischen Referenzpunkte
Pogonion (Pog), Menton (Me), Gonion (Go) und Condylion (Co). Außerdem wurden die Punkte
Inzision inferior (1̄ i) und der Apexpunkt des am weitesten labial stehenden mittleren unteren Front-
zahnes (1a) in die Auswertung eingeschlossen.
Abb. 22. Referenzpunkte
7.6.2 Referenzpunkte
Insgesamt wurden 10 Referenzpunkte und die Distanz 1̄ -NPog für die Engstandsanalyse
(s. Kap. 7.4) ausgewertet. Die hier verwendeten Referenzpunkte sind in Tabelle 2 erläutert und in
Abb. 22 dargestellt. Alle Darstellungen sind nicht originalgetreu dimensioniert und wurden zum
besseren Verständnis bearbeitet. Die Messung der Bezugspunkte wurde immer parallel zur vorderen
Schädelbasis vorgenommen und ist daher vergleichbar in Bezug auf ihre Bewegungsrichtungen. Aus
dem Unterschied der lokalen Verlagerung zwischen Studien- und Kontrollgruppe ist der ortho-
dontische Effekt erkennbar.
44
Tabelle 2. Definition der Referenzpunkte
1 N Nasion Vorderster Punkt der Sutura naso-frontalis in der Median-Sagittal-Ebene.
2 S Sella Mittelpunkt der Fossa hypophysialis.
3 Cond Condylion Am weitesten kraniodorsal und bilateral liegender Punkt am Hinterrand des Processus condylaris.
4 6c Coronal Uk6 Die mesiobukkale Höckerspitze des am weitesten anterior liegenden unteren ersten Molaren.
5 6a Apicale Uk 6 Die mesiale Wurzelspitze des am weitesten anterior liegenden unteren ersten Molaren.
6 1i Inzision 1̄ Die Spitze der Inzisalkante des am weitesten anterior liegenden unteren mittleren Schneidezahns.
7 1a Apicale 1̄ Die Wurzelspitze des am weitesten anterior liegenden mittleren unteren Schneidezahns.
8 Pog Pogonion Vorderster Punkt des knöchernen Kinns in der Median-Sagittal-Ebene.
9 Me Menton Kaudalster Punkt der Symphysenkontur.
10 Go Gonion Ein konstruierter Punkt; der Tangentenschnittpunkte der hinteren Ramus-linie mit der Linie des Mandibularplanums.
Abb. 23. Numerierung bei der Überlagerungstechnik. - Systematisierung der Referenzpunkte:
Z1S (1) für den Messpunkt des ersten Zeitpunktes bei Überlagerung auf den anatomischen Strukturen der vorderen Schädelbasis; in den Schemata gekennzeichnet als 1.
Z1M (2) für den Messpunkt des ersten Zeitpunktes bei Überlagerung auf den anatomischen Strukturen der Mandibula; in den Schemata gekennzeichnet als 2.
Z2 (3) für den Messpunkt des zweiten Zeitpunktes, der bei beiden Überlagerungen identisch ist; in den Schemata gekennzeichnet als 3.
45
7.6.3 Anwendung der Superimpositionstechnik
Aus einer Verlaufskontrolle wurden die prä- und posttherapeutischen Röntgenbilder ausgewählt und
einmal parallel zur Strecke Sella-Nasion im Punkte Sella, sowie einmal auf der Kontur der
Mandibula überlagert. Die relevanten kephalometrischen Messpunkte und wichtigsten Umrisse
wurden auf eine Acetatfolie übertragen und wie folgt (s. Abb. 23) numeriert
Mandibuläre Überlagerung
Wurden die Bilder auf der äußeren kaudalen Kontur des Corpus mandibulae überlagert, sprach man
von einer „besten Anpassung“ der überlagerten anatomischen Strukturen des Unterkieferkörpers7.
Relativ zum Umriss der Mandibula lagen die Messpunkte dann genau dort, wo sie lokalisiert
gewesen wären, wenn sich die Mandibula nicht durch Umbau- und Verlagerungsprozesse bewegt
hätte. Durch die Überlagerung wurde der lokale remodellierende Umbau bzw. die orthodontische
Verlagerung sichtbar gemacht (s. Abb. 24). Die Superimpositionstechnik auf dem Umriss der
Mandibula zeigte also simultan die lokale Remodellierung und die orthodontische Verlagerung;
eventuelle, nicht kontrollierbare, intermaxilläre interferierende Faktoren sowie Zeichenfehler
ausgenommen.
Abb. 24. Überlagerung der Röntgenbilder auf den anatomischen Strukturen der Mandibula, zur Bestimmung der lokalen
Remodellierung bzw. der orthodontischen Verlagerung, dargestellt durch Pfeile (→).
46
Überlagerung auf der vorderen Schädelbasis
Die Überlagerung auf der vorderen Schädelbasis (im folgenden auch VSB genannt) erfolgte im
Punkt Sella auf der Strecke S-N. Durch Überlagerung auf der vorderen Schädelbasis wurde die
kombinierte, lokal und fern ausgelöste Verlagerung des Referenzpunktes, das heißt die totale
Verlagerung, dargestellt (Vektor 3, s. Abb. 25).
Abb. 25. Überlagerung 2. Röntgenbild des ersten und des zweiten Zeitpunktes auf bester Passung der anatomischen Strukturen der vorderen Schädelbasis überlagert, zur Bestimmung der orthopädischen Verlagerung. Vektor 3.
7.6.4 Orthopädische Verlagerung
Nach Kombination der beiden Überlagerungen stellte sich ein Dreieck der Punkte mit einem drittem
Vektor zwischen den Punkten Z1S und Z1M als Resultat dar. Er repräsentierte die orthopädische
Verlagerung (Vektor 1, vergleiche Abb. 26 und 27), da er von Sella aus gesehen die Summe der
gesamten Veränderungen (Vektor 3) abzüglich der lokalen Remodellierung (Vektor 2) darstellte;
das heißt der Vektor war das Resultat aus der Summe der gesamten und der lokalen Remodellierung
und repräsentierte die orthopädische Verlagerung (V3 - V2 = V1).
47
Abb. 26. Die drei Wachstumsvektoren im Koordinatensystem.
L – lokale Remodellierung, S – sekundäres Displacement, T – totale Verlagerung.
Die Referenzpunkte des resultierenden Vektors (Z1M oder 2) lagen genau dort, wo sie gewesen
wären, wenn in der Zeit zwischen den Zeitpunkten 1 und 2 keine intramaxilläre Bewegung, also
keine lokale Verlagerung, stattgefunden hätte (s. Abb. 25, Vektor von 1 nach 2).
Vektoren zwischen den Messpunkten:
Die Vektoren ergeben sich aus den Verbindungslinien der Punkte nach folgender Ordnung:
Vektor 1 (S) – von Z1S (1) zu Z1M (2)
Distanz desselben Referenzpunktes von sogar demselben Röntgenbild des ersten Zeitpunktes–
einmal gezeichnet bei Überlagerung auf den Strukturen der Mandibula des späteren Röntgenbildes
und ein anderes Mal gezeichnet bei Superimposition auf der S-N-Linie mit Zentrierung in Sella.
Also dient das spätere Bild (Z2) zur Orientierung in welche Richtung der Unterkiefer wächst und wo
genau die Überlagerung auf den mandibulären Strukturen stattfinden soll. Dieser Vektor stellt die
orthopädische Verlagerung oder Überlagerungstranslokation, das sekundäre Displacement des
ersten Unterkiefermolaren dar. Rechnerisch die Differenz von Vektor 3 –Vektor 2=V1 (S).
Vektor 2 (L) – von Z1M (2) zu Z2 (3)
Distanz desselben Referenzpunktes, wenn die Röntgenbilder auf den anatomischen Strukturen der
Mandibula superimpositioniert werden, zur Bestimmung der orthodontischen Verlagerung bzw. der
lokalen Remodellierung (L).
48
Abb. 27. Kombination der Überlagerungen 2-3 = V2 und 1-3 = V3 mit resultierendem Vektor 1-2 =V1
V3 (T) – von Z1S (1) zu Z2 (3)
Distanz desselben Referenzpunktes, wenn die Röntgenbilder auf der S-N-Linie superimpositioniert
werden, zur Bestimmung der kombinierten orthodontischen und orthopädischen Verlagerung, bzw.
der kombinierten lokalen Remodellierung und der Überlagerungstranslokation, also der totalen
Verlagerung (T).
Einfacher ausgedrückt wurden bei dieser Methode der Auswertung die Röntgenbilder zweimal über-
lagert; einmal auf der VSB und einmal auf der anatomischen Struktur der Mandibula. Der Vektor
von „VSB“ zum späteren Bild der „Mandibula“ war die kombinierte Bewegung des Referenz-
punktes. Der Vektor der auf dem Unterkiefer überlagerten Bilder zeigte seine lokale Verlagerung
oder Remodellierung. Daraus ergab sich der orthopädische Vektor, der von „VSB“ zum Röntgenbild
jüngeren Datums reichte.
