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Die Geschichte des Dokumentarfilmgenres unter
Berücksichtigung inhaltlicher Schwerpunkte im
Zusammenhang mit den politischen Machtverhältnissen
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Module Name: Creative Perspectives
Module Number: 204
Date Submitted: 05.09.2006
Award Name: Bachelor of Arts (Honours) Film Making
Year: 2005 / 2006
Name: Julio Olmo Poranzke
City: Berlin
Country: Germany
Module Leader: Frank Lymann
Staffing: Peter Duhr
Word Count: 5274
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Inhaltsverzeichnis1 Die Geschichte des Dokumentarfilmgenres unter Berücksichtigung inhaltlicher
Schwerpunkte im Zusammenhang mit den politischen Machtverhältnissen...................4
1.1 Definition des dokumentarischern Films....................................................................... 4
1.2 Die Anfänge des Films 1895......................................................................................... 5
1.3 Dokumentarfilme vom ersten Weltkrieg bis zur Einführung des Tonfilms......................6
1.4 Der beschreibende Dokumentarfilm, der Agitpropfilm und die Essays........................10
1.5 Die Einführung des Tonfilms....................................................................................... 12
1.6 Der Dokumentarfilm während des zweiten Weltkrieges.............................................. 13
1.7 Die Einführung des Farbfilms......................................................................................14
1.8 Der Siegeszug des Fernsehens in der Nachkriegszeit................................................15
1.9 Cinéma Vérité, Direct Cinema und Free Cinema....................................................... 16
1.10 Der Dokumentarfilm in der Deutschen Demokratischen Republik.............................18
1.11 Der Entwicklung des Dokumentarfilms zum Bürgermedium und die Einführung
elektronischer Kameras.................................................................................................... 19
1.12 Von der Einführung des digitalen Videos bis heute................................................... 20
Literaturverzeichnis............................................................................................................ 22
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
1 Die Geschichte des Dokumentarfilmgenres unter Berücksichtigung inhaltlicher Schwerpunkte im Zusammenhang mit den politischen Machtverhältnissen
Diese Arbeit betrachtet die Entwicklung des Dokumentarfilms und der Filmtechnik mit
Blick auf die Vereinnahmung als Propagandainstrument in Deutschland und den ihr
vorangegangenen Staaten mit Schwerpunkt auf den ersten und zweiten Weltkrieg.
Der Begriff Propaganda wird in dieser Arbeit entsprechend seines lateinischen Ursprungs
propagare als Synonym für die Ausbreitung/-weitung einer Meinung oder Überzeugung
verwendet1, also auch für Werbung.
1.1 Definition des dokumentarischern Films
Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche Subgenres des dokumentarischen Films gebildet,
doch können die meisten einem der folgenden drei Ansätze, die bereits in den 30er
Jahren entstanden , zugeordnet werden:2
• der aufklärerische, erziehende Dokumentarfilm (Propagandafilm) – vorrangiges
Ziel ist die „Schaffung eines Weltbildes“,
• d e r informative, 'objektive' Dokumentarfilm – betrachtende, keine Wertung
mitliefernd (theoretisch),
• der betont subjektive, assoziative, künstlerische Dokumentarfilm –
avantgardistisch, den Zuschauer zum Nachdenken und Schlussfolgern anregend.
Der informative Dokumentarfilm erhebt den Anspruch, die Wahrheit/Wirklichkeit objektiv
und authentisch abzubilden. Doch darf nicht vergessen werden, dass allein schon durch
die Anwesenheit des Kamerateams die Situation verfälscht oder zumindest beeinflusst
wird, und somit kein Dokumentarfilm, gleich welchen Ansatz er verfolgt, wirklich objektiv
sein kann. Seriöse Dokumentarfilme sollten diese Beeinflussung für den Zuschauer
erkennbar machen, z.B. durch Kommentare oder andere Hinweise. Häufig fehlt dem
Zuschauer dieser Hinweis jedoch.
In der Filmwissenschaft wird zwischen einfachen Dokumenten, wie z.B.
Nachrichtensendungen die nur „eine simple Abbildung“3 der Wirklichkeit darstellen, und
1 vgl. Fischer, Yvonne, Propaganda im Nationalsozialismus, S. 12 vgl. AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms3 AFK, Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay
4
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
zwischen 'echten' Dokumentarfilmen, die versuchen die Wirklichkeit zu zerlegen, zu
analysieren, die versuchen abzubilden, zu erzählen oder zu untersuchen, unterschieden.
Beiden Formen gemein ist der Anspruch, die Wirklichkeit realitätstreu abzubilden4 -oder
zumindest den Zuschauer glauben zu lassen, es handele sich um eine Abbildung der
Realität.
Neben dieser Unterscheidung kommt noch hinzu, dass die Grenze zwischen fiktionalen
und nicht-fiktionalen Produktionen nicht immer klar erkennbar ist. Einen solchen
Grenzbereich stellen z.B. die „Postkarten-Reisefilme“5 dar, Filme die eine idyllisierte Welt
zeigen, die so gar nicht mehr existiert. Auch wenn sie oft das Etikett Dokumentarfilm
tragen, „tendiert ihr Wirklichkeitsbezug gegen Null“.6 Sie können eher als idyllische
Wunschvorstellung denn als Werk von dokumentarischem Wert bezeichnet werden.
Auch Lehrfilme sind ein weiteres Beispiel für nicht-fiktionale Filme, die nicht als
Dokumentarfilme im eigentlichen Sinne zu bezeichnen sind, sondern eher ein
beschreibendes Dokument als eine Analyse der Wirklichkeit sind.
