diplomarbeit Österreichische volkspartei analyse …
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DIPL OM ARBE IT
zur Erlangung des akademischen Grades Mag.rer.soc.oec.
im Diplomstudium Sozialwirtschaft an der Johannes Kepler Universität
Linz
Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik
Österreichische Volkspartei – Eine Partei in der Krise?
Eine Analyse der ÖVP sowie ihrer Teilorganisationen
Eingereicht bei Mag.a Dr. in Brigitte Kepplinger
vorgelegt von
Philipp Neubauer
Linz, August 2016
Danksagung Seite I
Danksagung
Zu Beginn dieser Arbeit möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich in der Zeit
des Schreibens dieser Diplomarbeit unterstützt und motiviert haben.
Ohne meine Eltern Roswitha und Engelbert Neubauer würde ich heute diese Danksagung
nicht verfassen, sondern hätte wahrscheinlich in der schwierigen Phase meines Studiums,
geprägt von privaten Schicksschalsschlägen, das Studium ohne Abschluss beendet. Ihrem
Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten sowie ihrer positiven Unterstützung ist es zu
verdanken, dass es nicht soweit gekommen ist und ich meine Motivation wieder gefunden
habe. Daher möchte ich ihnen diese Arbeit im Besonderen widmen.
Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Bruder Christoph sowie meinem Onkel
Johann Huber, die wie meine Eltern, gerade in der Endphase der Fertigstellung dieser
Arbeit, durch intensives Lesen der Arbeit zahlreiche Stunden investiert haben. Ihnen ist es
zu verdanken, dass die vorliegende Arbeit nicht nur die wissenschaftlichen Kriterien
erfüllt, vielmehr auch der deutschen Rechtschreibung und Grammatik sowie einer
wissenschaftlichen Ausdrucksweise entspricht.
Abschließend gilt mein Dank Frau Mag.a Dr.in Brigitte Kepplinger, die sich als sehr
angenehme Diplomarbeitsbetreuerin ausgezeichnet hat und somit auch diesen Abschluss
erst ermöglicht hat. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Eidesstattliche Erklärung Seite II
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplom- bzw. Magisterarbeit
selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und
Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als
solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch
übermittelten Textdokument identisch.
Linz, im August 2016
____________________________
Neubauer Philipp
Seite III
Abstract/Kurzfassung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Entwicklung der Österreichischen
Volkspartei sowie ihrer Teilorganisationen (Bünde). Um die Thematik einordnen zu
können, werden anfangs die wichtigsten Begriffe definiert und die verschiedenen
Parteitypen erklärt und voneinander abgegrenzt. Anschließend wird der Fokus auf die
Volksparteien gerichtet, wobei hier verschiedene Ansätze/Modelle und deren
Charakteristika vorgestellt werden. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Kritik am
Begriff und Konzept Volkspartei. Im Hauptteil der Arbeit wird die Österreichische
Volkspartei (ÖVP) behandelt. Wesentliche Aspekte, die hier bearbeitet werden, sind die
Gründung der ÖVP, die Parteiorganisation, die politische Führung der Partei sowie zum
Abschluss die Wählerschaft der ÖVP. Eine Schlussbetrachtung und Zusammenfassung der
wichtigsten Erkenntnisse runden diese Arbeit ab.
Inhaltsverzeichnis Seite IV
Inhaltsverzeichnis
DANKSAGUNG ...............................................................................................................................................I
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG ......................................................................................................... II
ABSTRACT/KURZFASSUNG.................................................................................................................... III
INHALTSVERZEICHNIS ........................................................................................................................... IV
ABBILDUNGSVERZEICHNIS...................................................................................................................VI
TABELLENVERZEICHNIS ......................................................................................................................VII
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS..............................................................................................................VIII
1. EINLEITUNG ............................................................................................................................................. 1
1.1. RELEVANZ DES THEMAS......................................................................................................................... 2
1.2. FORSCHUNGSMETHODE.......................................................................................................................... 3
1.3. AUFBAU DER ARBEIT.............................................................................................................................. 3
2. BEGRIFF, FUNKTIONEN UND PARTEITYPEN ................................................................................. 4
2.1. DEFINITION DES BEGRIFFS „POLITISCHE PARTEI“ .................................................................................. 4
2.2. FUNKTIONEN VON PARTEIEN .................................................................................................................. 6
3. PARTEITYPEN ........................................................................................................................................ 10
3.1. „CATCH-ALL PARTY“ ............................................................................................................................ 11
3.2. KARTELLPARTEI ................................................................................................................................... 12
3.3. PROFESSIONELLE WÄHLERPARTEIEN.................................................................................................... 14
3.4. PROFESSIONALISIERTE MEDIENKOMMUNIKATIONSPARTEI ................................................................... 15
3.5. ZUSAMMENFASSUNG DER PARTEITYPEN .............................................................................................. 16
4. VOLKSPARTEI........................................................................................................................................ 18
4.1 TYPUS VOLKSPARTEI - ANSÄTZE VON OTTO K IRCHHEIMER UND ALF M INTZEL ................................... 18
4.2. VOLKSPARTEI VERSUS M ITGLIEDERPARTEI.......................................................................................... 22
4.3. DIE MERKMALE DES IDEALTYPUS VOLKSPARTEI................................................................................. 24
4.4. KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM KONZEPT UND BEGRIFF „V OLKSPARTEI“....................... 28
4.3.1. Substitutionskritik ........................................................................................................................ 28
4.3.2. Gesellschaftskritische Analyse..................................................................................................... 31
4.3.3. Entwicklungstypologische Kritik.................................................................................................. 31
Abbildungsverzeichnis Seite V
5. ÖSTERREICHISCHE VOLKSPARTEI ................................................................................................ 36
5.1. PARTEIORGANISATION DER ÖVP.......................................................................................................... 36
5.1.1. Teilorganisationen ....................................................................................................................... 36
5.1.1.1. Österreichischer Wirtschaftsbund............................................................................................. 37
5.1.1.2. Österreichischer Bauernbund ................................................................................................... 37
5.1.1.3. Österreichischer Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenbund (früher: Österreichischer
Arbeiter- und Angestelltenbund)............................................................................................................ 38
5.1.1.4. Junge ÖVP ................................................................................................................................ 40
5.1.1.5. Österreichischer Seniorenbund................................................................................................. 41
5.1.1.6. Frauen in der ÖVP.................................................................................................................... 41
5.1.2. Organisationsstruktur der Partei................................................................................................. 42
5.1.3. Parteiorganisation der ÖVP Fazit ............................................................................................... 50
5.2. POLITISCHE PROGRAMME DER ÖVP..................................................................................................... 52
5.2.1. Der ideologische Konsens - Entstehung ...................................................................................... 55
5.2.2. Der „Neubeginn“ – Entideologisierung ...................................................................................... 56
5.2.3. Politisches Programm der ÖVP - Fazit ....................................................................................... 60
5.3. POLITISCHE FÜHRUNG DER ÖVP .......................................................................................................... 60
5.3.1. Die Zeit als Oppositionspartei unter Alois Mock und die Rückkehr auf die Regierungsbank ..... 64
5.3.2. Neuausrichtung unter Josef Riegler und Erhard Busek............................................................... 66
5.3.3. Impulse zur Wiederherstellung der ÖVP unter Wolfgang Schüssel............................................. 70
5.3.4. Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Michael Spindelegger – die ÖVP in der Krise ........................... 73
5.3.5. Rücktritt Spindeleggers – Neuanfang/Neustart unter Mitterlehner ............................................. 77
5.3.6. Obmänner der ÖVP ..................................................................................................................... 81
5.3.7. Politische Führung der ÖVP Fazit .............................................................................................. 85
5.4. WÄHLERSCHAFT DER ÖVP................................................................................................................... 87
5.4.1. Rückgang des katholisch-ländlichen Bestands ............................................................................ 91
5.4.2. Verlust der Wechselwähler/innen und der Rückgang städtischer Repräsentanz ......................... 95
5.4.3. Rückschlag und steigende Erwartungshaltungen........................................................................ 97
5.4.4. Aufschlüsselung der ÖVP-Wählerschaft bei der Nationalratswahl 2008 nach dem Alter ......... 100
5.4.5. Wählerschaft der ÖVP Fazit ...................................................................................................... 100
6. SCHLUSSBETRACHTUNG.................................................................................................................. 103
7. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................................... 109
Abbildungsverzeichnis Seite VI
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Parteien; Quelle: Parteien und Parteiensystem (2011) .................................... 6
Abbildung 2: Funktionen bzw. Ebenen von Parteien; Quelle: Parteien und Parteiensystem
(2011) .................................................................................................................................... 7
Abbildung 3: Parteimodelle – Stellenwert der Funktionen;
Quelle: Handbuch Parteienforschung (2013) ...................................................................... 17
Abbildung 4: Parteitypen im Vergleich; Quelle: Handbuch Parteienforschung (2013)...... 18
Abbildung 5: Merkmale Volkspartei – Otto Kirchheimer; Quelle: Annäherung an die
Volkspartei (2004)............................................................................................................... 20
Abbildung 6: Merkmale Volkspartei – Alf Mintzel; Quelle: Annäherung an die Volkspartei
(2004) .................................................................................................................................. 21
Abbildung 7: Übersicht Merkmale Volkspartei; Quelle: Annäherung an die Volkspartei
(2004) .................................................................................................................................. 27
Abbildung 8: Einordnung der Parteien (links- rechts Dimension); Quelle: Ideology,
Strategy and Party Change (1987)....................................................................................... 58
Abbildung 9: Landesparteiorganisationen der ÖVP; Quelle: https://www.oevp.at/die-
partei/Oevp-Familie.psp?ref=m1 (Zugriff: 08.08.2016) ..................................................... 62
Abbildung 10: Sozialstruktur der ÖVP-Wähler/innen; Quelle: Schwarz-bunter Vogel.
Studien zu Programm, Politik und Struktur der ÖVP (1985)..............................................90
Abbildung 11: evaluierte Kompetenzen der einzelnen Parteien; Quelle: Parteien auf
komplexen Wählermärkten (1999)...................................................................................... 94
Abbildung 12: Alter der ÖVP-Wählerschaft; Quelle: Wandel und Fortschritt in den
Christdemokratien Europas (2014).................................................................................... 100
Abbildung 13: Umfragewerte; Quelle: http://www.nationalratswahl.at/umfragen.html
(Stand: 10. August 2016)................................................................................................... 103
Abbildung 14: Nationalratswahlen; Quelle: Politik in Österreich (2006)......................... 104
Tabellenverzeichnis Seite VII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: SPÖ-Mitgliederstatistik; Quelle: Parteiengesellschaft im Umbruch (1985) ...... 44
Tabelle 2: ÖVP-Mitglieder-Statistik der Jahre 1968 - 1983; Quelle: Parteiengesellschaft im
Umbruch (1985) .................................................................................................................. 45
Tabelle 3: ÖVP- Mitglieder differenziert nach Bundesländern; Quelle: Parteiengesellschaft
im Umbruch (1985) ............................................................................................................. 46
Tabelle 4: ÖVP-Mitglieder strukturiert nach Teilorganisationen; Quelle:
Parteiengesellschaft im Umbruch (1985) ............................................................................ 46
Tabelle 5: Vergleich der beiden Spitzenkandidaten;
Quelle:http://wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/oesterreich/3893490/Match-zwischen-
SPO-OVP-und-FPO-vollig-offen (Stand: 1. August 2016)................................................. 80
Abkürzungsverzeichnis Seite VIII
Abkürzungsverzeichnis
bzw. beziehungsweise
ca. circa
CDU Christlich Demokratische Union
CSU Christlich Soziale Union
FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs
GS Generalsekretär
JVP Junge Volkspartei
KPÖ Kommunistische Partei Österreichs
ÖAAB Österreichischer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Bund
OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
OÖVP Oberösterreichische Volkspartei
ÖBB Österreichischer Bauernbund
ÖCV Österreichischer Cartellverband
ÖFB ÖVP Frauen
ÖSB Österreichischer Seniorenbund
ÖVP Österreichische Volkspartei
ÖWB Österreichischer Wirtschaftsbund
NÖVP Niederösterreichische Volkspartei
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SPÖ Sozialdemokratische Partei Österreichs
VDU Verband der Unabhängigen
Vgl. vergleiche
z.B.: zum Beispiel
Einleitung Seite 1
1. Einleitung
Die politische Landschaft in Österreich war lange Zeit geprägt von den beiden
Großparteien der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) sowie der
Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder
neu ins Leben gerufen, dominierten diese beiden Parteien lange Zeit das politische
Geschehen in Österreich und waren maßgeblich für die Entwicklung des Landes in der
zweiten Republik mitverantwortlich.
Spätestens Ende der 1980er Jahre Anfang der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts
entwickelte sich die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) als starke dritte Kraft im
politischen Land und die Dominanz der beiden Parteien schwand. Die Zeit der
Wahlniederlagen und der Parteikrisen in den beiden Großparteien SPÖ und ÖVP begann.
Als vorläufiger negativer Höhepunkt können die Nationalratswahlen aus dem Jahr 2008
bzw. 2013 erwähnt werden. Auch die Wahl zum Bundespräsidenten im April 2016 spiegelt
die derzeitige Verfassung der beiden ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP wider.
Keiner der Kandidaten beider Parteien schaffte den Sprung in die Stichwahl. Ein Novum –
seit 1945 wurde der Bundespräsident immer von einer der beiden Großparteien SPÖ oder
ÖVP gestellt. Auch einzelne – mittlerweile aber selten gewordene – Wahlerfolge der
beiden Großparteien können nicht über die Krise dieser Parteien hinwegtäuschen, in der sie
sich schon längere Zeit befinden. Seit geraumer Zeit analysieren Politikexperten/innen
nach Wahlen hauptsächlich die Höhe der Verluste der beiden Parteien.
Wie dramatisch diese negative Entwicklung wirklich ist, zeigt sich, wenn ein genauerer
Blick in die durchaus erfolgreiche Vergangenheit der jeweiligen Partei gemacht wird. Der
Aufstieg der Österreichischen Volkspartei begann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
im April 1945 und erreichte seinen Höhepunkt Mitte der 1960er Jahre mit der
Alleinregierung von 1966-1970 unter Josef Klaus. Der erste Abwärtstrend begann durch
das Aufstreben der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Jörg Haider in den 1980er
Jahren.
Mitgliederschwund, verändertes Wahlverhalten, niedrigere Wahlbeteiligung, altmodische
Parteiorganisation, neue (Bürger)Parteien, politische Unzufriedenheit, Wirtschaftskrise,
Flüchtlingskrise, politische Uneinigkeit in der Regierung in manchen Streitfragen –
Faktoren, die die Talfahrt bei den Nationalratswahlen für die einstigen Großparteien in
Einleitung Seite 2
Österreich SPÖ und ÖVP ausgelöst bzw. verstärkt haben. Wo es Verlierer gibt, gibt es
allerdings auch Gewinner: Die Parteien in der Opposition – FPÖ und die Grünen – sind die
Profiteure der schwachen Performance der beiden Großparteien. Interessant wird sein, wie
beide Großparteien sich bis zur nächsten Nationalratswahl im Jahr 2018 entwickeln.
1.1. Relevanz des Themas
Politik ist immer ein relevantes Thema in unserer Gesellschaft. Gerade in der heutigen
Zeit, in der sich neue Parteien etabliert haben und an Wählerzuspruch gewinnen, die
„alten“ traditionellen größeren (Volks)Parteien sich hingegen in einer Krise befinden und
stetig an Wählerzuspruch verlieren, beinhaltet dieses Thema „Analyse der Entwicklung der
Österreichischen Volkspartei“ viel Brisanz und eine gewisse Herausforderung. Spätestens
nach dem Ergebnis der letzten Nationalratswahl wird über die Zukunft der
Österreichischen Volkspartei mehr denn je in den Medien diskutiert. Die aktuelle Krise der
ÖVP, die sich schleichend mit Ende der schwarz-blau-orangen Koalition im Jahr 2007 und
dem Ende der Ära Schüssel als Obmann und Bundeskanzler entwickelte, fand mit dem
Beginn der großen Koalition unter der Kanzlerschaft der SPÖ ihren Höhepunkt. Die
„politische Lebensdauer“ einiger Obleute an der Spitze der Partei ist/war begrenzt, der
Einfluss einzelner Bünde und einiger Landeshauptleute resultiert mehr denn je in einem
Machtkampf um die Vorherrschaft in der Partei.
Basierend auf dieser Situation ergeben sich folgende Fragestellungen, welche im Rahmen
dieser Diplomarbeit zu beantworten versucht werden bzw. zumindest neue Erkenntnisse
liefern und mögliche Schlussfolgerungen aufzeigen sollen:
1) Welchem Parteimodell kann die ÖVP zugeordnet werden? Ist die ÖVP überhaupt noch
eine Volkspartei?
2) Was sind die Gründe für die zahlreichen Wahlniederlagen/Verluste von
Wählerstimmen der ÖVP bei den letzten Nationalratswahlen? Ist die ÖVP noch eine
„Großpartei“?
3) Ist die Österreichische Volkspartei in ihrer heutigen Form bzw. Organisationsstruktur
(Bünde) noch zeitgemäß? Welchen Stellenwert besitzen die Bünde in der Partei? Ist der
Bundesobmann der ÖVP „das schwächste Glied“ im Machtzirkel der mächtigen
Landeshauptleute und der einflussreichen Teilorganisationen?
Einleitung Seite 3
4) Welche Zukunftsaussichten bzw. welches Zukunftspotential besitzt die Österreichische
Volkspartei? Kann die Partei wieder zu alter (= früherer) Stärke zurückfinden?
1.2. Forschungsmethode
Als Forschungsmethode wird die Literaturrecherche verwendet. Zahlreiche Artikel und
Bücher zum Thema „Volkspartei“ wurden von namhaften deutschsprachigen
Politikwissenschaftlern sowie von den politischen Akademien der jeweiligen Partei
verfasst und zur Verfügung gestellt. Weiters beschäftigen sich Zeitschriften und Zeitungen
immer wieder mit politisch relevanten Themen und analysieren die Parteienlandschaft in
Österreich. Auch diese Medien werden für die vorliegende Arbeit – soweit sie den
wissenschaftlichen Kriterien entsprechen – berücksichtigt.
Als Hauptwerke für die begriffliche Definition sowie die Aufzählung und Analyse der
verschiedenen Parteimodelle wurden zahlreiche Bücher von Bernd Hofmann, Otto
Kirchheimer, Klaus von Beyme, Klaus Detterbeck, Elmar Wiesendahl sowie Uwe Jun und
Oskar Niedermayer herangezogen. Die Entwicklung bzw. Analyse der ÖVP wird in
Büchern ehemaliger Politiker/innen, Politikwissenschaftlern/innen und zahlreicher Artikel
in Fachzeitschriften sowie den politischen Akademien der Partei beschrieben.
Statistiken, aktuelle Zahlen und Medienberichte wie auch Grafiken und Abbildungen
sollen die gewonnenen Erkenntnisse belegen. Abgerundet wird die Forschungsmethode
durch eine Internetrecherche der Parteihomepage sowie durch Informationen der einzelnen
Homepages von den Institutionen der Partei.
1.3. Aufbau der Arbeit
Wie bereits erwähnt, versucht diese Diplomarbeit einen Überblick über die Entwicklung
der ÖVP zu geben. Verschiedene Definitionen, um die Thematik der Arbeit verstehen zu
können, werden zu Beginn der Arbeit erklärt. Funktionen sowie die unterschiedlichen
Parteimodelle werden in den nächsten beiden Kapiteln beschrieben. Das vierte Kapitel
trägt den Titel „Volkspartei“ und skizziert die unterschiedlichen Kennzeichen und
Merkmale einer Volkspartei. Den Abschluss des vierten Kapitels bilden eine Kritik am
Konzept und Begriff des Volksparteitypus sowie eine kurze Aufzählung der zentralen
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 4
Aspekte. Der Hauptteil der Arbeit analysiert die Österreichische Volkspartei (ÖVP).
Beginnend mit ihrer Entstehung/Gründung, über die Parteiorganisation, der politischen
Führung der Partei bis hin zur Wählerschaft der ÖVP dokumentiert diese Arbeit.
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen
2.1. Definition des Begriffs „Politische Partei“
In der Literatur gibt es zahlreiche, allerdings keine einheitliche oder gar abschließende
Definition zum Begriff „politische Partei“. Ursachen dafür sind unterschiedliche normative
Überlegungen und das Fehlen einer generellen Parteientheorie. Von Beyme schreibt, dass
Parteien lange Zeit aus mehreren Gründen ein relativ untheoretisch behandelter Teil des
politischen Systems gewesen sind (vgl. von Beyme 2001a: 315).
Ergänzend dazu erwähnt Bukow die vielfältigen Perspektiven der Parteienforschung,
welche dafür ausschlaggebend sind, dass es zu einer unterschiedlichen Eingrenzung des
Forschungsgegenstandes gekommen ist und das bestehende Parteiverständnis anders
festgelegt ist. Darüber hinaus haben sich die Parteien seit ihrer Gründung organisatorisch
und bezüglich ihrer Eingliederung in das politische System verändert (vgl. Bukow 2013:
45).
Die zahlreichen verschiedenen Definitionen lassen sich in machterwerbsbezogene,
inhaltsbezogene sowie funktionsbezogene Erklärungen gliedern.
So definiert von Beyme Parteien als gesellschaftliche Organisationen, welche bei Wahlen
miteinander in Wettbewerb treten, um einen Anteil an der Macht für sich zu generieren
(vgl. von Beyme 1987: 118). Unterstrichen wird diese Definition durch die Aussagen von
Janda und Downs. Janda merkt an, dass es sich dabei um die Vergabe von
Regierungspositionen handelt (vgl. Janda 1980: 3) und Downs schreibt, dass das Erreichen
dieser Zielsetzung auf legale Weise erfolgen soll (vgl. Downs 1957: 24).
Inhaltliche Parteidefinitionen erläutern Parteien als Vereinigung gleichgesinnter Bürger,
die sich die Umsetzung gemeinsamer politischer Ansichten zum Ziel gemacht haben.
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 5
Decker kennzeichnet die Parteien anhand von drei Begriffsmerkmalen:
- fest gefügter (organisierter) Personenverband
- verfolgen von gemeinsamen politischen Sichtweisen sowie Interessen
- Ziel ist die Erlangung von Regierungsmacht bzw. die Mitwirkung an der
staatlichen Führung (vgl. Decker 2011: 10).
Jener durchaus exakten Erklärung von Decker kann die Definition von Sartori
gegenübergestellt werden. Diese differenziert sich in der Hinsicht zu sehr vielen anderen in
der wissenschaftlichen Literatur wie beispielsweise Decker, da sie als einfach eingestuft
werden kann. Wichtigstes Merkmal für ihn ist die Möglichkeit zur Teilnahme an freien
oder relativ halbfreien Wahlen. Besitzt eine politische Gruppe die Chance bei Wahlen
Kandidaten für öffentliche Ämter vorzuschlagen, handelt es sich für ihn um eine politische
Partei (vgl. Sartori 1976: 76).
Abschließend soll noch eine funktionsbezogene Erklärung für den Begriff „politische
Partei“ gegeben werden. Diese wurde von Ulrich von Alemann verfasst und ist die
bekannteste funktionsbezogene Parteiendefinition in der deutschen Parteienforschung:
Er sieht Parteien als „auf Dauer angelegte freiwillige Organisationen, die politische
Partizipation für Wähler und Mitglieder anbieten, diese in politische Entscheidungen
transformieren, indem sie politisches Personal selektieren, was wiederum zur politischen
Integration und zur Sozialisation beiträgt und zur Selbstregulation führen kann, um damit
die gesamte Legitimation des politischen Systems zu befördern“ (von Alemann 2010: 11).
Niedermayer versucht, zwei Merkmale aus den unterschiedlichen Parteidefinitionen für
eine „Minimaldefinition“ herauszufiltern: Für ihn bieten sich dabei die Organisiertheit
sowie die Teilnahme an Parlamentswahlen an. Seine Schlussfolgerung lautet: Parteien
können als Organisationen, die an Parlamentswahlen teilnehmen, bezeichnet werden (vgl.
Niedermayer 2013: 65). Steffani charakterisiert Parteien als Herrschaftsinstrumente,
Vermittler demokratischer Berechtigung für verbindliche Entscheidungen sowie als
Interessensgruppen in eigener Sache und als Vermittler politischen Führungspersonals
(vgl. Steffani 1997: 189ff).
Wiesendahl verfasst eine durchaus komplexe Erklärung zum Parteibegriff: „Parteien in
modernen Massendemokratien sind hochkomplexe, ressourcengewisse, organisations- und
handlungsbeschränkte, funktional notwendige und vielseitig brauchbare normative und
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 6
operative Mehrzweckagenturen politischen Machterwerbs, die wandelnden,
multifaktoriellen Umweltbedingungen unterworfen sind, auf die sie selbst flexibel
einzuwirken bemüht sind“ (Wiesendahl 1980: 25).
Die folgende Grafik von Klaus Detterbeck verdeutlicht das vorherige Zitat von Elmar
Wiesendahl in Bezug auf die Definition des Begriffs „Partei“. Er unterscheidet zwischen
einer elektoralen, programmatischen und einer organisatorischen Komponente, die
Bestandteile einer Partei sind.
Abbildung 1: Parteien; Quelle: Parteien und Parteiensystem (2011)
Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, dass es in der Literatur zahlreiche
verschiedene Definitionen für den Begriff „politische Partei“ gibt. Manche
Begriffserklärungen sind sehr komplex und auf den ersten Blick schwierig zu verstehen,
andere wiederum beschränken sich auf das Wesentliche und erklären die politische Partei
in knappen Worten auf einfache Weise. Als Beispiel hierfür sei nochmals auf die
unterschiedlichen Sichtweisen von Decker und Sartori verwiesen.
2.2. Funktionen von Parteien
Basierend auf das im vorigen Abschnitt angeführte Spektrum an Definitionen des Begriffs
„Partei“, werden nachstehend die Funktionen erklärt.
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 7
„Wesentlich von der Funktionserfüllung politischer Parteien hängt es ab, ob und in
welchem Ausmaß politische Herrschaft sowohl effizient als auch repräsentativ gegenüber
Wählerwünschen und Bevölkerungsanliegen ausgeübt wird“ (Wiesendahl 2006b: 21).
Parteien üben ihre Funktion somit auf zwei Ebenen aus: zum einen auf der
parlamentarisch-governmentale Ebene und zum anderen auf der gesellschaftlichen Ebene.
Die einzelnen Funktionen werden auf diese beiden Ebenen eingereiht. Da die Parteien als
gesellschaftliche Akteure tief in den Staatsapparat hinein tätig sind und auf diese Weise
Rückkoppelungseffekte zwischen den zwei Ebenen erzeugen, agieren die Parteien auf
beiden Ebenen. Somit können Parteien als ein wirkungsvolles Merkmal der Demokratie
verstanden werden, die unterstützend für demokratische Werte, Prozesse liefern sollen und
damit die Legitimität eines politischen Systems garantieren (vgl. Jun 2013: 120).
Die Aussagen von Jun werden vom deutschen Politikexperten Klaus Detterbeck bekräftigt.
In seinem Buch „Parteien und Parteiensysteme“ kennzeichnet er die beiden Ebenen auf
denen die Parteien ihre Funktion ausüben. Dies ist in der nachfolgenden Grafik dargestellt.
Abbildung 2: Funktionen bzw. Ebenen von Parteien; Quelle: Parteien und Parteiensystem (2011)
Im Anschluss werden die jeweiligen Funktionen der Grafik kurz erläutert und beschrieben.