Der lokale Anteil der Bewegung der Untersuchungsgruppe wurde anschließend mit dem der nicht
behandelten Kontrollgruppe verglichen. Dies ermöglichte es, Schlüsse über orthodontische Einflüsse
auf die lokale Remodellierung zu ziehen. Wenn im Vergleich deutliche Änderungen des Bewe-
gungsausmaßes in der Studiengruppe sichtbar waren, repräsentierte dies den Effekt der kieferortho-
pädischen Maßnahme.
49
7.6.5 Nomenklatur zu den Überlagerungen
Bei der Bezeichnung der Vektoren für die unterschiedlichen Wachstumsanteile wird nach Baumrind
et al.9,10 zwischen ossären und dentalen Referenzpunkten unterschieden. Wachstum oder Remodel-
lierung von Knochen wird als lokale Remodellierung betitelt; dentale, lokale Verlagerungen werden
orthodontisches Verlagerung genannt. Verlagerungen durch sekundäres Displacement werden für
ossäre Referenzpunkte Überlagerungstranslokation und für dentale Punkte orthopädische Verlage-
rung genannt.
Die Abbildungen wurden demnach wie folgend beschriftet:
S sekundäres Displacement oder Überlagerungstranslokation, auch orthopädische Verlagerung
dentaler Referenzpunkte.
L lokale Remodellierung ossärer Strukturen, auch orthodontische Verlagerung9 dentaler Refe-
renzpunkte; lokale Verlagerung dentaler Punkte der Kontrollgruppe.
T totale Verlagerung, Summe aus sekundärem Displacement und lokaler Remodellation.
7.6.6 Messung und Koordinatensystem
Zur Auswertung wurde die X-Achse des Koordinatensystems parallel zu S-N konstruiert. Die
Y-Achse lag im rechten Winkel dazu mit positiven Werten nach unten gemessen (s. Abb. 28).
Abb. 28. Zuordnung der Vorzeichen in den vier Quadranten des Koordinatensystems (x/y).
50
7.6.7 Winkelmessung
Zur Kontrolle der Überlagerungsbilder wurden die Winkel des ersten unteren Molaren und des
ersten unteren Frontzahnes zur Mandibularlinie gemessen. Die Gerade durch den Molar wurde dabei
durch die Punkte 6a und 6c gelegt (s. Abb. 29), genauso wie für den Frontzahn die Punkte 1a und 1i
als Anhaltspunkte dienten (Referenzpunkte siehe Kap. 7.6.2, Abb. 22 und Tab. 2). Die beiden
Winkel wurden für den direkten Vergleich der beiden Zähne nach ventral hin gemessen.
Abb. 29. Winkelmessung
Zur Bestimmung des Wachstumstyps wurde die Y-Achse ausgewertet. Dieser Winkel wird
zwischen den Geraden N-S und S-Gn gemessen. Bei einem Y-Achsen-Wert von über 66° spricht
man von einem vertikalen Wachstumsmuster, was eine dorsokaudale Schwenkung des Unterkiefers
zur Folge hat; ein Wert von weniger als 66° wird als horizontaler Wachstumstyp bezeichnet, das zu
einer Ventrokranialschwenkung der Mandibel führt (s. Abb. 30).
Abb. 30: Winkelmessung zwischen N-S und S-Gn zur Bestimmung der Y-Achse. Die Variationen der Symphyse stellen
die knöchernen Auswirkungen bei vermehrtem vertikalen, bzw. horizontalen Wachtsum dar.
51
7.7 Therapie im Oberkiefer
Gleichzeitige kieferorthopädische Maßnahmen im Oberkiefer wurden auch aufgenommen, um
unterschiedliche Einflüsse aufzuzeigen. Sie wurden nicht gesondert ausgewertet, da das Spektrum
der Vorbehandlungen eine starke Diversität zeigte und die Studiengruppe sehr klein war.
7.8 Statistische Auswertung
Die an den Fernröntgenseitenbildern gemessenen Variablen wurden mit dem Statistikprogramm
SPSS® (SPSS Inc., Chicago, IL, USA) mit Unterstützung des Instituts für Medizinische Biometrie
und Medizinische Informatik der Universität Freiburg ausgewertet und die Unterschiede in den
Gruppen bzw. zwischen den Gruppen auf Signifikanz geprüft.
Aufgrund des sehr kleinen Kollektivs konnte nicht von einer Normalverteilung ausgegangen
werden, weswegen ein unverbundener Wilcoxon-Test1 durchgeführt wurde. Dazu wurden die
Bewegungen der röntgenkephalometrischen Referenzpunkte, die Zahninklination und das Platz-
angebot im Zahnbogen mit einer unbehandelten Kontrollgruppe verglichen und auf Signifikanz
geprüft. Für das Maß der Stabilität wurden die Wiederholungsmessungen mit der Methode nach
Bland und Altman16 geprüft. Die Unabhängigkeit der Merkmale wurde mit einem Chi-Quadrat-Test
der untersuchten Variablen überprüft. Das Signifikanzniveau wurde auf p = 0,05 festgelegt.
52
8 Ergebnisse 8.1 Methodischer Fehler
Das sehr kleine Kollektiv ließ den Schluss auf eine Kausalität nicht zu und Korrelationen konnten
daher zufallsbedingt sein. Aufgrund der wenigen Patienten dieser Studie kam es zu einer großen
Streuung der Messwerte. Die große Standardabweichung garantierte wenig Mittelwertsicherheit.
Dazu lagen die Effekte in der Größe der Messungenauigkeit, sodass signifikante Unterschiede
schwer zu erreichen waren.
Die FRS aller 14 Patienten der Untersuchungsgruppe wurden drei Wochen nach der ersten
Durchzeichnung noch einmal durchgezeichnet, um für die Referenzpunkte Pogonion (Pog) und die
mesiale Höckerspitze der Molarenkrone (6c) den zeichnerischen Fehler zu bestimmen. Dazu wurde
die Differenz der beiden Messungen berechnet. Die Mittelwerte des zeichnerischen Fehlers sind aus
Tabelle 3 zu entnehmen. Insgesamt fiel der Fehler relativ zu der Ungenauigkeit der Überlagerungs-
technik (s.a. Kap. 9.1 ) gering aus und war mit dem Fehler ähnlicher Studien10 vergleichbar.
Pogonion Zeichn. Fehler Standardabweichung Molarenkrone Zeichn. Fehler Standardabweichung n = 28 n = 28
x 0,24 ±2,7 mm x 0,37 ±2,05 mm y 0,05 ±1,54 mm y 0,05 ±1,35 mm
Tabelle 3. Mittelwert des zeichnerischern Fehlers.
Für den methodischen Fehler wurde die Differenz der Vektoren der beiden Messungen bestimmt.
Für die Parameter Überlagerungstranslokation (x,y1), totale Verlagerung (x,y2) und lokale
Verlagerung/Remodellierung (x,y3) sind die mittleren Abweichungen der Tabelle 4 zu entnehmen.
Pog ± Studiengruppe Kontrollgruppe
n 14 14 x1 mm x2 mm x3
0,34 0,25 0,09
0,1 0,46 0,57 mm
y1 mm y2 mm y3
0,41 0,17 0,23
0,13 0,21 0,09 mm
Tabelle 4. Methodischer Fehler der Vektoren. x,y1 = Überlagerungstranslokation, x,y2 = totale Verlagerung,
x,y3 = lokale Remodellierung.
6c ± Studiengruppe Kontrollgruppe
n 14 14 x1 mm x2 mm x3
0,6 0,47 0,14
0,20 0,19
0 mm y1 mm y2 mm y3
0,25 0,07 0,32
0,34 0,25 0,59 mm
53
8.2 Patientengut
Die Ergebnisse werden als gemessene Unterschiede zwischen prä- und posttherapeutischen
Modellen und Röntgenbildern in der Studiengruppe und den Veränderungen der unbehandelten
Kontrollgruppe dargestellt. Die Differenz der lokalen Bewegung zwischen Studien- und Kontroll-
gruppe soll den Therapieeffekt aufzeigen.
Sowohl die Studien- als auch die Kontrollgruppe bestand aus jeweils 7 Mädchen und 7 Jungen mit
jeweils der gleichen intermaxillären Kieferrelation, wobei jeweils 8 Probanden eine retrognathe und
6 eine orthognathe Unterkieferlage aufwiesen.
Um Effekte anderer Therapien auf den Röntgenbildern zu vermeiden, sollte der Abstand zwischen
Therapie und Röntgen möglichst gering ausfallen. Daher wurde der Abstand auf maximal 12
Monate beschränkt. Bei einem Patienten war somit ein Jahr der größte Abstand zwischen Lip-
bumper-Therapie und Röntgenaufnahme.
Das Durchschnittsalter der Patienten betrug in der Studiengruppe bei der ersten Röntgenaufnahme
10,0 Jahre und 11,11 Jahre zum Zeitpunkt der zweiten Aufnahme. Der Zeitraum zwischen den
Röntgenaufnahmen betrug durchschnittlich 25 Monate (s. Tab. 5).