Die Steigerung der Lehrfilme sind die Industriefilme, von Wirtschaftsunternehmen
bezahlte und in Auftrag gegebene Werbe-, oder Propagandafilme, was aber für den
Zuschauer aber oft nicht klar erkennbar ist, weshalb die genannten Formate nicht außer
Acht gelassen werden dürfen, spielten und spielen sie n o c h als Mittel der
Wirtschaftspropaganda eine nicht zu unterschätzende Rolle.7
1.2 Die Anfänge des Films 1895
Bereits die ersten „bewegten Bilder“ können als Vorläufer des Dokumentarfilms
bezeichnet werden. Im Jahr 1895 fanden die ersten öffentlichen Film-Aufführungen statt,
im deutschen Kaiserreich zeigten die Gebrüder Skladanowski den Film Boxendes
Känguruh mit Mr. Delaware, in Frankreich präsentierten die Gebrüder Lumière Arbeiter
verlasen die Lumière-Werke Doch diese kurzen Filme hatten noch nicht viel gemeinsam
mit den heutigen Dokumentar- oder Nachrichtenfilmen. Durch die großen relativ
unbeweglichen Kameras konnte nur mit dem Stativ gefilmt werden, das Filmmaterials war
sehr kurz und Filmmontage als gestalterisches Mittel fand noch keine Verwendung.8
So verloren bei aller Faszination für das Neue die statischen Bilder doch schnell ihren
4 vgl. ebd.5 ebd.6 ebd.7 vgl. Kittel, Walter, In: dradio.de, Zweitverwertung fürs Firmen-TV8 vgl. Faulstich, Werner, Filmgeschichte, S. 19
5
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Reiz für die Zuschauer. Bereits 1896 drehte der „erste Regisseur der Filmgeschichte“9
George Méliès seine ersten Film (Une Partie des Cartes). Der Franzose gilt als Pionier,
der komplexen Handlungsstränge, der Filmmontage und der Spezialeffekte (Stoptrick) in
Spielfilmen einsetzte (z.B. Le voyage dans la lune, 1902) und legte damit den Grundstein
für (fast) alle spätere Filme.
Ab 1908 entstanden die ersten Dokumentarfilme10, einer der Pioniere war der
österreichische Ethnograph Rudolf Pöch (Bushman Speaks into the Phonograph, 1908).
Mit zu den ersten Propagandafilmen zählten Werbefilme, die bereits zu Beginn der zehner
Jahre produziert wurden (z.B. Blick in eine Automobilfabrik, 1910 für Opel, Deutsches
Kaisereich). Sie wiesen mehr Ähnlichkeit mit sachlichen Lehrfilmen auf als mit heutigen
Image- oder Werbefilmen. Häufig wurde der Herstellungsprozess eines Produktes
gezeigt, und am Ende waren glückliche Konsumenten zu sehen. Bei Filmen über die
Nahrungsmittelindustrie wurde am Ende gerne der genüssliche Verzehr des beworbenen
Nahrungsmittels gezeigt.11
Der Begriff Dokumentarfilm wurde erst 1926 durch John Grierson geprägt, als er in einem
Artikel in der Zeitung The New York Sun den Film Moana von Robert J. Flaherty lobte.12
Die Gebrüder Lumière dagegen bezeichneten ihre Filme nur als vues (Ansichten).
Einen Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Filmen sah dabei Richard M.
Barsam, ein Anhänger Griersons, nur darin, dass der nicht-fiktionale Film Fakten und nicht
Fiktionen dramatisiert.13
1.3 Dokumentarfilme vom ersten Weltkrieg bis zur Einführung des Tonfilms
Diese Dramatisierung der Fakten erreichte einen ersten Höhepunkt in den zahlreichen
Propagandafilmen des ersten Weltkrieges, in denen, "durch passende (und unpassende)
Filmszenen veranschaulicht und belegt"14, hauptsächlich propagandistische
Behauptungen über die Moral der Truppe oder die Niedertracht des Gegners verbreiten
wurden.
Die Aussagen dieser Stummfilme wurden durch Zwischentitel, Begleithefte oder
Sprecher15 ergänzt und verstärkt bzw. die Filmbilder stellten eine Ergänzung und
9 ebd. S. 2010 vgl.AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms11 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 73ff12 vgl. ebd. S. 21ff13 vgl. ebd. S. 7314 vlg. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 75 15 vgl. Laurel & Hardy, The Official Website
6
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Verstärkung der eigentlichen Aussage dar.16
Da die Kameraleute während der Kampfhandlungen nicht nah genug an das Schlachtfeld
heran kamen, - die Kameras waren noch immer sehr groß und unbeweglich und besaßen
noch keine Zoomobjektive, zudem war es natürlich nicht ungefährlich, während der
Kämpfe sich auf dem Schlachtfeld aufzuhalten - wurden die Kampfszenen nachgestellt,
wobei auf die Darstellung von Toten und Verletzten aus Propagandagründen verzichtet
wurde. Bilder von realen Geschehnissen gelangten nur sehr selten in die Kinos und wenn,
beschränkten sie sich auf zerstörte Gebäude, Brücken oder Kirchen, wobei letztere
ausnahmslos als vom Feind zerstört präsentiert wurden.
Eines der wichtigsten filmischen Formate zur Verbreitung der Kriegspropaganda stellten
die Wochenschauen dar. Im Deutschen Reich begann Oskar Messter schon 1896 mit der
Produktion eines Vorläufers der späteren Wochenschauen (Messter-Woche), der
Aktualitätenschau, doch konnte er sich damit (wie auch andere deutsche Versuche in
dieser Richtung) nicht gegen die Konkurrenz aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich,
durchsetzen.17 Dies änderte sich erst durch das Verbot ausländischer Produktionen nach
Ausbruch des ersten Weltkrieges. Gezeigt wurden die Wochenschauen meistens im
Vorprogramm von Spielfilmen. Zu Beginn des Krieges waren dies oft
Kriegspropagandafilme, doch mit der Dauer des Krieges sank das Interesse der
Bevölkerung an ihnen und den Wochenschauen kam eine noch größere Bedeutung zu.18
Bis 1916 hatten die Mester-Wochenschauen mehr als 34 Millionen Besucher.19
Die Wochenschauen waren oft eher schlecht inszenierte Propaganda-Filme über
glückliche Frontsoldaten, als seriöse Informationsquelle und wurden, wie auch die
erläuternden Zwischentitel, mit fortwährender Dauer des Krieges vom Publikum als
unglaubwürdig empfunden.
Zur Stärkung und Organisation bzw. Zensur der Inhalte wurde 1916 die militärische Film-
und Fotostelle eingerichtet und 1917 umstrukturiert und umbenannt in Bild und Filmamt
(BuFa)20. Dieses, der Obersten Heeresleitung unterstellte Amt verfügte über sechs21 bis
sieben22 (in der Fachliteratur sind abweichende Angaben zu finden) eigene Filmtrupps, die
zur Berichterstattung an die Front geschickt wurden oder Militärparaden, jubelnde
16 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 7517 Seidel-Dreffke, Björn, Die Geschichte der deutschen Wochenschauen18 vgl. Laser,Kurt, Zentrum der Filmpropaganda, In: Berlinische Monatsschrift 4/2000, S. 49-5719 vgl. ebd. S. S. 5520 vgl. Seidel-Dreffke, Björn, Die Geschichte der deutschen Wochenschauen21 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 8722 vgl. Seidel-Dreffke, Björn, Die Geschichte der deutschen Wochenschauen
7
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Menschen und natürlich den Kaiser abbilden mussten.