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 8
Interessenvertretung
Parteien können als Organisationen betrachtet werden, die sich in einer Gesellschaft
bilden, um bestimmten Interessen und Sichtweisen Bedeutung beizumessen. Verankert in
einem umrissenen sozialen Umfeld, werden für diesen Teil der Gesellschaft politische
Forderungen geäußert. Folglich formulieren Parteien gesellschaftliche Gegensätze, legen
durch die Auswahl bestimmter Themen ihre Sichtweise fest und zeigen politische
Alternativen auf. Daher kann die Interessenvertretung als eine aktive Interpretation der
Parteien betreffend gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die den politischen
Wettbewerb gliedert, verstanden werden (vgl. Detterbeck 2011: 25).
Wiesendahl schreibt, dass Parteien Einzelinteressen zu politisch vertretbaren
Handlungsvorschlägen zusammenfassen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen
miteinander in Verbindung bringen und Kompromisse zwischen völlig unvereinbaren
Positionen formulieren. Besonders zutreffend sind diese Aspekte für Parteien, die eine
hohe Repräsentationsbreite, wie beispielsweise die großen Volksparteien der
Nachkriegszeit, aufweisen (vgl. Wiesendahl 2006b: 16ff).
Zielfindung
Parteien tragen wesentlich zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Durch ihre Wahl- und
Grundsatzprogramme, ihre generelle Weltanschauung und ihr politisches Handeln treten
sie für politische Ziele und Vorstellungen ein. Für Probleme werden Lösungsansätze
verfasst und ihre politischen Standpunkte artikuliert, die primär über Medien und soziale
Netzwerke öffentlich kommuniziert werden und dadurch wesentlich die Meinungsbildung
und Entscheidungsfindung der Bürger mitbestimmen und beeinflussen sollen. Aus einer
größeren Anzahl möglicher Positionen kommt es zu einer Reduktion auf eine
überschaubare Menge an Alternativen zwischen denen ausgewählt und entschieden werden
kann (vgl. Detterbeck 2011: 26).
Mobilisierung
In der Literatur wird zwischen zwei verschiedenen Gruppen differenziert. Einerseits gibt es
eine Gruppe an entschlossenen Stammwählern/innen, die es zu motivieren und
mobilisieren gilt, um sie zu den Wahlurnen zu bewegen (bringing out the vote).
Demgegenüber steht die Gruppe der noch unentschlossenen Wählerschaft. Sind Tradition
und Werte für die erste Gruppe von Relevanz, wird für die zweite (unentschlossene)
2. Begriff, Funktionen und Parteitypen Seite 9
Gruppe primär die aktuelle Ausrichtung der Partei interessant sein. Beide Zielgruppen
gleichermaßen zu erreichen, fällt den Parteien oft schwer (vgl. Saalfeld 2007: 116ff).
Rekrutierung
Parteien sind für die Rekrutierung der politischen Elite von zentraler Bedeutung, da sie die
Selektion der Kandidaten vornehmen, die für eine innerparteiliche Spitzenposition oder ein
öffentliches Amt vorgesehen sind. Es wird somit erheblich von den Parteien beeinflusst,
welche Persönlichkeiten führende politische Ämter im Staat erreichen (vgl. Detterbeck
2011: 27).
Regierungsbildung/Oppositionsarbeit
Als wichtigstes Merkmal von heutigen Parteidemokratien (party government) können die
Vergabe von Regierungsämtern für Parteivertreter und in Verbindung damit die
Ausrichtung der Regierungsarbeit an parteipolitischen Zielsetzungen genannt werden. Die
Opposition nimmt im parlamentarischen Raum die Rolle der Kontroll-Funktion ein.
Weiters kann sie als eine politische Alternative zu der momentanen Regierung gesehen
werden (vgl. Detterbeck 2011: 28).
Policy-Entscheidungen
Durch ihre Dominanz im parlamentarisch-governmentalen Raum sind Parteien wichtige
Teilnehmer bei der politischen Entscheidungsfindung in einzelnen Politikfeldern (policies).
Im Gegensatz zu früher werden heute vermehrt Entscheidungen in
Verhandlungsnetzwerken getroffen. Hierbei sind neben staatlichen Akteuren (Regierung,
Ministerialbürokratie, Parlamente) auch gesellschaftliche Teilnehmer wie beispielsweise
Interessensgruppen, wissenschaftliche Experten/innen, zivilgesellschaftliche
Organisationen anwesend (vgl. Detterbeck 2011: 28f).
Steffani gliedert die Diversität der Handlungsräume und Einflussnahme politischer
Parteien neben den zentralen Ebenen auf vier Sektoren auf:
- „als Ausdruck sozialer Gruppen sowie ideologisch-programmatischer
Vorstellungen und Ziele
- als Instrument der Machtausübung, als Vermittler demokratischer Legitimation
- schließlich als Interessensvertreter in eigener Sache
- sowie Rekrutierungsfeld politischer Führung“ (Steffani 1997: 190)
3. Parteitypen Seite 10
Unterschiedlich gestaltet sich der Funktionskatalog für Parteien zwischen den Autoren
sowohl quantitativ als auch qualitativ. Charakterisieren die Autoren Katz, Beyme oder
Decker nur jeweils vier zentrale Funktionen, so zählt Wiesendahl in einem sehr breiten
Spektrum elf Funktionen auf. Konsens besteht darin, Parteien als multifunktionale
Organisationen anzusehen, welche eine große Bandbreite ausfüllen und versuchen, dieses
Spektrum zu erfüllen. Eine begriffliche vollkommene Einigkeit gibt es unter den Autoren
bei der Funktion „Rekrutierung von Personen für öffentliche und politische Ämter“ (Jun
2013: 121).
Jun schreibt, dass sich zusammenfassend fünf zentrale Funktionen für politische Parteien
in westlichen Demokratien aufzählen lassen, die erneut weiter unterteilt werden können.
- „Wähler- und Rekrutierung des politischen Personals,
- Regierungsbildung/Oppositionsarbeit,
- Responsivität durch Interessenartikulation, -repräsentation und –aggregation,
- Bestimmung von politischen Inhalten (Policy-Funktion) sowie
- Mobilisierung und Integration der Wähler- und Mitgliedschaft.“ (Jun 2013: 123)
Weiters erwähnt er, dass die ersten beiden Funktionen sich vor allem auf die
parlamentarisch-governmentale Ebene ausrichten, die beiden letztgenannten Funktionen
vorwiegend auf die gesellschaftliche bzw. elektorale Ebene zutreffen (vgl. Jun 2013: 123).
3. Parteitypen
Nachdem in den vorangegangenen Seiten Begriffe und Funktionen dargestellt wurden,
wird im nächsten Abschnitt auf die Parteitypen eingegangen.
In der Literatur wird zwischen vier verschiedenen Parteimodellen unterschieden, welche
nachfolgend kurz erläutert werden. Da sich die vorliegende Arbeit mit der Entwicklung
und Analyse der österreichischen Volkspartei beschäftigt und die „catch-all party“ als
Parteimodell den Volksparteien bzw. der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) am
ähnlichsten ist, wird dieser Parteityp am genauesten skizziert. Daher wird in diesem
Abschnitt die „catch-all party“ definiert, ihre Kennzeichen und Entwicklung erläutert,
bevor im nächsten Kapitel Abgrenzungen und Entwicklungsphasen der Volkspartei
beschrieben werden.
3. Parteitypen Seite 11
Für die anderen Modelle wie Kartellpartei, wahlprofessionelle Partei und
professionalisierte Medienkommunikationspartei werden die wichtigsten Aspekte
aufgezeigt. Eine vergleichende Grafik zu den Parteitypen schließt dieses Kapitel ab.
3.1. „catch-all party“
In der Literatur gibt es zahlreiche Definitionen für den Begriff „Volkspartei“. Dieter
Nohlen beschreibt Volksparteien im „Kleinen Lexikon für Politik“ mit den Worten:
„Volkspartei ist eine Selbstbezeichnung von Großparteien wie der SPD, CDU und CSU,
die durch Ausweitung ihrer Wählerbasis nach möglichst vielen Stimmen für strategische
Mehrheiten streben. Ihre politische Rhetorik und werbende Selbstdarstellung stützt sich
dabei auf den Anspruch, schichtübergreifend und weltanschaulich verbindend, breite
Wählerschichten in sich aufzunehmen und in ihrer Interessensvielfalt ausgleichend
vertreten zu wollen“ (Nohlen 2001: 553). Oft werden für den Begriff „Volkspartei“ auch
Synonyme wie „catch-all party“ oder „Allerweltsparteien“ verwendet. Der deutsche
Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer beispielsweise vertritt die Sichtweise, dass eine
„echte Volkspartei“ ihr Hauptaugenmerk in einem stärkeren Ausmaß auf die Wählerschaft
und einen raschen Wahlerfolg lenkt. Gleichzeitig wird der Versuch, die Massen sowohl
geistig als auch moralisch einzugliedern und die tiefere, ideologische Durchdringung
geopfert. (vgl. Kirchheimer 1965: 27).
Elmar Wiesendahl skizziert das Profil einer Volkspartei anhand von vier wesentlichen
Aspekten: Eine Volkspartei
- beinhaltet mehrere politische und weltanschauliche Strömungen
- widerspiegelt die jeweiligen Bevölkerungsschichten einer Gesellschaft
- schafft es, eine Mehrzahl von verschiedenen Interessensgruppen auf einen
gemeinsamen Nenner zu bringen
- agiert realpolitisch so, dass sie klar als Partei der Mitte wahrgenommen wird (vgl.
Wiesendahl 2011: 46).
3. Parteitypen Seite 12
Konträr dazu charakterisiert Kirchheimer in seinem Standardwerk „Volksparteien“ fünf
Merkmale für eine „catch-all party“, wobei einige Punkte kritisch zu betrachten sind:
- Ideologische Aspekte einer Partei werden vernachlässigt – absolute Präferenz
kurzfristiger taktischer Maßnahmen,
- Politiker/innen an der Spitze der Partei werden gestärkt,
- Rolle des einzelnen Mitglieds wird entwertet,
- Entwurf einer Wahlpropaganda, mit dem Ziel, die ganze Bevölkerung damit zu
erreichen - kein Fokus auf eine Wählerschaft auf Klassen- und Konfessionsbasis,
- die Ambition nach Verbindungen zu den unterschiedlichsten Interessensverbänden
(vgl. Kirchheimer 1965: 32).
Außerdem ist für Kirchheimer „die Orientierung an dem tagespolitischen Pragmatismus,
die Entpolitisierung und Personalisierung der Wähleransprache, der umfassende Einsatz
der Marken- und Massenartikelwerbung sowie die Ausarbeitung und Propagierung
wahlwirksamer Allerweltsprogramme“ (Wiesendahl 2011: 59) ein wichtiger Bestandteil.
Größtes Ziel all dieser Aktionen ist es, am Wahltag die größtmögliche Zahl von Wählern
für die Partei gewinnen zu können. Daher sind für Kirchheimer Volksparteien eine von
Politiker/innen dominierte Organisation, deren gesamte Struktur, Programmatik und
Ressourceneinsatz so kalkuliert ist, in sehr kurzer Zeit die größtmögliche Zahl an
Wählerstimmen zu erlangen. Inhaltliche Diskurse, ideologische Positionierungen aber auch
Grundsatzdiskussionen werden nicht beachtet, da sich Volksparteien lediglich mit Themen
der Tagespolitik und unideologischer Programmatik befassen. Es handelt sich um eine
reine Stimmenerwerbspartei, in der dem „vote seeking“ alles untergeordnet wird (vgl.
Kirchheimer 1965: 34).
3.2. Kartellpartei
Nach den Massenparteien, die die Parteienlandschaft in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts dominiert hatten und vorherrschend waren sowie den Allerweltsparteien
(„catch-all party“), die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausgebildet hatten,
wurde durch namhafte Politikwissenschaftler/innen eine weitere Klassifizierung in die
Diskussion der Parteienforschung miteinbezogen: die Kartellparteien (vgl. Buchner 2007:
11).
3. Parteitypen Seite 13
Buchner verweist in seinen Ausführungen auf die beiden Politikwissenschaftler Katz und
Mair, die begründeten, dass diese neue Form der Parteien die „catch-all Parteien“ bzw.
Allerweltsparteien mit der Zeit ablösen würden, da sich die Parteien immer stärker der
staatlichen Spitze zuwendeten und speziell bei der Finanzierung auf Förderungen und
Unterstützungen des Staates angewiesen waren, um ihre Aufgaben umsetzen zu können
und die Organisation aufrecht erhalten zu können (vgl. Buchner 2007: 11).
Als ein wesentliches Charakteristikum der Kartellpartei kann eine professionelle
Parteiführung betrachtet werden, die Politik als ihren Beruf wahrnimmt sowie um ein
effizientes und effektives Management der Partei nach innen und außen bemüht ist. Im
Vordergrund steht weniger der Fokus auf Umsetzung von ideologisch motivierten Zielen,
sondern die Politik als Beruf. Vorrangiges Ziel ist es, soviel „party in public office“
(Parteimitglieder in öffentlichen Ämtern) zu erreichen wie möglich. Der Fokus für die
„Berufspolitiker/innen“ bezieht sich also auf die Absicherung ihrer politischen Karriere.
Verdeutlicht wird dies zum einen dadurch, nicht nur viele Mandate gewinnen zu wollen,
sondern für die Parteigänger in öffentlichen Ämtern, Verwaltungen oder in den Ministerien
als Mitarbeiter von Abgeordneten und Fraktionen einen Arbeitsplatz generieren zu wollen
(vgl. Treibel 2012: 26).
„Die Entwicklung des Modells der Kartellpartei als vorherrschender Parteitypus mit der
Grundidee, Parteien seien Vertreter des Staats, wobei Partei und Staat in einem
symbiotischen Beziehungsgeflecht eng aneinander gerückt sind, ist in der
Parteienforschung alles andere als kritiklos aufgenommen und vielfach empirisch in Frage
gestellt worden.“ (Jun 2013: 135) So kann etwa kritisiert werden, dass das Modell von
Katz und Mair zu staatszentriert ausgerichtet ist. Gleichermaßen wurden von den beiden
Politikexperten die Relevanz der Massenmedien in Bezug auf die Entwicklung der Parteien
zu gering berücksichtigt, da hier ein sehr großer Einfluss der Massenmedien auf Parteien
als politische Organisationen vorliegt (vgl. Jun 2013: 135).
3. Parteitypen Seite 14
Zusammenfassend skizziert Detterbeck folgende, für eine Kartellpartei charakteristische,
Merkmale:
- Hegemonie durch die parlamentarischen Mandatsträger (party in public office) in
der Gesamtpartei,
- weitgehende Trennung zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Partei, die zum
einen den nationalen Eliten und zum anderen den lokalen Parteiführern Autonomie
für ihre jeweiligen Angelegenheiten garantiert,
- Distanzierung vom gesellschaftlichen Fundament der Partei, jedoch Einbeziehung
der historisch nahestehenden Interessenverbände,
- starke Annäherung an den Staat, die sich einerseits in der Finanzierung und
Regulierung von Parteien, andererseits auch in der Konzentration der Parteispitze
auf die Umsetzung staatlicher Aufgaben, insbesondere der Gesetzgebung,
widerspiegelt,
- proportionale Segmentierung staatlicher Rechte unter den etablierten
Mitgliedsparteien des Kartells,
- Ausschluss/Ausgrenzung neuer Parteien, in Form einer geringeren staatlichen
Förderung oder durch die Ablehnung ihrer Regierungstauglichkeit (vgl. Detterbeck
2005: 174f).
Ebenso zitiert Buchner nochmals Detterbeck, der am Ende seiner Analyse schlussfolgert,
dass deutsche Parteien gut mit der Theorie der Kartellpartei harmonieren würden (vgl.
Buchner 2007: 11f).
3.3. Professionelle Wählerparteien
War die Theorie zur Kartellpartei in der Politikwissenschaft umstritten und durchaus
kritisch betrachtet worden, herrscht Einigkeit darüber, dass es in den vergangenen Jahren
eine Entwicklung hin zu professionalisierten Wählerparteien gegeben hat (Vgl. Buchner
2007: 7).
Buchner verweist in seiner Analyse über die Professionelle Wählerpartei auf Panebianco,
welcher zwar Überschneidungen und Ähnlichkeiten mit der Kartellpartei feststellen kann,
jedoch ist der Wettbewerbsgedanke bei der professionellen Wählerpartei stärker
ausgeprägt. Panebianco sieht eine hohe Schwankungsbreite, aufgrund der Einordnung der
Wähler als unbeständiges Wesen (vgl. Buchner 2007: 12).
3. Parteitypen Seite 15
Der Fokus liegt in der Mobilisierung möglicher Wähler anstatt der Integration neuer
Mitglieder. Dominiert wird der Wahlkampf durch den Spitzenkandidaten der Partei und
der Parteiexperten/innen, der Mitgliedschaft wird nur geringe Bedeutung zugemessen. Jun
zufolge ist die Massenmitgliedschaft bei diesem Parteimodell nicht mehr zwingend nötig,
da das politische Handeln großteils durch Berufspolitiker/innen und externe Berater
ausgeübt wird. Ähnlich wie bei der Kartelltheorie von Katz und Mair nehmen
Mandatsträger in öffentlichen Ämtern eine zentrale Rolle innerhalb der Parteiorganisation
ein, allerdings ist die professionalisierte Wählerpartei im Gegensatz zur Kartellpartei issue-
und wähler(interessen)orientiert (vgl. Jun 2013: 136).
Vielhaber schreibt in ihrem Buch, dass Mitglieder wegen ihrer schwindenden Quantität
enorm an Ressourcenbedeutung für die Parteiorganisation eingebüßt haben. Als Gründe
zählt sie die reduzierte Bereitschaft zur Mobilisierung und die kommunikationstechnischen
Entwicklungen auf. Mehr noch, Mitglieder werden gar als unbedeutend, mitunter sogar
störend, für den professionellen und für breite Wählerschichten gedachten Auftritt der
Partei angesehen.
Sie gelangt zu der Schlussfolgerung, dass Mitglieder die inhaltliche Flexibilität der
Parteiführung einschränken und dadurch möglicherweise eine Auswirkung auf die
Machterlangungs- und Machterhaltungsoptionen der Partei haben (vgl. Vielhaber 2015:
89).
Eine Schlussfolgerung für dieses Parteimodell könnte lauten, dass es sich hierbei um eine
Weiterentwicklung von Kirchheimers „catch-all party“ speziell in Bezug auf die
Parteiorganisation handelt (vgl. Buchner 2007: 7).
3.4. Professionalisierte Medienkommunikationspartei
Der Ansatz der professionalisierten Medienkommunikationspartei schließt einen
(prognostizierten) Niedergang der Parteien aus, hebt hingegen die Wandlungsfähigkeit und
das Selbstverständnis als Mitgliederparteien hervor, erklärt allerdings die Epoche der
Massenmitgliedschaft von Parteien für beendet und denkt, dass diese ein Sinnbild der
Vergangenheit sind (vgl. Hornig 2008: 60).
3. Parteitypen Seite 16
„Der Typus entstand in teilweiser Abgrenzung zur Cartel Party (Kartellpartei) und in
Weiterentwicklung zur „catch-all-party“ und der „electoral-professional-party“ und ist zum
einen eine Synthese der verschiedenen genannten Modelle, dabei jedoch das Erfordernis
der Professionalisierung der Parteien insgesamt, der Kommunikation nach innen und außen
in Folge des rasanten Medienwandels und der Etablierung moderner Mediendemokratien
im speziellen, eindeutig in den Vordergrund stellend“ (Jun 2013: 137).
„Er geht davon aus, dass Parteien als Gesinnungsgemeinschaften immer weniger
überlebensfähig sind und postuliert, dass die zurückgehende gesellschaftliche Verankerung
durch Professionalisierung und die Hinwendung zu medialer Kommunikation partiell
substituiert worden ist“ (Jun 2013: 138).
Jun erkennt fünf zentrale Merkmale, die die professionalisierte Mitgliederpartei
charakterisieren:
- Professionelles Kommunikationsmanagement
- Adaption von Themen sowie Personal an die führende Medienlogik
- Ausrichtung an einzelnen Issues anstelle an kohärenten programmatischen und
sinnstiftenden Paradigmen
- Wahrnehmung von entscheidenden Fähigkeiten durch ein strategisches
Machtzentrum
- Verlust bzw. Rückgang des Stellenwerts der aktiven Mitglieder als Ressource (vgl.
Jun 2004: 115)
3.5. Zusammenfassung der Parteitypen
Zahlreichen Untergangsszenarien und vielfältiger Kritik zum Trotz nehmen politische
Parteien weiterhin eine zentrale Position in der politischen Gesellschaft ein. Aufgrund ihrer
Funktionserfüllung unterstützen sie moderne Demokratien maßgeblich und sorgen für
Rechtmäßigkeit und Stabilität. Als zentrale Funktionen können die Rekrutierung des
politischen Personals, Regierungsbildung und Oppositionsarbeit, Verantwortung durch
Interessensartikulation, -repräsentation und –aggregation, Festlegung von politischen
Inhalten und abschließend die Mobilisierung und Integration der Wähler- und
Mitgliedschaft dargelegt werden. Anzumerken ist noch, dass die unterschiedliche
Wahrnehmung der einzelnen Aufgaben von Partei zu Partei modifiziert und auch abhängig
vom historischen Zeitverlauf ist.
3. Parteitypen Seite 17
Egal welches Parteimodell herangezogen wird, die Rekrutierung des politischen Personals
hat oberste Priorität. Ebenso bedeutsam für alle Parteimodelle ist die Regierungsbildung
und Oppositionsarbeit. Unterschiede zwischen den einzelnen Modellen können speziell bei
dem Faktor Interessenartikulation, - aggregation und –repräsentation festgestellt werden.
Auffallend ist jedoch, dass die Mitgliedschaft als zentrale Ressource zunehmend an
Bedeutung verliert. Die beiden nachfolgenden Grafiken sollen noch einmal die
Charakteristika der beschriebenen Parteimodelle bildlich darstellen. Die erste Abbildung
zeigt den Stellenwert der Funktionen der Parteien in Bezug auf den jeweiligen Parteityp
auf.
Abbildung 3: Parteimodelle – Stellenwert der Funktionen;
Quelle: Handbuch Parteienforschung (2013)
Die zweite Abbildung beschäftigt sich mit dem Vergleich der zuvor vorgestellten
Parteimodelle und gibt abschließend einen Überblick über diese.
Seite 18
Abbildung 4: Parteitypen im Vergleich; Quelle: Handbuch Parteienforschung (2013)
4. Volkspartei
Nachdem in den ersten Abschnitten dieser Arbeit eine Definition des Begriffs
„Volkspartei“ gegeben wurde sowie die verschiedenen Parteitypen kurz erläutert wurden,
beschäftigt sich dieses Kapitel nun mit den Merkmalen und Kennzeichen einer
Volkspartei. Die bekannteste Analyse des Volksparteitypus stammt von Otto Kirchheimer.
Diese Analyse wird auch der Schwerpunkt dieser Arbeit sein. Ebenso wird auf die
Analysen des Typus Volkspartei von Alf Mintzel eingegangen. Den Abschluss dieses
Kapitels bildet eine Kritik am Begriff und am Konzept der Volkspartei.
4.1 Typus Volkspartei - Ansätze von Otto Kirchheimer und Alf Mintzel
In der wissenschaftlichen Literatur bezieht sich die Definition des Begriffs Volkspartei
sehr oft auf den Namen Otto Kirchheimer. Sein 1965 erschienenes Buch „Der Wandel des
westeuropäischen Parteiensystems“ wird als die Basis angesehen und war der Wegbereiter,
4. Volkspartei Seite 19
dass dieser Begriff in die wissenschaftliche Analyse aufgenommen wurde (vgl. Hofmann
2004: 51).
So schreibt Sontheimer, dass vor allem innerhalb der Parteienforschung die Entdeckung
bzw. die Einführung eines neuen und dominanten Parteitypus namens Volkspartei Otto
Kirchheimer als große Leistung zugerechnet wurde (vgl. Sontheimer 1989: 186).
In seiner Analyse merkt Hofmann an, dass bei Kirchheimer die Bezeichnung wie auch der
Sprachgebrauch nicht exakt ausgemacht werden können, da Kirchheimer die Ausdrücke
„catch-all party“, „Allerweltspartei“ und „Volkspartei“ – in einigen Fällen auch als „echte
Volkspartei“ tituliert, synonym gebraucht (vgl. Hofmann 2004: 52). „In der Rezeption
setzte sich für die international vergleichende Analyse der Begriff der catch-all-party
durch, während in Deutschland weitgehend parallel die Begriffe Allerweltspartei und
Volkspartei verwendet wurden“ (Hofmann 2004: 52).
Einzelne Autoren stellen aber sowohl inhaltliche als auch definitorische Unterschiede
zwischen den Typenbezeichnungen fest: Beispielsweise erachtet Luthardt die Volkspartei
analytisch als komplexer aufgeschlüsselt und betrachtet diese daher als einen Überbegriff
für Allerweltspartei und „catch-all party“ (vgl. Luthardt 1991: 130).
Mintzel wiederum sieht die beiden deutschen Ausdrücke als unglücklich formuliert, da
zum einen der Begriff Volkspartei als wissenschaftlicher Ausdruck streitbar ist und zum
anderen mit Allerweltspartei eine Bezeichnung gewählt wurde, welche semantisch
betrachtet „einen eher negativ wirkenden Anklang an Beliebigkeit und Austauschbarkeit
suggeriert“ (Hofmann 2004: 53, vgl. Mintzel 1984: 324).
In seinen Ausführungen bezeichnet Alf Mintzel Anthony Downs als den ursprünglichen
Erfinder/Gründer des Volkspartei-Konzepts, zumal Kirchheimer von den Ansätzen bis zu
den Indikatoren des Parteitypus von Downs der „multipolicy party“ aufgenommen und
bloß nur mehr empirische Beispiele hinzugefügt habe (vgl. Mintzel 1984: 66).
Nachfolgend werden nun die wichtigsten Merkmale und Erkenntnisse der beiden
Parteienforscher Otto Kirchheimer und Alf Mintzel vorgestellt. Mittels einer Graphik
werden die jeweiligen Unterschiede nochmals augenscheinlich dargestellt und beschrieben.
4. Volkspartei Seite 20
Abbildung 5: Merkmale Volkspartei – Otto Kirchheimer; Quelle: Annäherung an die Volkspartei (2004)
Unterteilt in verschiedene Bereiche wie Programm, Organisatorische Struktur und
Positionierung in Gesellschaft und politischem Prozess, charakterisiert die abgebildete
Grafik die jeweiligen Merkmale des Volksparteitypus von Otto Kirchheimer. Demzufolge
wird dem Programm in diesem Konzept kein großer Stellenwert zugerechnet und besitzt
nur eine geringe Reichweite. Als „Zielgruppe“ werden alle Bevölkerungsschichten der
Gesellschaft definiert. Das einzelne Mitglied wird vernachlässigt und entwertet –
gleichzeitig erfolgt eine Fokussierung auf die Parteispitze. Die hohe Mitgliederzahl einer
Volkspartei definiert Kirchheimer in seiner Analyse als sozial-heterogen. Außerdem stellt
er eine geringe Bindung und Treue der Mitglieder zur Volkspartei fest, da die Hürde für
einen Wechsel von einer Partei zur nächsten als niedrig eingestuft und somit problemlos
vollzogen werden kann.
Die Strategie ist einfach: Das vorrangige Ziel richtet sich auf das Erreichen möglichst
vieler Stimmen aus, wodurch eine Professionalisierung des Wahlkampfes eintritt, da eine
rigorose Ausrichtung auf die wahlberechtigte Bevölkerung durchgeführt wird. Resultierend
4. Volkspartei Seite 21
daraus besitzt die Volkspartei ein großes, nicht einheitliches Wählersegment mit
Wählern/innen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sowie einen hohen Prozentsatz an
Wechselwähler/innen.
