die geschichte der antihistaminika: „fast könnte man ein indikations-abc anlegen”

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86 | Pharm. Unserer Zeit | 33. Jahrgang 2004 | Nr. 2 DOI:10.1002/pauz.200400057 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

„Fast könnte man ein Indikations-ABC anlegen“

Die Geschichte der AntihistaminikaULRICH MEYER

dessen Interesse an immunologischen Fragen 1904 durcheinen Studienaufenthalt bei Paul Ehrlich (1854-1915) inFrankfurt geweckt worden war, wirkte als Leiter des neu-begründeten pharmakologisch-physiologischen Labors desbritischen Unternehmens Wellcome. Er beobachte 1910 zu-sammen mit Patrick Playfair Laidlaw (1881-1940) die Ähn-lichkeit zwischen Histamin- und anaphylaktischem Schock.

Den Abbau von Histamin durch das körpereigene EnzymHistaminase klärte schließlich der durch die Insulin-Ge-winnung weltberühmt gewordene Charles Herbert Best(1899-1978) im Jahre 1930 auf.

Mit der Entdeckungder Histaminase schienerstmals eine kausaleTherapie allergischer Er-krankungen möglich zuwerden.

I.G. Farben aufdem Holzweg

Im Werk Hoechst der I.G.Farben verfolgte man dieArbeiten von Best mitgrößtem Interesse, hattesich doch das Insulin alsMeilenstein der Pharma-kotherapie und „Block-buster“ im eigenen Sorti-ment erwiesen. Hoff-nungsvoll begannen 1932Forschungsarbeiten aufdem Histaminase-Gebiet, die schließlich 1936 zur Lancie-rung des Präparates Torantil® führten (Abb. 3). Indes er-wies sich Torantil®, das in Form von Ampullen immerhinbis 1967 im Handel war, als Fehlschlag. Das Präparat warschon aus pharmakokinetischen Gründen in der Behand-lung akuter allergischer Erkrankungen praktisch wirkungs-los. Zudem stellte es aufgrund seines Gehaltes an Fremdei-weiß selbst ein potenzielles Allergen dar. Dennoch wurdenimmer wieder Verbesserungen des Herstellungsverfahrensdiskutiert, neue Darreichungsformen geprüft, Kombi-nationen mit anderen Substanzen erwogen und Hoffnungenauf weitere Indikationen gesetzt.ABB. 2 Henry Hallett Dale (1875 –1968)

ABB. 1 Der Wiener Pädiater Clemensvon Pirquet (1874 –1929)

ABB. 3 Werbung für Torantil®

(Quelle: Bayer-Archiv)

Die Zunahme allergischer Er-krankungen gilt vielfach alszivilisatorisch bedingtes Phä-nomen. Interessanterweisesetzte auch die Benennungund Erforschung diesesKrankheitsbildes erst zu Beginn des 20. Jahrhundertsein.

Allergie und Histamin1902 entdeckten Charles Robert Ri-chet (1850-1935) und Paul Portier(1866-1932) mit der Anaphylaxie dieschwerste Erscheinungsform der al-lergischen Reaktion. Ernst Friedberger(1875-1932) postulierte 1909, dass esfür dieses Geschehen ein spezifischesstoffliches Agens als Auslöser gebenmüsse. Ohne die Substanz chemischnäher charakterisieren zu können,nannte Friedberger sie Anaphylatoxin.

Bereits 1906 hatte der Wiener Pä-diater Clemens von Pirquet (1874-1929) (Abb. 1) aus der Beobachtungder Serumkrankheit den Begriff der Al-lergie entwickelt.

Zu den Allergenen rechnete vonPirquet die Gifte der „Mücken und Bie-nen“, die „Pollen des Heufiebers“, die„Urtikaria erzeugenden Substanzender Erdbeeren und Krebse“ und„wahrscheinlich auch eine Reihe or-ganischer Substanzen, welche zu Idio-synkrasien führen“ könnten.