Es gab noch weitere Organisationen wie die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft (DLG),
gegründet 1916 mit Unterstützung von Vertretern der deutschen Schwerindustrie,23 deren
Ziel es war, die deutschen und vor allem die eigenen wirtschaftlichen Interessen im In-
und Ausland zu stärken und zu bewahren. Die DLG stand in Konkurrenz zur BuFa,
obwohl sie ähnliche Interessen verfolgte. 1927 wurden beide in die 1917 gegründete
Universal Film Aktiengesellschaft (Ufa) eingegliedert.24
Je länger der Krieg andauerte, umso mehr Lichtspielhäuser wurden eröffnet und boten mit
ihrem übertriebenen Luxus einen Zufluchtsort vor der trostlosen und aussichtslosen
Realität. Im April 1914 gab es in Berlin 195 Kinos, zu Ende des ersten Weltkrieges
(November 1918) waren es bereits 312.25
Auch in den anderen beteiligten Ländern des zweiten Weltkrieges wurden ähnliche
Propagandafilme gedreht und auch dort wurde auf Tote meistens verzichtet. Als 1915
Bilder von toten französischen Soldaten gezeigt werden, hielt „ein Kritiker des Londoner
Dispatch […] sie zur Vorführung für ungeeignet.“26 Für die Anwerbung neuer Rekruten
sollten vornehmlich die heiteren und angenehmen Seiten für die Soldaten in dem Krieg
gezeigt werden.
Doch schon ein Jahr später kam in Groß-Britannien der Dokumentarfilm The Battle Of
Somme in die Kinos, der diese Zurückhaltung ablegte. Dieser Film zeigte chronologisch
die gesamte Schlacht, von den Vorbereitungen bis zu den natürlich auch in diesem Film
nicht fehlenden fröhlichen und siegreichen eigenen Soldaten nach Ende der Schlacht.
Doch erstmals wurden auch gezielt tote Soldaten gezeigt. Aber auch dieser Film kam
nicht ohne gestellte Szenen (re-enactments) aus. Der Angriff der englischen Soldaten
wurde erwiesenermaßen nachgestellt.27 Der Historiker Roger Smither hält diesen
inszenierten Propagandafilm des britischen War Office trotz der nachgestellten Szenen für
einen dokumentarischen Kriegsfilm von historischer Qualität.28
Nach Martin Loiperdinger kann auf die Frage nach dem ersten Dokumentarfilm, wenn
überhaupt, nur The battle of the somme genannt werden.
In der Sowjetunion wurden Dokumentarfilme während der Revolution ebenfalls zu
Propagandazwecken eingesetzt, um die Vorzüge der Revolution zu preisen. Doch danach
23 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 8924 vgl. Laser,Kurt, Zentrum der Filmpropaganda, In: Berlinische Monatsschrift 4/2000, S. S. 5725 vgl. Kreimeier, Klaus, Die Ufa-Story, S. 4426 Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 7627 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 7828 vgl. ebd. S. 78
8
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
mangelte es an Filmmaterial, so wie generell in weiten Teilen der Wirtschaft Mangel
herrschte, so dass die „Chronisten gezwungen [waren], mit aufwendigen
Montagetechniken und schnellen Schnittfolgen die reinen Dokumentationen mit bewusst
eingesetzten künstlerischen Mitteln aufzuwerten.“29
Ab 1922 leitete Dsiga Wertow die Produktion der Kino-Pradwas (Kinowahrheiten) in der
Sowjetunion, Monatsrückschauen ähnlich den Wochenschauen, jedoch „über den reinen
Informationszweck […] hinausgehend montiert […] zu einem umfassenden
publizistischen Blick auf den zurückliegenden Monat.“30
1923 veröffentlichte Wertow sein Manifest Kinooki (Kinoauge oder Filmauge), indem er
forderte, „die Vergewaltigung der Kamera“31 zu stoppen. Die Kamera sollte nicht mehr das
menschliche Auge kopieren, sondern dessen Schwächen an den Tag bringen. Wertow
entwickelte das Prinzip, augenscheinlich (im wahrsten Sinne) nicht zusammengehörige
Bilder hintereinander zu montieren und erst das Gehirn des Betrachters die
Zusammenhänge herstellen zu lassen.32
Wertows Manifest hatte Einfluß auf viele Filmemacher auf der ganzen Welt. In der
Weimarer Republik ließ z.B. Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927) von Walter
Ruttmann, teilweise mit versteckter Kamera gedreht, den Einfluss Wertows und auch
Eisensteins erkennen. Später ließ sich Leni Riefenstahl von Ruttmanns Film beeinflussen
und engagierte ihn.33
In den USA dominierten zur damaligen Zeit klischeehaftige Reisefilme und kurze Filme
über ein aktuelles Thema (Interest-Filme).34
In Groß-Britannien waren Dokumentarfilme „als soziale Institution mit der Funktion eines
informationspolitschen Mediums“35 weit verbreitet. Merson z.B. sah den dokumentarischen
Film als ein „Mittel der Industriegesellschaft, die Staatsbürger aufzuklären und zu
erziehen.“36
In Frankreich dominierten deutsche und amerikanische Produktionen den
Filmmarkt,Italiens Filmindustrie hatte noch unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges
zu leiden.
29 AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms30 35 Millimeter – Texte zur internationalen Filmkunst, Kino-Glas (Film-Auge)31 ebd.32 vgl. ebd.33 vgl. Deutsches Filminstitut, Biografie Walther Ruttmann34 vgl. AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms35 35 Millimeter, Kino-Glas (Film-Auge)36 ebd.
9
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
1.4 Der beschreibende Dokumentarfilm, der Agitpropfilm und die Essays
In dem Film Birth of a Nation (USA, 1915), aufgrund seine rassistischen Inhalte stark
kritisiert, entwickelt David W. Griffith die durch "die Schule von Brighton und anderen
europäischen Filmemachern"37 entdeckten Mittel der Filmmontage weiter und schaffte so
die noch heute gängigen Grundregeln des "szenischen Aufbaus von Filmen"38 (Continuity-
System).