Der Lipbumper wurde durchschnittlich bei einem Alter von 9,12 Jahren eingesetzt und wieder mit
11,9 Jahren entfernt. Die Dauer der Behandlung mit dem Lipbumper betrug im Durchschnitt 20,86
Monate (s. Tab. 5).
In der unbehandelten Kontrollgruppe wurde das erste Röntgenbild bei einem mittleren Alter von 9,1
Jahren erstellt und das zweite mit 11,07 Jahren. Das mittlere Zeitintervall betrug dabei 21 Monate.
Studiengruppe Kontrollgruppe
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2
n 14 14 14 14
Geschlecht 7/7 7/7 7/7 7/7 m/f Ø Alter bei Röntgenaufnahme 10,0 11,11 9,1 11,07 JJ,MM
minimaler Alterswert 7,1 9,4 8,02 8,12 JJ,MM maximaler Alterswert 12,2 15,05 12,02 13,8 JJ,MM
Ø Zeitraum zwischen Röntgen 25 21 MM Ø Alter bei Lipbumpereinsatz 9,12 11,9 JJ,MM
minimaler Alterswert 7,01 9,1 JJ,MM maximaler Alterswert 12,8 14,08 JJ,MM
Ø Therapiedauer 20,86 0 MM
Tab. 5. Geschlechterverteilung, Altersunterschiede und Extremwerte zum Zeitpunkt der Röntgenaufnahmen, prä- und posttherapeutisch und durchschnittliche Therapiedauer (JJ = Jahre, MM = Monate, m = männlich, f = weiblich).
54
Eine gleichzeitige Therapie im Oberkiefer wurde in 12 von 14 Fällen durchgeführt. Drei Patienten
trugen zeitgleich zum Lipbumper eine obere Dehnplatte, einer einen Expansionsheadgear und acht
einen cervicalen Headgear. Bei drei dieser Patienten wurde im Verlauf des Beobachtungszeitraums
auf eine Y-Platte umgestellt.
8.3 Röntgenkephalometrische Analyse
8.3.1 Winkelmessung
Der Molarenwinkel (s. Abb. 29) erfuhr eine mittlere Aufrichtung von 4,07° nach distal in der
Studiengruppe gegenüber 0,8° in der Kontrollgruppe, wobei eine große Streuung der Messwerte
auftrat. (s. Tab. 6 und 8). Der mittlere untere Frontzahn kippte in der Kontrollgruppe im Mittel um
0,8° nach ventral und in der Studiengruppe um 2,42° (s. Tab. 7 und 8).
Studiengruppe Kontrollgruppe Molarenwinkel Ø
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2
n 14 14 14 14 Mittelwert 90,0 94,1 93,9 94,6 °Grad
Standardabweichung ±7,28 ±6,35 ±6,33 ±6,25 °Grad Median 90,5 94,0 95,0 92,5 °Grad
Minimum 71 85 81 86 °Grad Maximum 102 105 107 104 °Grad
Tab. 6. Mittelwerte des Winkels des ersten unteren Molaren zur Mandibularlinie mit Median, Standardabweichung und
Extremwerten, gemessen von anterior.
Studiengruppe Kontrollgruppe Frontzahnwinkel Ø
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2
n 14 14 14 14 Mittelwert 89,5 87,1 86,3 85,5 °Grad
Standardabweichung ±5,73 ±5,92 ±5,59 ±6,83 °Grad Median 90,0 86,5 86 85,5 °Grad
Minimum 80 75 79 76 °Grad Maximum 100 96 97 103 °Grad
Tab. 7. Mittelwerte des Winkels des mittleren unteren Frontzahns zur Mandibularlinie mit Median, Standardabweichung
und Extremwerten, gemessen nach anterior.
55
Veränderung des Molarenwinkels Veränderung des Frontzahnwinkels Veränderung der Winkel
Studiengruppe Kontrollgruppe Studiengruppe Kontrollgruppe n 14 14 14 14
Mittelwert 4,07 0,79 -2,43 -0,79 °Grad Standardabweichung ± 3,89 7,78 3,1 3,9 °Grad
Median 4,0 2,0 -3,0 -1,5 °Grad Signifikanzwahrscheinlichkeit des Vergleichs von Studien- zu Kontrollgruppe
p-Wert 0,2035 0,1580
Tab. 8. Mittelwerte der eingetretenen Veränderung des Winkels des ersten unteren Molaren und des mittleren unteren
Frontzahnes, sowie die Standardabweichung und die Signifikanzwahrscheinlichkeit (p-Wert) im Vergleich von Studien- und Kontrollgruppe; positive Werte bedeuten dabei Retroklination, negative Proklination.
8.3.2 Y-Achse
In beiden Gruppen überwog die Anzahl der Personen mit vertikalem Wachstumsmuster, wodurch
die Messwerte generell unter dem Einfluss eines vermehrten dorsokaudalen Wachstums standen.
Unterschiede des Wachstumsmusters von prä- zu posttherapeutischen Winkelmessungen traten nicht
auf.
Wachstumsmuster Studiengruppe Kontrollgruppe
11 vertikal / 3 horizontal 13 vertikal / 1 horizontal Anzahl
Tab. 9. Ergebnis der Winkelmessung von NS-Gn zur Bestimmung des Wachstumsmusters. Anzahl der Probanden mit vertikalem bzw. horizontalem Wachstumsmuster in den Untersuchungsgruppen. Prä- und posttherapeutische
Wachstumsmusterunterschiede traten nicht auf.
8.3.3 Sagittale Diskrepanz
In der Studiengruppe vergrößerte sich der Abstand der Unterkieferfront zur N-Pog-Linie leicht; die
Veränderung war nicht signifikant. Der Mittelwert ging über den Toleranzwert von +2 mm hinaus
auf +2,2 mm; in der Kontrollgruppe sogar auf +3,8 mm (s. Tab. 10).
Studiengruppe Kontrollgruppe Sagittale Diskrepanz
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2 n 10 10 13 13
Abstand 1̄ - N-Pog 1,6 2,2 2,7 3,8 mm Totale Diskrepanz -4,35 -1,9 0,3 0,4 mm
Tab. 10. Sagittaler Abstand der Unterkieferfront zur Linie N-Pog als Indikator für sagittalen Platzbedarf; zum Vergleich
die Platzbedarfsänderung insgesamt (Totale Diskrepanz). Die physiologische Normabweichung für den Abstand der Unterkieferfront zu N-Pog beträgt +/- 2 mm.
56
8.4 Odontometrische Analyse
Die odontometrische Analyse kombiniert mit der Speekurve und der sagittalen Diskrepanz ergibt die
Totale Diskrepanz (TD) (s. Tab. 11). In der Studiengruppe bestand prätherapeutisch ein Platzbedarf
von 4,35 mm gegenüber 0,308 mm in der Kontrollgruppe. Die Studiengruppe zeigte im Mittel einen
Platzgewinn von 2,43 mm im Vergleich zu einem Plus von 0,1 mm in der Kontrollgruppe. Wegen
fehlender Prämolaren war die Bestimmung nur bei einem Teil der Patienten möglich. Nach der
Behandlung konnte eine Eindeutigkeit nicht bestimmt werden, während die Werte der Totalen
Diskrepanz vor der Therapie im Vergleich zur Kontrollgruppe mit p = 0,022 eine leichte Signifikanz
aufwiesen, wobei der Platzmangel in der Studiengruppe deutlich ausgeprägter war (s. Tab. 12). Die
Speekurve nivellierte sich auch in der Kontrollgruppe, kostete aber der Studiengruppe durch-
schnittlich 0,85 mm Platz.
Studiengruppe Kontrollgruppe
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2 n 10 10 13 13
Mittelwert Totale Diskrepanz -4,35 -1,92 0,308 0,404 mm Standardabweichung ±4,28 ±2,88 ±4,27 ±3,76 mm
Median -5,63 -3,25 -0,25 2,0 mm Minimum -10,25 -5,25 -7,0 -8,0 mm
Maximalwert 3,75 3,0 6,25 4,0 mm Spee 2 1,15 1,92 1,58 mm
1̄ - NPog 1,6 2,2 2,7 3,8 mm
Tab. 11. Prä- und posttherapeutischer Platzmangel (Totale Diskrepanz); mit Angabe der Mittelwerte, deren Standardabweichung und Extremwerten. Die Totale Diskrepanz errechnet sich aus Platzmangel im Zahnbogen mesial
der Molaren, der Speekurve und dem Abstand der Unterkieferfront (1̄ ) zu N-Pog.
Vergleich Studiengruppe zur Kontrollgruppe Totale Diskrepanz Zeitpunkt 1 Totale Diskrepanz Zeitpunkt 2
Überschreitungswahrscheinlichkeit 0,022 0,128
Tab. 12. Signifikanzwahrscheinlichkeit bei der ersten und der zweiten Röntgenaufnahme. Zum Zeitpunkt 1 bestand mit p<0,05 eine leichte Signifikanz des Platzmangels zwischen Studien- und Kontrollgruppe, die nach der Therapie nicht
mehr nachzuweisen war.