Die Identität des „Anaphylatoxins“mit Histamin als wesentlichem Media-tor der allergischen Reaktion klärte ei-ne Arbeitsgruppe um Henry HallettDale (1875-1968) auf (Abb. 2). Dale,

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Während I.G. Farben – wohl unter dem Eindruck des In-sulin-Erfolges – sehr hartnäckig an Torantil® festhielt, ver-kannte man zunächst die erfolgversprechenden Forschungs-ansätze in Bezug auf Histamin-Antagonisten. Diese wurdenfast zeitgleich in französischen Laboratorien, aber auch imeigenen Haus verfolgt.

Die Entwicklung der ersten Antihistaminika in Frank-reich glückte auf der Grundlage einer unbürokratischen Ko-operation zwischen dem Institut Pasteur und der Firma Rhô-ne-Poulenc, um die sich insbesondere der Apotheker undpharmazeutische Chemiker Ernst Fourneau (1872-1949)verdient gemacht hatte. Am Ausgangspunkt seiner Unter-suchungen stand das von Fritz Eichholtz (1889-1967) phar-makologisch geprüfte und von I.G. Farben 1928 eingeführ-te Hämostyptikum Gravitol®. Über mehrere Zwischenstufengelangte man bei Pasteur zu der Versuchssubstanz 1167 F(F = Fourneau), die wiederum von Rhône-Poulenc zu RP2325 und RP 2339 (Phenbenzamin) abgewandelt wurde.Die Formel von Phenbenzamin, dessen späterer Handels-name Antergan® lautete, lässt das Grundgerüst der erstenGeneration sedierender Antihistaminika schon deutlich er-kennen.

Wie I.G. Farben gewünscht hatte, stellte das Reichs-wirtschaftsministerium Rhône-Poulenc nach der Kapitula-tion Frankreichs unter die Kontrolle des deutschen Kon-zerns. In mehreren Sitzungen trugen Rhône-Poulenc-Mit-arbeiter maßgeblichen Vertretern der I. G. Farben wieHeinrich Hörlein (1882-1931), Fritz Mietzsch (1896-1958)und Anton Mertens (1896-1965) die erfolgversprechendenForschungsergebnisse zu RP 2339 vor. Die pharmakologi-sche Prüfung von Phenbenzamin hatte der aus der Ukrainestammende Jude Bernard N. Halpern (1904-1978) besorgt,der in die Schweiz geflohen war, um der drohenden De-portation zu entgehen. Dies erklärt, warum anstelle vonHalpern der offiziell für das Institut Pasteur tätige „arische“Pharmakologe Daniel Bovet (1907-1992) an den Bespre-chungen teilnahm. Am 22. Juni 1943 eröffnete die I.G.-Far-ben-Delegation den Franzosen in Paris, dass man „das Präpa-rat für Grossdeutschland unter den bekannten Bedingungenvon R.P. ... übernehmen“ wolle. Inzwischen waren nämlichauch im Deutschen Reich klinische Prüfungen durchgeführtworden, für die u.a. der prominente, an der Universitäts-Hautklinik Leipzig tätige Josef Vonkennel (1897-1963) ver-antwortlich zeichnete. Die Prüfungen ergaben ein erstaun-lich präzises Bild der therapeutischen Möglichkeiten desPhenbenzamins, ja der neuen Arzneistoffgruppe an sich.Die Behandlungsergebnisse „waren gut bei Heufieber, al-lergischem Ekzem, Urticaria und frischen Asthmafällen. DieResultate bei Magenulcus waren negativ... Das Produkt ver-ursachte in vielen Fällen Nebenwirkungen.“

Bei richtiger Einordnung der eigenen Forschungser-gebnisse wäre die – für I.G. Farben sicher günstige – Über-nahme des französischen Präparates indes unnötig gewesen.Denn bereits 1939 war in Hoechst von Max Bockmühl(1882-1949) und Gustav Ehrhart (1894-1971) bei der „Suche nach neuen spasmolytisch (!) wirkenden Körpern“