Die Verwendung von Montage, Bildkomposition, Auslassungen, Dramatisierungen, etc. als
Mittel des Erzählens fand auch im Dokumentarfilm im immer mehr Verwendung. Es wurde
nicht mehr versucht, vorrangig die Realität möglichst objektiv wiederzugeben, oder es
zumindest so aussehen zu lassen, sondern „die Realität ergab sich daraus, dass der
beschreibende Dokumentarfilm seinen ’Objekten’ ein Forum gibt, sie vertritt und zu Wort
kommen lässt.“39
Einer der ersten beschreibenden Dokumentarfilme Robert Flahertys Film Nanook of the
North (1922, USA), gedreht mit einer für die damalige Zeit relativ handlichen Newman-
Sinclair-Kamera, mit dem er weltweit für Aufsehen sorgte. In diesem Film setzte er die
später verpönte (und trotzdem damals wie heute häufig angewandte) Inszenierung vor der
Kamera ein, z.B. passte seine Filmausrüstung nicht in einen Iglu, so ließ er einen halben
Iglu bauen. Aus bildästhetischen Gründen durften die Inuit nicht mit dem Gewehr jagen,
obwohl dies längst ihre gewohnte Jagdweise darstellte.40
Während in Flahertys Filmen dem Zuschauer die Inszenierungen noch verheimlicht
wurden, forderten die Anhänger des Agitpropfilms (ein Kunstwort aus Agitation und
Propaganda) in Erkenntnis der Tatsache, dass die Realität nicht objektiv wiedergegeben,
sondern nur interpretiert werden kann, den Dokumentarfilm (und auch den Spielfilm) als
einzusetzen zur Schaffung einer neuen Wirklichkeit, als Mittel der politischen Aufklärung.
Der Agitpropfilm sollte den Zuschauer von einem Standpunkt oder einer Anschauung
überzeugen, verheimlicht diesen Anspruch aber nicht und ist somit „allemal ehrlicher als
ein seriös verpackter, vorgeblich objektiver Dokumentarfilm, der seinen Standpunkt
verleugnet.“41 Durch die „pointierte Montage der Dokumente“42, z.B. eine Aussage durch
37 35 Milimeter, Filminfo - Geburt einer Nation38 ebd.39 AFK, Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay40 Wikipedia.de, Dokumentarfilm41 AFK, Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay42 ebd.
10
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Gegeneinanderstellung von, einzeln betrachtet unabhängigen Bilder auszudrücken, ist ein
Agitpropfilm gut von beschreibenden Dokumentarfilmen zu unterscheiden.
Im Deutschen Reich stellte der Agitpropfilm anfangs ein Gegengewicht der politischen
Linken zu den propagandistischen Wochenschauen von Staat und Wirtschaft dar, nach
dem Krieg tendierten die Wochenschauen zur aktuellen Berichterstattung über Kultur,
Sport, Politik, Unterhaltung und Wirtschaft.43 Der Agitpropfilm blieb ein Propagandamittel
der Linken. In der Sowjetunion wurde der Agitpropfilm zur Unterstützung und Verbreitung
der sozialistischen Ideologie verwendet.
Die meisten Wochenschauen (z.B. Messter-Woche, Deulig-Woche und später Ufa-
Woche) wurden von der Ufa produziert, die seit ihrer Gründung zahlreiche Konkurrenten
übernommen hatte und über die gesamte Produktionskette von der Aufnahme bis zu
eigenen Kinos verfügte. Aber es gab auch Versuche die Vormachstellung der politisch
eher rechtsnational dominierten Ufa zu brechen, z.B. durch die SPD-nahe Emelka-Woche
der Prometheus Film-Verleih und Vertriebs Gesellschaft und der ebenfalls dem linken
Spektrum zuzurechnenden, auf Dokumentarfilm spezialisierten Weltfilm GmbH.44
Neben dem Agitpropfilmen gab es noch die Essayfilme (z.B. Kinoglas, Wertow 1923,
Sowjetunion). Diese Filme transportierten auch ein Thema und wollten den Zuschauer
überzeugen, doch sie nutzten nicht mehr nur „konventionelle Dokumente
(Filmausschnitte, Gesprächsfetzen Landschaftsaufnahmen, Fotografien o.a.)“45 sondern
setzten verstärkt auf subjektive Darstellung, versuchten Gedanken und Gefühle zu
visualisieren.
„Charakteristisch für den Essayfilm ist neben der eher assoziativen Verarbeitung von
Thema oder Idee ein hohes Maß an Ästhetik und Formenbewusstsein.“46
Bekannte Vertreter sind z.B. der Niederläner Joris Ivens (The Spanish Earth, 1937), oder
später der fränzösisch-schweizerische Regisseur Jean-Luc Godard (Die Geschichte der
Nana S., 1962) und die Westdeutschen Harun Farocki (Zwischen zwei Kriegen, 1978) und
Hartmut Bitomsky mit seinem dreiteiligen Filmprojekt Deutsche Trilogie von (1984-89).
43 vgl. Seidel-Dreffke, Björn, Die Geschichte der deutschen Wochenschauen44 vgl. Wikipedia.de, Prometheus Film45 AFK, Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay46 AFK, Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay
11
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
1.5 Die Einführung des Tonfilms
Eine entscheidende Entwicklung stellte die Einführung des Tonfilms dar. Erste Versuche,
bewegte Bilder und Ton zu synchronisieren, fanden bereits 1877 durch den Briten W.
Donnisthorpe und 1900 durch US-Amerikaner Thomas Edison statt, doch erst 1922 stellte
der Pole Józef Tykocinski-Tykociner das auch heute noch in ähnlicher Form eingesetzte
Lichttonverfahren der Öffentlichkeit vor.47 Obwohl Lee de Forest (USA) schon 1923 die
ersten kommerziellen Tonfilme vertrieb, dauerte es noch bis 1927, bis der erste
abendfüllende Tonfilm seine Premiere feierte (The Jazz Singer, USA 1927) und noch drei
weitere Jahre, bis der Stummfilm endgültig verdrängt wurde.
In der Sowjetunion wurden mangels ausreichenden Tonfilmmaterials noch bis 1935 viele
Stummfilme produziert.48 Seit 1930 boten sich auch für die deutschen Wochenschauen
durch Kommentare, Musik und Geräusche völlig neue Möglichkeiten. Wobei der Film
niemals wirklich stumm war, vor Einführung des Tonfilms begleiteten Musiker die
Aufführungen, teilweise wurden Sprecher zur weiteren Erläuterung eingesetzt, oder die
Zuschauer erklärten sich gegenseitig das Geschehen.