Im Bereich der Positionierung innerhalb der Gesellschaft bzw. im politischen Prozess gilt
es für die Volksparteien zwei vorwiegende Ziele anzustreben: Anpassung und
Abgrenzung. Volksparteien werden versuchen, sich an erfolgreiche Konkurrenten im
Kampf um Wählerstimmen anzupassen – gleichzeitig muss aber auch eine Abgrenzung,
um die eigenen Stellenwerte und Anliegen zu verdeutlichen, erfolgen.
„Primäres Kennzeichen der Volkspartei ist das einer professionalisierten Wählerpartei mit
geringem Stellenwert der individuellen Mitgliedschaft, und sie verfügt somit nur sekundär
über das Kennzeichen einer großen Mitgliedschaft“ (Hofmann 2004: 59).
Dem ausführlich dargestellten Konzept von Otto Kirchheimer wird nun die Studie von Alf
Mintzel, welcher die Organisationsstärke als wesentliches Merkmal der Volksparteien
kennzeichnet, erklärt. Wie in der Grafik ersichtlich, bezieht sich seine Analyse
hauptsächlich auf die beiden Bereiche Organisation und Struktur sowie die Ausrichtung in
der Gesellschaft.
Abbildung 6: Merkmale Volkspartei – Alf Mintzel; Quelle: Annäherung an die Volkspartei (2004)
Mintzel schreibt den Mitgliedern einer Volkspartei zwei wesentliche Aufgaben zu: Zum
einen garantieren die Mitglieder Wählerstimmen, da sie zum Segment der
Kernwähler/innen hinzugerechnet werden können. Darüber hinaus erlangt die Partei durch
4. Volkspartei Seite 22
die Mitglieder eine Bindung/ Beziehung zur Bevölkerung, welche sich durch Zustimmung
und Treue zur Partei und ihren Politikern/innen bei den zu treffenden Beschlüssen äußert
(vgl. Mintzel 1996: 111f).
Hofmann kann in der Analyse des deutschen Parteienforschers Mintzel zwei wesentliche
Merkmale für Volksparteien erkennen: „Zum einen verwendet Mintzel zum Nachweis
einer der Volkspartei adäquaten Organisationsstruktur nicht die absolute Zahl an
Mitgliedern, sondern deren soziale und regionale Strukturierung sowie die
Professionalisierung des Apparats.“ (Hofmann 2004: 73) Hofmann schlussfolgert, dass der
Fokus auf eine flächendeckende Ausrichtung bzw. organisatorisches Vorkommen in
möglichst vielen politischen Gemeinden liegt und daher als ein Kennzeichen für
Volksparteien angeführt werden muss. Resultierend daraus ergibt sich, dass Volksparteien
schon eine Mindestanzahl an Mitgliedern besitzen müssen, jedoch nicht zwingend
Massenparteien sein müssen (vgl. Hofmann 2004: 74).
Die zweite Erkenntnis, welche Mintzel in seiner Volkspartei-Analyse gewonnen hat,
bezieht sich auf den Wahlerfolg. Hierbei beurteilt Mintzel die Wahlerfolge nach ihrer
räumlichen Ausgewogenheit und stellt fest, dass ein „flächendeckend hoher Wahlerfolg,
kaum regionale Differenzen“ (Hofmann 2004: 75) als weiteres Kennzeichen in Bezug auf
die Organisation des Volksparteitypus zu nennen ist.
4.2. Volkspartei versus Mitgliederpartei
Wie Kirchheimer in seinen oben aufgezählten fünf Bestimmungsmerkmalen aufzeigt, stellt
er eine „Entwertung der Rolle des einzelnen Mitglieds“ fest, weil Parteimitglieder nicht
mehr in das moderne Bild einer Allerweltspartei passen.
Untermauert wird diese Aussage durch die Tatsache, dass in Österreich bis 1973
Parteimitglieder vor allem der Finanzierung der Partei dienten. Durch eine Änderung des
Parteienfinanzierungsgesetzes im gleichen Jahr, hat allerdings die Bedeutung abgenommen
(vgl. Sandgruber 2005: 93).
Vom historischen Gesichtspunkt aus betrachtet, waren eingetragene Parteimitglieder früher
nicht nur für die Finanzierung der Partei notwendig, sondern vor allem für die
Wählermobilisierung in Wahlkampfzeiten, damit das volle Wählerpotenzial
flächendeckend und lückenlos aktiviert werden konnte (vgl. Kirchheimer 1965: 65).
4. Volkspartei Seite 23
Daher bauen Volksparteien auf einen breiten Mitgliederstamm, welcher bis auf die Basis
ideologisch geschult und durchorganisiert worden ist. Als klassische Beispiele können
dafür die einzelnen Landesorganisationen der ÖVP sowie der SPÖ bzw.
Gemeindeorganisationen der Parteien angesehen werden (vgl. Pracher 2012: 6).
Eine strategisch wichtige und zentrale Aufgabe kommt den Mitgliedern einer Partei noch
heute zu. In seiner Analyse sieht Wiesendahl in den Mitgliedern den Zugang bzw. die
Verbindung hin zu den Lebensbereichen der Bevölkerungsgruppen einer Gesellschaft.
Darüber hinaus handelt es sich um unentgeltliche Arbeitskräfte. Für Wiesendahl nimmt
daher in Bezug auf das „Direct Campaigning“ und der stärkeren Mobilität der Wähler am
Wählermarkt die Bedeutung der einzelnen Parteimitglieder wieder zu. (vgl. Wiesendahl
2006: 103ff) Außerdem untermauern die Volksparteien mit einem breit aufgestellten
Mitgliederfundament auch das Vorhaben, auf jeder Ebene der Gesellschaft vertreten zu
sein (vgl. Wiesendahl 2011: 66).
Die Literatur zeigt auf, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich seit den 1970er
Jahren Volksparteien mit Mitgliederparteien übereinstimmend sind. Die drei großen
Parteien in Deutschland SPD, CDU und CSU legen diesen Aspekt sowohl auf der
Mitgliederseite, als auch auf der Wählerseite dar. Ähnlich stellt sich die Situation in
Österreich dar. Hier sind ÖVP und SPÖ bis in die 1980er Jahre zum einen
Mitgliederparteien und zum anderen auf der Wählerseite eindeutige Massenparteien (vgl.
Wiesendahl 2011: 68).
Karsten Grabow hat 2009 den Versuch unternommen, darzulegen, dass Mitglieder für
Volksparteien unumgänglich und von großem Wert sind. Dabei hat er den Idealtypus der
„catch-all party“ nach Kirchheimer mit dem Realtypus der „empirischen Erscheinungsform
der Volkspartei“ ersetzt. Die letzt genannte Form weist eine große Anzahl an Mitgliedern
auf, aus denen die historischen Massenintegrationsparteien entstanden sind. In seinem
Versuch verglich Grabow die Parteien der Nachkriegszeit mit jenen
Vorgängerorganisationen, die sich vor dem Naziregime gebildet hatten (vgl. Pracher 2012:
6).
Anzumerken ist noch, dass Kirchheimer in „catch-all partys“ die ideale Plattform für
politisch motivierte Karrieren sieht, da diese ihren Fokus auf den Zugang zu öffentlichen
Ämtern legen (vgl. Kirchheimer 1965: 35).
4. Volkspartei Seite 24
4.3. Die Merkmale des Idealtypus Volkspartei
„In Anbetracht der Diffusion und Selektivität der Kriterien in der alltäglichen und
politischen Verwendung des Begriffs „Volkspartei“, hier als existential types bezeichnet,
zeigt die Analyse der wissenschaftlich-empirischen Anwendung doch ein erhebliches Maß
an Kongruenz der zur Typenkonstruktion herangezogenen Merkmale und
Merkmalsausprägungen“ (Hofmann 2004: 109). Es kann allerdings keine systematische
Aufzählung der Konstruktionsmerkmale durchgeführt werden, da der Typus der
Volkspartei als Idealtypus dargestellt wird. Stattdessen ist eine logisch begründete
Auswahl hinsichtlich der Konstruktionsmerkmale auszuführen, welche dem Kriterium der
Widerspruchsfreiheit folgt, das für idealtypische Konstruktionen maßgebend ist (vgl.
Weber 1988: 200).
Weiters merkt Hofmann in seinen Ausführungen an, dass der Endpunkt von den Parteien
empirisch betrachtet nicht erreicht ist und wahrscheinlich niemals erfasst werden wird. Die
Verwendung des idealtypisch konstruierten Parteimodells befindet sich nicht in der
exakten Beschreibung von Parteien, sondern richtet seinen Fokus auf die Verdeutlichung
ihrer Entwicklungsrichtung. Die Grundlage für diese Analyse bildet die erstmalige
Konstruktion der Volksparteien von Otto Kirchheimer, ergänzt um die Abwandlungen
sowie Weiterentwicklungen, die durch eine empirische Anwendung des
Volksparteiansatzes ersichtlich wurden (vgl. Hofmann 2004: 109).
Demnach charakterisiert sich eine Volkspartei mit folgenden Merkmalen, welche in den
folgenden Absätzen nacheinander kurz zusammengefasst werden:
- Programm
- Organisation und innerparteiliche Struktur
- Positionierung in Gesellschaft und politischem Prozess
Programm
Das Programm der Volkspartei hat primär eine strategische Relevanz und externe Wirkung
als wahlpolitisches Werkzeug, da die Volkspartei das Ziel verfolgt, Wähler/innen von allen
Schichten und sozialen Gruppen der Gesellschaft zu erreichen und für die Partei zu
gewinnen. „Durch die thematische Flexibilität und Heterogenität und die
gruppenübergreifende Wähleransprache wird das Programm unpräzise und unter
4. Volkspartei Seite 25
Umständen widersprüchlich und hat den Charakter eines Formelkompromisses“ (Buchhaas
1981: 33).
Generell besitzt das Programm in einer Volkspartei eine zu vernachlässigende Bedeutung
und hat einen geringen Stellenwert innerhalb der Partei. Kirchheimer schreibt, dass die
Volkspartei ihre Programmatik mehr als ein Instrument in Bezug auf die taktische
Wählerwerbung und weniger als ideologische Selbstvergewisserung der eigenen
Ausrichtung versteht. Somit besitzen die Parteien die Möglichkeit, die Politik hinsichtlich
der taktischen Notwendigkeiten auszurichten (vgl. Kirchheimer 1967: 72). Anders
formuliert bedeutet das: „Die Volkspartei opfert eine tiefere ideologische Durchdringung
für eine weitere Ausstrahlung und einen rascheren Wahlerfolg“ (Kirchheimer 1965: 27).
Ebenso erläutert Hofmann, dass die Volkspartei eine ideologische Argumentation ihres
Standpunktes unterlässt, sich im Gegensatz jedoch entweder auf tagespolitische Aussagen
oder auf politische Zielsetzungen sowie auf strategische Bemerkungen als Gegenpol zu
den politischen Mitbewerbern fokussiert (vgl. Hofmann 2004: 110). Somit wird die
Sichtweise von Hofmann bestätigt.
Organisation und innerparteiliche Struktur
Der Vorzug der Stimmenmaximierung wird beim Typus der Volkspartei nicht nur in der
Programmatik ersichtlich, sondern zeigt sich auch in ihrer innerparteilichen Struktur und
Organisation. Diese Dominanz favorisiert eindeutig eine Wählerorientierung gegenüber
der Mitgliederorientierung. Die Rolle bzw. der Stellenwert des einzelnen Mitglieds ist
daher von geringer Bedeutung – die professionelle Wahlkampfführung steht im
Vordergrund (vgl. Niedermayer 2000: 205f).
„Volksparteien sind elitenzentriert, was mit der zunehmenden Personalisierung des
massenmedialen Wahlkampfs ebenso korrespondiert wie mit der gesellschaftlichen
Hauptfunktion, die diesem Parteitypus eigen ist, nämlich Rekrutierung des politischen
Personals oder der politischen Elite“ (Hofmann 2004: 112).
Innerhalb der Volksparteien existiert ein sichtbares Machtgefälle mit Vorteil für die
Parteiführung, demgegenüber büßt das einzelne Mitglied an Einfluss, Macht und
Stellenwert in der Partei ein. Die Stimmenmaximierung erhält gegenüber der Integration
und Interessenartikulation der Mitglieder den Vorrang. Jedoch lässt sich konstatieren, dass
eine Volkspartei ohne Mitglieder nicht vorstellbar ist. Parteien, welche eine Entwicklung
in Richtung Volksparteitypus anstreben und umsetzen, verringern milieuartige
4. Volkspartei Seite 26
Überrepräsentierungen festgelegter sozialer Gruppen und nähern sich in Bezug auf ihre
sozialstrukturelle Konstitution der Mitglieder und Funktionsträger im
Bevölkerungsdurchschnitt an. Hofmann kommt daher zu der Erkenntnis, dass die
Mitgliedschaft der idealtypischen Volkspartei die Sozialstruktur eines Landes reflektiert
(vgl. Hofmann 2004: 111f).
Positionierung in Gesellschaft und politischem Prozess
Die Wählerschaft der Volkspartei setzt sich zum einen sozialstrukturell und zum anderen
regional indifferent zusammen, folglich weisen Volksparteien keine wesentlichen
Hochburgen auf. Weiters sind die emotionalen und impulsiven Wählerbindungen gering
ausgeprägt, weshalb die Bereitwilligkeit der wahlberechtigten Bevölkerung ebenso einer
anderen Partei die Stimme zu geben, durchaus beträchtlich ist. Ein großer Teil der
Wählerschaft der Volksparteien zählt zum Lager der Wechselwähler, welche bei jeder
Wahl wieder neu überzeugt und gewonnen werden müssen. Es wäre daher
nachvollziehbar, das Attribut des Wahlerfolgs in den Merkmalskatalog für Volksparteien
aufzunehmen (vgl. Hofmann 2004: 114).
So legen sich mehrere Autoren, wie Smith, Lösche und Grabow, auf einen Minimalwert
fest, welcher in der Literatur mit 30 Prozent aller möglichen Stimmen bei einer Wahl
beziffert wird, um als Volkspartei bezeichnet werden zu können. Die Autoren vertreten
aber auch die Ansicht, dass der Wahlerfolg wenig bezüglich der Strategie und den
Zielsetzungen einer Partei vermittelt. Vielmehr kommen sie zu dem Ergebnis, dem
Wahlerfolg kein eigenständiges Gewicht in der Typenkonstruktion zuzurechnen (vgl.
Smith 1990: 157, vgl. Lösche 1995: 183, vgl. Grabow 2000: 23).
Dennoch kann die Kooperationsbeziehung von Volksparteien mit den unterschiedlichsten
in der Gesellschaft vorherrschenden intermediären Institutionen als ein fundamentales
Kennzeichen angeführt werden. Ersichtlich wird diese Offenheit der Volkspartei zu den
einzelnen Organisationen durch die breit gestreuten Parallelmitgliedschaften der einzelnen
Mitglieder der Volkspartei. Wesentliche Charakteristika für eine Volkspartei sind somit
eine thematische Heterogenität. Wie bereits mehrfach erwähnt, kann als Hauptziel der
Volkspartei die Stimmenmaximierung verbunden mit der politischen Erfolgsmaximierung
bei Wahlen genannt werden. Der Fokus liegt auf der Regierungsbildung bzw. zumindest
ein Teil von dieser zu werden und mitregieren zu können. Daher kann als ein weiteres
Merkmal einer Volkspartei die Koalitionsfähigkeit aufgezählt werden. Abschließend ist
4. Volkspartei Seite 27
noch zu erwähnen, dass im Zuge einer Regierungsbildung die Rekrutierung des politischen
Personals nicht nur auf die Spitzenpositionen in Regierungsämtern beschränkt ist, sondern
vielmehr jede öffentliche Position bzw. Amt auf staatlicher oder kommunaler Ebene mit
eingeschlossen ist. Hiermit erlangt die Volkspartei das Image eines halbstaatlichen Akteurs
(vgl. Hofmann 2004: 115). Die gewonnenen Erkenntnisse der vorigen Absätze werden in
der nachfolgenden Abbildung nochmals grafisch dargestellt.
Merkmalskatalog des Idealtypus Volkspartei
Abbildung 7: Übersicht Merkmale Volkspartei; Quelle: Annäherung an die Volkspartei (2004)
4. Volkspartei Seite 28
4.4. Kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept und Begriff „Volkspartei“
Hofmann differenziert drei unterschiedliche Kritikstandpunkte, welche sich aufgrund ihrer
Erscheinungszeit und auch angesichts der Frage der Anwendung des Typus unterteilen
lassen:
Als erstes beginnt er mit jenen Autoren, die sowohl die Verwendung des Begriffs
„Volkspartei“ als auch deren Anwendung des Konzeptes ablehnen, ihm allerdings eigene
Begriffsdefinitionen bzw. neue Typenkonstruktionen gegenüberstellen und den Typus
Volkspartei auf diese Weise ersetzen wollen. Alf Mintzel und Richard Stöss werden
hierbei als typische Vertreter dieser Sichtweise angeführt.
Johannes Agnoli, Wolf-Dieter Narr und Joachim Raschke sind der zweiten Kritik-Ebene
zuzuordnen: Diese Gruppe arbeitet mit dem analytischen Konzept der Volkspartei und
misst dem Konzept auch eine empirische Gewissheit bei den deutschen Parteien bei,
bemängelt aber die Entwicklung in Bezug auf die typologischen und gesellschaftlichen
Aspekte.
Die dritte Gruppe deklariert sich ähnlich wie die zweite Gruppe zum Konzept des
Volksparteitypus, betrachtet diesen jedoch als überholt und meint, dass jenes Konzept
bereits von einem moderneren Typ abgelöst worden ist. Richard Katz und Peter Mair,
Klaus von Beyme sowie Peter Löschen können zu dieser Gruppe gezählt werden (vgl.
Hofmann 2004: 90).
Anschließend werden nun die einzelnen Kritikpunkte am Konzept und Begriff des
Volksparteitypus näher beschrieben. Begonnen wird damit, die Substitutionskritik des
Typus zu erläutern. Danach wird eine gesellschaftskritische Nutzung des Typs gemacht,
bevor im letzten Teil dieses Abschnitts die entwicklungstypologische Kritik behandelt
wird.
4.3.1. Substitutionskritik
Große Übereinstimmung besteht in der Parteienforschung darin, dass der Begriff der
Volkspartei angesichts seiner begrifflichen Vieldeutigkeit äußerst unpassend gewählt ist
(vgl. Alemann 2000: 110). Beyme erwähnt jedoch, dass vorherrschende begriffliche
Alternativen, wie etwa die von Kirchheimer gleichbedeutende verwendete Allerweltspartei
4. Volkspartei Seite 29
und „catch-all Partei“, semantisch betrachtet auch keine größere Klarheit offerieren (vgl.
von Beyme 2001a: 59).
Heftigere Kritik erntet der Begriff Volkspartei von den beiden Autoren Alf Mintzel und
Richard Stöss Anfang der 1980er Jahre. So kritisiert beispielsweise Stöss die semantische
Zusammensetzung des Begriffs als taktische Korrelation von zwei fundamental
widerstrebenden Wortbestandteilen, um ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Partei
und Volk vorzutäuschen. Weiters lokalisieren die Autoren ein Problem hinsichtlich des
Umstands, dass die Volkspartei einerseits als ein wissenschaftlich und politisch lancierter
Ausdruck und andererseits als umgangssprachlich anerkannter Begriff fungiert (vgl. Stöss
1983: 121). „Damit verliere der Begriff „Volkspartei“ die Fähigkeit, als
parteiensoziologische Typusbezeichnung genügend Präzision und Einvernehmlichkeit in
der Konstruktion auszustrahlen“ (Hofmann 2004: 91).
Mintzel bezeichnet den Begriff der Volkspartei sogar als Kampfbegriff, welcher aufgrund
seiner umgangssprachlichen Verwendung als politischer Alltagsbegriff seine Funktion als
wissenschaftlicher Ausdruck mit kürzerer Begriffsgeschichte konkurriert. Für ihn besteht
die Gefahr, dass der Begriff der Volkspartei für die Forschung unannehmbar wird und
meint weiter, dass die Wissenschaft diese Entwicklung nicht auch noch fördern sollte (vgl.
Mintzel 1984: 323).
Zudem wird von Stöss in seinen Analysen konstatiert, dass der funktionale Bestandteil des
Typus, von ihm bezeichnet als „Legitimationseinrichtung staatlicher Herrschaft“ (Stöss
1983: 131), im Begriff „Volkspartei“ nicht ausreichend präzisiert bzw. vorsätzlich
ausgelassen wird (vgl. Stöss 1983: 128).
Daher setzten sich die beiden Autoren Richard Stöss und Alf Mintzel „für die konsequente
Eliminierung des Begriffs „Volkspartei“ aus der sozialwissenschaftlichen Fachsprache“
(Mintzel 1984: 323) ein und diskutieren über die Einführung eines neuen
wissenschaftlichen Terminus namens Massenlegitimationspartei (vgl. Stöss 1983: 157).
Bei eingehender Analyse der wesentlichen Kennzeichen des neu entstandenen Typus im
Sinne von Alf Mintzel und Richard Stöss sowie die empirische Anwendung des Terminus
wird schnell ersichtlich, dass hierbei eine Substitution des Begriffs „Volkspartei“
durchgeführt wurde (vgl. Hofmann 2004: 92). „Umfassende, qualitative oder
konzeptionelle Neuerungen bietet dieser Typus nur dann, wenn der Begriff Volkspartei
4. Volkspartei Seite 30
eben nicht als ein von politisch-polemischen (Selbst)-Zuschreibungen befreiter
parteiensoziologischer, wissenschaftlicher Typus begriffen wird, sondern als
alltagssprachlicher Kampfbegriff“ (Hofmann 2004: 92).
Offenkundig wird dies in jenen Punkten, in denen Stöss die Unterschiede der beiden Typen
– Massenlegitimationspartei und Volkspartei – aufzeigt: der Kontextlosigkeit, der nicht
vorhandenen gesellschaftlichen Verankerung und einer verstärkten Affinität der Parteien.
Die (Demokratische) Massenlegitimationspartei kann somit als Durchschnittstypus bzw.
als eine zusammenfassende Klasse betrachtet werden, denen es in ihrer Entwicklung
durchaus gelungen ist, sich dem Idealtypus Volkspartei anzunähern, allerdings nicht zu
erreichen (vgl. Hofmann 2004: 92).
Ferner erwähnt Alf Mintzel einige weitere Begriffe, welche unterstützend mitwirken
sollen, den Ausdruck „Volkspartei“ aus den Sozialwissenschaften zu verabschieden und
nicht mehr zu gebrauchen:
- die Integrationspartei (Wiesendahl 1980)
- die Dienstleistungspartei (Gottschalch 1976)
- die Staatspartei (Narr 1976) (vgl. Mintzel 1984: 327)
Die größte Hoffnung in Bezug auf eine Neuerung setzt Mintzel aber auf sein in den 1970er
Jahren entwickeltes Konzept der Massen- und Apparatpartei modernen Typs (vgl. Mintzel
1989: 11). Allerdings wird von Mintzel festgehalten, dass er nicht die Zielsetzung verfolgt,
eine neue wissenschaftliche neutrale begriffliche Definition zu erfinden, sondern sein
Fokus auf die Schaffung eines stichhaltigen theoretischen und analytischen Ansatzes bzw.
eines ausreichend abgrenzenden Typus ausgerichtet ist (vgl. Mintzel 1984: 326).
„Die Substitutionskritik, die ihre Hochphase in den 70er und 80er Jahren hatte, produzierte
aus der Kritik an der wissenschaftlichen Verwendbarkeit des Typus Volkspartei heraus
hauptsächlich neue Typusbezeichnungen, aber auch neue Typuskonzeptionen, die jedoch
nah an der der Volkspartei angelehnt waren“ (Hofmann 2004: 94). Erkennbar ist dies
dadurch, dass diese Parteien, die unter dem neuen Typus verallgemeinert wurden, sich als
jene Parteien darstellten, die parallel gleichermaßen als Volksparteien charakterisiert
wurden. Da in den Volksparteikonzepten zahlreiche Überschneidungen und Ähnlichkeiten
in den Merkmalen nachgewiesen werden konnten, sowie keine wesentlichen neuen
4. Volkspartei Seite 31
Erkenntnisse festgemacht werden konnten, gelang es nicht, das Konzept der Volkspartei
bzw. den Begriff aus der wissenschaftlichen Diskussion zu entfernen (vgl. Hofmann 2004:
92f).
4.3.2. Gesellschaftskritische Analyse
Wie zu Beginn dieses Abschnitts angeführt, wird zwischen drei unterschiedlichen
Kritikebenen differenziert. Behandelt die erste Ebene die Substitutionskritik, wird in der
zweiten Ebene eine gesellschaftskritische Analyse vollzogen.
Jene Autoren, die als Vertreter hierfür genannt werden können, akzeptieren den
Volksparteitypus und sind auch von dessen empirischer Gewissheit überzeugt. Vielmehr
kann die Kritik an der Volkspartei als eine Kritik am gesellschaftlichen Umbruch
verstanden werden (vgl. Hofmann 2004: 94).
Beispielsweise erläutert Wiesendahl anschaulich, dass diese Kritik am Typus der
Volkspartei primär aus dem Bereich der wissenschaftlichen Parteienforschung kommt,
welche dem Transmissionsparadigma folgt (vgl. Wiesendahl 1980: 234ff).
Die Volkspartei zeigt sich in ihrer Konzeption nach Kircheimer sowie in ihrer empirischen
Erscheinungsform als typologisches Kehrseitenmodell (vgl. Wiesendahl 1980: 236).
„Als Kern des Volkspartei-Begriffs wurde der Anspruch auf Ausgleich und Versöhnung
zwischen den Klassen gesehen und damit die Absage an klassenkämpferische
Umgestaltung der Gesellschaft“ (Kaste/Raschke 1977: 26).
„Deutlich wird dabei, dass die Autoren zwar ein eindeutig negativ perzipiertes Verständnis
der Volkspartei hatten, was aus ihrem gesellschaftlichen Grundverständnis und einer
einseitig gewichteten Konzeption des Typus resultierte, aber dessen typologische und
empirische Relevanz nicht in Zweifel zogen“ (Hofmann 2004: 95).
4.3.3. Entwicklungstypologische Kritik
Abschließend gilt es noch die dritte Kritikebene vorzustellen und zu erklären.
Parteienforscher, welche den entwicklungstypologischen Ansatz analysieren, akzeptieren
(wie auch jene Vertreter der gesellschaftskritischen Ebene) die empirische Bedeutung des
Volksparteitypus (vgl. Hofmann 2004: 94f). Der wesentliche Unterschied zu den anderen
beiden schon erläuterten Bereichen besteht darin, dass die Vertreter des dritten Sektors den
4. Volkspartei Seite 32
Volksparteitypus nicht mehr als den dominanten Typus der Gegenwart betrachten. Es wird
von ihnen angenommen, dass sich die aktuellen Parteien hin zu einem neuen, moderneren
Parteitypus gewandelt haben. Ein mögliches Indiz, weshalb die Parteienforschung auf der
Suche nach einem neuen (dominanten) Parteitypus ist, könnte der Umstand sein, dass
Volksparteien als reale Phänomene gesehen wurden. Anders formuliert können Parteien
und Typus als identisch betrachtet werden (vgl. Hofmann 2004: 95).
Der gesellschaftliche Wandel und rasante politische Veränderungen resultieren in eine
Entfernung der heutigen Parteien vom Volksparteitypus. Der Aspekt, dass jeder Epoche
ein spezifischer Parteitypus zugrunde liegt, wird in der Literatur als der zweite (mögliche)
Ansatz beschrieben, weshalb die Vertreter dieser Ebene sich von der Volkspartei als
vorherrschende Form bereits verabschiedet haben und neue Vorschläge/Ansätze diskutiert
werden. Als die wichtigsten und prominentesten Vertreter werden Katz/Mair, Beyme,
Lösche und Grabow genannt (vgl. Hofmann 2004: 95).