– neben den Analgetika das Hauptfor-schungsgebiet des Werkes – Fenpipran(zunächst Diphenylpiperidinopropangenannt) synthetisiert worden, das imTierversuch eindeutig vor einemdurch Histamin ausgelösten Bron-chospasmus schützte. Am 16. März1942 diskutierte man in Leverkusenbei einer Besprechung mit Vertreternvon Rhône-Poulenc die Frage, wie Fen-pipran im Vergleich zu Phenbenzamineinzuordnen sei. Das deutsche Proto-koll notierte: „Beide Stoffe schliessensich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Das Diphenylpiperi-dinopropan ist ein ausgezeichnetesSpasmolyticum, das 2239 RP ein Anti-histaminicum.“ Fenpipran kam in derKombination mit dem Sympathomi-metikum Dioxyephedrin 1942 als As-pasan® in den Handel. Rasch fiel auf,dass sich dieses Präparat nicht nur zurBehandlung asthmatischer Beschwer-den eignete. Am 14. Juli 1944 wurde in der „Münchner Me-dizinischen Wochenschrift“ von einem „einfachen“, sonstnicht weiter hervorgetretenen praktischen Arzt über „Einneuartiges Heilmittel gegen Urtikaria“ publiziert, wobei essich um Aspasan® handelte. Bei I.G. Farben glaubte mannun, „eine allgemein antiallergische Wirkung ... gefunden...“ zu haben. Jetzt wurden die „Tabletten auch gegen Se-rum-Exanthem, Heufieber, Rhinitis vasomotorica“ empfoh-len. 1946 begannen dann in Höchst Arbeiten zur weiterenOptimierung der Fenpipran-Grundstruktur, die 1950 zurLancierung von Pheniramin (Avil®) führten. Indes war dieFreude über die gelungene Weiterentwicklung im ehemali-gen I.G.-Farben-Werk Hoechst bald getrübt, da kurz vor derMarkteinführung „zur Kenntnis“ kam, „dass das gleichePräparat von der Schering Corp., USA bereits als ‚TRIME-TON‘ ... herausgebracht worden“ war.

Insgesamt agierte der I.G.-Farben-Konzern auf dem Gebiet der Antihis-taminika eher glücklos. Es sei dahin-gestellt, ob neben einer Fixierung aufeingefahrene Entwicklungsstrategiennationalistische Vorbehalte gegenüberForschungsergebnissen französischerProvenienz eine Rolle gespielt habenmögen. Auffallenderweise sind ähnli-che Fehlentscheidungen auch auf demGebiet der antibakteriell wirkendenArzneistoffe zu konstatieren. Hier fo-kussierte sich I.G. Farben zu lange aufdie Sulfonamide und ignorierte dievielversprechenden Untersuchungsre-sultate zu den Penicillinen, die ausEngland und den USA stammten.

ABB. 4 Werbung für Omeril®

(Quelle: Bayer-Archiv)

ABB. 5 Werbung für Atosil®

(Quelle: Bayer-Archiv)

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Der Boom der sedierenden AntihistaminikaNachdem mit Phenbenzamin und derbesser verträglichen Weiterentwick-lung Mepyramin (Neo-Antergan®) dieprinzipielle Realisierbarkeit von H1-An-tagonisten demonstriert worden war,setzte nach dem Zweiten Weltkrieg einwahrer Boom dieser Arzneistoffklasseein.

Die Bayer AG entwickelte Mebhy-drolin (Omeril®, Abb. 4), erwarb aberzusätzlich von Rhône-Poulenc die Li-zenzen für Neo-Bridal® sowie einigePhenothiazine mit deutlich antihis-taminerger Wirkkomponente, darun-ter auch Promethazin. Atosil® – heutefast ausschließlich als stark sedieren-des Neuroleptikum verordnet – solltenoch 1959 „des Sommers ungetrübteFreude“ bewahren und wurde ent-sprechend lebensfroh beworben (Abb. 5).