Da die Filmindustrie das schnell wachsende Interesse an Tonfilmen nicht ausreichend
stillen konnte, wurden auch viele Stummfilme aus den Jahren 1928 bis 1929 nachträglich
vertont.49
Doch durch den Tonfilm ergab sich das Problem, dass nun zusätzlich zu den immer noch
relativ unhandlichen Filmkameras auch noch schweres und noch unausgereiftes Ton-
Equipment bedient werden musste. Die Protagonisten mussten sich um das Mikrophon
herum aufstellen und sehr direkt hineinsprechen.
Die um 1925 in der Weimarer Republik stattgefundene Befreiung der „Kamera vom
Stativ“50, wurde durch die Montage der Kamera auf Rädern wieder eingeschränkt.
Außerdem waren die Kameras sehr laut, weshalb sie in schallgedämpfte Kästen
eingebaut wurden, was aber wiederum zu großen und schlecht zu bewegenden Kameras
führte, und so die Fortschritte, z.B. durch die Einführung kleinerer 16-Millimeter-Kameras
(um 1923), wieder reduzierte.
Um das Team und vor allem das technische Equipment nicht noch aufdringlicher
erscheinen zu lassen, wurde daher wurde oft auf „die Lastwagen mit den
Tonausrüstungen [verzichtet, um die] intime Atmosphäre, die der Dokumentarist zwischen
47 vgl. Wikipedia.de, Tonfilm48 vgl. 35 Millimeter, Tonfilm in der Sowjetunion49 vgl. MSN Encarta50 ebd.
12
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
sich und seinem Gegenüber zu schaffen bemüht war“51, nicht noch mehr zu stören und
somit die Szenerie über Maß zu beeinflussen.
Musik, Geräusche und Kommentare wurden erst nachträglich unter den Film gelegt.
Besonders britische Dokumentarfilmer zeigten sich dabei äußerst phantasievoll und oft
experimentierfreudiger als ihre Spielfilmkollegen.52
1.6 Der Dokumentarfilm während des zweiten Weltkrieges
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erreichte die Staatspropaganda zuvor nie
gekannte Ausmaße. Davon war auch der Dokumentarfilm stark betroffen, gerade die
Wochenschauen wurden wieder zu einem Hauptpropagandainstrument des Staates,
informierende oder gar kritische Werke wurden verboten. Die während der Weimarer
Republik weitestgehend abgeschaffte Vorzensur wurde wieder eingeführt und ab 1938
wurden alle Kinobetreiber zwangsverpflichtet, die Wochenschauen, die bereits fast ganz
unter der Kontrolle der NSDAP standen, aufzuführen. Unterhaltsame Auflockerung der
Wochenschauen wurde verboten. Ab 1940 stand die Wochenschauproduktion vollständig
unter der Aufsicht der NSDAP und alle bisherigen Wochenschauen wurden zur Die
deutsche Wochenschau zusammengeschlossen.
Bis Kriegsende entstanden zusätzlich zu den üblichen Kinos zehn so genannte
Aktualitäten-Kinos, die nichts anderes aufführten als Die deutsche Wochenschau mit bis
zu zwölf einstündigen Vorführungen pro Tag.
Um ihre Ideologie auch im Ausland zu verbreiten, wurde die Auslandstonwoche (ATW) in
bis zu 18 verschiedenen Sprachversionen produziert und in 37 verschiedene Länder
exportiert.53
Der Sprecher der Wochenschauen, Harry Giese, war in gleicher Funktion auch für den
antisemitischen Propagandadokumentarfilm Der ewige Jude verantwortlich.
Der Kompilationsfilm Jugend der Welt (1936) von Carl Junghans, ein Zusammenschnitt
von Wochenschaumaterial von über 50 Kameramännern, gewann 1936 den Preis als
bester ausländischer Dokumentarfilm beim Filmfestival in Venedig. Allerdings konnte sich
Jungshans, "der als politisch links stehend galt"54, nicht gegen seine Hauptkonkurrentin
um Staatsaufträge, Leni Riefenstahl, durchsetzen.55
51 Reisz, Karel, Millar, Gavin, Geschichte und Technik der Filmmontage, S. 11452 vgl. ebd. S. 11453 vgl. Seidel-Dreffke, Björn, Die Geschichte der deutschen Wochenschauen54 vgl. Von Keitz, Ursula & Hoffmann, Kai (Hrsg.), Die Einübung des dokumentarischen Blicks, S. 18455 vgl. ebd. S. 184
13
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Für die meisten und ab 1942 für alle Filmproduktionen fiktionaler wie auch nicht-fiktionaler
Filme, wobei letztere wesentlich mehr produziert wurden56, war die Ufa verantwortlich,
auch für einen der berühmtesten und aufwändigsten der damaligen Zeit, den
Dokumentarfilm Triumph des Willens (1934) von Leni Riefenstahl. In diesem Film wurde
nicht bloß der Reichsparteitag in Nürnberg "dokumentiert, sondern stilisiert [und]
emotional und verherrlichend inszeniert"57.
Neben Lobpreisungen der nationalsozialistischen Rassenideologie und den späteren
Durchhalteparolen dominierten Filme über die NSDAP und ihre Organisationen zur
Stärkung der ‚Volksgemeinschaft’ und zur 'Aufopferung' für die nationalsozialistische
Überzeugung, antisemitische, antibritische, antikommunistische und antirussische Filme
sowie Filme zur Euthanasie (z.B. Erbkrank, 1936).58 Dazu kommen noch Natur- und
Tierfilme, die aber nach Meinung einiger Historiker letztendlich meistens auch nur als
Lobpreisungen auf die Herrenrasse anzusehen sind. 59
Auch auf Seiten der Alliierten wurden zahlreiche Filme rund um den Krieg produziert, um
die Bereitschaft der Bevölkerung zu erhalten, in den Krieg einzusteigen, oder um die
Moral der Truppe aufrecht zu erhalten. Ausserdem gab es Propagandafilme gegen den
jeweiligen Kriegsgegner (z.B. antijapanische Filme in den USA).
Während des Krieges produzierten viele Regisseure, die heute vornehmlich für ihre
Spielfilme bekannt sind, Dokumentarfilme. Oftmals thematisierten sie den Krieg direkt, wie
z.B. der Westernregisseur John Ford oder wie John Hudson und Franz Capra (Prelude To
War, 1943 und The Nazi Strike, 1943).60
Auch nach dem Krieg war der Dokumentarfilm ein Übungsgebiet für später berühmte
Spielfilmregisseure wie z. B. Stanley Kubrick (Flying Padre und Day Of The Fight, 1951).