8.5 Röntgenbild-Überlagerung
8.5.1 Erster unterer Molar
Die Krone des ersten unteren Molaren (6c) verlagerte sich orthodontisch im Mittel um 2,09 ±1,79
mm nach mesial (totale Verlagerung: 2,16 ±3,27 mm) und 0,8 ±2.17 mm nach kranial (totale
57
Verlagerung: 3.61 ±2.96 mm), im Gegensatz zu durchschnittlich 1,36 ±1,77 mm mesial (totale
Verlagerung: 1.61 ±1.86 mm) und 0,6 ±2,15 mm kranial (totale Verlagerung: 6.39 ±2.03 mm) der
Kontrollgruppe (s. Abb. 31 und Diagramm 1). Mit p = 0,308 bestand kein signifikanter Gruppen-
unterschied. Die Differenzierung der Anteile der Verlagerung sind in Abbildung 32 dargestellt. Bei
den Überlagerungsdaten in den Boxplots stehen die x1-Werte für das Ausmaß der orthopädischen
Verlagerung, x2 steht für die totale Verlagerung und x3 für die speziell beobachtete orthodontische
Verlagerung.
Abb. 31. Orthodontische Verlagerung der Mittelwerte des Punktes mesialer Molarenhöcker über den
Beobachtungszeitraum hinweg im Vergleich der Studiengruppe zur Kontrollgruppe; ca. 20-fache Vergrößerung. Der Nullpunkt entspricht dem Punkt mesialer Molarenhöcker im Ausgangsröntgenbild.
Studiengruppe Kontrollgruppe
Abb. 32. Schematische Darstellung der Verlagerung der Mittelwerte des Punktes mesiale Höckerspitze des Molaren (6c)
über den Therapiezeitraum hinweg aufgeteilt in Vektoren für die orthopädische Verlagerung = S , orthodontische Verlagerung = L und totale Verlagerung = T; ca. 10-fache Vergrößerung; der Nullpunkt entspricht dem Punkt mesiale
Höckerspitze des Molaren im Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
58
Studiengruppe Kontrollgruppe
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
m in
m in
m in
mean
mean meanstdstd
std
q 1
q 1
q 1
med
med med
-6,00
-4,00
-2,00
0,00
2,00
4,00
6,00
8,00
10,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
q 3
q 3 q 3m a x
m a x
m a x
m in
m in
m in
mean
mean meanstdstd std
q 1
q 1
q 1
med
medmed
-4,00
-3,00
-2,00
-1,00
0,00
1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
6,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
Diagramm 1. Boxplot der x-Werte des Punktes mesiale Molarenspitze der Studiengruppe mit orthopädischer Verlagerung = x1, totaler Verlagerung = x2 und orthodontischer Verlagerung = x3 mit Mittelwert (mean) und
Standardabweichung (std); beachte die Streuung der Werte. Signifikanzwahrscheinlichkeit 6c: x1: p=0,73, x2: p=0,75, x3: p=0,31.
In der Lipbumpergruppe verlagerte sich die Wurzelspitze des ersten Unterkiefermolaren (6a) im
Mittel um 3,34 ±2,31 mm nach mesial (totale Verlagerung: 3.32 ±4.38 mm) und 0,55 ±1,77 mm
nach kaudal (totale Verlagerung: 5.05 ±2.32 mm), im Gegensatz zu durchschnittlich 1,07 ±3,55 mm
mesial (totale Verlagerung: 1.28 ±4.04 mm) und 0,52 ±3,04 mm kaudal in der Kontrollgruppe
(totale Verlagerung: 7.38 ±3.06 mm) (s. Abb. 33 und Diagramm 2) Mit p = 0,027 bestand ein leicht
signifikanter Gruppenunterschied. Die Aufteilung der Bewegung in ihre Anteile der orthodontischen
und orthopädischen Verlagerung sind in Abbildung 34 dargestellt.
Abb. 33. Schematische Darstellung der orthodontischen Verlagerung der Mittelwerte des Punktes Molarapex über den Beobachtungszeitraum hinweg im Vergleich der Studiengruppe zur Kontrollgruppe; ca. 10-fache Vergrößerung. Der
Nullpunkt entspricht dem Punkt mesialer Molarapex im Ausgangsröntgenbild. Die x-Achse ist parallel zur Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
59
Studiengruppe Kontrollgruppe
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
m in m in
m inmean
mean meanstd
std
std
q 1
q 1
q 1
med
med
med
-6
-4
-2
0
2
4
6
8
10
12
x1 x2 x3
x1 x2 x3
q3
q3
q3
max
max
max
min
min
min
meanmean meanstd
std std
q1
q1
q1
medmed med
-8
-6
-4
-2
0
2
4
6
8
10
x1 x2 x3
x1 x2 x3
Diagramm 2. Boxplot der x-Werte des Punktes mesialer Molarapex in der Studiengruppe aufgeteilt in orthopädische Verlagerung = x1, totale Verlagerung = x2 und orthodontische Verlagerung = x3 mit Mittelwert (mean) und
Standardabweichung (std). Signifikanzwahrscheinlichkeit 6a: x1: p=0,63, x2: p=0,18, x3: p=0,027
Studiengruppe Kontrollgruppe
Abb. 34. Schematische Darstellung der Verlagerung der Mittelwerte des Punktes Wurzelspitze des Molaren über den Therapiezeitraum hinweg, aufgeteilt in die Anteile der Bewegung mit S = orthopädische Verlagerung,
L = orthodontische Verlagerung und T= totale Verlagerung; ca. 10-fache Vergrößerung; der Nullpunkt entspricht dem Punkt Wurzelspitze des Molaren im Ausgangsbild.
60
8.5.2 Unterkiefer-Frontzahn
Der Punkt Inzisalkante des unteren mittleren Frontzahns (1i) verlagerte sich orthodontisch in der
Studiengruppe im Mittel um 3,18 ±1,98 mm nach ventral (s. Abb. 35) (totale Verlagerung: 2.87
±3.26 mm) und der Punkt Frontzahnapex (1a) um 2,66 ±2,19 mm nach ventral (s. Abb. 36) (totale
Verlagerung: 2.61 ±3.73 mm). In der Kontrollgruppe verlagerte sich die Frontzahnspitze lokal im
Mittel um 4.02 ±2,89 mm nach ventral (totale Verlagerung: 4.27 ±2.42 mm) und die Wurzelspitze
um 3,46 ±2,43 mm nach ventral (totale Verlagerung: 3.5 ±2.88 mm). Die Gruppendifferenzen waren
nicht signifikant (s. Diagramme 3 und 4).
Abb. 35. Orthodontische Verlagerung der Mittelwerte des Punktes Inzisalkante des unteren mittleren Frontzahns über den Beobachtungszeitraum hinweg im Vergleich der Studiengruppe zur Kontrollgruppe; der Nullpunkt entspricht dem
Punkt Inzisalkante des unteren mittleren Frontzahns im Ausgangsbild; ca. 20-fache Vergrößerung.
Abb. 36. Orthodontische Verlagerung der Mittelwerte des Punktes Frontzahnapex über den Beobachtungszeitraum hinweg im Vergleich der Studiengruppe zur Kontrollgruppe ; der Nullpunkt entspricht dem Punkt Frontzahnapex im
Ausgangsbild; ca. 20-fache Vergrößerung.
61
Studiengruppe Kontrollgruppe
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
m in
m in
m in
mean
mean meanstd
stdstd
q 1
q 1
q 1
med
med med
-6,00
-4,00
-2,00
0,00
2,00
4,00
6,00
8,00
10,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
min
min m in
mean
mean mean
stdstd std
q 1
q 1
q 1
med
medmed
-4,00
-2,00
0,00
2,00
4,00
6,00
8,00
10,00
12,00
14,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
Diagramm 3. Boxplot der x-Werte des Punktes inzisale Spitze des mittleren unteren Frontzahnes aufgeteilt in orthopädische Verlagerung = x1, totale Verlagerung = x2 und orthodontische Verlagerung = x3 mit Mittelwert (mean)
und Standardabweichung (std). Signifikanzwahrscheinlichkeit 1i x3: p=0,355
Studiengruppe Kontrollgruppe
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
m in
m in
m in
mean
mean meanstd stdstd
q 1
q 1
q 1
med
med med
-8,00
-6,00
-4,00
-2,00
0,00
2,00
4,00
6,00
8,00
10,00
12,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
q 3
q 3
q 3
m a x
m a x
m a x
m in
m in
m in
mean
mean mean
stdstd std
q 1
q 1
q 1
med
med med
-6,00
-4,00
-2,00
0,00
2,00
4,00
6,00
8,00
10,00
x1 x2 x3
x1 x2 x3
Diagramm 4. Boxplot der x-Werte des Punktes Frontzahnapex aufgeteilt in orthopädische Verlagerung = x1, totale
Verlagerung = x2 und orthodontische Verlagerung = x3 mit Mittelwert (mean) und Standardabweichung (std). Signifikanzwahrscheinlichkeit 1a: x3: p=0,278
8.5.3 Menton
In der Studiengruppe remodellierte der Punkt Menton lokal im Mittel 2,03 ±2,71 mm nach ventral
(totale Verlagerung 1,58 ±4,31 mm) und 0,55 ±1,13 mm nach kaudal (totale Verlagerung: 4.93
±2.94 mm).