Nachfolgend werden nun kurz die wichtigsten Erkenntnisse der genannten Autoren
dargestellt sowie mit dem Volksparteitypus verglichen und etwaige Veränderungen
erläutert.
Peter Lösche zufolge sind Parteien mit Veränderungen konfrontiert worden und daher
muss zwangsweise ein neuer Parteitypus entstanden sein.
Allerdings kann Lösche nicht nahtlos in das Raster der Entwicklungstypologie eingefügt
werden, da er zum einen nur eine Typustransformation betrachtet, zum anderen von ihm
der Typus „Volkspartei“ im Gegensatz zu den anderen Autoren dieser Ebene differenziert
verwendet wird. Er interpretiert den Begriff „Volkspartei“ als „Label“, der es ermöglicht,
unter ihm unterschiedliche Organisationsmodelle und konkrete Parteitypen zu
generalisieren (vgl. Lösche 1999: 15).
Abgesehen von der Diskussion über die begriffliche Anwendung, registriert Lösche
Indikatoren des Wandels, primär im Bereich der Mitgliedschaften, welche aufzeigen, dass
sich ein neuer Typus entwickeln und die alten Modelle ablösen wird (vgl. Lösche 1999:
18).
4. Volkspartei Seite 33
Wesentliche Veränderungen bei den Mitgliedschaften:
- „Mitgliederschwund mit der Folge geringer sozialer Verankerung,
- Überalterung der Mitgliedschaft mit nachlassender Attraktivität für junge
Mitglieder,
- geändertes Partizipationsverhalten Jugendlicher, mit dem Unwillen, sich langfristig
zu engagieren,
- Verlust der innerparteilichen Diskussion und der Streitkultur und letztlich
- Dominanz der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die die Partei als
Karrierestütze nutzen“ (Lösche 2000: 779).
Die These einer neuerlichen Transformation des Parteitypus wurde im deutschsprachigen
Raum wesentlich durch Klaus von Beyme kommuniziert. Von Beyme beschreibt die
Entwicklung der Parteitypen eintretend in vier historischen Abschnitten, wobei die
Volkspartei von ihm als vorletztes Stadium betrachtet wird, dessen Ablösung sich bereits
seit den 1970er Jahren andeutet. Als terminologisch umstritten erachtet Klaus von Beyme
den vierten Typ im Verlaufsmodell (vgl. von Beyme 2001b: 61f). Eine sinkende
Mitgliederzahl, Überalterung der Mitglieder, wenige neue Mitglieder sowie eine
instrumentelle Beziehung der Mitglieder zur Partei werden als die wesentlichen
organisatorischen Kennzeichen des neuen Parteitypus genannt. Zudem verlieren die
einzelnen Mitglieder an Stellenwert/Bedeutung in der Partei, da die Parteiarbeit vermehrt
professionalisiert und von der Parteispitze selbst verrichtet wird (vgl. von Beyme 2000a:
84).
Ein hoher Grad an Autonomie der Parteispitze gegenüber der Mitgliedschaft kann
festgestellt werden. Weiters kann ein Wandel hin zum Berufspolitiker/in festgestellt
werden. Daraus resultieren einerseits eine Verminderung der Interessensartikulation und
andererseits ein Bedeutungszugewinn im Bereich der Personalrekrutierungsfunktion (vgl.
von Beyme 1997: 379). Wiederholt wird von ihm erwähnt, dass sein neu entwickelter
Typus die Entwicklungsschritte der Volkspartei fortführt. Somit wird weniger ein
qualitativer Typuswechsel, vielmehr ein quantitativer Typuswandel umgesetzt (vgl. von
Beyme 2000a: 82).
Die Kartellpartei, entwickelt von den beiden Parteienforschern Richard Katz und Peter
Mair, wird in der Literatur als der am meisten genannte neue Typusbegriff bezeichnet. Als
4. Volkspartei Seite 34
Grundlage wird von den beiden Autoren angenommen, dass jedes Zeitalter einen
dominierenden Parteitypus besitzt, welcher sich in den Bereichen Struktur, Strategie sowie
Verhältnis zu Staat und Gesellschaft von den früheren Parteitypen differenziert. In ihren
Analysen kommen sie zu der Erkenntnis, dass sich ab 1970 das Verhältnis zwischen Staat
und Gesellschaft verändert hat. Diese Entwicklung bedingt die Entstehung von
Kartellparteien (vgl. Katz/Mair 1996: 536).
Als primäres Ziel dieses Parteiensystems wird nicht mehr der Wahlsieg betrachtet,
vielmehr liegt der Fokus auf dem Verbleib im System bzw. der Abschottung des Systems
gegenüber den Konkurrenten. Aufgrund dieser Sichtweise wandeln sich auch die Funktion
und die Bedeutung des politischen Wettbewerbs (vgl. Katz/Mair 1995: 22).
Der Unterschied zwischen den regierenden Parteien sowie der Opposition wird immer
geringer, da bei allen Politiker/innen – sowohl jene in der Regierung als auch jene in der
Opposition – das Interesse auf Machterhalt und Sicherung ihrer Existenz als
Berufspolitiker/in ausgerichtet ist. Das Risiko der Abwahl soll so vermindert werden (vgl.
Wiesendahl 1999: 53).
Die Kommunikation mit ihren Mitgliedern erfolgt von der Parteiführung auf die gleiche
Art und Weise wie mit den Wählern/innen: Über parteiexterne Medien und
Kommunikationsnetze wird Kontakt mit den Mitgliedern aufgenommen. Abnahme der
Einflussmöglichkeiten, Reduktion der Privilegien sowie eine Verringerung der Differenzen
zu partizipierenden Nicht-Mitgliedern sind die offensichtlichen (neuen) Veränderungen für
Mitglieder in der Kartellpartei (vgl. Katz/Mair 1995: 16).
Katz und Mair kommen zu der Schlussfolgerung, dass sich einerseits der Charakter der
Parteien und andererseits die parteipolitischen Ziele in der Epoche der Kartellparteien
verändert haben. „Parties are partnerships of professionals, not associations of, or for
citizens” (Katz/Mair 1995: 22). “Stability becomes more important than triumph; politics
becomes a job rather than a vocation” (Katz/Mair 1995: 23).
4. Volkspartei Seite 35
Als Abschluss in diesem Abschnitt wird noch der Idealtypus von Grabow vorgestellt und
die wesentlichen Kennzeichen erklärt. Grabow zählt vier bedeutsame Merkmale auf:
- Augenmerk liegt auf der Wählermobilisierung,
- Personalisierung durch Fokussierung auf die Spitzenkandidaten,
- Eingliederung sowohl von eigenen Experten/innen als auch externen Agenturen bei
der Führung des Wahlkampfes und
- Erhöhung der Geldmittel im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und
Wahlkampfführung (vgl. Grabow 2000: 26).
Grabow merkt an, das speziell beim ersten Kennzeichen „Wählermobilisierung“ sichtbar
wird, dass sich ein Wandel in der gesellschaftlichen Struktur vollzogen hat. Die Zahl der
Wechselwähler/innen steigt immer weiter an, woraufhin die Parteien gezwungen sind,
noch intensiver als bisher um die Wähler/innen zu werben. Es ist ein Trend, der sich gegen
die Integration (möglicher) Mitglieder, aber hin zur Mobilisierung (möglicher)
Wähler/innen richtet, festzustellen (vgl. Grabow 2000: 25f). Es erfolgt eine verstärkte
Personalisierung der Wahlkämpfe – die Spitzenkandidaten/innen stehen im Mittelpunkt.
Resultierend daraus büßt das einzelne Mitglied enorm an Bedeutung ein. Diesem wird
kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Der negativen Mitgliederentwicklung mittels
Rekrutierungskampagnen positiv entgegenzuwirken, scheitert bei Grabow an den hohen
Kosten dieser Maßnahmen sowie an geringen Erfolgsaussichten bei Neurekrutierungen
(vgl. Grabow 2000: 29).
Hinsichtlich entwicklungstypologischer Ansätze wurde im Rahmen dieser kurzen und
prägnanten Ausführungen ersichtlich, dass ein breiter Konsens unter den
Politikexperten/innen bezüglich der Nachfolge des bereits bestehenden Volksparteitypus
besteht. Auch wenn unterschiedliche Begrifflichkeiten angewendet werden, zeigt die
Entwicklung des neuen Modells bei allen in die gleiche Richtung. Jedoch muss die Frage
erlaubt sein, inwiefern hier wirklich ein neuer Typus entsteht bzw. ob sich dieser von der
Volkspartei tatsächlich differenziert. Ebenso lässt sich offenkundig feststellen, dass sich
die neuen Parteimodelle bezüglich der organisatorischen Struktur nicht beträchtlich vom
bereits existierenden Konzept der Volkspartei unterscheiden (vgl. Hofmann 2004: 104ff).
Offensichtlich ist, dass diejenigen Ansätze, welche die Gestaltung eines neuen
(dominanten) Parteitypus titulieren, sich an dem bereits bestehenden Idealtypus der
5. Österreichische Volkspartei Seite 36
Volkspartei orientieren. Da, wo Unterschiede ausgemacht werden können, sind diese als
logische (Weiter)-Entwicklungen des vorhandenen Volksparteitypus zu verstehen (vgl.
Hofmann 2004: 108).
5. Österreichische Volkspartei
Nachdem in den ersten Kapiteln dieser Arbeit der Fokus auf dem Begriff, der Entstehung
des Konzepts und der Kritik am Begriff sowie des Konzepts des Volksparteitypus gelegen
ist, wird in den anschließenden Abschnitten die Österreichische Volkspartei analysiert. Zu
Beginn wird die Parteiorganisation thematisiert.
5.1. Parteiorganisation der ÖVP
„Eine Herkulesarbeit, die nur eine Volkspartei bewältigt, die sich bewusst ist: Gelingt
diesmal die Reform nicht, so sind die nächsten Wahlen schon entschieden. Den
Parteinamen können wir dann auch gleich ändern – schon mit 32 Prozent der Wähler/innen
ist der Anspruch, Volkspartei zu sein, sehr ambitioniert“ (Khol 1991: 30).
Im folgenden Abschnitt gilt es die Parteiorganisation der ÖVP aufzuschlüsseln. Unter
anderem wird versucht, die Frage zu beantworten, inwiefern die Parteiorganisation im
Verhältnis zum schlechten Abschneiden bei Wahlen in den 1990er Jahren und in der
heutigen Zeit steht. Entschied sich die Parteiorganisation damals und heute für die
richtigen Schritte, um den negativen Trend zu stoppen? Der Fokus liegt in diesem Kapitel
darauf, die wesentlichen Herausforderungen, mit denen sich die Parteien in Österreich,
insbesondere die ÖVP, in den letzten Jahren ausgesetzt sah, zu erläutern bzw. welche
Reformen/ Entwicklungen in der Parteiorganisation vollzogen wurden.
5.1.1. Teilorganisationen
Die Österreichische Volkspartei setzt sich aus mehreren, unterschiedlichen
Teilorganisationen – vielfach in der Literatur als „Bünde“ bezeichnet, zusammen.
Nachfolgend werden nun die einzelnen Bünde kurz vorgestellt. Neben diesen sechs
5. Österreichische Volkspartei Seite 37
Teilorganisationen verfügt jedes Bundesland noch über eine eigene, unabhängige
Landesorganisation.
5.1.1.1. Österreichischer Wirtschaftsbund
Der österreichische Wirtschaftsbund wurde am 8. Mai 1945 als eine Teilorganisation der
Österreichischen Volkspartei (ÖVP) gegründet. Als freie Vereinigung der selbständig
Erwerbstätigen und führenden Wirtschaftskräfte ist er heute die größte politische
Interessenvertretung für Klein- und Mittelbetriebe in Österreich. Als Gründungsvater gilt
Julius Raab. Seit 1999 heißt der Präsident des Österreichischen Wirtschaftsbundes Dr.
Christoph Leitl. Der Abgeordnete zum Nationalrat Peter Haubner ist seit 2008
Generalsekretär des Wirtschaftsbundes. Flächendeckend auf Orts-, Bezirks- und
Landesebene ist der Wirtschaftsbund in ganz Österreich vertreten. Der Wirtschaftsbund
kann als ein wichtiger Impulsgeber, die umsatzstärkste Interessenvertretung und als eine
effiziente Serviceorganisation betrachtet werden.
Auch nach einem halben Jahrhundert ist die eigentliche Gründungsidee des
österreichischen Wirtschaftsbundes „Stärke durch Gemeinsamkeit“ präsenter denn je. Mit
ein Grund sicherlich die Entwicklung der Wirtschaft in den letzten Jahren – die Zahl der
selbstständigen Wirtschaftstreibenden ist eine gesellschaftliche Minderheit. Heute zählt der
Wirtschaftsbund über 100.000 Mitglieder (vgl. Wirtschaftsbund 2016).
5.1.1.2. Österreichischer Bauernbund
Die Anfänge des österreichischen Bauernbundes gehen bereits in das Jahr 1886 zurück.
Schon damals entstanden in einzelnen Bundesländern so genannte Bauernvereinigungen.
Die Steiermark gilt als Vorreiter – hier wurde 1899 ein katholisch-konservativer Verein
gegründet, der sich seit 1934 Bauernbund nennt. In den darauffolgenden Jahren kam es in
den anderen Bundesländern zu ähnlichen Initiativen. In der Zwischenkriegszeit bildete sich
aus diesen Vereinen der „Österreichische Reichsbauernbund“, der bis zum Jahr 1938
bestand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der österreichische Bauernbund, bestehend aus neun
Landesorganisationen, als eine Teilorganisation der Österreichischen Volkspartei neu
geschaffen. Auch wenn mittlerweile die Mitgliederzahl des Bauernbundes zurückgegangen
5. Österreichische Volkspartei Seite 38
ist, kann dieser noch immer neben zwei anderen Teilorganisationen, dem ÖWB und dem
ÖAAB, als die bedeutendste Teilorganisation bezeichnet werden (vgl. Bauernbund 2016).
Schon bei der Gründung im Jahr 1920 umfasste der Bauernbund 220.000 Mitglieder. Kurz
nach dem zweiten Weltkrieg erreichte er 405.000 Mitglieder. Heute zählt die Organisation
noch immer mehr als 300.000 Mitglieder. Flächendeckend über ganz Österreich verteilt,
kann diese Organisation als eine schlagkräftige, stark verwurzelte Institution bezeichnet
werden. Im Laufe der Jahre schaffte es der Bauernbund immer wieder, die Politik der
Partei und auch die Politik in Österreich maßgeblich mitzubestimmen. Josef Stöckler,
Rudolf Buchinger, Andreas Thaler, Florian Födermayr, Josef Reither, Josef Kraus, Eduard
Hartmann, Karl Schleinzer, Alois Derfler, Josef Riegler, Wilhelm Molterer und Leopold
Figl können stellvertretend dafür aufgezählt werden. Momentan ist der Oberösterreicher
und Abgeordnete zum Nationalrat Ökonomierat Jakob Auer Präsident des Österreichischen
Bauernbundes (vgl. Bauernbund 2016).
Grundsätze des Bauernbundes
- demokratisch, freies und unabhängiges Österreich
- verpflichtet sich zu christlich-humanistischen Werten und Traditionen
- bekennt sich zur ökosozialen Marktwirtschaft
- Lebenswirtschaft für Gesellschaft (vgl. Bauernbund 2016)
Vor der letzten Nationalratswahl 2013 gehörten von 51 ÖVP- Nationalratsabgeordneten
immerhin 15 Abgeordnete dem Bauernbund an bzw. konnten diesem zugerechnet werden.
Ebenso wurden zwei der letzten vier ÖVP-Obleute aus dem Bauernbund entsandt (vgl.
Fritzl 2013).
5.1.1.3. Österreichischer Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenbund (früher:
Österreichischer Arbeiter- und Angestelltenbund)
Nur einen Tag nachdem die russischen Truppen Wien eingenommen hatten, wurde am 14.
April 1945 der ÖAAB gegründet und ist somit älter als die „eigentliche Partei ÖVP“. Lois
Weinberger wurde der erste Bundesobmann des noch jungen ÖAAB. Seit dem 19. April
2016 ist der Oberösterreicher August Wöginger geschäftsführender Bundesobmann des
5. Österreichische Volkspartei Seite 39
ÖAAB. Heute ist der ÖAAB die mitgliederstärkste Teilorganisation der Österreichischen
Volkspartei.
Wie alle anderen Teilorganisationen ist auch dieser flächendeckend in ganz Österreich auf
Landes-, Bezirks- und Ortsebene unterteilt und definiert sich in erster Linie als direkter
Ansprechpartner der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Gemeinden und Betrieben
(vgl. ÖAAB 2016).
Grundsätze, für die der ÖAAB eintritt:
- Freiheit und Sicherung des Einzelnen sowie Stärkung der Eigenverantwortlichkeit
- realistische Wirtschaftspolitik, welche die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen
Betriebe fördert und die unternehmerische Initiative stärkt
- Chancengleichheit und Recht auf Eigentum
Weiters bekennt sich der österreichische Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenbund zu
einem christlich-sozialen Weltbild, den Errungenschaften der 2. Republik und zu dem
Staat Österreich.
Bereits am 1. Bundestag, der am 9. Februar 1946 stattfand, lag das von Karl Lugmayr
entworfene „Wiener Programm“ vor, welches drei wesentliche Prinzipien enthält, die
nachfolgend kurz erklärt werden (vgl. ÖAAB 2016).
Personalitätsprinzip
Das Personalitätsprinzip besagt, dass der Mensch keine Sache ist, über die nach Belieben
verfügt und entschieden werden kann. Demnach besitzt ein Mensch Rechte und Pflichten,
die nicht erst von einem Gesetzgeber bestätigt oder zugesprochen werden müssen.
Solidaritätsprinzip
Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, das von Natur aus auf ein Zusammenwirken
mit anderen Menschen ausgelegt ist. Demzufolge gilt es als Einzelperson und als
gesellschaftliches Teilgebilde auf andere Individuen oder Gruppen Rücksicht zu nehmen.
Das Gemeinwohl steht im Vordergrund.
5. Österreichische Volkspartei Seite 40
Subsidiaritätsprinzip
Aufgabe des Staates ist es, dafür zu sorgen, dass es Einzelpersonen und kleineren
gesellschaftlichen Gebilden möglich ist, sich in Freiheit und Eigenverantwortung entfalten
zu können. Kurz gesagt, soviel Hilfe als notwendig, soviel Eigenleistung und
Selbstverantwortung als möglich (vgl. ÖAAB 2016).
5.1.1.4. Junge ÖVP
Eine weitere, der insgesamt sechs Teilorganisationen der ÖVP, ist die Junge
Österreichische Volkspartei (JVP). 1945 wurde die heutige JVP unter dem Namen
Österreichische Jugendbewegung in Wien gegründet. Ähnlich aufgebaut wie alle anderen
Teilorganisationen der ÖVP wird auch diese Organisation in Landes-, Bezirks- und
Ortsgruppen unterteilt. Mehr als 100.000 ehrenamtliche Mitglieder, welche zwischen 16
und 35 Jahren alt sind, sind Teil der JVP. Potentielle Zielgruppe sind junge Menschen, egal
ob nun Schüler/innen, Studenten/innen, Lehrlinge, Angestellte oder Selbstständige (vgl.
Junge ÖVP 2016).
Interessant ist auch die Verteilung der unterschiedlichen Altersgruppen. Die jüngste
Gruppe im Alter von 16-19 Jahren machen 30 % aller Mitglieder aus. Der größte Anteil
(44%) der Mitglieder ist zwischen 20 und 29 Jahren alt, die kleinste Gruppe mit 26 % hat
ein Alter zwischen 30 und 35 Jahren. Ganzheitlich gesehen, überwiegt der männliche
Anteil in der Organisation: 55 % männliche Mitglieder gegenüber 45 % weiblichen
Mitgliedern. Seit 2009 steht der derzeitige Außenminister Sebastian Kurz als
Bundesobmann der JVP an der Spitze dieser Teilorganisation. Acht Landtagsabgeordnete,
2 Abgeordnete zum Nationalrat, ein Regierungsmitglied sowie viele Gemeinderäte können
der JVP zugezählt werden (vgl. Junge ÖVP 2016).
5. Österreichische Volkspartei Seite 41
5.1.1.5. Österreichischer Seniorenbund
Die fünfte Teilorganisation der Österreichischen Volkspartei ist der Seniorenbund.
Die wichtigsten Fakten im Überblick zu dieser Teilorganisation:
- besitzt mehr als 305.000 Mitglieder in ganz Österreich
- gliedert sich in neun Landesorganisationen und über 2200 Orts- und
Bezirksgruppen auf
- die Leitung wird ausschließlich von ehrenamtlichen Obleuten übernommen
- basiert auf drei organisatorisch getrennten Säulen, welche nachstehend erwähnt und
erläutert werden (vgl. Seniorenbund 2016)
Der Seniorenbund ist seit seiner Gründung im Jahr 1952 ein gemeinnütziger Verein, der
sich speziell für die Rechte der Senioren einsetzt. Umfassender Service und kostenlose
Beratung im Bereich der Pflege und der Pension werden versprochen.
Seit mehr als 35 Jahren gilt der Seniorenbund als eine gleichberechtigte Teilorganisation
der ÖVP. Einbindung auf allen Ebenen der ÖVP, Stimmrechte in allen Gremien sowie
Mitbestimmung und Mitarbeit bei Programmen bedeuten die Mitgliedschaft in dieser
Teilorganisation.
Die dritte organisatorische Säule ist die gesetzliche Interessenvertretung der älteren
Generationen. Zu den wichtigsten „Errungenschaften“ zählen die Neugründung des
Seniorenrates im Jahr 1997 und das Bundesseniorengesetz im Jahr 2000. Bis zu seiner
Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten war Andreas Khol von 2005 bis Jänner
2016 Obmann des Seniorenbundes. Seit Jänner 2016 steht nun seine bisherige
Stellvertreterin Ingrid Korosec an der Spitze des Seniorenbundes (vgl. Seniorenbund
2016).
5.1.1.6. Frauen in der ÖVP
Die sechste und letzte Teilorganisation der ÖVP heißt Frauen der Österreichischen
Volkspartei, kurz ÖVP Frauen. In dieser Teilorganisation werden Frauen aller sozialer
Gruppen, die sich zum Programm der ÖVP bekennen und die Politik nach christlich-
demokratischen Grundsätzen gestalten wollen, vereinigt.
Wie alle anderen Teilorganisationen bekennen sich auch die ÖVP Frauen zu einem freien
und unabhängigen Österreich, zur Demokratie, zum Rechtsstaat sowie zum Föderalismus
5. Österreichische Volkspartei Seite 42
(vgl. ÖVP Frauen 2016). Ein Leitsatz ihrer Strategie lautet: „Eine wirkungsvolle
Frauenpolitik muss in allen Politikfelder verankert sein – von der Wirtschafts- über die
Bildungs- bis hin zur Familienpolitik“ (ÖVP Frauen 2016).
Seit November 2010 heißt die Bundesleiterin der ÖVP- Frauen Dorothea Schittenhelm –
sie ist die Nachfolgerin von Maria Rauch-Kallat. Unterstützt wird Schittenhelm von der
Generalsekretärin Janina Nolz, Bakk. Nach der letzten Nationalratswahl 2013 gelang es
den ÖVP Frauen mit Sophie Karmasin ein Regierungsmitglied zu stellen. MMag. Dr.
Sophie Karmasin bekleidet seit Mitte Dezember 2013 das Bundesministerium für Familien
und Jugend. Weiters sind 13 Nationalratsabgeordnete Frauen auch Mitglied dieser
Teilorganisation (vgl. ÖVP Frauen 2016).
5.1.2. Organisationsstruktur der Partei
Franz Fallend konstatiert, dass die traditionelle Parteiorganisation der Österreichischen
Volkspartei hinderliche Grundlagen für ein erfolgreiches Parteimanagement besitzt und
deshalb besonders geeignet erscheint, um die Bedeutung von Parteiorganisationen
bezüglich der Realisierung zentraler Parteiziele zu analysieren (vgl. Fallend 2004: 186).
Die ÖVP zählt gleichermaßen wie die Partei der Sozialdemokraten (SPÖ) zu den
Mitgliederparteien. Definierte früher ein großer Mitgliederstock ein Zeichen von Stärke,
gilt dieser spätestens seit den 1980er Jahren als Hürde, da durch die Mitglieder der
politische Spielraum der Parteiführung bei einem zunehmend mobiler werdenden
Wählermarkt entscheidend beeinträchtigt wird (vgl. Mair 1997: 10f). Müller und
Steininger erwähnen weiters, dass die ÖVP im Vergleich zu allen westeuropäischen
Parteien vermeintlich diejenige Partei ist, welche durch den höchsten Grad an
innerparteilichen Machtgruppen charakterisiert ist (vgl. Müller/Steininger 1994: 2).
Wesentlich mehr von Bedeutung als bei den meisten anderen christdemokratischen
Parteien nehmen in der Österreichischen Volkspartei die Gruppeninteressen eine
gewichtige Rolle im innerparteilichen Leben ein. Orientiert entlang der wichtigsten
Berufsgruppen der Gesellschaft, werden diese Gruppeninteressen in der Literatur vielfach
als Bünde bezeichnet. Mühsame und zeitraubende Entscheidungsprozesse sowie ein
negatives Image in der Öffentlichkeit, sind weitere Aspekte, die als hemmend im heutigen
politischen Wettbewerb betrachtet werden können, da die meisten Konflikte überwiegend
unter Miteinbeziehung der Öffentlichkeit kundgetan werden (vgl. von Beyme 2000: 127).
5. Österreichische Volkspartei Seite 43
Schon bei ihrer Gründung im Jahr 1945 haftete der Parteiorganisation der Österreichischen
Volkspartei etwas Heimliches und Rätselhaftes an. Zwei Jahre vor Ende des Zweiten
Weltkriegs wurde 1943, noch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, im Untergrund
die Gründung der neuen christlich-sozialen und demokratischen Volkspartei eingeleitet,
woraufhin die Gründung der ÖVP im Wiener Schottenstift noch vor Kriegsende vollzogen
wurde(vgl. Wagner 2014: 300).
Wagner merkt an, dass bis in die Gegenwart innerparteiliche Strukturen, Autoritäten von
Parteigremien sowie Bünden wie auch deren Wirkungsweise bezüglich der
innerparteilichen Willensbildung weitgehend verschleiert bleiben. Hinzu kommt noch, dass
das doppelte Organisationsprinzip bestehend aus territorialen und funktionalen Ebenen zu
Doppelstrukturen führt, die die Übersichtlichkeit sowie auch die Transparenz in der
Parteiorganisation der ÖVP behindern (vgl. Wagner 2014: 300f).
Seitens der ÖVP gibt es weder eine aktuelle Mitgliederübersicht noch eine offizielle
Ausweisung der Parteifinanzen (vgl. Jungnikl/Gossy 2010). Gemessen an der Anzahl der
wahlberechtigten Personen der Gesamtbevölkerung weist Österreich im internationalen
Vergleich die höchste Dichte an Parteimitgliedern auf (vgl. Mair/van Biezen 2001: 9).
So schreiben Ulrich von Alemann und Tim Spier, dass es beispielsweise in Österreich
anteilsmäßig ungefähr vier- bis fünfmal so viele Parteimitglieder gibt wie in einigen
anderen Ländern Westeuropas (vgl. von Alemann/Spier 2009: 32).
Auf den nächsten Seiten wird mittels Grafiken bzw. Tabellen ein Vergleich der
Mitgliedschaften von SPÖ und ÖVP durchgeführt.