1.7 Die Einführung des Farbfilms
Die ersten farbigen Bilder waren per Hand koloriert oder einfarbig eingefärbt (viragiert,
z.B. Blau für Nacht, Rot für Gefahr, etc.), doch bereits im Jahre 1909 wurde in New York
der erste Farbfilm aufgeführt. Dieser Film wurde abwechselnd durch einen roten oder
grünen Filter belichtet, später wurden 2 Filme gleichzeitig belichtet und zum Abspielen
übereinander gelegt. 1917 wurde in den USA das Technicolor-Verfahren vorgestellt,
56 Wikipedia.de, Dokumentarfilm57 Grün, Leopold, Fragmente über den Deutschen Dokumentarfilm58 vgl. Kleinhans, Bernd, Propaganda im Film des Dritten Reichs59 Rother, Hans-Jörg, In: Der Tagesspiegel online vom 10.08.2006, Poesie, Politik und Propaganda60 vgl. AFK, Fliegende Pfarrer und Hollywood im Krieg
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
welches wie auch das Kinemacolor-Verfahren zunächst nur zweifarbig abbilden konnte,
ab 1932 wurden drei Filmstreifen belichtet (je einer für Rot, Gelb und Blau). In Groß-
Brittannien entwickelte Bela Gaspar 1932 das Gasparcolor-Verfahren, bei dem drei
Emulsionsbeschichtungen auf den Filmträger aufgetragen wurden. Auch Kodak
entwickelte ein ähnliches System, welches sich ab 1950 durchsetze.
In der Weimarer Republik wurde am 10. Dezember 1931 der erste Zweifarbfilm der Ufa,
Bunte Tierwelt uraufgeführt. Man entschied sich für einen Tierfilm, da die Farbqualität für
Menschen als noch nicht ausreichend galt.61
Bei der Ufa setzte sich das Agfcolor-Verfahren durch, welches nur noch einen Film
benötigte. Erste Agfacolor-Dokumentarfilme im weitesten Sinne waren z.B. die Kulturfilme
Bunte Kriechtierwelt o d e r Thüringen (1940).62 Bis Kriegsende drehte die Ufa laut
Wikipedia.de insgesamt nur 11 Farbfilme.63 Daneben gab es noch Farbdokumentarfilme
die direkt vom Propagandaministerium in Auftrag gegeben wurden, z.B. Aufnahmen von
einem "Zigeunerfest in Sachsen-Anhalt" (1938).64 1944 wurde die Farb-Wochenschau
Panorama eingeführt.
Auf Seiten der Alliierten entstanden Farbdokumentationen wie z.B. Die Landung der
Alliierten (John Ford, USA, 1944).65
Auch im Privatgebrauch konnte sich der Farbfilm noch nicht durchsetzen. Er war noch zu
teuer und meistens privilegierten Personen wie Adolf Hitlers Lebenspartnerin Eva Braun
(Das geheime Filmarchiv der Eva Braun, DVD 2004) oder seinem Chefpilot Hans Bauer
vorbehalten (beide drehten mit 16-mm-Kameras).66
Erst in der Nachkriegszeit konnte sich der Farbfilm langsam durchsetzen, nach James
Monaco dauerte es noch bis 1968, bis der Farbfilm zur "nahezu ausschließlichen Norm
bei der kommerziellen Filmherstellung"67 wurde.
1.8 Der Siegeszug des Fernsehens in der Nachkriegszeit
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Filmproduktion in Deutschland von den Siegermächten
kontrolliert. Es entstanden Filme mit dem Ziel die Bevölkerung zu entnazifizieren. Zudem
wurden vermehrt Auftragsfilme für die Industrie oder die Fremdenverkehrsvereine
61 vgl. filmportal.de, Chronik des deutschen Films - 1925 - 193462 vgl. Wikipedia.de, Farbfilm63 vgl. ebd.64 Gorderbauer-Marchner, Gabriele, Das dritte Reich in Farbe 1937 - 194565 vgl. ebd.66 vgl. ebd.67 Monaco, James, Film und neue Medien, S. 61
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
produziert. Dabei mussten die Filmer sich nach den Vorgaben der Auftraggeber richten.
Daneben gab es auch weiter Wochenschauen, ebenfalls durch die Siegermächte
kontrolliert, doch ihre Bedeutung sank mit der immer größeren Verbreitung des
Fernsehens, ein Problem, mit dem auch Disneys Naturfilme wie z.B. Die Wüste lebt (USA,
1950) zu kämpfen hatte.
Das erste regelmäßige Fernsehprogramm weltweit wurde in Deutschland schon 1935
ausgestrahlt. 1936 erreichte das Fernsehen einen ersten Höhepunkt zu den olympischen
Spielen in Berlin, doch es gab nur öffentliche Fernsehstuben in Berlin und später in
Hamburg, und das Fernsehen konnte sich noch nicht gegen das Radio durchsetzen. 1944
wurde die Fernsehausstrahlung eingestellt und erst am 25. Dezember 1952 wieder
aufgenommen. 1953, mit der Krönung Elisabeth II., und ein Jahr später mit der
Fußballweltmeisterschaft in Deutschland begann der Siegeszug des Fernsehens, und das
Kinosterben setzte ein. Mit der Einführung des Farbfernsehens in Deutschland 1967
wurde der Vorteil des Kinos, die Farbe, aufgehoben. 1969 wurde der erste Video-
Cassetten-Recorder (VCR) für Privatkonsumenten eingeführt; er beschleunigte den
Siegeszug des Fernsehens abermals, ebenso wie die Einführung des Privatfernsehen in
der BRD 1984. Zwei Jahre später wurde die letzte Wochenschau in der BRD ausgestrahlt.
1.9 Cinéma Vérité, Direct Cinema und Free Cinema
1960 prägte der Franzose Jean Rouch den Begriff des Cinéma Vérité. Diese Filmtheorie-
bewegung ging davon aus, dass die „Kamera und der Kameramann/-frau mit zum
gefilmten Geschehen“68 gehören, und dass den gefilmten Personen die Anwesenheit der
Kamera nicht verheimlicht werden darf.
Rouch erreichte größere Bewegungsfreiheit dadurch, dass er die Kamera vom Stativ
befreite, das erste Mal zwangsweise aufgrund eines defekten Stativs während
Dreharbeiten in Afrika. Doch auch in späteren Produktionen behielt er die Benutzung der
Schulter- bzw. Handkamera bei.
Seit Anfang der 60er Jahre begann er mit möglichst kleinen Teams und selbstgeblimpten
16-mm-Kameras zu drehen. Dank der Entwicklung der Nagra-Tonaufnahmegeräte
(entwickelt 1951) war es erstmals möglich, Originaltonaufnahmen auch an
unzugänglichen Orten zu machen. In der DDR arbeitete Hugo Hermann "erstmals
konsequent mit Originaltönen"69.