In der Kontrollgruppe remodellierte der Referenzpunkt lokal 2,77 ±1,49 mm nach ventral (totale
Verlagerung 2,87 ±2,04 mm) und 2,07 ±1,46 mm nach kaudal (totale Verlagerung 8,91 ±2,96 mm).
62
Demnach verlagerte sich der untere Kinnpunkt bei Lipbumper-Therapie im Mittel um 1,5 mm
weniger nach kaudal als bei den unbehandelten Probanden (p < 0,01) (s. Abb. 37, Tabelle 10).
Studiengruppe Kontrollgruppe
Abb. 37. Schematische Darstellung der eingetretenen Verlagerung der Mittelwerte des Referenzpunktes Menton
während des Therapiezeitraums; aufgeteilt in Vektoren mit: T = totale Verlagerung, S = Überlagerungstranslokation und L = lokale Remodellierung. Der Nullpunkt entspricht dem Punkt Menton im Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur
Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
8.5.4 Pogonion
Der Punkt Pogonion remodellierte lokal in der Studiengruppe im Mittel um 1,95 ±1,46 mm nach
ventral (totale Verlagerung 1,98 ±4,04 mm) und 1,04 ±1,58 mm nach kaudal (totale Verlagerung
1,04 ±1,58 mm) (s. Abb.38).
In der Kontrollgruppe remodellierte der Referenzpunkt lokal 2,44 ±1,63 mm nach ventral (totale
Verlagerung 2,45 ±2,06 mm) und 1,59 ±1,38 mm nach kaudal (totale Verlagerung 8,96 ±2,54 mm).
Zwischen den Gruppen bestand keine signifikante Differenz.
Tendenziell bewegten sich die Punkte Menton und Pogonion ähnlich (s. Abb. 39), auch über die
beiden Gruppen hinweg. In der Horizontalen fand in beiden Gruppen ein ähnlich starkes Wachstum
bzw. eine lokale Remodellierung um 2 mm nach ventral statt.
In der Studiengruppe remodellierte Pogonion weiter nach kaudal als Menton. In der Kontrollgruppe
remodellierte Menton weiter nach kaudal und weiter nach mesial, was mit der physiologischen,
63
leichten Dorsalremodellierung von Pogonion übereinstimmt.
In der Kontrollgruppe waren die vertikalen Werte der Überlagerungstranslokation (y1) von
Pogonion und Menton im Mittel beinahe doppelt so groß wie in der Studiengruppe, es bestand
jedoch kein signifikanter Gruppenunterschied (Me: Kontrollgrp.: y1 = 6,84 ±3,06 mm; Studiengrp.:
y1 = 4,37 ±2,86 mm), (Pog: Kontrollgrp.: y1 = 7,37 ±2,96 mm; Studiengrp.: y1 = 4,61 ±2,84 mm),
(vergleiche Tab.10 für die Messwerte der knöchernen Referenzpunkte).
Abb. 38. Schematische Darstellung der eingetretenen Verlagerung der Mittelwerte des Referenzpunktes Pogonion
während des Therapiezeitraums; aufgeteilt in Vektoren mit: T = totale Verlagerung, S = Überlagerungstranslokation und L = lokale Remodellierung. Der Nullpunkt entspricht dem Punkt Menton im Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur
Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
Abb. 39: Skizze der lokalen Remodellierung der Punkte Pogonion (Pog) und Menton (Me) im Vergleich von Studien- zu Kontrollgruppe (Mittelwerte); Vergrößerung ca. 10-fach. Nullpunkte entsprechen den jeweiligen Referenzpunkten im
Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
64
Cond Kontrollgruppe
Cond
Studiengruppe
n Mittelwert Standardabweichung n Mittelwert Standardabweichung x1 14 0,73 ± 1,32 x1 14 0,018 ± 2,58 x2 14 -0,66 ± 1,59 x2 14 -0,57 ± 2,17 x3 14 -1,39 ± 1,85 x3 14 -0,59 ± 2,90
y1 14 6,88 ± 2,21 y1 14 5,43 ± 2,74 y2 14 1,69 ± 2,93 y2 14 2,34 ± 2,90 y3 14 -5,18 ± 3,42 y3 14 -3,09 ± 2,39
Signifikanzwahrscheinlichkeit: x1: p=0.3333 x2: p=0.8352 x3: p=0.6271 y1: p=0.1178 y2: p=0.7641 y3: p=0.0690
Pogonion Kontrollgruppe
Pogonion
Studiengruppe
n Mittelwert Standardabweichung n Mittelwert Standardabweichung x1 14 0,00 ± 1,85 x1 14 0,04 ± 3,62 x2 14 2,45 ± 2,06 x2 14 1,98 ± 4,04 x3 14 2,44 ± 1,63 x3 14 1,95 ± 1,46
y1 14 7,38 ± 2,96 y1 14 4,61 ± 2,85 y2 14 8,96 ± 2,54 y2 14 5,64 ± 3,57 y3 14 1,59 ± 1,38 y3 14 1,04 ± 1,58
Signifikanzwahrscheinlichkeit: x1: p=0.8534 x2: p=0.799 x3: p=0.3441 y1: p=0.0355 y2: p=0.0039 y3: p=0.2847
Menton Kontrollgruppe
Menton
Studiengruppe
n Mittelwert Standardabweichung n Mittelwert Standardabweichung x1 14 0,11 ± 1,65 x1 14 -0,45 ± 3,19 x2 14 2,87 ± 2,04 x2 14 1,58 ± 4,31 x3 14 2,77 ± 1,49 x3 14 2,03 ± 2,71
y1 14 6,84 ± 3,06 y1 14 4,37 ± 2,86 y2 14 8,91 ± 2,96 y2 14 4,93 ± 2,94 y3 14 2,07 ± 1,46 y3 14 0,55 ± 1,13
Signifikanzwahrscheinlichkeit: x1: p=0,872 x2: p=0,0311 x3: p=0,0839 y1: p=0.0428 y2: p=0.0014 y3: p=0.0045
Gonion Kontrollgruppe
Gonion
Studiengruppe
n Mittelwert Standardabweichung n Mittelwert Standardabweichung x1 14 0,50 ± 1,23 x1 14 -0,23 ± 2,32 x2 14 -1,84 ± 1,74 x2 14 -1,29 ± 3,09 x3 14 -2,34 ± 1,10 x3 14 -1,05 ± 1,76
y1 14 6,79 ± 2,11 y1 14 4,50 ± 2,63 y2 14 5,25 ± 1,82 y2 14 3,80 ± 2,64 y3 14 -1,54 ± 1,42 y3 14 -0,70 ± 1,09
Signifikanzwahrscheinlichkeit: x1: p=0.0644 x2: p=0.982 x3: p=0.0421 y1: p=0.0195 y2: p=0.0967 y3: p=0.0753
Tab. 13. Sekundäre Verlagerung oder Überlagerungstranslokation (x/y1), totale Verlagerung (x/y2) und lokale Remodellierung (x/y3) der knöchernen Referenzpunkte Condylion, Pogonion, Gonion und Menton mit Angabe der
Standardabweichungen; Werte in Millimetern (mm); n = Probandenzahl.
65
8.5.5 Condylion, Gonion
Die Bewegungen der Referenzpunkte Condylion und Gonion zeigten keine statistisch auffälligen
Unterschiede zur Kontrollgruppe. In Übereinstimmung mit den physiologischen Wachstums-
vorgängen wanderten Condylion (s. Abb. 40, 41) und Gonion (s. Abb. 40, 42) nach dorsokranial In
beiden Gruppen remodellierte Condylion stärker als Gonion nach kranial (s. Tab. 13: y3-Werte).
Abb. 40. Lokale Remodellierung der Punkte Condylion (Cond), und Gonion (Go) im Vergleich von Studien- zu
Kontrollgruppe (Mittelwerte); Vergrößerung ca. 10-fach. Nullpunkte entsprechen den jeweiligen Referenzpunkten im Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
Abb. 41. Schematische Darstellung der eingetretenen Verlagerung der Mittelwerte des Referenzpunktes Condylion
während des Therapiezeitraums; aufgeteilt in Vektoren mit: T = totale Verlagerung, S = Überlagerungstranslokation und L = lokale Remodellierung. Der Nullpunkt entspricht dem Punkt Menton im Ausgangsbild.
66
Abb. 42. Schematische Darstellung der eingetretenen Verlagerung der Mittelwerte des Referenzpunktes Gonion
während des Therapiezeitraums; aufgeteilt in Vektoren mit: T = totale Verlagerung, S = Überlagerungstranslokation und L = lokale Remodellierung. Der Nullpunkt entspricht dem Punkt Gonion im Ausgangsbild. Die x-Achse ist parallel zur
Strecke S-N ausgerichtet, die y-Achse senkrecht dazu.