Selbst die bislang nicht in der Arzneimittelforschungtätige BASF beschäftigte sich mit der Synthese eines zu-nächst als „Pyrrolidinantergan“ bezeichneten Antihistami-nikums, das Merck, Schering und Boehringer Mannheimzum Kauf angeboten wurde. Schließlich griff Boehringerzu und brachte Histapyrrodin 1950 als Luvistin® in den Han-del. 1953 folgte das als „Superantiallergicum“ apostro-phierte Calcistin®. Hierbei handelte es sich um die erste fi-xe Kombination eines Antihistaminikums mit Calcium, des-sen Salze zuvor in der Allergie-Therapie dominiert hatten.

Neben den drei großen I.G.-Farben-Nachfolgefirmenwidmeten sich auch „mittelständische“ und kleine pharma-zeutische Unternehmen der Entwicklung von Antihistamini-ka. Zu nennen sind z.B. Merck (Brompheniramin, Ilvin®,Abb. 6), Schering (Clemizol, Allercur®, Abb. 7), Knoll (Ba-mipin, Soventol®, Abb. 8), ASTA (Chlorphenoxamin, Sys-tral®, Abb. 9), Chemiewerk Homburg (Isothipendyl, An-dantol®), Promonta (Diphenylpyralin, Kolton®) und DIWAG(Bromopyramin, Hibernon®).

Der Boom der Antihistaminika wurde durch die leichteDarstellbarkeit neuer Derivate begünstigt,

für deren Synthese die klas-

sischen Methoden der organischen Chemie ausreichten.Auch die pharmakologische Prüfung ließ sich mit unkom-pliziert durchzuführenden Tierversuchen bewerkstelligen.Damit waren die Antihistaminika auch für kleinere Firmeninteressant, die sich auf dem fast gleichzeitig blühendenCorticoid- und Antibiotika-Markt nicht engagieren konnten.Zur Gewinnung dieser Arzneistoffe wären aufwändige mikrobiologische Umsetzungen erforderlich geworden, de-ren Realisierung weitaus größere Ressourcen beanspruchthätten.

Generell dominierte das Bestreben, möglichst rasch andem in Aufteilung befindlichen Markt zu partizipieren unddurch eine breite Palette an Darreichungsformen – von Na-sen- und Augentropfen bis hin zu Seifen und Zäpfchen – diekommerzielle Verwer-tung abzusichern. Auchgalenische Neuerungenwie das Depot-Drageeoder die medizintech-nische Innovation derAerosol-Apparate griffendie Hersteller gerne auf,um angesichts immerschärferen WettbewerbsMarktanteile gewinnenoder behaupten zu kön-nen.

Des weiteren wurdeeine Fülle z.T. bizarrerKombinationspräparateeingeführt, von denensich insbesondere et-liche Grippe-Mittel bis heute auf dem deutschen Arzneimit-telmarkt behaupten konnten (Abb. 10).

Nachdem 1953/1954 die ebenfalls antiallergisch wirken-den Corticoide in der Bundesrepublik breiter verfügbar ge-worden waren, boten sich diese – gleichsam in der Nach-folge des Calciums – als Kombinationspartner an. Mit „Zan-genwirkung“ sollten auch chronische und rezidivierendeAllergien angegangen werden, zudem glaubte man, durch„die euphorisierende Wirkung des Prednisolons die se-dierende Wirkung des Antihistaminicums“ verringern zukönnen.

Die westdeutschen Unternehmen mussten sich schonzu Beginn der heftigen Konkurrenz aus der Schweiz er-wehren, die – vom Krieg unbeeinträchtigt und z.T. überForschungslaboratorien in den USA verfügend – einen teil-weise beträchtlichen Forschungsvorsprung auf demAntihistaminika-Gebiet gewonnen hatte. Das von der CIBAentwickelte Antazolin (Antistin®) war wie das HoechsterFenpipran bereits 1939 und damit ebenfalls noch vor demAntergan® synthetisiert worden. Dabei hatte man dem Bas-ler Forschungsschwerpunkt entsprechend nicht nach ei-nem Spasmolytikum, sondern nach einer vasoaktiven Sub-stanz gesucht. Aufgrund dieses „Vorlaufs“ konnte die CIBAAntazolin als erstes überhaupt verfügbares Antihistamini-