68 Movie-College.de, Dokumentarfilm69 Grün, Leopold, Fragmente über den Deutschen Dokumentarfilm
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Die deutsche Firma ARRI entwickelte 1957 ein relativ einfach zu handhabendes Blimp
(schalldichtes Gehäuse) für 35-mm-Kameras.
Auch in den USA (direct cinema oder uncontrolled cinema70) und in Groß-Britannien (free
cinema) entstanden ähnliche Bestrebungen, „dass der Einsatz des Aufnahmeapparats die
Objektivität des tatsächlichen Geschehens, das registriert werden soll, nicht beeinträchtigt
werden dürfe.“71
Der Brite Richard Leacock wollte das Geschehen beobachten und nicht beeinflussen, im
Gegensatz zu den in den 40er und 50er Jahren weit verbreiteten aufklärerischen
Dokumentarfilmen. Auch Leacock war mit der Arbeitsweise der damaligen „mangelnden
Kompaktheit der […] Bild- und Tontechnik“72 und die daraus resultierende feststehende
„Kamera und mühsame Synchronisation von Bild und Ton“ nicht zufrieden. Zusammen mit
Robert Drew und Dan A. Pennebaker entwickelte er „leichte 16-mm-Handkameras und
synchron laufende Tonbandgeräte“.73 Auch den Verzicht auf begleitende oder erklärende
Kommentare teilten diese Filmbewegungen.
Doch auch wenn die Ziele des Cinéma Vérité und des britischen Free Cinema sich
ähnelten, unterschieden sie sich in der Art und Weise, wie sie ihr Ziel erreichen wollten.
Im Gegensatz zu ihren Kollegen des Direct Cinema setzten die Filmer des Cinéma Vérité
Interviews ein.74 Zudem inszenierte Leacock, anders als z.B. Rouch, Bilder oder stellte sie
nach. Dafür sah sich Leacock der Kritik ausgesetzt und rechtfertigte sich damit, dass alles
erlaubt sei, was für den Film wichtig ist. 75
D a s Cinéma Vérité verlor in den Folgejahren an Popularität, auch auf Grund der
Erkenntnis, dass kein Dokumentarfilm wirklich objektiv sein kann. Denn schon die
Auswahl des Autors für bestimmte Bilder bedeutet ein Eingreifen, so die Kritiker.76 Das
Direct Cinema hingegen ist in den USA auch heute noch der vorherrschende Stil des
Dokumentarfilmsl.77
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre entstanden noch einige Filme, die noch
"Elemente der Verité-Fotografie"78 enthielten, z.B. Woodstock (Mike Wadleigh, 1970) oder
70 vgl. Freunde der Deutschen Kinemathek, 40 Jahre Freunde der Deutschen Kinemathek71 Movie-College.de, Dokumentarfilm72 ebd.73 ebd.74 Monaco, James, Film und neue Medien, S. 4675 Movie-College.de, Dokumentarfilm76 vgl. AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms77 Monaco, James, Film und neue Medien, S. 4678 AFK, Ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
die Filme des bundesrepublikanischen Dokumentarfilmers Klaus Wildenhahn, der sich
selbst als "Vertreter der Direct-Cinema-Bewegung"79 sieht und sich auch der Mittel des
Cinéma Vérité bedient.80
Ein weiterer wichtiger westdeutscher Vertreter dieser Zeit ist Peter Nestler, der sich vor
allem mit dem Alltag von Arbeitern und Bauern beschäftigte, doch er bevorzugte nicht die
Handkamera des Direct Cinema, sondern lange, ruhige Einstellungen.81
Weit verbreitet waren diese Alltags- und Porträitfilme auch in Polen, Ungarn, Jugoslawien
und der CSSR.
In den USA wurden verstärkt Dokumentarfilme produziert, die zwar Wildenhahns
"Kriterium für Wahrheit und Würde"82, die moralische und politische "Nähe des Filmenden
zum Gefilmten" teilten, denen jedoch die "Objektivität abkam"83, indem die Autoren selbst
vor die Kamera traten. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Filme von Michael Moore
(Bowling for Columbine, USA 2002).
Seit den 60ern ebenfalls beliebt ist das sogenannte Dokudrama84, in dem nachgespielte
reale Ereignisse und dokumentarische Aufnahmen vermengt werden (z.B. Todesspiel,
1997 von Heinrich Breloer), oder die komplett nachgespielt werden (z.B. Die Manns – Ein
Jahrhundertroman, 2001, Heinrich Breloer).
1.10 Der Dokumentarfilm in der Deutschen Demokratischen Republik
Am 17. Mai 1947 wurde durch die sowjetische Militärführung aus den Resten der Ufa die
Deutsche Film-AG (DEFA) gegründet. Nach Gründung der deutschen demokratischen
Republik (DDR) am 7. Oktober 1949 besaß die DEFA als Volkseigener Betrieb das
Monopol auf sämtliche Filmproduktionen85, womit sich auch die Produktionsbedingungen
mit Einführung des Fernsehens nicht so stark änderten wie in der BRD.
Von 1946 bis 1980 wurde die Wochenschau Der Augenzeuge ausgestrahlt.86 Der
Regisseur der ersten Wochenschau und Gründungsdirektor der DEFA, Kurt Maetzig,
drehte auch den Dokumentarfilm Berlin im Aufbau (1945-46), der den Aufbau der
zerstörten Stadt dokumentiert und eine Kompilation aus Wochenschauaufnahmen und
79 Grün, Leopold, Fragmente über den Deutschen Dokumentarfilm80 vgl. ebd.81 vgl. ebd.82 MediaCulture-Online.de, Klaus Wildenhahn83 ebd.84 vgl. Monaco, James, Film und neue Medien, S. 4885 vgl. Monaco, James, Film und neue Medien, S. 4286 vgl. Defa-Fan.de, DER AUGENZEUGE
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
neu entstandenen Aufnahmen darstel l t .87 1953 wu r den S t ud ios f ü r
populärwissenschaftliche Filme und für Wochenschauen und Dokumentarfilme gegründet.