Im Vergleich von Gonion und Pogonion (s. Abb. 43) wurde in beiden Gruppen Gonion leicht nach
dorsal remodelliert, während Pogonion nach ventral wuchs (s. Tab. 13: x3-Werte ). In der Vertikalen
wuchs Pogonion in beiden Gruppen nach kaudal, während Gonion nach kranial remodellierte
(s. Tab. 13: y3-Werte).
Abb. 43. Lokale Remodellierung der Punkte Gonion und Pogonion mit Vektoren für die Studien- und Kontrollgruppe (Mittelwerte). Vergrößerung ca. 10-fach. Nullpunkte entsprechen den jeweiligen Referenzpunkten im Ausgangsbild.
67
9 Diskussion
Mit dem Lipbumper können die verankernden unteren Molaren aufgerichtet werden, und durch
Frontzahnprotrusion und Halten des Leeway-Space im Wechselgebiß kann ein Engstand im
Zahnbogen aufgelöst werden. Insofern bietet der Lb teilweise die Möglichkeit, im Unterkiefer einen
Headgear zu ersetzen, ohne das Kiefergelenk dabei zu beeinträchtigen und ohne reziproke Kräfte
auf die Dentition auszuüben. Durch die Überlagerungsmethode nach Baumrind et al.10,11 kann
zwischen der orthodontischen Verlagerung eines Zahnes und einer Dislokation der Mandibula-
strukturen durch Knochenwachstum und -verlagerung unterschieden und somit das Ausmaß der
lokalen Bewegung von Zähnen untersucht werden. Grundlegende Unterschiede zwischen der
Behandlung mit Headgear und Lipbumper sind die maximal zu erreichende Kraftgröße und die
dichtere Knochenstruktur des Unterkiefers. Die Kraftgröße wird wegen der Verankerung in der
Unterlippe durch deren Resilienz begrenzt. Der dichtere Knochen im Unterkiefer erschwert und ver-
langsamt die orthodontische Zahnbewegung allgemein im Vergleich zum Oberkiefer.
9.1 Material und Methoden
Die Ergebnisse bei der Untersuchung der Bewegung des ersten Unterkiefermolaren wurden von
verschiedenen Faktoren beeinträchtigt. Gleichzeitige Therapien im Oberkiefer sind aufgrund von
Nebendiagnosen in retrospektiven Studien nicht zu vermeiden; aus ethischen Gründen können in der
Kieferorthopädie nicht direkt nach Abschluss jedes einzelnen Therapieschrittes Röntgenaufnahmen
erstellt werden. Daher gab es kein FRS-Bild, das zeitgleich mit dem Ein- oder Absetzen des Lip-
bumpers erstellt wurde.
Geschlecht und Alter gingen in die Statistik mit ein, spielen nach Hodge et al.55 und Nevant et al.81
aber keine entscheidende Rolle. Genauso scheint ein oft im Gegenkiefer verwendeter Aufbiss eine
statistisch nicht relevante Rolle zu spielen52,81.
Die verwendete Überlagerungs- oder Superimpositionstechnik von Fernröntgenseitenbildern beruht
auf anatomischen Regeln, das heißt sie haben nicht die Reproduktionssicherheit implantatgestützter
Superimpositionen und können so Fehlerquellen beinhalten, die größer sind als Ungenauigkeiten bei
den Durchzeichnungen und den Messungen7,11,89. Nach Baumrind et al. führt diese Art von
68
Überlagerungstechnik tendenziell zur Überschätzung der dorsal gerichteten, condylären Verlagerung
und zur Unterschätzung der vertikal gerichteten Verlagerung7.
Für die Genauigkeit des Ergebnisses wurden Messpunkte mit relativer Konstanz über den ganzen
Therapiezeitraum hinweg gewählt. Da jedoch jede Körperregion besonders im Wachstum dem
ständigen Wandel der Anpassung unterliegt, „gibt es keinen fixen Punkt, außer dass man den
Ursprung für eine Messung einfach als Null festsetzt“, wie Salzmann es nennt100. Diese Methode hat
Vorteile bei der qualitativen Analyse der Veränderungen. Die quantitative Analyse, Verlagerungen
durch Superimposition zu messen, wird durch Ungenauigkeiten bei der korrekten Größen- und
Richtungsmessung der Röntgenbilder erschwert10. Durch die mögliche Variation in der Ausrichtung
der Bilder auf den anatomischen Strukturen können so relativ starke Schwankungen auftreten11 und
die Bewegung verwischt durch das Mitwachsen des Alveolarknochens.
Die Reproduzierbarkeit des Röntgenbildes ist qualitativ gegeben, während aber die Quersummen
der Werte – durch die Varianz der Überlagerungsmöglichkeiten – nicht vergleichbar sind. Man kann
also auf eine Wachstumstendenz schließen, aber nicht klare Aussagen über die Summe des
Wachstums treffen6. Auch werden nach Baumrind et al.7 interindividuelle Unterschiede im
Wachstumstyp (gegenüber der Björk-Implantat-Gruppe) durch die anatomische Überlagerungs-
technik verwischt oder eliminiert. Durch die Superimposition auf anatomischen Strukturen gehen
also Informationen über den Wachstumstyp verloren7. Des weiteren können interindividuelle
Wachstumsunterschiede oft zu starken Abweichungen führen80.
9.2 Zahnbewegungen
Bei der vorliegenden Untersuchung trat bei der Analyse der Bewegung des ersten unteren Molaren
nur am Punkt Molarapex (6a) ein leicht signifikanter Unterschied unter Lipbumper-Anwendung auf.
Nicht signifikant, aber im Mittel mit einem Unterschied von 3,28°, richtete der Lipbumper den
unteren Sechser nach distal auf. Die schwach signifikante orthodontische Verlagerung des
Molarapex nach mesial (p = 0,027) deutet auf diese Aufrichtung des Molaren hin, bei der die
Wurzelspitze nach mesial kam. Zeitgleich kippte die Front um durchschnittlich 1,64° nach labial (s.
Tab. 14), wie es auch von anderen Autoren5,26,52 berichtet wurde. Die Ergebnisse der
Überlagerungen bestätigten dieses Bild der Winkelanalyse.
Die Überlagerungen zeigten zudem eine nicht signifikante Bewegung der mesialen Kronenspitze des
Molaren im Vergleich zur Kontrollgruppe in kranialer und mesialer Richtung. Die Wurzelspitze
69
verlagerte sich lokal im Vergleich nach mesial und kaudal (s. Tab. 14). Wie nach Perillo et al.88
konnte eine leichte Zunahme der Vertikalen bei Lipbumpereinsatz registriert werden.
Die Behandlung zeigte sich effektiv in Bezug auf den Platzmangel. Während vor der Therapie ein
leicht signifikanter Unterschied der Gruppen bestand (p = 0,022), war er danach nicht mehr nachzu-
weisen (s. Tab. 12 und 14).
Studiengruppe Kontrollgruppe Mittelwerte der Veränderungen
Prätherapeutisch Posttherapeutisch Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2
Mittelwert Totale Diskrepanz -4,35 -1,92 0,31 0,4 mm Abstand 1̄ - N-Pog 1,6 2,2 2,7 3,8 mm
Spee 2 1,15 1,92 1,58 mm Änderung des Molarenwinkels 4,07 0,79 °Grad
Änderung des Frontzahnwinkels -2,43 -0,79 °Grad x3 Molarhöcker-Bewegung 2,089 1,357 mm x3 Molarapex-Bewegung 3,339 1,071 mm
x3 Frontzahnspitzen-Bewegung 3,178 4,017 mm x3 Frontzahnapex-Bewegung 2,660 3,464 mm
x3 Menton-Bewegung 2,02 2,77 mm
Tab. 14. Übersicht der potentiell Platz schaffenden Parameter. Die Frontzahnbewegung und -inklination, die Molarenbewegung, der Molarenwinkel, die Speekurve und der Abstand der Unterkieferfront zu N-Pog im Vergleich mit
der Platzdiskrepanz. x3 steht für die lokale, horizontale Komponente der Bewegung der Referenzpunkte. Für den Vergleich mit einer Verschiebung der Überlagerung (s. a. Tab. 12) sind die x3-Mittelwerte von Menton angefügt.
In der Übersicht in Tabelle 11 wird deutlich, dass der Platzgewinn im unteren Zahnbogen in der
Studiengruppe von 2,43 mm zu unterschiedlichen Anteilen aus der Aufrichtung des Molaren und der
Proklination der Frontzähne stammt. Durch die Proklination um durchschnittlich 2,43° kam es im
Mittel zu einer Anteriorbewegung der Frontzahnspitze um 1,1 mm. Gleichzeitig kam es durch die
Nivellierung der Speekurve zu einem Verlust von 0,85 mm an Zahnbogenlänge. Trotz der Mesial-
bewegung der Molaren in der Studiengruppe wurde im Vergleich zur Kontrollgruppe ein Platz-
gewinn erzielt, was auf einen relativen Platzgewinn durch Halten des Leeway-Space oder eine trans-
versale Verbreiterung schließen lässt. Demzufolge erreichte der Lipbumper den größten Teil des
Platzgewinns durch die Aufrichtung des Molaren, sowie einen in der Arbeit nicht näher bestimmten
Anteil durch die Frontzahnproklination und durch das Halten der Distanz bei gleichzeitigem
Wachstum des Corpus mandibulae.