ABB. 6 Werbedrucksache für Ilvin® ausdem Jahr 1960 (Quelle: FirmenarchivMerck)

ABB. 8 Werbung für Soventol®

ABB. 7Werbeprospekte für Allercur®

für den deutschen, spanischen und englischen Markt aus den Jahren nach 1952

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kum auf den deutschen Markt bringen. Als zweites Präpa-rat lancierte die CIBA mit dem in den USA nach dem Vor-bild des Phenbenzamins synthetisierten Tripelennamin (Py-ribenzamin®) eine gezielt als Antiallergikum entwickelteSubstanz (Abb. 11). Auch die Basler Firmen Hoffmann-La Ro-che und J.R. Geigy betätigten sich mit Synopen® (Chlorpy-ramin) und Thephorin® (Phenindamin, Abb. 12) frühzeitigin der Antihistaminika-Entwicklung. Die Auswertung vonLaborjournalen zeigte, dass Roche dabei nicht etwa an diefranzösischen Substanzen, sondern ganz bewusst an dasI.G.-Farben-Präparat Fenpipran anknüpfte, das von den Ro-che-Forschern ohne Einschränkung als Antihistaminikumklassifiziert worden war. Die Sandoz AG, die ihr Calcium-Sandoz® durch die H1-Antagonisten zunächst kaum bedrohtsah, engagierte sich erst relativ spät in der Antiallergika-Entwicklung und trug mit Sandosten-Calcium® (Thenalidin-Calciumgluconolacotbionat) zur Popularisierung der Cal-cium-Antihistaminika-Kombinationen bei.

Trotz schweizerischer und anderer Konkurrenten konn-ten Antihistaminika wie z.B. Omeril®, das in der Bundesre-publik nur geringe Marktanteile gewann, weltweit erfolg-reich ausgeführt werden. Mitunter überlebten Export-Präpa-rate die Vertriebseinstellung in Deutschland jahrzehntelang(z.B. Allercur®). So gesehen avancierte die bundesdeutschePharma-Industrie auch mit den Antihistaminika wieder zur„Apotheke der Welt“ – aber nicht aufgrund pharmakothera-peutisch überragender Innovationen, sondern vor allemdank schlagkräftiger Vertriebsorganisationen.

Insgesamt ist die Palette der sedierenden Antihistami-nika nach den Sulfonamiden und noch vor den Corticoidenein geradezu klassisches Beispiel für das „me-too“-Phäno-men. Während mit Hilfe der „Abwandlungsformen“ pro-blemlos immer neue Antiallergika entwickelt werden konn-ten, stellte die Stoffklasse als solche eher eine Sackgassedar. Lediglich die Firma Grünenthal vermochte es, von ei-nem Histamin-Antagonisten (Clemizol) ausgehend zu einembrauchbaren Arzneistoff anderer Wirkqualität zu gelangen.Das auf diesem Weg entwickelte Antimykotikum Chlormi-dazol fand in den Dermatika H 115 anti-fungus® und Poly-cid N® Verwendung. Die Firmen Merck, Schering, Sandoz,

Hoffmann-La Roche und J.R. Geigy scheiterten auf dem Fel-de der Antihistaminika-Weiterentwicklung und brachen –mit Ausnahme der mehr als zehn Jahre hartnäckig for-schenden Schering AG – entsprechende Versuchsreihenbald wieder ab.

Es mutet aus heutiger Perspektive geradezu absurd an,in welchem Unfang die Indikationen für Antihistaminika inden fünfziger Jahren künstlich ausgeweitet wurden. So gal-ten zeitweise z.B. Migräne, Glomerulonephritis, Scharlach-rheumatoid, Colitis oder auch Multiple Sklerose als Anwen-dungsgebiete. Dieser Wildwuchs war zwar von der phar-mazeutischen Industrie nicht direkt induziert worden, dochleisteten die Unternehmen dem „autistisch-undisziplinier-ten“ Therapieren (E. Bleuler) durch die reichliche Produk-tion von Sonderdrucken, Broschüren und Prospekten kräf-tig Vorschub. Geradezu suggestiv wirkt die Frage „Steckt ei-ne Allergie dahinter?“, die bezeichnenderweise als Titel füreine Firmen-Schrift gewählt wurde. Bayer postulierte in ei-nem Ärzte-Brief, für die Antihistaminika könne man „fast einIndikations-ABC“ anlegen. Es kam allerorten zum Phänomender „Erprobungsindikationen“, also des eher versuchs- odervermutungsweisen Einsatzes von Präparaten ohne gründli-che klinische Prüfungen. Kontrollierte Studien hätten einKorrektiv zum rein kasuistischen Vorgehen darstellen kön-nen, doch wurden solche Untersuchungen in Deutschlandfür Antihistaminika erst in den sechziger Jahren durch-geführt.