5. Österreichische Volkspartei Seite 44
SPÖ-Mitglieder (Stichtag: 31.12.1982)
Bundesland Mitglieder Prozent
Burgenland 30.561 4,35 %
Kärnten 52.527 7,49 %
Niederösterreich 139.103 19,83 %
Oberösterreich 101.113 14,42 %
Salzburg 25.817 3,68 %
Steiermark 101.269 14,44 %
Tirol 14.761 2,10 %
Vorarlberg 5.541 0,79 %
Wien 230.438 32,86 %
Gesamt 701.130 100 %
Tabelle 1: SPÖ-Mitgliederstatistik; Quelle: Parteiengesellschaft im Umbruch (1985)
Auffallend ist, dass schon damals die Mitgliederzahlen der SPÖ in den beiden
Bundesländern Tirol und Vorarlberg verhältnismäßig gering bzw. niedrig waren. Einzig in
der „roten“ Bundeshauptstadt Wien konnte sich die SPÖ auf eine breite Mitgliederbasis
berufen, da diese mit knapp 33 Prozent ein Drittel aller Mitglieder ausmachte.
Anton Kofler erklärt in seinem Buch „Parteiengesellschaft im Umbruch“, dass die oben
angeführten Zahlenangaben aufgrund mehrerer unterschiedlicher Aspekte durchaus der
Realität entsprechen:
- Bei der SPÖ gibt es nur die direkte und unmittelbare Form der Mitgliedschaft.
- Genaue Aufzeichnungen betreffend das Inkasso von Beitragsmarken in den
Jahrbüchern belegen diese Zahlen. Würden diese Zahlen nicht korrekt sein, wäre
das gesamte Finanzwesen als falsch zu betrachten.
- Regionale Berichte legitimieren diese Zahlen, da sich diese bei Vergleichen mit
jenen auf Bundesebene als überwiegend identisch herausgestellt haben (vgl. Kofler
1985: 47).
Die Ermittlung der Mitgliederzahlen lässt sich bei der SPÖ erheblich einfacher berechnen
und aufzeigen als bei der ÖVP. Mehrere Autoren legten den Fokus ihrer
wissenschaftlichen Recherchen in den letzten Jahren verstärkt auf die
Mitgliederentwicklung bei der Volkspartei. Nachstehende Ausführungen, beginnend im
5. Österreichische Volkspartei Seite 45
Jahr 1968 und endend mit 1983, zeigen eine deutlich schwierigere Mitgliedererfassung auf
(vgl. Kofler 1985: 47f).
Jahr ÖVP-Mitglieder Hinweis Autor
1968 570.000 abzüglich außerordentlicher Mitglieder Diem/ Neisser
und Familienmitglieder
832.000 plus außerordentlicher Mitglieder und
Familienmitglieder
1968 519.027 abzüglich außerordentlicher Mitglieder Stirnemann
und Familienmitglieder
756.859 plus außerordentliche Mitglieder und
Familienmitglieder
1968 607.000 Minimum - Zeitraum 1957 – 1965 Naßmacher
790.000 Maximum - Zeitraum 1957 – 1965
1973 995.000 Pol. Akademie
1977 932.661 Zeitraum 1974 – 1977 Bericht
Generalsekretär
1980 1.167.888 Zeitraum 1977 – 1980 Bericht GS
1983 1.204.283 Zeitraum 1980 – 1983 Bericht GS
Tabelle 2: ÖVP-Mitglieder-Statistik der Jahre 1968 - 1983; Quelle: Parteiengesellschaft im Umbruch (1985)
Wiederum ist es Kofler, der einige Beispiele illustrieren kann, weshalb diese Zahlen nicht
korrekt sind: Beispielsweise wurde der Seniorenbund erst im Jahr 1977 als eigene
Teilorganisation innerhalb der Partei akzeptiert. Bereits im Jahr 1983 hatte der
Seniorenbund 172.000 Mitglieder, woraus sich der Sachverhalt ableiten lässt, dass es viele
Doppelmitgliedschaften gegeben hat. Weiters führt Kofler an, dass eine
Landesorganisation des Österreichischen Wirtschaftsbundes mit 24.760 Mitgliedern
14.957 ordentliche Mitglieder aufweist – der Rest setzt sich aus außerordentlichen
Mitgliedern und Familienmitgliedern zusammen (vgl. Kofler 1985: 48).
Die folgende Analyse basiert auf einer Doppelzählung von 35 Prozent der im letzten
Bericht des Generalsekretärs angeführten Mitgliederzahl. Ein ähnliches – realistischeres –
Ergebnis wird erzielt, sofern bei den drei großen Teilorganisationen (Bauernbund, ÖAAB,
Seniorenbund) ein Abzug von 25 Prozent, bei den drei kleineren Bünden (Wirtschaftsbund,
5. Österreichische Volkspartei Seite 46
Frauenbund, Junge ÖVP) eine Reduzierung um 60 Prozent gemacht wird (vgl. Kofler
1979: 25ff). Demzufolge ermittelt Anton Kofler in seinem Buch Parteiengesellschaft im
Umbruch folgende Mitgliederzahlen der ÖVP für das Jahr 1981, klassifiziert nach
Bundesländern und Teilorganisationen.
ÖVP Mitglieder – aufgeschlüsselt nach Bundesländern
Bundesland Bericht
Generalsekretär
Kofler Berechnung Prozent Kofler
Berechnung
Burgenland 34.887 22.677 2,98 %
Kärnten 47.733 31.026 4,08 %
Niederösterreich 406. 117 263.976 34,77 %
Oberösterreich 261.212 169.788 22,36 %
Salzburg 66.763 43.396 5,71 %
Steiermark 186.401 121.161 15,96 %
Tirol 68.320 44.408 5,84 %
Vorarlberg 26.184 17.020 2,24 %
Wien 70.271 45.676 6,01 %
Gesamt 1.167.888 759.128 100 %
Tabelle 3: ÖVP- Mitglieder differenziert nach Bundesländern; Quelle: Parteiengesellschaft im Umbruch
(1985)
ÖVP-Mitglieder, unterteilt nach ihren Teilorganisationen
Teilorganisation Bericht
Generalsekretär
Kofler Berechnung Prozent Kofler
Berechnung
ÖBB 388.863 291.647 38,77 %
ÖWB 152.906 114.679 15,24 %
ÖAAB 271.995 203.996 27,12 %
ÖSB 172.783 69.113 9,18 %
ÖFB 76.565 30.626 4,07 %
JVP 104.475 41.790 5,55 %
Direkt 301 301 --
Gesamt 1.167.888 752.159 100 %
Tabelle 4: ÖVP-Mitglieder strukturiert nach Teilorganisationen; Quelle: Parteiengesellschaft im Umbruch
(1985)
5. Österreichische Volkspartei Seite 47
Bestätigt wird die Mitgliederzahl von ca. 750.000 ÖVP-Mitgliedern durch die EDV-Kartei
der Bundesparteileitung der ÖVP: Demgemäß wurde Mitte 1982 die Mitgliederzeitung der
Partei namens „Plus“ an 540.000 Haushalte bzw. 770.000 Einzelpersonen verschickt (vgl.
Kofler 1985: 49).
Sowohl schon im Jahr 1981 als auch heute noch kann Niederösterreich als eine „schwarze
Hochburg“ bezeichnet werden. Nach den Berechnungen von Kofler konnte die Volkspartei
in Niederösterreich damals bereits über 260.000 Mitglieder oder knapp 35 Prozent
verbuchen. Anhand der Tabelle, welche die einzelnen Teilorganisationen der Partei
detailliert aufschlüsselt, stand der Bauernbund in Bezug auf die Mitgliederanzahl Anfang
der 1980er Jahre auch noch an erster Stelle.
Mit Respektabstand von knapp 90.000 Mitgliedern folgt der Arbeiter- und
Angestelltenbund auf Platz 2, deutlich vor dem Wirtschaftbund. Die letzten beiden Plätze,
die Mitgliederanzahl betreffend, nehmen die Frauen in der ÖVP (31.000 Mitglieder) sowie
die Teilorganisation „Junge ÖVP“ (42.000 Mitglieder) ein.
Immer noch besitzen Mitglieder für Parteien einen hohen Stellenwert, da Parteien mit einer
großen Anzahl an organisierten Mitgliedern Vorteile im Bereich der Wählermobilisierung
gegenüber weniger strukturierten Parteien aufweisen. Oft ist es zielführender und
erfolgreicher, mittels sozialen Netzwerken, anstatt zentral gesteuerten Medienkampagnen,
mit den Wählern/innen in Kontakt zu treten und den Eindruck zu generieren, dass Parteien
mehr verkörpern als nur Veranstaltungen der politischen Elite (vgl. Scarrow 2000: 84).
„Ein wichtiger Erklärungsfaktor für die hohe Organisationsdichte im österreichischen Fall
dürfte weniger ein starkes politisches Interesse als vielmehr die ausgedehnte Praxis der
Patronage gewesen sein, die in denjenigen Ländern von größerer Bedeutung ist, wo viele
Ämter zu vergeben sind und eine Proporzdemokratie besteht“ (Müller 1994: 65).
Allerdings stellt Scarrow in ihren Ausführungen, hinsichtlich Mitgliederentwicklung bei
Parteien, einen Abwärtstrend fest. Dieses Szenario gilt nicht nur allein für Österreich,
sondern trifft allgemein auf den gesamten OECD-Bereich zu (vgl. Scarrow 2000: 88f).
„Die Rolle der Politik und damit der Parteien für die Verwirklichung individueller
Lebensziele verlor an Bedeutung; gleichzeitig wuchsen die Ansprüche hinsichtlich
politischer Partizipation, die in den bürokratisierten Parteien zu wünschen übrig ließ“
(Fallend 2005: 193).
5. Österreichische Volkspartei Seite 48
Daher reduzierte sich die Anzahl der Parteimitglieder im Zeitverlauf: Deklarierten sich im
Jahr 1954 nach 28 Prozent der befragten Personen als ein Parteimitglied, kam es bis ins
Jahr 2001 fast zu einer Halbierung dieser Zahl – konkret waren es nur mehr 15 Prozent, die
sich als Parteimitglied bekannten (vgl. Ulram 2002: 88). Trotzdem kann sowohl die SPÖ
als auch die ÖVP nach wie vor als eine Mitgliederpartei eingestuft werden. Unter
Berücksichtung von Doppelmitgliedschaften hatte die ÖVP im Jahr 2003 ungefähr
1.063.137 Mitglieder. Werden die Doppelmitgliedschaften abgezogen, wird die Zahl der
Mitglieder ca. 600.000 betragen (vgl. Fallend 2005: 192). „Eine Erhöhung des
Mitgliederstandes dürfte allerdings nicht mehr primäres Ziel sein, wie auch daraus
erschlossen werden kann, dass die Mitgliederstände der Landesorganisationen 1999 nur
mehr teilweise, 2003 überhaupt nicht mehr, in den Berichten an den Bundesparteitag
ausgewiesen wurden“ (Fallend 2005: 192).
Generell ist bei den österreichischen Parteimitgliedern eine loyal-passive Beobachterrolle
vorherrschend: Lediglich ein Viertel von ihnen lässt sich zu der Gruppe der
Parteiaktivisten hinzuzählen, die bei Wahlveranstaltungen aktive Überzeugungsarbeit für
die Volkspartei leisten (vgl. Plasser/Ulram 2002: 95). Eine Umfrage belegt dieses
Verhalten: Müller schreibt, dass bereits 1976 48 Prozent und knapp zwanzig Jahre später
1993 sogar 62 Prozent unter den ÖVP Mitgliedern nie für die Partei aktiv geworden sind.
(vgl. Müller 1995: 190) Hierbei ist zu erwähnen, dass im Zuge des in den 1950er und
1960er Jahren festzustellenden Wandels von Massenparteien hin zu Volksparteien, den
Parteimitgliedern im Allgemeinen heute nur mehr niedrige Einflussmöglichkeiten
innerhalb der Parteiorganisation beigemessen werden kann. War es ihnen früher noch
möglich, in gewisser Weise bei Parteitagen die Formulierung von Programm und
Ausrichtung bei politischen Positionen ein Stück weit mitzubestimmen, ist dies heute
alleinige Aufgabe des Parteivorstands (vgl. Katz/Mair 1995: 6ff).
Strøm und Müller erklären auch, weshalb die Bedeutung der Parteimitglieder im Laufe der
letzten Jahre immer mehr abgenommen hat: Gewöhnlich distanzieren sich Parteiführungen
von einer weitgehenden Dezentralisierung politischer Entscheidungen und sind diesen
gegenüber skeptisch ausgerichtet, da die Partei dadurch beispielsweise mit unattraktiven
Wahlprogrammen oder schwierigen Kandidaten beeinträchtigt und in ihrem
Handlungsspielraum eingeschränkt werden könnte (vgl. Strom/Müller 1999: 17).
5. Österreichische Volkspartei Seite 49
„Allerdings wird der Parteitag als reines Akklamationsorgan gesehen, das seit einer
Parteireform 1991 ohnehin nur noch alle vier Jahre zusammentritt, so dass er selten
traditionelle Entscheidungsstrukturen durch eigene Reformvorschläge zu durchbrechen
vermag“ (Wagner 2014: 301). Zugleich kam es im Zuge der Parteireform im Jahr 1991 zu
einer Reduzierung der Mitgliederzahl im Parteivorstand und Parteipräsidium, um die
Entscheidungsfähigkeit zu optimieren (vgl. Müller 1997: 268f).
Vorrangiges Ziel der umgesetzten Reformen war es in erster Linie, die Effizienz der Partei
zu erhöhen, um bei den nächsten Wahlen Stimmen zu gewinnen und dadurch neue Ämter
besetzen zu können (vgl. Fallend 2005: 193). „Demgegenüber können die Versuche der
ÖVP, die Parteimitglieder über eine Urabstimmung und über Vorwahlen zu mobilisieren,
unter dem Aspekt des Ziels der Vergrößerung der innerparteilichen Demokratie betrachtet
werden“ (Fallend 2005: 193).
Als erste österreichische Partei vollzog die ÖVP im Jahr 1980 eine Urabstimmung. Im
Rahmen dieser Urabstimmung wurden 836.475 Stimmzettel ausgegeben und mehr als die
Hälfte (56,5 Prozent) oder 472.519 Stimmzettel wieder eingesammelt. Das Ergebnis dieser
Urabstimmung offenbarte, dass 79,7 Prozent der Teilnehmer/innen sich für einen
Fortbestand der Bünde ausgesprochen hatten und deren Abschaffung ablehnten.
Offensichtlich war, dass sich die Mitglieder primär ihren Bünden verpflichtet sahen (vgl.
Fallend 2005: 193).
Hinzu kam, dass sich aufgrund dieser Urabstimmung die Kontroverse innerhalb der Partei
erhöhte und die Reputation nicht vorantrieb sowie das Ausmaß bei nach außen gerichteten
Aktivitäten der Parteimitglieder nicht steigerte (vgl. Müller/Plasser/Ulram 1999: 217f).
„Um die Widersprüche zwischen einem gewünschten Ausbau der Beteiligung ihrer
Anhänger und dem wachsenden Unbehagen mit der österreichischen Parteipolitik und
ihren Akteuren entgegenzutreten, versuchte die ÖVP in dem begrenzten Spielraum
traditioneller Macht- und Organisationsstrukturen bereits früh, eine moderne Vorreiterrolle
im Parteiengefüge Österreichs einzunehmen“ (Wagner 2014: 302). Bereits Josef Klaus, der
einzige ÖVP- Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit in der Geschichte der
Österreichischen Volkspartei, suchte den Gedankenaustausch mit Experten/innen und
Wissenschaftlern/innen. Unter Alois Mock gelang es, einen Journalisten als Parteisprecher
zu engagieren, PR- und Medienberater zurate zu ziehen und in bis dahin unbekanntem
Ausmaß Aufträge an Werbeagenturen zu vergeben (vgl. Müller/Plasser/Ulram 1999: 217).
5. Österreichische Volkspartei Seite 50
Indes blieb eine umfassende Restrukturierung der Parteiorganisation im Zuge der
zunehmenden Professionalisierung jedoch aus (vgl. Fallend 2005: 201). Grundsätzlich war
die Partei aufgeschlossen für Neuerungen: So begeisterte sich die ÖVP für eine
strategische und politische Planung, interessierte sich für neue Möglichkeiten der
Umfrageforschung und investierte in eine neue sowie verbesserte technische Ausstattung
der Parteizentrale (vgl. Lederer 2007: 45f). Eine konsequente Neuordnung der
innerparteilichen Willensbildung konnte allerdings nicht umgesetzt werden (vgl. Wagner
2014: 303).
Nur bei der Bundespartei erfolgte eine Verlagerung der Strukturentscheidungen nach
außen hin, da die Kommissionen seit jeher als Mittel der friedlichen Konfliktbeilegung
auftraten (vgl. Neuwirth/Stuhlpfarrer 2011). Müller, Plasser und Ulram schreiben, dass
diese Alternative nicht für die Bünde in Frage kam, da die Bünde ansonsten um ihren
Autonomiestatus zittern mussten sowie eine Zentralisierung der Beschlüsse befürchteten
(vgl. Müller/Plasser/Ulram 1999: 217).
Lauber und Gottweis merken an, dass die Sorgen der Bünde durchaus berechtigt waren:
Schon im Zuge der Parteigründung und später im Laufe der Parteireformen in den 1960er
und 1970er Jahren wurde versucht, die Macht der Bünde einzuschränken und sich auf die
neuen, veränderten Umweltbedingungen einzustellen (vgl. Gottweis/Lauber 2006: 350).
Vor allem Josef Taus wollte nach der Wahlniederlage bei der Nationalratswahl im Jahr
1979 mithilfe eines Reformkatalogs die Zurückstufung der Bünde vorantreiben und
durchführen. Weiters versuchte er durch eine Verkleinerung der Führungsgremien die
Zentralisierung und Kontrolle jeder einzelnen Teilorganisation zu bewerkstelligen (vgl.
Plasser 1995: 569). Trotzdem änderte sich nichts an der Situation: bis weit in die 1980er
Jahre wahrten die Bünde ihre Machtposition. Gerade bei Personalentscheidungen in den
Parteigremien oder bei möglichen Kandidaturen von Nationalratsabgeordneten verfügen
die Teilorganisationen der Partei nach wie vor über sehr viel Macht und haben einen hohen
Stellenwert (vgl. Nick 1984: 118f).
5.1.3. Parteiorganisation der ÖVP Fazit
Viele Parteienforscher teilen mittlerweile die Ansicht, dass es sich bei der ÖVP um eine
Partei handelt, die sich - strukturell betrachtet - überlebt hat. Dennoch kann festgestellt
werden, dass sich die Österreichische Volkspartei auf der Grundlage der Gegebenheiten
5. Österreichische Volkspartei Seite 51
eine eigene Überlebensstrategie entwickelt hat (vgl. Karlhofer 2011): „Inmitten der
zunehmenden Säkularisierung und der Individualisierung der Lebenswelten herrschte
durch die gesellschaftliche Verankerung der Bünde zumindest ein langfristiges Konzept,
um den parteiinternen Zusammenhalt immer wieder zu generieren und die
gesellschaftlichen Bande zu unterhalten“ (Wagner 2014: 314). Die Vorstöße der einzelnen
Teilorganisationen der ÖVP, mit dem Zweck, die Machtstellung des Parteiobmanns zu
begrenzen/einzuschränken und zu untergraben, um im Gegenzug die eigene Stellung zu
erhöhen, waren zumeist ein Anlass, den Einfluss der Bünde zu reduzieren (vgl. Wagner
2014: 314).
Allerdings lässt sich eine (notwendige) fundamentale Reform äußerst schwierig umsetzen,
da die Bünde innerhalb der Partei historisch tief verwurzelt sind. Dietmar Halper, Direktor
der Politischen Akademie der ÖVP, bezeichnet die Bünde sogar als „unantastbare DNA
der Partei“ (Weisgram 2011). Vorrangiges Ziel jeder Teilorganisation ist eine gute eigene
Ausgangsposition innerhalb der Partei des Ausgleichs zu besitzen, um hinsichtlich
Personal- und Sachentscheidungen gegenüber den anderen Bünden im Vorteil zu sein.
Auftretende Minderheitenpositionen eines Bundes gegenüber den Anderen enden in
machtgierigen Kämpfen um die Vormachtstellung und haben konstant ein Scheitern
friedlicher Konfliktlösungen zur Folge (vgl. Weisgram 2011).
Lange Zeit wurde die Situation im Lager der ÖVP die vermehrten Verluste von Anhängern
sowie die zunehmende Veränderung betreffend, falsch eingestuft und gedacht, dass nur die
SPÖ davon betroffen sei und die eigene Partei nicht. Der Anreiz, die Macht der Bünde
einzudämmen, blieb daher bereits im Ansatz stecken. Immerhin schafften es die beiden
Bundesparteiobmänner Alois Mock und Erhard Busek in ihrer Amtszeit diese Missstände
aufzuzeigen und die Bundespartei strukturell gegenüber den sechs Teilorganisationen der
Partei sowie den Landesparteien zu festigen (vgl. Busek 1991: 19).
Enttäuschende Wahlresultate bzw. Zeiten in der Opposition waren schließlich Anlass
genug, dass ein Umdenken innerhalb der Partei einsetzte und zu einem
Veränderungsbewusstsein führte. Diese Veränderungen wurden aber nur in unbedeutenden
Politik- und Organisationsbereichen eingeführt (vgl. Busek 2005: 69).
5. Österreichische Volkspartei Seite 52
Die momentan triste Ausgangslage der Bundespartei sowie niedrige, aber stabile
Wahlprognosen bewirken, dass die Dominanz und Macht der einzelnen
Landeshauptmänner gegenüber der Bundespartei nicht geringer werden wird und die
Möglichkeiten, umfangreiche (notwendige) Parteireformen durchzuführen, weitgehend
ausbleiben werden. Aus Angst, Einfluss zu verlieren, wird eine Aufwertung der
Bundespartei strikt abgelehnt. Zugegeben, die Bündestruktur kann in der heutigen Zeit als
nicht mehr zeitgemäß eingeordnet werden, allerdings bilden die Bünde durch ihren
Organisationsgrad das Grundgerüst der Bundes-ÖVP. Ohne die sechs Teilorganisationen
wäre die Bundespartei nicht überlebensfähig (vgl. Wagner 2014: 315).
„Die Macht des gegenwärtigen Bundesparteiobmanns zur Durchsetzung der geforderten
Veränderungen, die über kommissionsgesteuerte Kandidatenvorwahlen oder beschränkte
Internetangebote für Mitglieder hinausgehen, erscheint angesichts der dominanten
Landesfürsten zusätzlichen Begrenzungen unterworfen“ (Wagner 2014: 315). Kohlmaier
zieht folgende Schlussfolgerung: Die viel zitierte „Partei aus einem Guss“ (Kohlmaier
1999: 23) ohne die Autorität und Macht der Bünde wird daher ein kaum zu realisierendes
Zukunftsprojekt bleiben.
5.2. Politische Programme der ÖVP
Nachfolgend werden nun die wesentlichen Reformen und Standpunkte der
Österreichischen Volkspartei skizziert und vorgestellt.
Das ursprüngliche Bestreben der Gründungsväter der Österreichischen Volkspartei war es,
eine neue bürgerlich-konservative, patriotische sowie soziale Partei basierend auf einem
christlich-abendländischen Fundament, zu gründen. Im Gegensatz zu den Parteien während
des Austrofaschismus sollte zu Beginn der Zweiten Republik der konfessionelle
Hintergrund höchstens eine Leitlinie verkörpern. Schon bei den ersten programmatischen
Leitsätzen wurde der Schwerpunkt auf die Bekundung zu Österreich, die eigene
Unabhängigkeit von der katholischen Kirche wie auch Einsatz und Willen der
Eingliederung der ganzen Bevölkerung festgelegt. Kurze Zeit nach ihrer Gründung trat
innerhalb der Partei wie auch in den verbundenen Teilorganisationen stets eine
Beunruhigung bezüglich eines programmatischen Organisations- bzw. Identitätsverlustes
auf (vgl. Moser 2004: 33).
5. Österreichische Volkspartei Seite 53
Nach dem Bekenntnis zu einer sozialen Marktwirtschaft sowie dem Eintreten für eine
christliche Soziallehre akzeptierte die Partei im Salzburger Programm von 1972 das
Verlangen nach mehr Mitbestimmung. Die ÖVP definierte sich nun als eine Partei der
fortschrittlichen Mitte, aufbauend auf den sechs christlich begründeten Werten Freiheit,
Gleichheit, Leistung, Partnerschaft, Aufgabenteilung sowie Partizipation. Ziel dieses
Programms war es, einen politischen Gegenentwurf zur regierenden SPÖ zu deklarieren
(vgl. Kriechbaumer 2004: 114).
Immerzu befanden sich die programmatischen Standpunkte in einem Spannungsfeld
zwischen liberalen, konservativen, anti-sozialistischen und auch nationalistischen
Bewertungen, die speziell mit Blickrichtung FPÖ ein teilweise ähnliches liberal-
konservatives Wählerspektrum absichern sollte (vgl. Wagner 2014: 240).
Gleichermaßen hatte die Volkspartei gegen die dominante und erfolgreiche SPÖ einen
schwierigen Stand, weil christdemokratische Gegenmodelle anstatt wirkungsmächtiger
Impulse meist als verengte Forderung einer emeritierten Wirtschaftspartei bezeichnet
wurden (vgl. Ortner 2010).
Sehr oft herrschte in der österreichischen Bevölkerung Unklarheit über die
programmatischen Überlegungen der Partei: Etwa 47 Prozent der Österreicher/innen
kannten 2012 die inhaltlichen Standpunkte und Vorstellungen der Partei nicht (vgl. Seidl
2012b). Die ÖVP hatte stets die Ambition als Reformpartei ein Ausgleich/ eine Alternative
zur sozialdemokratisch dominierten Sozialpartnerschaft zu sein und im Hinblick auf den
gesellschaftlichen Wandel die notwendige Neuerung umzusetzen/voranzutreiben. Daher
bemühte sich die Partei bereits in der Nachkriegszeit überwiegend fortschrittliche
Vorkehrungen einzuleiten und dementsprechende Kampagnen zu betreiben (vgl. Wagner
2014: 240).
„Bislang konnte die Österreichische Volkspartei stets dann Erfolge vorweisen, wenn sie
die konträren Positionen der Parteiflügel zu versöhnen imstande war, indem die
verabschiedeten Programminhalte die Kontrahenten thematisch einbanden und so eine Art
Klammerwirkung innerhalb der Partei entfalteten“ (Wagner 2014: 255).
Solche Klammerwirkungen wurden beispielsweise kurzfristig durch die Programme der
Ökosozialen Marktwirtschaft von Josef Riegler Anfang der 1990er Jahre wie auch unter
Wolfgang Schüssels liberalem-marktorientiertem Kommunitarismus erzeugt. Es gelang
dabei, einerseits die verschiedenen Interessen der einzelnen Teilorganisationen und
5. Österreichische Volkspartei Seite 54
Landesparteiorganisationen zu berücksichtigen und zum anderen auch die Belange der
Kernwählerschaft zu erfüllen. Diese Maßnahmen hatten zur Folge, dass die Kritik aus den
eigenen Reihen an der Führungsspitze der Partei ausblieb (vgl. Wagner 2014: 255).
Generell war es ein schwieriges und mühsames Unterfangen für die Österreichische
Volkspartei inhaltliche Neuerungen umzusetzen und durchzuführen. Abgesehen von der
innerparteilichen Konfliktstruktur, konnte der eigene Handlungsspielraum aufgrund des
meistens größeren sozialdemokratischen Regierungspartners als begrenzt eingestuft
werden. Hinzu kam, dass programmatische Neuausrichtungen immer abhängig von
reformbereiten Parteieliten bzw. Spitzenkandidaten/innen waren, welchen es speziell in
Zeiten der Opposition an Opportunitäten zur langfristigen Verteidigung ihrer Vorhaben
fehlte (vgl. Seidl 2011). Demzufolge verengte die Partei auf der programmatischen Ebene
zunehmend (vgl. John 2011). Die Parteispitze legte den Fokus verstärkt entweder auf
wenig riskante Konsensthemen oder bevorzugte die Projekte von Einzelnen, die zur
Profilierung einspringen mussten – wie beispielsweise die Transparenzdatenbank von Josef
Pröll (vgl. Müller 2011).