In der Studiengruppe kam es unter physiologischen Bedingungen durch die Kippung zu einer
ungünstigeren Stellung der Frontzähne und die sagittale Relation zur N-Pog-Linie ging leicht über
70
den physiologischen Toleranzwert von +2 mm hinaus, was einen Stabilitätsverlust in der Frontzahn-
aufstellung bedeutet. Das heißt, dass die therapiebedingte Kippung durch Lipbumpertherapie nur bei
Patienten mit steiler Front akzeptiert werden kann. Andererseits schreiben Seefeld et al. der sagit-
talen und vertikalen Positionierung des Lipbumpers im Vestibulum eine entscheidende Bedeutung
auf die Inklination der Frontzähne zu104. Auch andere Autoren berichten, dass bei gingivaler Positio-
nierung eines Drahtbogen-Lipbumpers sich die Unterlippe stützend anlagern kann, um die Proklina-
tion zu verhindern, bzw. bei mehr inzisaler Positionierung die Labialkippung der Inzisivi verstärkt
wird40,71,104.
Die Kippung der Frontzähne ist in den Überlagerungsdaten an einer stärkeren Bewegung der
Inzisalspitze gegenüber dem Apex zu erkennen, wobei hier im Gegensatz zu den Winkelmessungen
auch in der Kontrollgruppe eine Kippung sichtbar wurde. Bei den Winkelmessungen verhinderte die
Streuung der Messwerte eine Signifikanz. In diesem Zusammenhang wiesen Seefeld et al. auf die
hohe Messungenauigkeit bei der Bestimmung der Inklination der Frontzähne hin104. Die Bestim-
mung des apikalen Messpunktes (1a) weist aufgrund der starken Überlagerung aller vier Inzisivi
einen Fehler von bis zu 75% auf107. Da auch in der Kontrollgruppe eine anterior gerichtete Bewe-
gung des Punktes Frontzahnapex festgestellt wurde (s. Tab. 14), kann nach den vorliegenden
Messwerten nicht auf eine Protrusion der Frontzähne durch Lipbumpertherapie geschlossen werden.
Der erste untere Molar der Studiengruppe bewegte sich im Vergleich zur Kontrollgruppe leicht nach
mesial. Dies scheint bei gleichzeitigem Platzgewinn paradox, kann seine Antwort aber in der
Streubreite des kleinen Kollektivs finden, deren Extremwerte in den Tabellen in Kapitel 8 ersicht-
lich sind, oder aber auf eine durch die Zahnbewegung bedingte Aufhebung eines distalen Zwangs-
bisses hindeuten. Dies würde ein „catch-up“-Wachstum nach therapiebedingter Aufhebung eines
distalen Zwangsbisses bedeuten. Die Elimination einer Lippendyskinesie durch Libpumper-Therapie
kann den normalen Lippenschluss wieder herstellen. Dies ermöglicht dem Unterkiefer in einem
„catch-up“-Wachstum das Wiederaufholen eventueller, durch die Dyskinesie bedingter, Wachs-
tumsdefizite.
Dabei bewegte sich der Molar zusammen mit den anterioren Referenzpunkten nach mesial, während
sich die posterior gelegenen Punkte dem physiologischen Wachstum entsprechend nach dorsal
bewegten. Das bedeutet, dass sich der Molar im Rahmen der Wachstumsvorgänge der anterioren
Unterkieferbasis nach mesial bewegte.
71
9.3. Knöcherne Bewegungen
Der knöcherne Referenzpunkt Menton zeigte im Vergleich zur Kontrollgruppe eine um 1,5 mm
signifikant verringerte Bewegung nach kaudal (p = 0,0045). Die Signifikanz bestand bei der lokalen
Remodellierung und der totalen Verlagerung, hingegen nicht bei der Überlagerungstranslokation.
In der Studie von Baumrind et al.7 wird die Differenz der Messungen zwischen Überlagerung auf
Implantaten und auf anatomisch „bester Passung“7 betrachtet. Dabei wird u.a. berichtet, dass
Condylion sich bei implantatgestützter Überlagerung um -0,64 ±1,96 mm distal bewegte im
Gegensatz zu -1,65 ±1,78 mm bei Überlagerung auf anatomisch „bester Passung“. Auch für Gonion
stimmen hier die Werte der vorliegenden Studie beinahe exakt mit diesen Werten überein. Nur die
weiter anterior stehenden Punkte bewegten sich in der vorliegenden Untersuchung stärker nach
mesial als bei Baumrind et al.7. Menton zeigt nach Baumrind et al.7 bei Überlagerungen auf
Implantaten nur minimale Verlagerungen über einen längeren Zeitraum hinweg.
Dieser Gruppenunterschied ist möglicherweise auf das Ausschalten der Unterlippe und ihrer
Druckbelastung auf das Wachstum des anterioren Unterkiefers zurückzuführen. Dadurch waren die
Wachstumsvektoren in der Sagittalen unbeeinflusst, die muskulären Komponenten, welche die
Vektoren in die Vertikale ableiten, reduziert. Die umgekehrte Situation findet sich bei Mundatmern
und operierten Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltträgern, bei denen durch den erhöhten Druck der
fazialen Weichteile die sagittale Verlagerung des Gesichtsschädels beeinträchtigt und die vertikale
Verlagerung des Unterkiefers nach kaudal erhöht ist. Die stärkere Ventralverlagerung des Punktes
Menton könnte auch damit erklärt werden. Dieselbe Tendenz für die Verlagerung des Punktes
Menton zeichnete sich auch für den Punkt Pogonion ab. Diese Gruppenunterschiede erscheinen
umso bedeutsamer, da im posterioren Abschnitt des Unterkiefers die Veränderungen der Referenz-
punkte Gonion und Condylion keine Unterschiede zwischen der Kontroll- und der Studiengruppe
erkennen liessen. Aufgrund dieser Ergebnisse ist zu vermuten, dass der nach dorsal gerichtete
Kraftvektor des Lipbumpers nicht nur einen dento-alveolären Effekt auf den unteren Zahnbogen hat,
sondern auch einen (indirekten) Effekt auf die Wachstumsvorgänge der anterioren Mandibula.
Im Vergleich zur Studiengruppe zeigte die Kontrollgruppe ein dem vorherrschenden vertikalen
Wachstumsmuster entsprechendes dorsokaudales Wachstum. In der Studiengruppe kam der Unter-
kiefer dagegen im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht nur nach mesial, sondern zeigte in der
Kranialbewegung der Kinnpunkte eine Ventrokranialschwenkung des Unterkiefers, was in Überein-
72
stimmung mit den Veränderungen im Punkt Menton steht.
Während in dieser Studie keine eindeutige Molarendistalisation durch den Lipbumper in Bezug zum
Unterkiefer nachgewiesen werden konnte erreichten andere Studien eine Bewegung des ersten
Molars um bis zu 1,75 mm distal5,25,26,80,84,118. Bei kombinierter Therapie mit intermaxillären Klasse-
III-Zügen könnten auch bis zu 4 mm Platz geschaffen werden40. Doch ist eine Distalbewegung der
ersten Unterkiefermolaren nicht immer möglich. Abhängig ist dies von einem starken Mentalis-
Tonus, dem Abstand von Kraftangriffspunkt zum Widerstandszentrum, der Adaptionsfähigkeit des
Knochens und dem Zahndurchbruchsstand der zweiten Molaren. Zu beachten ist auch die
Abhängigkeit des Ausmaßes der Distalisation von der Vorspannung in die Weichteile hinein und die
verstärkte Wirkung durch Schilde. Da die retrospektive Studie keinen Einfluss auf die verwendeten
Kräfte und Schilde hatte, konnte kein Einfluss auf einen größeren distalen Kraftvektor genommen
werden, um einen Vergleich mit dem Headgear im Oberkiefer zu ermöglichen. Der Vorteil der
muskulären Verankerung des Lipbumpers legt aber nahe, dieses Feld eingehender im Zusammen-
hang mit größeren Kräften und Schilden zu untersuchen.
Weitere Möglichkeiten, Platz zu schaffen, sollten auch genutzt werden. Empfohlen wird, rotierte
Zähne mittels Lb zu derotieren, um versteckten Platz zu nutzen30,111. Eine kontrollierte Frontzahn-
kippung erzielt den größten Anteil an einer Expansion84, solange Stabilität, Ästhetik und Funktion
gewährleistet sind. Bei Drahtbogen-Lipbumpern werden die besten Effekte erzielt, wenn sie mit
4 mm Abstand auf Höhe der Gingiva eingesetzt werden55. Der erzielte Platzgewinn mit dem Lip-
bumper reicht für die Auflösung von leichten bis mittleren Engständen26,36,46 und kann damit die
Notwendigkeit eines späteren und deswegen schwereren Eingriffs ausschliessen50,68,101. Eine
Indikation zur Extraktion kann in den meisten Fällen bisher nicht durch einen Lipbumper
abgewendet werden12,104. Dies beruht auf der Abhängigkeit des Behandlungsresultates vom
Kraftvektor und dem dichteren Knochen im Unterkiefer. Die Kraftgröße ist dabei aber vor allem
durch die Belastbarkeit der Lippe begrenzt.