Die Ära der nicht-sedierenden AntihistaminikaNach der ersten Antihistaminika-Generation ließ ein wirk-lich grundlegender therapeutischer Fortschritt mehr alsdreißig Jahre auf sich warten. Der Durchbruch zur Klasseder nicht-sedierenden Antiallergika gelang der US-amerika-nischen Firma Merrell Dow 1982 mit Terfenadin (Teldane®)eher zufällig. Am Beginn der Entwicklung hatte keineswegsdie Suche nach einem Antihistaminikum gestanden, viel-mehr war ursprünglich die Synthese eines Neuroleptikumsvorgesehen gewesen. Als „Bausteine“ wählte man denfast vergessenen Meskalin- und LSD-AntagonistenAzacylonol (Frenquel®) und das 1958 von Paul Janssen(1926-2003) entwickelte hochpotente NeuroleptikumHaloperidol (Haldol®). Zur Enttäuschung der Untersu-cher zeigten die daraus resultierende Substanz und ihrChlor-Analogon nur eine schwacheantipsychotische Substanz. Die fol-genden Abwandlungen des Molekülsbewirkten eine weitere Abschwä-chung der ZNS-Aktivität, so dass Ter-fenadin schließlich selbst in Dosen von1000 mg/kg Körpergewicht bei Mäu-sen keine Veränderung des Verhaltensinduzierte, jedoch einen stark anti-histaminergen Effekt aufwies. Das inmehr als 100 Ländern zugelassene An-tiallergikum entwickelte sich für Mer-rell Dow kommerziell zu einem gro-

ABB. 9 Werbung für Systral®

ABB. 10 Refa-gan® ist einBeispiel fürein Grippe-Mittel mit H1-Antihistamini-kum (Quelle:Bayer-Archiv)

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ßen Erfolg. In den wichtigsten west-lichen Industriestaaten erreichte derWirkstoff bereits 1988 Marktanteilezwischen 20 und 40 %. Auch in derSelbstmedikation erfreute sich Terfe-nadin bald großer Beliebtheit, in derBundesrepublik wurde die Substanz1986 aus der Verschreibungspflichtentlassen. Indessen zeigten sich seitEnde der achtziger Jahre unerwarteteProbleme, die Terfenadin sowie einweiteres nicht-sedierendes Antihista-minikum (Astemizol) betrafen. Welt-weit wurden etwa 350 kardiovaskuläreZwischenfälle beschrieben, darunter26 mit tödlichem Ausgang, die Dun-kelziffer lag nach Schätzungen einigerExperten sogar noch höher. Seit dem1. Januar 1998 ist Terfenadin inDeutschland wieder der Rezeptpflichtunterstellt. Die genauere Untersu-chung der Zwischenfälle lenkte dieAufmerksamkeit auf die bei den meis-

ten Patienten vorliegende Komedikation mit anderen Arz-neistoffen. Erst im Nachhinein erwies sich das Meer-schweinchen als geeignetes Tiermodell, um die pharmako-kinetische Wechselwirkung z.B. zwischen Ketoconazol undTerfenadin experimentell nachzuvollziehen. Zur Vermei-dung der Interaktions-Problematik bot sich der Einsatz desschon lange bekannten Metaboliten Terfenadincarbonsäure(Fexofenadin) an, über dessen anthistamininerge Aktivitätbereits 1982 berichtet worden war. Im August 1996 ge-langte Fexofenadin als Allegra® auf den US-amerikanischenMarkt. Bald darauf drängte die FDA Hoechst Marion Rous-sell zum Rückzug des Terfenadins, die französischen Behör-den gingen ähnlich vor. In Deutschland blieben Teldane®

und weitere Terfenadin-haltige Präparate jedoch zunächstim Handel.