Bis zum Ende der DEFA durch die Übernahme durch die Treuhandgesellschaft am
01.07.1990 wurden mehr als 2000 Dokumentarfilme und Wochenschauen gedreht.88 Zu
den wichtigsten und bekanntesten Dokumentarfilmern der DDR gehörte Konrad Weiß
( z . B . Dawids Tagebuch, 1980). Ins GUINNESS-Buch schafft es 1985 die
Langzeitbeobachtung Die Kinder von Golzow (nach einer Idee von Karl Gass), die 1961
begonnen wurde und voraussichtlich 2006 enden wird.89
Hauptthema der DEFA-Produktionen waren Antifaschismus und die Lobpreisung des
Sozialismus und der SED.90
1.11 Der Entwicklung des Dokumentarfilms zum Bürgermedium und die Einführung elektronischer Kameras
Zwar werden auch heute noch Dokumentationen auf Film gedreht, aber ähnlich, wie sich
die Einführung des Fernsehen auf die Produktionsbedingungen und das Konsumverhalten
im Dokumentarfilmgenre auswirkte, in dem die Filmemacher immer stärker in
Abhängigkeit zu den Sendern gerieten, änderte auch die Entwicklung von tragbaren
elektronischen Kameras, noch mit externem Recorder (Sony Portapak, 1967), die
Produktionsbedingungen grundlegend. 1983 führte Sony Kameras mit integriertem
Recoder (Betamovie) ein. Es folgten noch zahlreiche andere Videoformate und -systeme,
z.B. das Vertical Helical Scan (VHS), später Video Home System genannt,
Die elektronischen Kameras wurden immer billiger und kleiner und trugen, neben den 8-
MM-Kameras, mit dazu bei, dass der Dokumentarfilm zu einer Art Bürgermedium wurde.
Neben Jugend- und Filmclubs wurden die Offenen Fernsehkänale, Fernsehsender für die
Bürger, zu wichtigen Verbreitungswegen (BRD ab 1984, Österreich ab 1976).
Zur Zeit der Studenten-, Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen erlangten
Dokumentarfilme als Gegenpropaganda zu Staat und Wirtschaft weite Verbreitung, z.B.
From Protest to Resistance (USA 1968) von Saul Landau, Was tun? Ereignisse in Berlin
1968 von Hans Dieter Müller (BRD 1969) oder Macht die Pille frei? (BRD 1970) von Helke
Sander und Sarah Schumann. Themat isch dominier ten u.a. die
Vergangenheitsbewältigung, Hausbesetzungen und Atomkraft. In den Ländern des
87 Cine-Holocaust.de, Berlin im Aufbau88 vgl. Defa-Sternstunden.de, DEFA Geschichte89 vgl. Medienhandbuch.de, Der «Vater der Kinder von Golzow» wird 7090 vgl. Uhlig, Nancy, Deutsche Animation, S. 8
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Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Ostblocks waren kritische Filme i.d.R. nur möglich, wenn sie der politischen Führung
dienten.91
1.12 Von der Einführung des digitalen Videos bis heute
1996 wurde digitales Video (DV) eingeführt, die Kameras wurden abermals kleiner und
billiger, der digitale Bild- und Tonschnitt auf Computern erleichterte professionelles
Arbeiten ebenfalls. Die DVD wurde, wie vorher die VHS-Kassette, zu einem günstigen
und einfach zu erstellenden Distributionsmittel. Erste Abspielgeräte kamen 1996 auf den
Markt, erste Recorder/Brenner 1999.
Das vor einigen Jahren eingeführte hochauflösende Video (z.B. HDV, entwickelt von
Canon, Sony, Sharp und JVC) hat dazu geführt, dass Video-Aufnahmen sich auch
qualitativ weiter dem Film annähern konnten, selbst langjährige Verfechter des Films wie
d a s National Geographics Institut dreht Dokumentationen mittlerweile auf Video
(DVCProHD von Panasonic).92
Heute sind die Dokumentarfilme (oftmals) wieder beobachtender und lassen wieder
verstärkt beide Seiten eines Themas/der Geschichte zu Wort kommen, wie z.B. in Black
Box BRD (1997) von Andreas Veiel.93 Kritik an sozialen Mißständen, Kriegen oder
Großkonzernen sind und waren häufige Themen, aber auch Naturfilme wie z.B. Deep
Blue (2003, Alastair Fothergill, Andy Byatt), der als einer der aufwändigsten und
erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten gilt94, oder Reisefilme werden immer noch
viel produziert.
Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass der Dokumentarfilm wie schon zu Beginn
seiner Entwicklung auch heute noch als politisches wie auch wirtschaftliches
Propagandainstrument benutzt wird. Gerade Bestrebungen der Wirtschaft sind erkennbar,
durch als Reportagen 'getarnte' Imagefilme die Menschen zu beeinflussen95, der Doku-
Soap einzusetzen als ideales Werkzeug, um notwendige oder gewünschte
Veränderungen der Gesellschaft und des Einzelnen (Längere Arbeitszeiten, weniger
Lohn, etc.) den Betroffenen näher zu bringen.96
91 vgl. Grün, Leopold, Fragmente über den Deutschen Dokumentarfilm92 vgl. ICOM Magazine, Panasonic DVCPro-HD for National Geographic Special93 vgl. FAZ.net, Wir brauchen ein Ethos des Dokumentarischen94 vgl. Filmz.de, Deep Blue95 vgl. Kittel, Walter, In: dradio.de, Zweitverwertung fürs Firmen-TV96 vgl. Poranzke, Julio Olmo, Neokonservatisnmus und Doku-Soaps, S. 28ff
20
Julio Olmo Poranzke Geschichte des Dokumentarfilms 05. September 2006
Mittlerweile bietet sich auch das Internet als Vertriebsweg an gerade für kleine
Dokumentarfilmproduktionen, wie das Beispiel dreier Studenten der State University of
New York zeigt. Für ihren Kompilationsdokumentarfilm über die Anschläge am 11.9.2001
investierten sie gerade 2000 Dollar in einen Schnittcomputer und verbreiteten das fertige
Werk über das Internet. Ende Juli 2006 wurde das Video, allein bei Google97 über 10
Millionen Mal angeschaut98, eine Zahl, von der kommerzielle Produktionen oft nur träumen
können.
Auch wenn heute noch keine ernsthaften Dokumentationen mit kleinen Handykameras
gedreht werden, zeigt das neueste Beispiel der Boulevard-Presse, der Bild-Leser-
Reporter99 auf, welche zukünftigen Entwicklungen auch für andere Medien vorstellbar
sind.
97 Video.Google.com, Loose Change 2nd Edition Recut98 vgl. Spiegel Online, Internetfilm über 9/11 bricht alle Rekorde99 vgl. Bild.de, So werden Sie Leser-Reporterbei BILD und Bild.T-Online
21
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