Als offensichtlicher Nachteil parteipolitischer Profilierung zählt das IMAS International
die hauptsächliche Konzentration auf wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische
Angelegenheiten bis in die Gegenwart auf (vgl. IMAS International 2013: 4).
Hinsichtlich ihrer angestrebten Reformen/ Initiativen agierte die ÖVP durchaus
berechnend: So setzte sich die ÖVP anlässlich des vermehrten Erfolgs der Grünen mit der
ökosozialen Marktwirtschaft ebenfalls für diese Form ein oder repräsentierte aufgrund
liberalem Aufwinds das marktorientierte Wirtschaftsmodell von Wolfgang Schüssel. Trotz
all dieser Maßnahmen schaffte es die ÖVP nicht, ihre traditionellen Werte und Konzepte
wie Familie, Leistung sowie auch die verpflichtende Haushaltssanierung bei der
wahlberechtigten Bevölkerung so zu verinnerlichen, als es der sozialdemokratischen Partei
mit ihren Themen wie etwa der Bildungsgesellschaft, der Familiengerechtigkeit und der
sozialen Gerechtigkeit gelang (vgl. Wagner 2014: 256).
Obendrein verursachte die Vorgabe, bei inhaltlichen Erneuerungen traditionelle
Grundsätze lediglich zu modernisieren ohne das christdemokratische Erbe zu missachten,
nicht nur für Kritik und Ablehnung beim unzufriedenen Reformflügel. Waren den
reformwilligen Anhängern/innen die vorgebrachten Vorschläge zu wenig und wurde
5. Österreichische Volkspartei Seite 55
speziell vom Flügel des Wirtschaftsbundes die Drohung einer Parteineugründung in
Erwägung gezogen, beharrte die katholisch-konservative Sektion der Partei vorwiegend
auf die traditionellen Werte, die aus ihrer Sicht nicht ignoriert werden durften (vgl. Wagner
2014: 256).
Primär neue Obmänner hatten es schwer: Zumeist entschieden sie sich dafür,
unverbindliche und generell zustimmfähige Themen umzusetzen. Die Zweifelhaftigkeit der
eigenen Meinung wurde dabei einzig von vorab festgelegten Ablehnungen bei der
Einführung der Gesamtschule oder der Homoehe ausgesetzt, unbeachtet von
Einigungsmöglichkeiten exakte Pläne aufzudecken. (vgl. Hajek 2011)
Schlussfolgernd kann festgestellt werden, dass in Österreich bis jetzt eine erfolgreiche
Konzeption volksparteilicher/ christdemokratischer Programmatik lediglich durch ein, die
Fraktionen verbindendes, Programm oder durch konfliktlose, unpräzise Skizzierungen und
Rahmenvorschläge funktionierte. Die unbestimmten (Programm)Angebote sollten
besonders zur Beruhigung der Parteiführung und der eigenen Anhängerschaft beitragen.
Einzig die visionenhaften, alle Sektionen vereinigenden Vorhaben von Josef Riegler oder
Wolfgang Schüssel erzeugten eine bestimmte Anziehungskraft über die eigene
Anhängerschaft hinaus. (vgl. Wagner 2014: 256)
5.2.1. Der ideologische Konsens - Entstehung
Pelinka definiert die traditionellen österreichischen Parteien zum Zeitpunkt ihrer Gründung
als klassische Weltanschauungsparteien bzw. Klassenparteien. Aufgrund ihrer
fragmentierten Konfliktlinien bestanden diese Parteien nur auf einem Vertretungsanspruch
und bezogen sich daher lediglich auf eine bestimmte „Klasse“ der Bevölkerung, aber nicht
auf die gesamte österreichische Bevölkerung. Er zeigt in seinen Ausführungen drei
Widersprüche auf, die in der Gesellschaft vorherrschend waren:
- der soziale Widerspruch
- der nationale Widerspruch
- der religiöse Widerspruch. (vgl. Pelinka 1988: 36f)
Der soziale Widerspruch konnte primär zwischen dem auftretenden Bürgertum und der
Arbeiterklasse festgestellt werden. Konflikte in Bezug auf deutsche Dominanz und
nichtdeutschen Einwänden charakterisiert Pelinka als nationale Widersprüche. Der
religiöse Widerspruch zeigte sich in Konflikten zwischen dem politischen Katholizismus
5. Österreichische Volkspartei Seite 56
und den säkularen Tendenzen. Die konfessionelle Konfliktlinie wurde durch die christlich-
soziale Partei widergespiegelt. Jene Gruppen der Bevölkerung, die sich mit dieser
Weltanschauung nicht identifizieren konnten, wurden vom Programm der
Christlichsozialen Partei ausgeschlossen (vgl. Pelinka 1988: 40f).
5.2.2. Der „Neubeginn“ – Entideologisierung
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs entschieden sich die Gründungsväter der
Österreichischen Volkspartei auf das ideologische Erbe der Vorgängerpartei aus der ersten
Republik zu verzichten und für einen ideologischen Neuanfang. Die Partei bezeichnete
sich als neue soziale und wirtschaftliche Integrationsparte (vgl. Karner 2005: 27). „Die
ÖVP wurde als freie Partei in einem freien Staat gesehen, aber natürlich als Partei auf der
Grundlage eines Wertesystems, das zum Teil aus der katholischen Soziallehre
übernommen wurde. Ausgesprochen wurde dies aber nicht, im ersten Programm 1945
fehlten alle diese Bezüge in auffallender Weise“ (Khol/Lopatka/Molterer 2005: 9).
Die grundsätzliche Abgrenzung zur Christlichsozialen Partei und deren ideologischer
Grundeinstellung war auch in den ersten Programmen der ÖVP ersichtlich. Khol, Lopatka
und Molterer merken an, dass in den ersten Jahren nach der Gründung der ÖVP, die SPÖ
mit einem umfangreichen, ideologisch ausgeprägten Grundsatzprogramm der Volkspartei,
die ihrerseits bis dahin einzig programmatische Leitsätze formuliert hatte, überlegen war
(vgl. Khol/Lopatka/Molterer 2005: 13).
Ein erster Schritt in Richtung Volkspartei gelang der ÖVP dadurch, dass sie sich der
starken Bindung kirchlicher Einrichtungen entzog und sich als Partei für das
Gesamtinteresse deklarierte (vgl. Prisching 1988: 529). „Die Gleichsetzung dieses
Gesamtinteresses mit einem spezifischen Klassen- und Weltanschauungsinteresse wurde
immer mehr zurückgenommen, die Bezüge auf die sozialen und konfessionellen
Konfliktlinien wurden immer schwächer“ (Pelinka 1988: 42).
Dieser Aspekt kann auch sehr gut in ihren Wahlprogrammen nachgelesen werden: wie
beispielsweise dem Klagenfurter Manifest aus dem Jahr 1964: Hier wurde geschrieben,
dass sich die Österreichische Volkspartei als eine politische Vereinigung aller
Österreicher/innen betrachtet, welche sich „zur Ordnung der Gesellschaft auf der
5. Österreichische Volkspartei Seite 57
Grundlage der solidarischen Verbundenheit aller Bevölkerungsschichten bekennen“
(Kadan/Pelinka 1979: 135).
Horner merkt an, dass allgemein ein Wandel bei den österreichischen Parteien und ihren
Programmen in der zweiten Republik stattgefunden hat. Klare, programmatische Aussagen
basierend auf der Ideologie der Partei wurden durch pluralistische Parteiprogramme ersetzt
(vgl. Horner 1987: 271f). War die Österreichische Volkspartei kurz nach ihrer Gründung
1945 aufgrund ihrer katholischen Sozialethik noch links der politischen Mitte einzustufen,
verlagerte sich diese Einordnung in der auftretenden Wirtschaftswunderzeit von links nach
rechts. Da die ÖVP die Befürchtung hatte, Teile ihrer Wählerschaft an den neuen im
Aufschwung befindenden Verband der Unabhängigen (VDU) abgeben zu müssen,
entschied sie sich mit diesem Schritt nach rechts, auch dieses Wählerpublikum
anzusprechen (vgl. Chorherr 2005: 31). Chorherr verweist hierzu auf eine Aussage des
ehemaligen Bundeskanzlers Julius Raab: „Die Wende kam, als es darum ging, die VdU-
Wähler/innen zu inhalieren“ (Chorherr 2005: 32). Da die katholische Soziallehre immer
mehr an Bedeutung innerhalb der Partei verlor und zurückgestuft wurde, vollzog sich
schließlich der Wandel von der linken Mitte zur rechten Mitte (vgl. Chorherr 2005: 32).
Die alten Parteipositionen wurden aufgrund der ökonomischen und politischen
Veränderung der ideologischen Ausrichtung der Partei zurückgedrängt. Faktoren wie
auftretende Wachstumsprobleme in der Wirtschaft Ende der 1950er Jahre, tiefgreifender
sozioökonomischer Wandel und vermehrte Eigensinnigkeit der beiden Koalitionsparteien
zwangen die ÖVP zu einer ideologischen Neuorientierung (vgl. Müller 2006: 354f).
Die ersten Grundsatzprogramme der ÖVP definierten sich als ein Wahlprogramm ohne
ideologische Grundlage, jedoch war das 1958 verfasste Grundsatzprogramm „Was wir
wollen“ bereits ausführlicher und präziser formuliert als das 1952 entstandene
Grundsatzprogramm „Alles für Österreich“. In beiden Programmen waren lediglich
Grundsätze, welche die Partei verfolgte, angeführt. Ähnlich verhält es sich mit dem 1965
entworfenen Klagenfurter Manifest. Auch dieses Programm wird in der Literatur mehr als
ein Wahlaufruf denn als ein richtiges, ausformuliertes Grundsatzprogramm bezeichnet
(vgl. Khol/Lopatka/Molterer 2005: 13f).
„So waren all diese Programme ein tastendes Suchen, waren weniger Grundsatz-, sondern
Aktions- und fast immer Wahlprogramm zugleich und inhaltlich nicht flächendeckend“
(Khol/Lopatka/Molterer 2005: 14).
5. Österreichische Volkspartei Seite 58
Jedoch schreiben Khol, Lopatka und Molterer auch, dass die ÖVP überhaupt keine
Grundsatzprogramme wie auch keine Ideologie benötigt, da die existierenden Aktions- und
Wahlprogramme als die Programmatik der Partei angesehen werden können und sich die
Partei mittels ihrer Regierungstätigkeit kennzeichnet. Als die ÖVP im Jahr 1970 von der
Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechseln musste, wurde das Verlangen nach
einem eindeutigen, ausführlichen Programm laut. 1972 entstand das Salzburger Programm,
welches über 20 Jahre hinweg die Grundlage der Partei bilden sollte. Vorgebracht in
Diskussionen, inhaltlich anschaulich präsentiert, entwickelte sich dieses Programm zum
Maßstab für die Politik (vgl. Khol/Lopatka/Molterer 2005: 14).
Im neuen Parteiprogramm der Österreichischen Volkspartei charakterisierte sich die Partei
als „party of the progressive centre, and of social integration, uniting different groups“
(Horner 1987: 272).
Abbildung 8: Einordnung der Parteien (links- rechts Dimension); Quelle: Ideology, Strategy and Party
Change (1987)
Wie in der obigen Grafik von Horner ersichtlich, positionierte sich die ÖVP im Jahr 1970
in der politischen Mitte. Abgesehen von einer kurzen Ausnahme, wo die Partei kurz einen
Ruck nach rechts einlegte, behielt die ÖVP ihre Position bis ins Jahr 1978 bei. Auffallend
ist die konträre Position der beiden Großparteien bis ins Jahr 1966. Hier lag die
Ausrichtung der ÖVP weiter links als bei der SPÖ. Danach entfernten sich die beiden
Parteien in ihrer politischen Dimension wieder voneinander, wobei der Abstand in den
Jahren 1970 – 1978 gleich geblieben ist.
FPÖ
ÖVP
SPÖ
5. Österreichische Volkspartei Seite 59
„Die Programme der österreichischen Parteien mit Beginn der 1970er wurden aber weniger
mit weltanschaulichen bzw. ideologischen, als mit technokratischen Argumenten verkauft“
(Holzinger 2012: 24). Prisching beschreibt diese Phase der Programme als jene Zeit, in der
die Parteien weniger Stellenwert auf die Ideologie legten, sondern mit rationaler
Optimierungsrechnung agierten. Zu erwähnen ist aber weiters, dass sich die
Positionierungen links gegen rechts, ländlich gegen progressiv, liberal gegen konservativ
und sozialistisch gegen religiös nicht abgeschafft hatten. Vielmehr konnte es vorkommen,
dass sich konträre Ansichten in eigenartigen Kombinationen darstellten (vgl. Prisching
2005: 229f).
Aiginger zeigt den Nutzen von Parteiprogrammen auf:
- Absichten der Partei für Insider, Outsider und Hoffnungsgruppen deklarieren
- Verlagerung der Entscheidung aus dem emotionalen Bereich in den rationalen
Bereich
- Motivation und Stärkung der Loyalität von Parteifunktionären (vgl. Aiginger 1985:
95).
Zudem stuft Aiginger die ÖVP als eine Partei ein, die der Programmarbeit einen niedrigen
Stellenwert zuschreibt, da deren Handlungen zumeist nicht auf die Grundsatzprogramme
zurückzuführen sind (vgl. Aiginger 1985: 95). Pelinka bestätigt diese Annahme von
Aiginger insofern, da er schreibt, dass jedes Grundsatzprogramm der ÖVP seit der
Gründung im Jahr 1945 oftmals mittels Wahl- und Regierungsprogrammen bzw.
programmatischen Formulierungen erweitert und präzisiert wurde. Das primäre Ziel dieser
Erweiterungen ist naheliegend: Strategische und taktische Ausrichtung der Partei
hinsichtlich der Außenwahrnehmung im Kampf um Wählerstimmen. So können
Grundsatzprogramme als Werbefunktion bzw. als Werkzeug zum Generieren von
Wählerstimmen betrachtet werden (vgl. Pelinka 1985: 11ff). Beispielsweise wurde 1989
aufgrund der Befürchtung mögliche Wähler/innen zu verlieren, darauf verzichtet,
programmatischen Umweltschutzbekenntnissen einen höheren Stellenwert beizumessen
(vgl. Müller 2006: 357).
5. Österreichische Volkspartei Seite 60
5.2.3. Politisches Programm der ÖVP - Fazit
Wie auf den vorigen Seiten ersichtlich, wird von mehreren Experten/innen der
Programmarbeit der ÖVP ein überschaubarer Stellenwert zugerechnet. Stellvertretend
können nochmals Aiginger und Pelinka angeführt werden. Beide erkennen, dass
Grundsatzprogramme mehrmals mittels Wahl- und Regierungsprogrammen noch erweitert
bzw. präzisiert wurden. Der Fokus liegt somit ganz klar auf der strategischen Ausrichtung
der Partei.
Eine ähnliche Ansicht teilen Daniel Dettling und Richard Schütze in einem Zeitungsartikel.
Dabei äußern sie die Meinung, dass es der ÖVP an einem Masterplan fehlt. Zwar wird
versucht mit allgemeinen – durchaus richtigen und wichtigen - Botschaften wie
„Wirtschaft stärken, Familien entlasten, Haushalt konsolidieren und Bürokratie abbauen“
die Leute anzusprechen, jedoch fehlen konkreten Inhalte. Primäres Ziel sollte sein: Weg
von einer Politik die „allen wohl- und niemanden wehtun“ (Dettling/ Schütze 2014) soll.
Ein nachhaltiger Erfolg bei der Wählerschaft wird nur erreicht, wenn die drei „P“ der
Politik aufeinandertreffen - nämlich Programm – Partei und Personal (vgl. Dettling/
Schütze 2014).
Neben Kritik an der derzeitigen Programmarbeit, präsentieren die beiden Autoren aber
auch einen möglichen Lösungsansatz. Sie konstatieren zwei wesentliche Aspekte, welche
die ÖVP verändern müsste: Es müsste anstelle dem Gegeneinander der Landesverbände
und der Bünde ein parteiinterner Ideenwettbewerb werden aus dem sich auch ein neues
attraktives Parteiprogramm entwickeln könnte. Dazu müssten den Botschaften
überzeugende Inhalte hinzugefügt werden. Aus Partei, Programm und Personal sollte eine
stimmige Verdichtung aus Denken, Handeln und Reden erfolgen (vgl. Dettling/ Schütze
2014).
5.3. Politische Führung der ÖVP
Im nächsten Abschnitt dieser Arbeit wird versucht, einen Überblick über die politische
Führung in der Partei zu geben. Hinsichtlich der Führung der Partei ergeben sich mehrere
Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden sollen: Sollte der Obmann/frau der
Partei ein/e ausgelassene/r oder eher temperamentvolle/r Typ sein, um die
Führungsposition innerhalb der Partei gegenüber den Widersachern erfolgreich behaupten
5. Österreichische Volkspartei Seite 61
zu können? Welcher politische Führungsstil eignet sich am besten, um an der Spitze der
Partei bestehen zu können?
Antworten auf diese gestellten Fragen gilt es in den nächsten Seiten der Arbeit zu
erarbeiten und aufzuzeigen.
„Die ÖVP läuft Gefahr, dass der Parteiobmann zum Ehrenvorsitzenden der
Arbeitsgemeinschaft der Landesparteichefs verkommt“ (John 2010) – Erhard Busek,
ehemaliger Bundesparteivorsitzender.
Jene Aussage von Erhard Busek aus dem Jahr 2010 beschreibt äußerst treffend das
politische (Führungs)Dilemma in der Österreichischen Volkspartei. Bereits seit ihrer
Gründung beschäftigt die Partei dieses Problem: Die Führungsspitze der Partei befindet
sich zwischen mehreren starken Machtzentren und wird mit Konflikten zwischen diesen
unterschiedlichen Ebenen konfrontiert (vgl. Wagner 2014: 143). Der Föderalismus in der
österreichischen Republik bestehend aus den neun Bundesländern und 83 Bezirken
kennzeichnet auch den föderalen Aufbau der Österreichischen Volkspartei. Vor allem in
den Bundesländern Vorarlberg, Ober- und Niederösterreich entstanden im Lauf der
Zweiten Republik und aufgrund langer, uneingeschränkter Regierungsperioden mit den
Landeshauptleuten starke Vetomächte. Dabei gilt es zu erwähnen, dass vielfach die
mächtigen Landeshauptleute ihre Autorität dank einer Distanzierung gegenüber der
Bundes-ÖVP besitzen (vgl. Fallend 2005: 198).
Eklatante Wahlniederlagen der Bundespartei, insbesondere in den 1980er und 1990er
Jahren, hatten ein innerparteiliches Ungleichgewicht bzw. Übergewicht mit Vorteilen der
Landesparteiorganisationen zur Folge (vgl. Wagner 2014: 143). Vielfach versagten die
selbstbewussten Landesparteien der (angeschlagenen) Bundespartei bei Forderungen die
Gefolgschaft, ängstigten die Bundespartei mit Abspaltungsplänen (vgl. Dachs 2003: 109),
behielten Einnahmen zurück (vgl. Lahodynsky 2010) oder verweigerten die Unterstützung
im Wahlkampf bei Nationalratswahlen (vgl. O.V. 2011a). Die größer werdende
Unabhängigkeit wird auch bei den öffentlichen Auftritten der Landesparteien
augenscheinlich. Die Parteibezeichnung wie auch das Parteilogo und der fehlende Bezug
zur Bundespartei belegen diese Entwicklung. (vgl. Österreichische Volkspartei 2016) Die
nachfolgende Grafik belegt diesen Verlauf.
5. Österreichische Volkspartei Seite 62
Abbildung 9: Landesparteiorganisationen der ÖVP; Quelle: https://www.oevp.at/die-partei/Oevp-
Familie.psp?ref=m1 (Zugriff: 08.08.2016)
Der österreichische Föderalismus gewährt den jeweiligen Landeshauptleuten eine
verhältnismäßig hohe Selbstbestimmung, insbesondere gegenüber der Bundespartei.
Beispielsweise stammte von 1960 bis 2004 bei Wahlen in sechs von neun Bundesländern
der Landeshauptmann durchgehend von der gleichen Partei (vgl. Pelinka 1998: 222).
Ersichtlich wird die Macht der Landesparteiorganisationen auch bei eingehender
Begutachtung der Bundesgremien (vgl. Nowak 2011): Im Bundesparteivorstand, welcher
unter anderem auch für die Nominierung des Parteiobmanns und somit des
Spitzenkandidaten zuständig ist, sitzen neben den Mitgliedern der Bundesregierung und
den Obleuten der sechs Teilorganisationen auch noch die neun Landesparteiobleute. Es ist
daher anzunehmen, dass sich schon aus statuarischer Betrachtungsweise her eine
Abstimmung zuwider der Interessen der Landesparteiobleute kaum umsetzen lässt (vgl.
Weißensteiner 2010).
Beispielsweise forderte der damalige Obmann der Bundespartei und Vizekanzler Michael
Spindelegger 2012 ein Durchgriffsrecht in Personalfragen bei Verstößen gegen den
parteieigenen Verhaltenskodex, welches von den Ländern aber abgelehnt und daher nicht
eingeführt wurde (vgl. Ettinger 2012).
Weiteres Konfliktpotential für innerparteiliche Konfrontationen – neben dem territorialen
Aufbau – ergibt sich durch die bündische Gliederung der ÖVP.
5. Österreichische Volkspartei Seite 63
Wie schon oben angeführt und kurz beschrieben, sind die einzelnen Bünde:
- der Österreichische Wirtschaftsbund (ÖWB),
- der Österreichische Bauernbund (ÖBB),
- der Österreichische Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund (ÖAAB),
- die Junge Volkspartei (JVP)
- die ÖVP- Frauen
- der Österreichische Seniorenbund.
In der Literatur wird die Junge ÖVP, die eigentlich den politischen Nachwuchs der Partei
darstellen sollte, trotz ihrer konstanten Mitgliederzahl von etwa 100.000 Mitgliedern
infolge der drei großen, mächtigen Bünde als praktisch bedeutungslos angesehen (vgl.
Hartmann 1995: 323). Dazu verweist Wagner auf Weber und Huber die feststellen: Formal
zwar als selbstständige und selbstfinanzierte Institutionen aktiv, versuchen speziell die drei
großen Bünde ÖWB, ÖBB, ÖAAB aufgrund ihrer hohen Mitgliederzahl in Bezug auf die
Programm- und Personalentscheidungen bei der Bundespartei Einfluss zu nehmen und
Druck auszuüben. Grund für die hohen Mitgliederzahlen der Bünde ist die lange Zeit nicht
existierende Direktmitgliedschaft in der Partei. Eine Mitgliedschaft in der Partei war schon
mittels Beitritt zu einer oder mehrer Teilorganisationen möglich (vgl. Wagner 2014: 146).
Zwar wurde die Direktmitgliedschaft, um die Bundespartei zu stärken, Anfang der 1980er
Jahre installiert (vgl. Beck/Robert/Schaller 2003: 179), aber reine ÖVP-Mitgliedschaften
können immer noch als eine Ausnahme bezeichnet werden (vgl. Müller 2006: 349).
Um die eigenen Interessen erfolgreich lancieren zu können, die sich meistens von den
Interessen der anderen Teilorganisationen unterschieden, bevorzugten die
Teilorganisationen verstärkt einen umstrittenen Parteiobmann, dem die breite,
innerparteiliche Rückendeckung fehlte (vgl. Sully 1991: 49).
Kriechbaumer schreibt, dass diese Bündestruktur bei weitem nicht mehr den
gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten entspricht, dennoch die
Kandidatenauswahl eines möglichen Regierungsteams mittels einer Interaktion der Bünde
durchgeführt wird (vgl. Kriechbaumer 1981: 145).
Thomas Seifert erwähnt in seinen Ausführungen noch ein weiteres, durchaus gängiges
Rekrutierungsmuster bei der Suche nach Kandidaten für Spitzenpositionen innerhalb der
Partei: Es zeigt sich, dass alle Generalsekretäre, Bundesparteiobmänner und Bundeskanzler
5. Österreichische Volkspartei Seite 64
bis ins Jahr 1970 Mitglieder des katholisch beeinflussten Österreichischen
Cartellverbandes (OCV) waren (vgl. Seifert 1998: 17ff). Pelinka bestätigt diese Aussage
von Seifert: die Mehrheit der Regierungsmannschaft bestand bis in die 1970er Jahre aus
Mitgliedern dieses Dachverbands. Lange Zeit machte es den Eindruck, dass Mitglieder
studentischer Verbindungen einen Vorsprung vor anderen Bewerbern hatten und diese
Verbindungen als eine Form der Vorfeldorganisation der Partei betrachtet werden konnten
(vgl. Pelinka 1970: 539). Auch heute ist dieses Auswahlverfahren noch üblich.
Dieses Auswahlverfahren, das auf einer proportionalen und aufeinander folgenden
Präferenz der Bünde- und Verbändeinteressen ausgestaltet ist, wurde bereits mehrfach in
Form von parteiinternen Analysen diskutiert. Etwa ergab eine im Auftrag der ÖVP
erarbeitete Studie, dass das bestehende Rekrutierungsverfahren mangelhaften
Aktionsradius für Innovationen beinhaltet. Gleichermaßen wurde die Geschlossenheit der
Verbände, die einen Einstieg in das politische System für Quereinsteiger/innen beinahe
unmöglich machen, kritisiert (vgl. Stirnemann 1993: 672).
„Die Kritik an den Mechanismen spiegelt auch eine Umfrage des Metis-Institut von 2004
wider, nach der beinahe zwei Drittel der Befragten die Politiker/innen als Systemfehler
bezeichnen“ (Wagner 2014: 149).
5.3.1. Die Zeit als Oppositionspartei unter Alois Mock und die Rückkehr auf die
Regierungsbank
„In den 1980er Jahren durchlebte die ÖVP bei der Rekrutierung der politischen Elite eine
Phase der Konflikte und des Scheiterns, wenn es um das Erreichen des Ziels ging, die
Sozialdemokraten auf Bundesebene zu überflügeln“ (Wagner 2014: 149). Nach 17 Jahren
in der Opposition schaffte es die ÖVP, den Aufschwung aus dem gewonnenen
Bundespräsidentenwahlkampf 1986 mitzunehmen und ab 1987 immerhin als Juniorpartner
in einer großen Koalition in der Regierung mitzuwirken (vgl. Wagner 2014: 150). Der
Eintritt in die Regierung als Partner der SPÖ hatte für die ÖVP mehrere Folgen: Wie schon
weiter oben angemerkt, war das innerparteiliche Gleichgewicht bzw. die Zufriedenheit der
Teilorganisationen nur mit einer Regierungsbeteiligung zu erreichen, in der die Bünde ihre
Interessen umsetzen und einzelne Ämter besetzen konnten (vgl. Kriechbaumer 1995: 58).
Alois Mock, der neue, jedoch von Anfang an umstrittene Parteichef, folgte auf Josef Taus,
der die Vormachtstellung der SPÖ mit ihrem Spitzenkandidaten Bruno Kreisky nicht
5. Österreichische Volkspartei Seite 65
brechen konnte, als Bundesparteiobmann (vgl. Wagner 2014: 150). Der neue Parteichef
versuchte mit einer Parteireform die Macht der Bünde einzuschränken, indem er den
Vorzug der Bundespartei vor den Bünden und Teilorganisation festlegte (vgl.
Kriechbaumer 1995: 65).