Fexofenadin kam am 1. Dezember 1997 unter dem Na-men Telfast® auf den deutschen Arzneimittelmarkt. In derersten Hälfte des Jahres 1998 erreichte Fexofenadin bereitseinen weltweiten Umsatz von 430 Millionen DM und avan-cierte damit zum zweitumsatzstärksten Arzneimittel vonHoechst Marion Roussel.

Während Terfenadin auf dem Gebiet der Anthistamini-ka gleichsam einen Seiteneinsteiger darstellte, handelte essich bei den bald auf den Markt drängenden Konkurrentenum gezielte Weiterentwicklungen schon lange bekannterHistamin-Antagonisten.

Die auf dem Antihistaminika-Gebiet intensiv tätige belgi-sche Firma UCB hatte bereits 1956 Hydroxyzin (Atarax®)eingeführt, das aufgrund seiner stark hervortretenden sedie-renden und angstlösenden „Nebenwirkungen“ vorwiegendals Tranquilans eingesetzt wurde. 1975, also zwei Jahre nachBekanntwerden des Terfenadins, aber noch sieben Jahrevor dessen erfolgreicher Markteinführung, schlug die „meta-

bolism unit“ der UCB-Geschäftsleitung vor, den Haupt-metaboliten des Hydroxyzins, das hydrophilere Carbon-säure-Analogon Cetirizin, als potenziell nicht-sedierendesAntihistaminikum zu prüfen. 1977 erfolgten orientierendeTierversuche, das erste Cetirizin-haltige Fertigarzneimittel(Zyrtec®) gelangte indes erst 1987 in Belgien in den Han-del. Cetirizin zeigte sich im Unterschied zu Terfenadin auchbei langjährigem Gebrauch als problemlos handhabbar undwurde in Deutschland zum 1. Juli 1997 aus der Verschrei-bungspflicht entlassen. Zudem war Zyrtec® mit 2,243 Mil-lionen Verordnungen 1996 in Deutschland das meist re-zeptierte Antiallergikum, 1992 hatte es erst Platz 4 einge-nommen. Die kräftigen Zuwächse für Zyrtec® wurden z.T.auf Kosten der in die Diskussion geratenen AntihistaminikaTerfenadin und Astemizol erzielt. Zum 1. Februar 2002 er-folgte die Einführung des R-Enantiomers Levocetirizin (Xu-sal®) auf dem deutschen Markt. Kritiker merkten an, dassder „‘Modellwechsel‘ pikanterweise mit dem Ende desPatentschutzes zusammenfiel“.

Als Alternative zu Terfenadin und Astemizol konnte ne-ben Cetirzin vor allem Loratadin (Lisino®) Marktanteile ge-winnen. Hierbei handelte es sich um die Weiterentwicklungdes 1973 von der US-amerikanischen Schering Plough Cor-poration eingeführten Azatadins (Optimine®). Azatadin er-wies sich indes – entgegen präklinischer, vor allem an derKatze durchgeführter Untersuchungen – zur Enttäuschungder Firma sehr rasch als sedierendes Antihistaminikum. Alsim Jahr der Azatadin-Einführung Terfenadin erstmals derFachöffentlichkeit vorgestellt wurde, war man bei ScheringPlough aufgrund der gerade gemachten Erfahrungen skep-tisch. Bis zur nächsten relevanten Terfenadin-Publikationverstrichen vier Jahre, was Schering als Indiz dafür wertete,das es sich um „yet another non-sedating failure“ handel-te. Erst als 1978 verschiedene wichtige klinische Publi-kationen zu Terfenadin vorlagen, kam ein Forschungspro-jekt in Gang, das drei Strategien verfolgte: Zum einen wur-den altbekannteAntihistaminikawie Diphenhy-dramin (Bena-dryl®) und Tripe-lennamin (Pyri-benzamin®) ab-gewandelt, umhydrophilere unddamit wenigerZNS-gängige De-rivate zu erhal-ten. Zum ande-ren suchte mannach Terfenadin-Analoga und drit-tens geriet dieAzatadin-Strukturerneut ins Blick-feld. Gerade nach