73
9.4 Schlußfolgerung
Platzgewinn im unteren Zahnbogen ist mit Lipbumpern relativ gut erreichbar. Etwa zu einem Drittel
wird der Effekt aus der Aufrichtung des ersten unteren Molaren bezogen und ein unbestimmter
Anteil stammt aus der transversalen und sagittalen Zunahme des Unterkieferzahnbogens, indem der
Lipbumper die Molaren verankert und so den Leeway-Space sichert. Dabei kann es zu einer
Proklination der Unterkieferfront bis über die physiologische Toleranzgrenze kommen, weswegen
Lipbumper nur bei initial steil stehender Front angewendet werden sollten oder die Front über eine
Weichgewebsabstützung mit der Unterlippe gehalten werden sollte.
Der sagittale Effekt auf das Wachstum ist abgeschwächt, weil, nach Platzverlust in der Stützzone
mit Kippung der Molaren in die Lücke, zuerst die Molaren aufgerichtet werden und dann erst das
sagittale Wachstum des Unterkiefer beeinflusst werden kann. Außerdem sollte die Zahnbogenlänge
und -breite in diesem Zusammenhang betrachtet werden, um die Bewegung des Molaren relativ zum
Wachstum darzustellen.
Mittels Überlagerungstechnik sind die Anteile der Zahnbewegung gut zu differenzieren, wobei die
Orientierung der Überlagerung anhand anatomischer Strukturen Variationen zuläßt, die in der Größe
der zu untersuchenden Messwerte liegen können; nicht zuletzt deswegen empfiehlt sich die com-
putergestützte Auswertung.
Die Distalisation der Molaren mittels Lipbumper ist mit Schilden und ausreichender Vorspannung
möglich, muss insgesamt jedoch relativ zum Aufrichten der Molaren und zum Unterkieferwachstum
gesehen werden; das Ausmass der Distalisation ist begrenzt, die existierenden Studien berichten
aber über eine gute Stabilität der Ergebnisse nach Lipbumperbehandlung116,118.
74
10 Zusammenfassung
Gegenstand der retrospektiven Untersuchung war die Bewegung des ersten unteren Molaren bei Lipbumper-
therapie. Insgesamt wurden 14 jugendliche Patienten mit einer Gruppe unbehandelter Personen des gleichen
chronologischen Alters und der gleichen intermaxillären Kieferrelation verglichen. Dazu wurde die
Überlagerungsmethode nach Baumrind et al.10,11 verwendet, die bei den Wachstumsvorgängen das Displace-
ment von der lokalen und der totalen Verlagerung differenziert.
Die Fernröntgenseitenbilder des Schädels von zwei Zeitpunkten mit einem Abstand von 25 Monaten wurden
im Punkt Sella auf der Strecke S-N und auf der äußeren kaudalen Kontur des Corpus mandibulae überlagert
und die Lokalisation der Referenzpunkte bestimmt. Die Vektoren zwischen den Referenzpunkten stellten die
totale Verlagerung und ihre orthopädischen und orthodontischen Anteile dar. Die Bewegungen wurden mit
denen der unbehandelten Kontrollgruppe verglichen und die Gruppenunterschiede der Messdaten mit einem
unverbundenen Wilcoxon-Test auf Signifikanz geprüft. Des Weiteren wurden die Molaren- und Frontzahn-
inklination und der Platzbedarf im Zahnbogen analysiert und die erhobenen Daten statistisch ausgewertet.
Die Ergebnisse belegen, dass mit dem Lipbumper ein signifikanter Platzgewinn im unteren Zahnbogen
möglich ist (x=2,43 mm), der hauptsächlich aus dem Aufrichten des verankernden Molaren nach distal
(p=0,027) und dem Halten des Leeway-Space, sowie zu einem kleineren Anteil aus einer Frontzahnpro-
klination resultiert.
Die Referenzpunkte der anterioren Unterkieferbasis verlagerten sich aufgrund der physiologischen
Wachstumsgänge in beiden Gruppen nach ventrokaudal. Dabei war die Kaudalverlagerung des Punktes
Menton in der Studiengruppe signifikant geringer (p=0,0045). Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie hat der
Lipbumper nicht nur einen dento-alveolären Effekt auf den unteren Zahnbogen, sondern auch auf die wachs-
tumsbedingten Veränderungen der anterioren Unterkieferbasis im Sinne einer reduzierten Vertikalentwick-
lung in Kombination mit einer verstärkten Ventralverlagerung.
Große Distalisationen, wie bei Anwendung eines Headgear im Oberkiefer, werden aufgrund der begrenzten
Kraftübertragung nicht erreicht. Der distale Kraftvektor ist abhängig von der Belastungsfähigkeit der Unter-
lippe, der Vorspannung des Bogens in die Lippe hinein und der Verwendung eines Schildes.
Die Therapie mit Lipbumper ist wegen der Proklination der Frontzähne nur bei Patienten mit steiler Unter-
kieferfront indiziert, um instabile Zahnachseneinstellungen durch die Therapie zu vermeiden. Andernfalls
sollte die Front über eine Weichgewebsabstützung mit der Unterlippe gesichert werden.
Mit der Überlagerungsmethode nach Baumrind et al.9,10 ist die Zahnbewegung gut zu differenzieren. Bei
Überlagerung auf den anatomischen Strukturen der Unterkieferbasis besteht eine große Variabilität, die
eventuell Studienergebnisse verschleiern kann. In diesem Zusammenhang wurde für die Beobachtung von
Veränderungen des Unterkiefers die Zentrierung der Röntgenbilder auf der anatomischen Struktur der
Symphysenrückseite betont.
75
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12 Abkürzungsverzeichnis Ag Referenzpunkt am Unterkieferknick „anterior notch“ AH Aktivator FKO Funktionskieferorthopädie FR Funktionsregler FRS Fernröntgenseitenbild Lb Lipbumper MVP Mundvorhofplatte TD Totale Diskrepanz 1a Wurzelspitze des ersten unteren Frontzahnes 1i Schneidekante des ersten unteren Frontzahnes 6a mesiale Wurzelspitze des ersten unteren Molaren 6c mesiale Kronenspitze des ersten unteren Molaren Cond Condylion Go Gonion Me Menton Pog Pogonion VSB Vordere Schädelbasis
Nomenklatur der Überlagerungen
S Displacement oder Überlagerungstranslokation, auch orthopädische Verlagerung
dentaler Referenzpunkte
L lokale Remodellierung ossärer Strukturen, auch orthodontische Verlagerung dentaler
Referenzpunkte; lokale Verlagerung dentaler Punkte der Kontrollgruppe
T totale Verlagerung, Summe aus Displacement und lokaler Remodellation
81
13 Lebenslauf Persönliche Daten: Name: Felix Tobias Prömm Geburtsdatum: 12.02.1976 Geburtsort: Ostfildern-Ruit, Landkreis Esslingen Eltern: Dr. Johannes Prömm, Gynäkologe und Frau Ruth Prömm, geb. Haug,
Lehrerin 1982-1995 Grundschule und Gymnasium an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in
Stuttgart Juni 1995 Allgemeine Hochschulreife, Waldorfschule Uhlandshöhe, Stuttgart 1996-97 Zivildienst im Alten- und Pflegeheim Haus Morgenstern, Stuttgart 1997-2003 Studium der Zahnheilkunde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im
Breisgau Dez. 2003 Abschluß des Studiums mit dem Staatsexamen
Jan. 2004 Approbation als Zahnarzt 2004-2005 Unfall und Rehabilitationsphase seit Jan. 2006 Tätigkeit in zahnärztlicher Praxis in Karlsruhe
82
14 Danksagung
Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. I. Jonas für die Überlassung des
Themas und Ihre stets freundliche Hilfe.
Für die freundliche Übernahme des zweiten Gutachtens möchte ich mich bei Herrn PD Dr. D.
Schulze bedanken.
Herrn Prof. Dr. J. Schulte-Mönting vom Institut für medizinische Biometrie und medizinische
Statistik danke ich für die Unterstützung bei der statistischen Auswertung.
Frau Prof. Dr. Rudzki-Janson an der Ludwig-Maximilians-Universität München möchte ich danken
für die freundliche Bereitstellung der Unterlagen eines unbehandelten Kollektives zur Auswertung
der Kontrollgruppe.
Ein herzliches Dankeschön auch an Frau Feger für die Hilfe bei der Literaturrecherche und Frau
Tritschler für den Zugang zu den Archiven, sowie Frau Brammer und allen anderen Mitarbeiter-
innen und Mitarbeitern, die mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite standen.
Besonders möchte ich meinen immer mitfühlenden Eltern und meinen Freunden meinen Dank aus-
sprechen für Ihre stetige Aufmunterung und Unterstützung.
Mein herzlichster Dank gebührt meiner Verlobten Sonja für ihre mentale Unterstützung und das
Korrekturlesen.
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