Die Bestellung von Alois Mock als Parteiobmann wird in der Literatur als eine typische
Kompromisslösung innerhalb der Partei bezeichnet: Bereits bei seinem Aufstieg ins
Unterrichtsministerium als Minister profitierte Alois Mock von den Regeln des föderalen
Proporzes. Ähnlich verhielt es sich, als er in das Amt des ÖAAB- Vorsitzenden gewählt
wurde – auch hier galt Mock als Kompromisslösung. Bezeichnend ist, dass Mock weder
ministerielle noch fachliche Erfahrung und Kompetenz sowie Kenntnis in der Führung
höherer Ämter vorweisen hatte können (vgl. Eichtinger/Wohnout 2008: 35).
Ständig wiederkehrende Obmann-Debatten führten dazu, dass die innerparteiliche
Harmonie verloren ging. Anfangs gelang es Mock noch, die entstandenen Gräben mittels
staatsmännischer Profilierung zu überlagern. Nach einigen verlustreichen Landtagswahlen
in Salzburg, Kärnten und Tirol, spitzte sich die sowieso schon angespannte
Machtkonstellation innerhalb der Partei noch weiter zu. Der geschwächte Niederösterreich-
Block um Alois Mock, Robert Lichal und Siegfried Ludwig wurde mit einer
„Reformgruppe“ bestehend aus den Steirer und Wiener Landesverbänden konfrontiert.
Umfangreiche personelle wie auch eine programmatische Erneuerung, um gerade im
urbanen Raum neue Wählerschichten zu erreichen, waren die zentralen Forderungen der
beiden Landesverbände (vgl. Kriechbaumer 1995: 72f). Der damalige steirische
Landeshauptmann verlangte den Rücktritt Mocks von seinem Amt als Parteiobmann (vgl.
Wachter 1994: 106). Wagner schreibt, dass Huber und Weber festhalten, dass Mock
anfangs noch auf eine Fortsetzung seines Amtes bestand, gab den Forderungen allerdings
später nach, da vor allem der steirische Landesverband mit einer Abspaltung nach CSU-
Vorbild bei einer Wiederwahl von Mock als Obmann der Partei gedroht hatte (vgl. Wagner
2014: 152). „Die Pläne wurden erst durch das Einlenken Mocks aufgegeben, der nicht nur
in diesem Fall die leidvolle Erfahrung durchleben musste, als Parteiobmann ein Spielball
der Länderinteressen zu sein“ (Wagner 2014: 152).
Mitte der 1990er Jahre gelang es Mock, zu dieser Zeit bereits von einer Parkinsonkrankheit
beeinträchtigt, seine Sympathiewerte zu steigern: Innerhalb weniger Jahre verdoppelte er
5. Österreichische Volkspartei Seite 66
seine Zustimmungswerte von 41 Prozent auf 82 Prozent. Seine offene
Aufopferungsbereitschaft erzeugte eine offensichtliche Hemmschwelle auf der Seite seiner
politischen Gegner und bewahrte ihn vor direkten Attacken. Erst im Spätherbst seiner
politischen Laufbahn, nachdem sich bei Mock die begrenzten Machtbefugnisse von Partei-
auf Regierungsämter verlagert hatten, erfuhr er von der ÖVP Wertschätzung als Politiker.
Vielfach wurde er nun als brillierender Politiker und Aushängeschild der Partei bezeichnet.
Dennoch scheiterten seine Bemühungen als Parteiobmann innerhalb der ÖVP die
Dominanz und Machtposition der Bünde und Landesorganisationen einzuschränken und
die Position der Bundespartei zu stärken (vgl. Wagner 2014: 152f).
5.3.2. Neuausrichtung unter Josef Riegler und Erhard Busek
Nach dem Rückzug von Alois Mock aus der Partei drängten sich Fragen nach einer
grundsätzlichen Neuausrichtung der ÖVP auf. Wissenschaftliche Studien, welche für die
bevorstehende Nationalratswahl im Jahr 1990 eine herbe Niederlage für die
Österreichische Volkspartei prophezeit hatten, trieben den Entschluss, einen neuen
Obmann zu installieren, voran (vgl. Müller/Plasser/Ulram 1999: 232).
Wie schon unter der Obmannschaft von Alois Mock, der damals als eine
Kompromisslösung zwischen den konkurrierenden Bünden zum Obmann gewählt wurde,
entwickelte sich auch dieses Mal ein ähnliches Szenario. Der traditionelle Bauernbund und
der liberale Wirtschaftsbund konnten sich schließlich als Kompromisslösung auf Josef
Riegler und dessen Konzept der Ökosozialen Marktwirtschaft einigen (vgl. Wagner 2014:
153). Es wurde aber schnell offensichtlich, dass sich der neue Obmann im rauen
politischen Alltag nicht wohlfühlte und auf die innerparteilichen Attacken gegen ihn keine
Antworten wusste (vgl. Wagner 2014: 153).
Bei der anstehenden Nationalratswahl im Oktober 1990 offenbarten sich die Schwächen
des Obmannes deutlich: seine fehlende Ausstrahlung, wie auch das geringe
Durchsetzungsvermögen bei Konflikten innerhalb der Partei waren maßgeblich für das
schlechte Abschneiden bei dieser Wahl verantwortlich. Am Wahlabend bekam die ÖVP 32
Prozent aller Wählerstimmen und musste im Vergleich zur letzten Wahl einen Verlust von
beinahe einem Viertel der Stimmen hinnehmen. Im direkten Vergleich zwischen den
beiden Spitzenkandidaten war die Niederlage noch offensichtlicher: Der amtierende SPÖ-
5. Österreichische Volkspartei Seite 67
Kanzler Vranitzky lag in dieser Abstimmung etwa 50 Prozentpunkte vor dem ÖVP-
Spitzenkandidaten Josef Riegler (vgl. Sommer/Plasser/Ulram 1991: 142).
Nachdem Riegler im Frühjahr 1991 verkündet hatte, beim anstehenden Parteitag nicht
mehr als Kandidat anzutreten, entstand erneut eine öffentlich geführte Diskussion über
vorhandene und fehlende Kompetenzen der möglichen Kandidaten. Es entwickelte sich
eine Pattsituation – einerseits die Reformer und andererseits die traditionelle Sektion der
ÖVP (vgl. Kriechbaumer 1995: 83).
Die Fraktion der Niederösterreicher rund um Siegfried Ludwig und Robert Lichal sprachen
sich für eine politisch neue Lösung aus und favorisierten den Quereinsteiger und früheren
IBM-Manager Bernhard Görg für die Position des ÖVP-Obmanns. Demgegenüber
versuchte die Landesorganisation der ÖVP Steiermark den Bundesminister für
Wissenschaft und Forschung, Erhard Busek, zur Kandidatur zu überzeugen. Schlussendlich
ließ sich Busek für die Wahl zum Obmann aufstellen, nachdem sich die Partei kurz vor der
Zerreißprobe befand, da sich dieses Mal kein Konsenskandidat finden ließ. Bereits davor
gab es einen Vorschlag von der Wahlkommission, der Busek als den ÖVP-Obmann und
den Neueinsteiger Görg für ein Ministeramt präferierte (vgl. Wagner 2014: 155).
Mit den beiden Kandidaten Busek und Görg trafen bei der erstmalig durchgeführten
Mitgliederabstimmung über den Vorsitzenden der Partei zwei parteigebundene, allerdings
komplett unterschiedliche Charaktere aufeinander: Auf der einen Seite mit Görg ein
Unternehmensberater, der eine Mitgliedschaft im Cartellverband vorweisen konnte und auf
die Unterstützung Nieder- und Oberösterreichs sowie der Jugendorganisation hoffen
durfte. Demgegenüber war die Aussicht für Busek, der bereits seit Mitte der 1960er Jahre
als zweiter Klubsekretär für die ÖVP im Nationalrat arbeitete und in diesen knapp drei
Jahrzehnten seiner Parteitätigkeit mehrere Konsensentscheidungen miterleben hatte
müssen, als Sieger dieser Abstimmung hervorzugehen durchaus realistisch, denn Busek
galt als Vertreter des Wirtschaftsbundes (vgl. Wagner 2014: 155). Der letzte Obmann, den
der Wirtschaftsbund stellen durfte, war Hermann Withalm und dessen Amtsperiode lag
schon wieder zwei Jahrzehnte zurück. Durch Busek konnte nun die lange Zeit des Wartens
aus der Sicht des Wirtschaftsbundes auf einen neuen Obmann aus ihren Reihen beendet
werden (vgl. Wagner 2014: 155).
„Busek hatte bereits im Wien der 1970er Jahre Furore gemacht, als er die im Straucheln
begriffene Landespartei im roten Wien völlig neu organisierte und der Partei trotz großer
5. Österreichische Volkspartei Seite 68
Widerstände ein urbanes Programm mit der Unterstützung alternativer
Partizipationsformen, wie etwa Bürgerinitiativen, gegeben hatte“ (Wagner 2014: 156).
Der Favorit (Busek) konnte sich schlussendlich gegen den Quereinsteiger (Görg)
durchsetzen und wurde der neue Parteiobmann der ÖVP nach Josef Riegler.
Im Jahr 1991 kam es zu einer Reform: Um die Entscheidungsfähigkeit nachhaltig zu
optimieren, wurden die Parteiführungsorgane, wie etwa das Parteipräsidium und der
Parteivorstand, verkleinert. Ziel war es, ein kleineres und flexibleres Führungsgremium
aufzustellen (vgl. Müller 1997: 268f).
Das neue Parteipräsidium setzte sich zusammen aus:
- dem Parteiobmann und seinem Stellvertreter
- den Generalsekretären
- dem Klubobmann
- dem Nationalratspräsidenten der ÖVP
- dem Ehrenobmann (vgl. Wagner 2014: 157).
Der Bundesparteivorstand bestand nur noch aus dem Obmann, dem Generalsekretär, den
Landesparteiorganisationen, dem Nationalratsklub sowie dem Städte- und Gemeindebund.
Außerdem wurde der Vorstand auf höchstens zehn Mitglieder reduziert und die Anzahl der
Mitglieder der Bundesparteileitung auf 30 Mitglieder gesenkt. Erstmals wurde die Macht
der Bünde augenscheinlich eingeschränkt, da bloße Mitglieder bei Teilorganisationen
aufgrund des Verlustes des aktiven und passiven Wahlrechts von nun an kein Recht mehr
auf eine Kandidatur hatten bzw. an keinen offiziellen Entschlüssen mitbestimmen konnten
(vgl. Wagner 2014: 157f).
Weiters verweist Wagner in seiner Analyse auf Zöchling, welche konstatiert, dass der neue
Obmann obgleich seiner Offenheit, Intellektualität und Beweglichkeit in der
österreichischen Bevölkerung deutlich unbeliebter als beispielsweise Alois Mock war.
Zudem hält er fest, dass es Busek an innerparteilicher Rückendeckung mangelte, um die
beiden Ämter – Parteichef und Spitzenkandidat – voneinander trennen zu können. Das
maßgebliche Versprechen, die Volkspartei zu erneuern, dass sich viele Mitglieder durch
die Wahl von Busek zum Obmann erhofft hatten, konnte er trotz einer ersichtlichen
Aufbruchsstimmung nicht erfüllen (vgl. Wagner 2014: 158). Auer und Marschitz stellen
sogar fest, dass sich die Kluft aufgrund von Kampfabstimmungen und entzweiender
Bekenntnisse noch vergrößert hatte (vgl. Auer/Marschitz 1996: 167).
5. Österreichische Volkspartei Seite 69
Erhard Busek schaffte es auch als Bildungsminister im vierten Kabinett unter der Führung
von Bundeskanzler Franz Vranitzky nicht, das erhoffte Bild eines führungsstarken
Obmanns wiederzugeben: Da die Regierungskoalition die verfassungsändernde Zwei-
Drittel-Mehrheit verlor, ergaben sich für Busek obendrein nur wenige
Gestaltungsmöglichkeiten im politischen Alltag (vgl. Wagner 2014: 162). „So kam es nicht
überraschend, dass nicht nur die fortwährende Stellung als Juniorpartner einer SPÖ-
geführten Regierung dem Verständnis der eigenen Stärke widersprach, auch die Debatten
über das traditionelle Obmann-Morden, die die Partei überdies in Umfragen hinter die FPÖ
zurückfallen ließen, spitzten die prekäre Situation für Busek weiter zu“ (Wagner 2014:
162).
Unter diesen Voraussetzungen war es kaum vorstellbar, dass Busek beim nächsten
Parteitag noch einmal das Vertrauen geschenkt bekommen würde und er noch einmal zum
Obmann der Partei gewählt werden würde. Ebenso sprach auch die Zusammenkunft der
Parteikommission, bestehend aus den Bünde- und Landesorganisationen, die die
Kandidatenvorschläge erarbeiteten, unter der Leitung des Niederösterreichischen Busek-
Gegners Erwin Pröll, gegen eine Wiederwahl von Erhard Busek (vgl. Fallend 2005: 193).
Als Ausweg aus der hoffnungslosen Situation empfahl Busek den Wirtschaftsbund-
Gefährten Wolfgang Schüssel als seinen Nachfolger zum Parteiobmann, da dieser den
eingeschlagenen urban-liberalen Weg zu einer Volkspartei der Mitte am ehesten
fortzuführen gedachte. Dieser Vorschlag spaltete die Kritiker Buseks, zumal aus dem
parteiinternen Meinungsvorschlag hervorging, dass mit Wolfgang Schüssel die
Kombination von Programm und Person am erfolgreichsten blieb (vgl. Kriechbaumer
1995: 93f).
Schließlich wurde Wolfgang Schüssel nach langer interner Diskussion auf dem Parteitag
mit über 95 Prozent der Stimmen als Nachfolger von Erhard Busek zum neuen
Bundesparteiobmann der ÖVP berufen (vgl. Wagner 2014: 162). Eine Wahl mittels
Kampfabstimmung, wie es 1991 bei Busek der Fall war, wiederholte sich somit nicht.
Künftig standen die Parteitage wieder im Zeichen der Inszenierung des neuen Obmanns
wie auch der Optimierung der Ausgangsposition der neugewählten Personen (vgl. Ettinger
2011b).
5. Österreichische Volkspartei Seite 70
5.3.3. Impulse zur Wiederherstellung der ÖVP unter Wolfgang Schüssel
Als bereits vierter ÖVP Spitzenkandidat bei Nationalratswahlen seit 1986 kandidierte der
neue ÖVP Bundesparteiobmann Wolfgang Schüssel bei den kurzfristig angesetzten
Neuwahlen im Jahr 1995. Da in den Verhandlungen über den Haushalt zwischen den
beiden Parteien SPÖ und ÖVP keine Einigung erzielt werden konnte – die ÖVP scheiterte
mit ihren Pläne bezüglich einer Strukturreform bei der Haushaltssanierung – waren die
Neuwahlen unvermeidbar geworden (vgl. Dachs/Müller/Tálos 2006: 36). Wagner verweist
auf Lackner, der in einem Artikel konstatiert, dass gute Umfrageergebnisse die ÖVP
veranlasste von der alten „Stärke“ zu träumen: Schüssel gelang es die ÖVP wieder näher
an die SPÖ heranzubringen. Er schaffte es sogar, den beliebten Sozialdemokratischen
Bundeskanzler Franz Vranitzky im direkten Vergleich zu überholen. Außerdem verbreitete
sich in der österreichischen Bevölkerung die Meinung, dass die ÖVP eher wählbar sei als
die SPÖ (vgl. Wagner 2014: 163). Unter Berücksichtigung des Charakters von Schüssel
erstaunte dieses Lob, da der neue Obmann noch immer als eine Kompromiss- und
Durchschnittslösung im Gleichgewicht der Bünde- und Länderinteressen betrachtet wurde.
Bereits früher war Schüssel Bestandteil des Verhandlungsteams der ÖVP bei
Koalitionsverhandlungen gewesen und agierte nicht unbedingt als Erneuerer. Vergleichbar
mit Busek, seinem Vorgänger als Parteiobmann, verkörperte Schüssel das urban-liberale
Milieu ohne wirklich Volksnähe zu zeigen (vgl. Wagner 2014: 163).
In Anbetracht der aussichtsreichen Grundstimmung gegenüber der ÖVP startete die SPÖ
auf Anraten von Werbeagenturen relativ spät mit dem eigentlichen Wahlkampf (vgl.
Wagner 2014: 164). „Anstatt aber wie die Volkspartei schließlich mit Aplomb ihren
anfänglichen Vorteil zu verspielen, setzten die Sozialdemokraten auf programmatische
Unterschiede, indem sie vor allem die Furcht vor einer Regierungsbeteiligung der
Freiheitlichen Partei schürten“ (Wagner 2014: 164).
Mithilfe dieser Strategie gelang es der SPÖ, die Wahl zu gewinnen sowie den Vorsprung
gegenüber der ÖVP wieder auszubauen – ein Rückschlag für die ÖVP und ihren neuen
Obmann Wolfgang Schüssel, der versucht hatte, genau dieses Szenario zu verhindern (vgl.
Wagner 2014: 164).
Wagner bezieht sich auf Wachter, der festhält, dass sich die ÖVP Mitte der 1990er Jahre
mit mehreren Wahlniederlagen auf Landesebene konfrontieren musste. Paradoxerweise
konnte Schüssel von diesen Wahlniederlagen „profitieren“, da die der Bundespartei
kritisch ausgerichteten Landeshauptleute geschwächt wurden und so für kurze Zeit keine
5. Österreichische Volkspartei Seite 71
Kritik am Kurs der Bundespartei und ihrem Obmann ausübten (vgl. Wagner 2014: 166f).
Zudem erfuhr Schüssel als Wirtschaftsbündler den Beistand des Wirtschaftsbundes, der
hinsichtlich der Proporzgedanken und den beiden Obmännern Busek und Schüssel nicht so
schnell wieder einen Spitzenkandidaten würde stellen können. Gleichermaßen reduzierten
sich die gezielten Angriffe von den Landesorganisationen und ihren mächtigen
Landeshauptleuten, da diese noch immer ihre Wahlniederlagen aufzuarbeiten hatten (vgl.
Wagner 2014: 167).
Auffallend war, dass dieses Mal die Obmänner der Bünde keine Kritik an Kurs und
Obmann aussprachen (vgl. Wineroither 2009: 270). Nur mehr den dritten Platz nahm die
ÖVP nach diversen Umfragen ein und wurde somit von der FPÖ überholt. Die
Vergangenheit hatte gezeigt, dass schlechte Umfragewerte bisher immer genutzt wurden,
um an der Ablöse der Parteispitze zu arbeiten (vgl. Müller/Plasser/Ulram 2004: 167). Die
Bilanz der letzten Jahrzehnte war für die Österreichische Volkspartei durchaus bescheiden:
Der Partei gelang es das letzte Mal unter Josef Klaus – damals in einer Alleinregierung –
den Kanzler zu stellen. In den darauf folgenden Jahren erreichte immer die SPÖ den ersten
Platz, konnte den Bundeskanzler stellen und die ÖVP war nur als der „kleine
Juniorpartner“ Teil der Regierung. Folglich entschied sich die Parteispitze der ÖVP dazu,
neue strategische Überlegungen angesichts möglicher (neuer)
Regierungspartner/Koalitionspartner anzudenken. Daher kam es gegen Mitte der 1990er
Jahre zu einer Erweiterung der Koalitionsfestlegung in Richtung FPÖ und gleichzeitig zu
einer Abkehr von einer strukturellen Koalitionsbeschränkung auf die Sozialdemokratische
Partei Österreichs. So verhalf beispielsweise die ÖVP mit ihren Stimmen 1996 dem
umstrittenen FPÖ-Kandidaten Wilhelm Brauneder zum dritten Nationalratspräsidenten und
näherte sich der FPÖ weiter an (vgl. Wagner 2014: 168).
Wolfgang Schüssel gelang es, nach einem stark auf ihn ausgerichteten Wahlkampf, für
weitere Überraschungen zu sorgen: Begleitet von Massenprotesten, eröffnete er, nachdem
die Partei bei den Nationalratswahlen hinter der SPÖ und der FPÖ nur den dritten Platz
erreicht hatte, Koalitionsverhandlungen mit der zweitplatzierten FPÖ (vgl.
Lengauer/Pallaver/Pig 2007: 115ff).
Auch innerhalb der Partei wurde der Schritt nach rechts in Richtung FPÖ durchaus
kritisiert und war nicht unumstritten. Jedoch wusste Schüssel die richtigen Argumente
vorzubringen, um die traditionellen Vetomächte zu überzeugen und zu besänftigen: Die
5. Österreichische Volkspartei Seite 72
Gelegenheit vom Juniorpartner zum Anführer einer Koalitionsregierung aufzusteigen,
überzeugte die Vetospieler. So votierte lediglich der ÖVP-Chef der Wiener
Landesorganisation gegen eine Regierung mit der FPÖ (vgl. Wagner 2014: 169). Wagner
ergänzt: „Die ÖVP verlangte nach Jahrzehnten ausbleibender Kanzlerschaft vehement
nach dem hohen Regierungsamt, sodass allein schon die bloße Aussicht dies auch als
drittstärkste Partei zu erreichen, für eine bislang nicht dagewesene innerparteiliche
Geschlossenheit sorgte“ (Wagner 2014: 169).
Wagner verweist auf Ortner, welcher bemerkt, dass Schüssel persönlich viel Missbilligung
erntete, als sich nach langen Verhandlungen mit der rechtspopulistischen FPÖ die
Koalition wirklich abzeichnete. Zudem musste sich Schüssel mit dem Vorwurf, dem
Rechtsextremismus gegenüber zu leichtsinnig zu sein, auseinandersetzen. Sein Verhalten
wurde nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland stark kritisiert und erfuhr starke
Ablehnung (vgl. Wagner 2014: 169). Zentraler Vorwurf war, dass er (Schüssel) das eigene
(angekündigte) Oppositionsversprechen übergangen hat und die FPÖ gestärkt habe. Doch
die Partei stand hinter ihrem Obmann und unterstützte den neuen Kanzler. Der allgemeine
Tenor lautete, dass sich die FPÖ innerhalb des Verfassungsbogens bewege und der
umstrittene FPÖ-Chef Jörg Haider kein Ministeramt übernehmen bzw. bekommen werde
(vgl. Wagner 2014: 169f).
Generell sah sich die Volkspartei im Umgang mit der FPÖ unter Jörg Haider mit
Herausforderungen konfrontiert: Der neue Bundeskanzler agierte in der anfänglichen
Phase ausgesprochen ruhig, beruhigte die Lage in den eigenen Reihen und schritt nur
sporadisch, jedoch dann umso effektiver, ein. Die Beförderung von loyalen Weggefährten
wie Othmar Karas und Maria Rauch-Kallat in die Parteizentrale sowie die Stellung als
stärkerer Regierungspartner schwächte traditionelle Konflikte innerhalb der Partei weiter
ab (vgl. Wagner 2014: 170).
Zusätzlich führte der nie zuvor dagewesene Außendruck aufgrund der gesellschaftlichen
Abneigung gegenüber der FPÖ-Koalition zu einer internen Geschlossenheit und zog eine
Veränderung der ÖVP nach sich: Hierbei verweist Wagner auf Wachter, der erläutert, dass
sich die ÖVP von einer zerstrittenen Gruppierung hin zu einer loyalen „Führerpartei“
wandelte. Je mehr Kritik die Partei aus dem Inland und den europäischen Nachbarländern
einstecken musste, desto disziplinierter verhielt sich die Partei (vgl. Wagner 2014: 170f).
5. Österreichische Volkspartei Seite 73
Weiters hält Rauscher in einem Artikel fest, dass Schüssel auch im Regierungsteam selbst
für Ruhe und Harmonie sorgte: So bekam Ursula Plassnik das Außenministerium
zugesprochen und wurde Kabinettchefin. Der FPÖ-Sympathieträger Karl-Heinz Grasser
übernahm das Finanzministerium (vgl. Rauscher 2011). Mit Wilhelm Molterer als
Landwirtschaftsminister, Martin Bartenstein als Wirtschaftsminister und Elisabeth Gehrer
als Bildungsministerin verfügte Schüssel über ein neues, homogenes und loyales Team.
Vielfach wirkte das Kabinett Schüssel II wegen der zahlreichen personellen
Veränderungen und einer gewissen politischen Inhomogenität wie eine ÖVP-
Alleinregierung (vgl. Dachs/Müller/Tálos 2006: 50).
Schüssel profitierte auch davon, dass sich das Kabinett nicht mit fehlenden
Profilierungsmöglichkeiten auseinandersetzen musste, wie einst Erhard Busek als
Bildungsminister, der bei den medialen Auftritten von Alois Mock das Nachsehen hatte.
Mit der Eingliederung der jeweiligen Obleute der Teilorganisationen in die wöchentlichen
Ministerratsvorbesprechungen sowie intensiven Erfahrungsaustausch mit den
Landesparteiobleuten wusste Wolfgang Schüssel als Kanzler für eine nachhaltig
konfliktfreie Arbeitsweise zu sorgen (vgl. Wineroither 2009: 298ff).
Allerdings ließ sich die Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner FPÖ nicht immer
vollkommen konfliktfrei gestalten. Unterschiedliche Ansichten zwischen den beiden
Parteien gab es beispielsweise hinsichtlich der Bürokratie und der Zuwanderung. In beiden
Fällen forderte die FPÖ eine Reduzierung/Abbau von Missständen (Bürokratie) und eine
massive Beschränkung (Zuwanderung) (vgl. Wagner 2014: 171). Zwar waren diese
Vorhaben durchaus mit der liberalen, staatsreduzierenden Ausrichtung der ÖVP konform,
dennoch erwies sich eine Verständigung mit der regierungsunerfahrenen, typischen
Oppositionspartei FPÖ als kompliziert (vgl. Dachs/Müller/Tálos 2009: 48ff).
5.3.4. Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Michael Spindelegger – die ÖVP in der Krise
Bei den Nationalratswahlen 2006 erlebte die ÖVP eine böse Überraschung: Nach Jahren in
der Opposition gelang es der SPÖ den ersten Platz zurückzuerobern und die ÖVP auf den
zweiten Platz zu verdrängen. An Stelle eines erneuten Wahltriumphs unterlag die ÖVP der
SPÖ mit ihrem neuen Spitzenkandidaten Alfred Gusenbauer. Der geschlagene ÖVP-
Obmann Wolfgang Schüssel führte zwar noch die Koalitionsverhandlungen, legte im
Anschluss darauf aber alle seine Ämter nieder. Wilhelm Molterer, der ÖVP-Klubobmann,
5. Österreichische Volkspartei Seite 74
galt als designierter Obmann-Nachfolger, nahm dieses Amt an. Eine erneute
Regierungsbildung mit der FPÖ war nach dem Obmannwechsel von Schüssel zu Molterer
nicht mehr realistisch (vgl. Sommer 2007: 3ff).
Wilhelm Molterer bekleidete mehrere Ämter innerhalb der Partei, bevor er an die Spitze
der Partei treten durfte. Seine politische Laufbahn begann er als Direktor des
Bauernbundes, wurde darauf ÖVP-Generalsekretär und war danach lange Zeit als
Landwirtschaftsminister in der Regierung engagiert. Anschließend wurde er unter Schüssel
zum Klubobmann im Nationalrat bestimmt. Trotz all dieser Erfahrungen, die der neue
Obmann im Lauf der Zeit sammeln konnte, war sein Weg an die Spitze der Partei absolut
nicht vorgezeichnet. Wagner verweist hierbei auf Zöchling, welche Molterer in einem
Artikel als kompetenten Arbeiter bezeichnet, welcher sich als Bauernbündler vor allem
durch die Förderung Josef Rieglers und aufgrund des Bündeproporzes einen Platz
innerhalb der Funktionärsriege zu Beginn der 1990er Jahre verdiente bzw. erarbeitet hatte
(vgl. Wagner 2014: 174).