ABB. 11 CIBA-Broschüre aus dem Jahr1948

> ABB. 12Werbung für Thephorin®

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dem Fehlschlag mit dieser Substanz galt der Entwicklung va-lider Tiermodelle von Anfang an besondere Aufmerksam-keit.

Die Firma verfügte über einen umfangreichen „com-pound file“, in dem sich Azatadin-verwandte Strukturen befanden, die in früheren Jahren im Hinblick auf Amitrip-tylin-analoge antidepressive oder kombinierte H1/H2-anta-gonistische Wirkung untersucht worden waren. Die Carb-amat-Analoga des Azatadins und hier insbesondere das Ethyl-Carbamat, das man ursprünglich als Ulkus-Therapeutikumgetestet hatte, bewiesen deutliche Antihistamin-Wirkungim „Maus-Test“, zeigten jedoch keine ZNS-Effekte. Allerdingswäre aufgrund der kurzen Halbwertzeit eine dreimal tägli-che Gabe der Substanz notwendig gewesen, was unter demGesichtspunkt der Patienten-Compliance unvorteilhaft er-schien und die Marktchancen gegenüber Terfenadin beein-trächtigt hätte. Wiederum besann man sich auf die beimAzatadin gemachten Erfahrungen, führte in Position 8 einChloratom ein und erzielte damit eine deutliche Verlänge-rung der Wirkdauer. Loratadin erwies sich selbst bei mas-siver Dosierung als frei von sedierenden Effekten, was spä-ter mit Hilfe einer „zeitgemäßen“ Methode – dem Game-Boy! – selbst am Lernverhalten von Kindern demonstriertwerden konnte.

Loratadin besitzt wie Terfenadin Prodrug-Charakter undwird im menschlichen Körper weitgehend zu dem anti-histaminerg wirksamen Descarboethoxyloratadin (Deslora-tadin) verstoffwechselt. Der Metabolit befand sich 1998 in

einer „frühen Forschungsphase“ und wurde – rechtzeitigvor Patentablauf und einsetzendem Generika-Wettbewerb –am 1. Februar 2001 auf dem deutschen Markt unter demHandelsnamen Aerius® platziert.

LiteraturUlrich Meyer: Steckt eine Allergie dahinter? Die Industrialisierung von Arz-neimittel-Entwicklung, -Herstellung und -Vermarktung am Beispiel derAntiallergika. Stuttgart 2002.Ulrich Meyer: „Es muss also auch hier gehen“ – Arzneimittelentwicklungin der DDR am Beispiel der Antihistaminika. Pharmazie in unserer Zeit(2000) 2299, 350-357.

Der AutorDr. Ulrich Meyer (geb. 1965); Studium der Pharma-zie an der Freien Universität Berlin; 1993 Approbati-on als Apotheker, 1993-1996 wissenschaftlicherMitarbeiter der WALA Heilmittel GmbH Eckwälden/Bad Boll; 1996-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiteram Institut für Pharmazie der Universität Greifs-wald; Promotion bei Prof. Dr. Christoph Friedrich;seit März 2000 Leitung des Außendienstes und seitJuli 2002 Leitung des Ressorts Wissenschaft derWALA Heilmittel GmbH; seit Sommersemester 2001Lehrauftrag für Geschichte der Pharmazie an derUniversität Heidelberg.

AnschriftDr. Ulrich MeyerWALA Heilmittel GmbH73085 Eckwälden/Bad BollUlrich.Meyer@wala.de

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Arzneimittelallergien und Haut. Bircher, A. J.Govi-Verlag 1996ISBN 3-13-106531-154,95 n

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