Die machtpolitische Ausgangsposition bei Molterer’s Amtantritt präsentierte sich jedoch
katastrophal aus der Sicht der ÖVP: Mit vier von neun Landeshauptleuten, dem
Bundeskanzler wie auch dem Bundespräsidenten, hatte der große Konkurrent – die SPÖ –
die ÖVP überholt. Nun befand man sich zwischen den Sozialdemokraten und der
Freiheitlichen Partei. Ebenso besaß der ehemalige Bundeskanzler und nun im Nationalrat
tätige Schüssel noch beachtlichen Einfluss. Faktoren, die das Arbeiten innerhalb der Partei
nicht wirklich erleichterten (vgl. Völker 2011). Mithilfe einer Statutenänderung gelang es
Molterer seine eigene Position zu festigen. Zusammenkünfte des Parteivorstandes wurden
reduziert und Sitzungen des Parteipräsidiums fanden nur noch nach Aufforderung des
Parteiobmanns (also ihm selbst) statt (vgl. O.V. 2007).
„Das Vorhaben des Bauernbundes, mit ihrem Kandidaten Molterer moderne Visionen,
feste Werte - mit Laptop und Lederhose, mit anderen Worten die traditionellen
Bündestrukturen der Partei mit modernen, gegenwartsnahen Themen zu verbinden -
verfing allerdings nicht“ (Wagner 2014: 175).
Gleichermaßen schaffte es die ÖVP unter der Führung von Molterer nicht, sich hin zur
jungen, urbanen Mittelschicht zu öffnen (vgl. Wagner 2014: 175).
Die schwache Position des Spitzenkandidaten Molterer wurde bei den kurzfristig
festgelegten Nationalratswahlen 2008 augenscheinlich: Lediglich ein Viertel der
5. Österreichische Volkspartei Seite 75
Jungwähler/innen beurteilte Molterer als sympathisch – noch weniger, nämlich nur mehr
sechs Prozent der ÖVP-Wähler/innen argumentierten ihre Stimme für die Partei mit der
Persönlichkeit sowie den Eigenschaften des angetretenen Spitzenkandidaten (vgl. Ulram
2008: 11). Resultierend daraus ergab sich ein großer Verlust an Wählerstimmen und mit
einem Prozentanteil von nur noch 25,6 Prozent aller Stimmen das zweitschlechteste
Wahlergebnis für die Österreichische Volkspartei in der zweiten Republik (die letzte
Nationalratswahl 2013 mit eingerechnet). Es zeigte sich, dass die Partei nicht nur in den
Städten (traditionell) schlechte Ergebnisse einfuhr, sondern vor allem in den schwarzen
„Hochburgen“ und ihren Kernländern enorm an Zuspruch verlor. Beispielsweise erreichte
die ÖVP in Oberösterreich etwa acht Prozent, in Vorarlberg etwa zehn Prozent und in Tirol
sogar zwölf Prozent weniger an Stimmen gegenüber der letzten Nationalratswahl 2006
(vgl. Wagner 2014: 175).
Nach dieser Wahlniederlage war der Schuldige für dieses Ergebnis schnell gefunden:
Wilhelm Molterer. Wenige Tage nach der Wahl zog Molterer die Konsequenzen und trat
zurück, da er auch keine Rückendeckung von den Teilorganisationen und den einzelnen
Landesverbänden mehr erfuhr. Zeitgleich empfahl er den bisherigen Umweltminister und
aus dem Bauernbund stammenden Josef Pröll als seinen Nachfolger (vgl. Wagner 2014:
176). „Trotz des schlechtesten Wahlergebnisses eines designierten ÖVP-Parteiobmanns
überhaupt waren mit der Obmannswahl Josef Prölls in Wels 2008 erneut die
jahrzehntelangen Hoffnungen verbunden, die strukturelle Zerrissenheit durch Bünde und
Landesparteien zu überwinden und dem natürlichen Führungsanspruch der Volkspartei mit
einem klar umrissenen Programm Nachdruck verleihen zu können“ (Wagner 2014: 176).
Ungeachtet anfänglich erfolgreich bestrittener Landtagswahlen brachte es der neue
Obmann nicht fertig, die entstandene Unruhe innerhalb der Partei einzudämmen. Auch
agierte er bei Personalentscheidungen unglücklich: So nominierte er etwa den
Bauernbündler Ernst Strasser für das EU-Parlament, der sich Anfang 2011 in einer
Lobbyisten-Affäre selbst zu Fall brachte, als er verdeckt recherchierenden Journalisten
seine politische Arbeit gegen Zahlung offerierte (vgl. Wagner 2014: 176).
Ähnlich verlief es auf lokaler Ebene: Ziel war es, bei der Landtagswahl in Wien die
zerfallene ÖVP unter der Leitung der Spitzenkandidatin Christine Marek an die
dominierende Sozialdemokratische Partei anzunähern. Allerdings konnte die
Spitzenkandidatin dieses Ziel keineswegs erfüllen und verbuchte mit etwa 14 Prozent und
5. Österreichische Volkspartei Seite 76
dem Verlust von einem Drittel der Stimmen das zum damaligen Zeitpunkt schlechteste
Ergebnis für die ÖVP bei Landtagswahlen in Wien in der Zweiten Republik (vgl.
Zandonella/Reichmann 2011: 26f).
Die in ihn gesetzten Hoffnungen und die entstandene Aufbruchsstimmung, welche sich mit
der Wahl von Josef Pröll zum Parteiobmann innerhalb der Partei gebildet hatte, verblasste
im politischen Alltag sehr schnell. Josef Pröll repräsentierte bald das Bild eines
gescheiterten Obmanns, der sich zwischen zwei „Fronten“ wiederfand: Auf der einen Seite
gab es den Koalitionspartner und auf der anderen Seite „herrschte“ die eigene,
parteiinterne Opposition. Anders als bei seinen Vorgängern, die nach Wahlniederlagen die
Konsequenzen daraus zogen, beendeten gesundheitliche Probleme die Amtszeit von Josef
Pröll als Parteiobmann der ÖVP (vgl. Wagner 2014: 177).
Sofort begannen Diskussionen um mögliche Nachfolgekandidaten. Da der ÖAAB mit
Alois Mock Anfang der 1990er Jahre zum letzten Mal einen Obmann stellen durfte,
beharrte dieser auf das Proporzrecht und präsentierte mit Michael Spindelegger einen
Kandidaten, welcher sowohl die Interessen der Bünde als auch der Länder einkalkulierte.
Der aus Niederösterreich stammende Spindelegger konnte schon zahlreiche Funktionen
vorweisen: So war er unter anderem ÖAAB-Bundesobmann, Zweiter
Nationalratspräsident, stellvertretender Klubobmann im Nationalrat und auch Vertreter der
Angestellten und Beamten (vgl. Wagner 2014: 177).
Pöll schreibt, dass vor allem seine Gabe, bei Treffen bzw. Gesprächen am internationalen
Parkett zu vermitteln, den neuen Obmann auszeichnete (vgl. Pöll 2011a). Ettinger stimmt
in dieser Hinsicht zu und ergänzt noch, dass sein Vermittlungs-Talent die fehlende
Begabung, die Wähler/innen mit mitreißenden Ansprachen begeistern und überzeugen zu
können, ausglich (vgl. Ettinger 2011a): Sein „unaufgeregtes und seriöses“ (Pöll 2011b).
Wesen verhalf ihm überdies hinaus sogar zu politischen Weggefährten und Verbündeten in
den Lagern der Opposition und auch der Sozialdemokratie (vgl. Wagner 2014: 178).
In seiner Zeit als Parteiobmann gelang es Spindelegger aber nicht, seine Position bei den
Wählern/innen zu verbessern und sie von ihm zu überzeugen. Etwa zwei Drittel der
Wahlbevölkerung betrachteten Spindelegger im Jahr 2012 als einen umstrittenen
Spitzenkandidaten, welcher leicht auszutauschen sei (vgl. Seidl 2012b). Generell war das
Bild, das die Bevölkerung von der Österreichischen Volkspartei zu dieser Zeit hatte, kein
5. Österreichische Volkspartei Seite 77
Gutes: So meinten drei Viertel der befragten Personen, dass die ÖVP eine Partei ist, in der
altgediente Politiker/innen das Sagen hätten (vgl. Seidl 2012b). Das IMAS International
verschärft und konkretisiert die Aussagen von Seidl noch: So vertraten zu diesem
Zeitpunkt mehr als zwei Drittel der Österreicher die Ansicht, dass die Leistung von den
Politiker/innen des Landes überwertet wird (vgl. IMAS International 2009a: 2a).
Die Ernennung von Spindelegger zum neuen Parteiobmann wurde nicht von allen Bünden
akzeptiert. So kritisierte etwa der Präsident der Wirtschaftskammer und der Obmann des
Wirtschaftsbunds Christoph Leitl die schnelle Bestätigung Spindeleggers und erklärte mit
Nachdruck, dass er sich Wirtschaftsminister und Wirtschaftsbündler Reinhold Mitterlehner
ebenso gut hätte vorstellen können. Auch andere Parteien meldeten sich zu Wort – wie
etwa die Grünen: Sie schlussfolgerten, dass die ÖVP mit Spindelegger weiter
„verniederösterreicht“ werde (vgl. O.V. 2011b). Ähnlich wie Pröll ging auch Spindelegger
jeglicher Konfrontation mit den Bünden von Beginn seiner Amtszeit an aus dem Weg. Er
vertrat die Sichtweise, dass die Bünde eine breite Vielfalt der Bevölkerung – vom Landwirt
bis hin zum Unternehmer – repräsentieren und sah in dieser Hinsicht keine Notwendigkeit,
etwas zu verändern. Vielmehr wollte er, dass diese Breite weiterhin innerhalb der Partei
anzutreffen ist (vgl. O.V. 2011c).
Nach dem gesundheitlichen Rücktritt von Josef Pröll als Obmann und der Ernennung von
Michael Spindelegger kam es in der Regierungsmannschaft der österreichischen
Volkspartei zu Veränderungen. Als der große Verlierer bei der Regierungsumbildung
etablierte sich der Bauernbund, welcher nach dem Abgang von Josef Pröll und Fritz
Kaltenegger nur mehr mit Nikolaus Berlakovich vertreten war. Als mächtigstes
Bundesland (ÖVP-interne Sichtweise) gestaltete sich Niederösterreich heraus –
Spindelegger sowie Mikl-Leitner stammen beide aus Niederösterreich. Spindeleggers
neues Regierungsteam, setzte geografisch betrachtet, die schwarze Länderlogik fort: zwei
Niederösterreicher, zwei Oberösterreicher, zwei Tiroler, zwei aus der Steiermark, ein
Burgenländer und ein Wiener (vgl. O.V. 2011d).
5.3.5. Rücktritt Spindeleggers – Neuanfang/Neustart unter Mitterlehner
Als Michael Spindelegger im Frühjahr 2011 die ÖVP von Josef Pröll übernommen hatte,
erreichte die Volkspartei bei Umfragen Werte von knapp 26 Prozent. Bei den letzten
Nationalratswahlen im Jahr 2013 rutschte sie zum ersten Mal in der Parteigeschichte unter
5. Österreichische Volkspartei Seite 78
die 25 Prozent Marke und kam auf 23,99 Prozent. Zwar konnte sie vor der FPÖ den
zweiten Platz verteidigen, jedoch reduzierte sich der Vorsprung auf knappe vier Prozent
(vgl. O.V. 2014a).
Nach vermehrter offener Kritik in Bezug auf seine Haltung zur Steuerreform und der
mangelnden Performance der Bundespartei zog Michael Spindelegger die Konsequenzen
und trat Ende August 2014 von all seinen Ämtern zurück. Zu diesem Zeitpunkt landete die
ÖVP in Umfragen bei etwa 20 Prozent (vgl. O.V. 2014b). Er argumentierte seinen
Rücktritt damit, dass es ihm am Schluss innerhalb der Partei an Loyalität und Paktfähigkeit
zu seiner Person mangelte (vgl. O.V. 2014e). Schon nach einer Krisensitzung im Jänner
2014 stufte der Meinungsforscher Peter Hajek Spindelegger als angezählt ein und
betrachtete die Situation als ernst (vgl. O.V. 2014d). Spindelegger und die ÖVP: „In der
Beziehung ist es aufgrund seines abrupten Abgangs eindeutig zu einem Riss gekommen“
(O.V. 2014f).
Ausschlaggebend für seinen Rücktritt dürfte am Ende auch die Kritik der beiden
Landeshauptleute Josef Pühringer (Oberösterreich) und Günter Platter (Tirol) gewesen
sein, welche eine rasche Zustimmung zur Steuerreform von Spindelegger verlangten. Franz
Fischler, ehemaliger EU-Agrarkommissar, erachtet speziell die Übernahme des
Finanzministers als einen Fehler des zurückgetretenen Spindeleggers. Er teilte die Ansicht,
dass vor allem in einem kleinen Land wie Österreich der Finanzminister profunde
Kenntnisse in diesem Bereich mitbringen sollte (vgl. O.V. 2014g).
Spindelegger hinterlässt seinem Nachfolger eine Partei mit fünf Landeshauptleuten sowie
fünf Landtagsmehrheiten. Erwin Pröll gelang es immerhin die absolute Mehrheit in
Niederösterreich bei der Landtagswahl 2013 zu bewahren (vgl. O.V. 2014a).
Unter ihrem neuen Bundesparteiobmann Reinhold Mitterlehner konnte die ÖVP ordentlich
Selbstvertrauen tanken und befand sich zunächst im Aufwind. Mitterlehner gelang es,
positive Stimmung innerhalb der bei den letzten Nationalratswahlen nicht gerade
erfolgsverwöhnten Volkspartei zu verbreiten. Anton Pelinka ist der Ansicht, dass der neue
Obmann und Parteichef bisher seine Arbeit gut umsetzt, da er bei Fragen zu seinem
Koalitionspartner auf „Verbalradikalismus“ (Pelinka 2014) verzichtet, aber auch
ausdrücklich formuliert, nicht bereit zu sein, bestimmte Eckpunkte der Partei aufzugeben
(vgl. Pelinka 2014).
5. Österreichische Volkspartei Seite 79
Lisa Nimmervoll bezeichnet es als Ironie des Schicksals, dass gerade Reinhold
Mitterlehner die Nachfolge von Michael Spindelegger antritt und die geschwächte ÖVP als
Obmann übernimmt. Im Jahr 2008, nur durch Intervention des oberösterreichischen
Landeshauptmanns Josef Pühringer, zum Wirtschaftsminister gemacht, etablierte sich
Mitterlehner in seinem Ministeramt als bessere Alternative zum jeweiligen Parteichef (vgl.
Nimmervoll 2014).
Durchaus überrascht zeigte sich Mitterlehner den raschen Stimmungswandel betreffend.
Am Ende seiner Amtszeit symbolisierte Spindelegger Überforderung und Selbstisolation.
Demgegenüber repräsentiert Mitterlehner Selbstbewusstsein und Offenheit. Positiv
vernommen wird der Aspekt innerhalb der Partei, dass der „Neue“ wesentlich mehr als
sein unmittelbarer Vorgänger kommuniziert (vgl. Bauer 2014a). Mit der Wahl von
Mitterlehner zum Obmann verschob sich das Machtgefüge in der Partei. Der
Wirtschaftsbund befindet sich im Aufwind und die „schwarzen“ Oberösterreicher
gewinnen an Einfluss. Speziell der niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll
kämpft mit dieser Entwicklung. Forciert von Landeshauptmann Josef Pühringer und dem
Wirtschaftsbund-Obmann Christoph Leitl wurde Mitterlehner zum Obmann ernannt und
Erwin Pröll bei dieser Wahl ausgespielt (vgl. Bauer 2014b).
Nicht nur die innerparteiliche Herkunft unterscheidet den alten und den neuen Obmann der
VP: Mitterlehner kommt aus dem Wirtschaftsbund, Spindelegger hat seine Wurzeln im
ÖAAB. Karin Leitner stellte auch einen unterschiedlichen Arbeits- und Umgangsstil fest:
Am Ende der Amtszeit von Spindelegger wirkte die ÖVP unkoordiniert, da Spindelegger
sich immer mehr zurückzog und nicht mehr die Parteilinie kommunizierte. Mitterlehner
setzt auf Pünktlichkeit, Geschlossenheit innerhalb der Partei und Disziplin. Anders als sein
Vorgänger versucht er die Länder- und Bündeobleute wieder verstärkt einzubinden und
mehr mit ihnen zusammenzuarbeiten (vgl. Leitner 2014). Kritischer betrachtet Thomas
Prior von der Presse die neue Situation in der Österreichischen Volkspartei: Er schreibt,
dass sich die ÖVP unter dem neuen Obmann Mitterlehner in gleichem Ausmaß inhomogen
wie unter Spindelegger, Pröll und Molterer verhält. Im Bereich der Wirtschaftspolitik wird
keine gemeinsame Linie verfolgt, auf der gesellschaftspolitischen Ebene sucht sich die
Partei selbst. Den Landeshauptleuten unterstellt Prior, dass diese die Länder-Interessen
gegenüber den Interessen der Bundespartei nach wie vor bevorzugen (vgl. Prior 2014).
In einer im Jahr 2014 durchgeführten Umfrage lagen die SPÖ, ÖVP, FPÖ buchstäblich
gleichauf bei 25 bzw. 26 Prozent. In der Kanzlerfrage konnte Werner Faymann mit 22
5. Österreichische Volkspartei Seite 80
Prozent den ersten Platz knapp vor Reinhold Mitterlehner mit 21 Prozent behaupten.
Nachfolgende Tabelle widerspiegelt das Abschneiden der beiden Spitzenkandidaten von
SPÖ und ÖVP in verschiedenen politischen Bereichen bei dieser Umfrage:
Politischer Bereich Bundeskanzler Faymann Vizekanzler Mitterlehner
Wirtschaftsaufschwung 14 % 38 %
Außenpolitik 24 % 30 %
Einsparung Verwaltung und
Staat
15 % 29 %
Arbeitsplätze 27 % 21 %
Bildung 27 % 19 %
Soziale Gerechtigkeit 35 % 24 %
Frauenthemen 26 % 9 %
Tabelle 5: Vergleich der beiden Spitzenkandidaten;
Quelle:http://wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/oesterreich/3893490/Match-zwischen-SPO-OVP-und-
FPO-vollig-offen (Stand: 1. August 2016)
In Bereichen der Wirtschaft, der Außenpolitik sowie beim Einsparungspotential im
Bereich der Verwaltung und Staat konnte der Vizekanzler besser abschneiden. Bei
Bildung, Arbeitsplätze, Soziale Gerechtigkeit und vor allem Frauenthemen erreichte
Werner Faymann die besseren Umfragewerte.
Zwei Jahre später – Ende Jänner 2016 – zeigen neue Umfragewerte Verluste für die beiden
Großparteien: Aufgrund der Flüchtlingskrise bzw. Flüchtlingspolitik, welche die beiden
Regierungsparteien zunehmend überforderte, sanken die Werte der SPÖ und der ÖVP.
Hätte zu diesem Zeitpunkt eine Nationalratswahl stattgefunden, hätte die FPÖ mit etwa 30
Prozent den ersten Platz erreicht. Die ÖVP hätte sich mit 24 Prozent gegenüber der SPÖ
mit 23 Prozent im Rennen um den zweiten Platz durchgesetzt. Angenommen der
Bundeskanzler würde direkt gewählt werden, hieße der nächste Bundeskanzler Heinz-
Christian Strache (FPÖ). 19 Prozent hätten ihm ihre Stimme gegeben – Vizekanzler
Mitterlehner wäre mit 16 Prozent Vizekanzler geblieben; SPÖ-Vorsitzender und
Bundeskanzler Werner Faymann hätte sein Amt mit 15 Prozent verloren. (vgl.
Himmelbauer 2016)
5. Österreichische Volkspartei Seite 81
Mitterlehner vertritt nicht mehr den Anspruch, dass eine Volkspartei sämtliche
Bevölkerungsschichten eines Landes erreichen kann. Vielmehr muss die ÖVP versuchen,
den Fokus auf ihre Zielgruppe, den leistungsorientierten Mittelstand, zu richten und mit
ihrem Programm zu erreichen bzw. zu überzeugen (vgl. Bauer 2014a).
War die Österreichische Volkspartei in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung
aufgrund ihrer regionalen Stärke sowie ihrer Bündestruktur erfolgreich, erweist sich diese
Organisationsstruktur als nicht mehr zeitgemäß. Mitterlehner wird die schwierige Aufgabe
zuteil, die Partei reformieren zu müssen. Durch den großen Einfluss der Bünde
verkümmert die Partei, da primär die Klientelpolitik im Vordergrund steht (vgl. O.V.
2014h). Es ist illusorisch, die Bünde abzuschaffen – allerdings kann er ihren Einfluss
schrittweise eingrenzen. (vgl. Toth 2014)„Mitterlehner, so lautete das Motto nach dem
beleidigten Abgang des Vorgängers, sei die letzte Chance der Partei“ (Pelinka 2014). „Die
verzweifelte Parole veranlasste die Funktionäre, sich um den neuen Mann zu sammeln –
nicht wegen dessen relativ liberalen Kurses, sondern weil sie fürchteten, Mitterlehners
Scheitern werde mit dem Untergang der ÖVP einhergehen“ (Pelinka 2014).
Abgestempelt als bloßer Übergangskandidat und Platzhalter für den aufstrebenden
Außenminister Sebastian Kurz galt Reinhold Mitterlehner zu Beginn seiner Amtszeit.
Selbstbewusstsein besitzt Mitterlehner genug, um mehr als der 16. Parteiobmann zu sein,
welcher keine Zeichen hinterlässt (vgl. O.V. 2014h). Zumindest als ältester ÖVP-Chef bei
Amtsantritt wird Mitterlehner mit seinen 58 Jahren in Erinnerung bleiben. Finden die
nächsten Nationalratswahlen planmäßig 2018 statt, wird er zudem die Position des
Bundesobmanns länger bekleiden als seine beiden Vorgänger – auch wenn Mitterlehner
das Amt nach der Wahl an Sebastian Kurz abtreten würde/müsste (vgl. Bauer 2014a).
5.3.6. Obmänner der ÖVP
Die durchschnittliche Amtszeit eines Bundesobmanns der Österreichischen Volkspartei
dauert etwa viereinhalb Jahre. Demgegenüber liegt die Amtszeit des SPÖ-Vorsitzenden bei
etwa neun Jahren und ist daher doppelt so lange wie bei der ÖVP. Seit der Angelobung
von Erwin Pröll zum niederösterreichischen Landeshauptmann im Jahr 1992 wurde der
Bundesobmann der Partei fünf Mal ausgetauscht (vgl. O.V. 2016b). Reinhold Mitterlehner,
momentan an der Spitze der Partei, löste im August 2014 den überraschend
5. Österreichische Volkspartei Seite 82
zurückgetretenen Michael Spindelegger ab. Seit dem Jahr 2007 hatte die Partei nicht
weniger als drei Mal den Spitzenkandidaten gewechselt. Mitterlehner ist bereits der 16.
Obmann der Österreichischen Volkspartei seit der Gründung im Jahr 1945 (O.V. 2014h).
„Seine Vorgänger scheiterten an sich selbst (Wilhelm Molterer), an der Partei (Josef Pröll)
oder an beidem (Michael Spindelegger)“ (Bauer 2014a).
Die Mehrheit der ÖVP-Obmänner wurde zum Rücktritt gedrängt. Seit Beginn der zweiten
Republik hatte die Österreichische Volkspartei zahlreiche Obmänner. Meistens waren
parteiinterne Machtkämpfe bzw. Konflikte zwischen den Teilorganisationen und der
Bundespartei der Auslöser für einen Rücktritt des Obmanns (vgl. Markus 2012).
Stellvertretend dafür werden Beispiele aus der Regierungszeit von Bruno Kreisky
aufgezählt: Vor allem in dieser Zeit wurden die Obmann-Debatten hart durchgeführt.
Hermann Withalm folgte Josef Klaus nach, entschied sich aber bereits nach einem Jahr
zurückzutreten und den Platz an der Parteispitze für Karl Schleinzer zu räumen. Dieser
kam jedoch bei einem Autounfall im Jahr 1975 tragisch ums Leben. Statt Schleinzer hieß
der neue VP-Obmann nun Josef Taus. Taus wollte die Macht der drei großen Bünde –
Bauernbund, Wirtschaftsbund und ÖAAB – eingrenzen, da deren Intrigen und
Personaldiskussionen ausschlaggebend für interne Turbulenzen waren. Diese Forderung
wurde von den Bünden aber abgelehnt und der Obmann musste gehen (vgl. Markus 2012).
Auch Beliebtheit und durchaus wichtige „Meilensteine“ wie Staatsvertrag,
Vollbeschäftigung und Wirtschaftswunder schützten einen VP-Obmann nicht vor einem
internen Aufstand. Sowohl Leopold Figl, der von Julius Raab entmachtet wurde als auch
Raab selbst mussten dieses Schicksal zur Kenntnis nehmen (vgl. Markus 2012).
Gernot Bauer stellt fest, dass der Verlauf, die Mechanismen sowie das Endergebnis der
Obmanndebatte in der Österreichischen Volkspartei seit Jahrzehnten nach einem
bestimmten Schema ablaufen. In seinem Artikel über den Rücktritt von Michael
Spindelegger skizziert er, wie die ÖVP in den letzten Jahrzehnten ihre Obmänner zum
Rücktritt bewegt hat. So merkt er etwa an, dass ab einem gewissen Zeitpunkt der Obmann
feststellen muss, dass seine Autorität öffentlich von verschiedenen Seiten innerhalb der
Partei angegriffen wird und er die Rückendeckung verliert. Konträr zur „normalen“ Hetze
wird in der Österreichischen Volkspartei der Obmann zum Opfer und tritt nicht als Täter in
Erscheinung (vgl. Bauer 2014c).
5. Österreichische Volkspartei Seite 83
Grundsätzlich kann zwischen zwei verschiedenen Strategien bei der „Demontage“ des
Obmanns differenziert werden: geordnet- schubweise oder ungeordnet- eigendynamische.
So können die Rücktritte von Alois Mock (1987) sowie Josef Riegler (1991) beide in die
erste Kategorie geordnet eingestuft werden. Sowohl Mock als auch Riegler waren
erschöpft, kraftlos und konnten bzw. wollten den innerparteilichen Kritikern/innen nichts
mehr entgegensetzen. Ungeordnet und eigendynamisch verlief der Ablauf etwa bei Erhard
Busek und Michael Spindelegger. Beide wehrten sich nach Kräften und verweigerten den
Rücktritt, bis der innerparteiliche Druck zu groß wurde und die Rückendeckung fehlte. Als
ein Leitfaden könnte in dieser Hinsicht folgende Aussage gelten: Mindestens zwei der drei
großen und mächtigen ÖVP-Landesorganisationen (Niederösterreich, Oberösterreich,
Steiermark) sind notwendig, um einen ÖVP-Bundesobmann absetzen zu können.
Allerdings können regelmäßige Obmannwechsel auch als ein Nachweis auf große
Personalreserven ausgelegt werden (vgl. Bauer 2014c).
Auch muss immer wieder mit Überraschungen betreffend den Nachfolger gerechnet
werden. Dazu gibt es mehrere Beispiele: Dank seiner Autorität kürte Wolfgang Schüssel
Wilhelm Molterer im Jahr 2007 zum Parteichef, obwohl Josef Pröll als Favorit galt. Als
Erhard Busek im Jahr 1995 zum Rücktritt bewegt wurde, avancierte Wolfgang Schüssel
zum neuen starken Mann in der ÖVP. Christoph Leitl und Andreas Khol waren die
damaligen Gegenkandidaten von Erhard Busek um die Position des Obmanns und wurden
von Busek durch dieses Manöver verhindert bzw. ausgebremst (vgl. Bauer 2014c).
Neun der bisherigen 15 Parteiobmänner seit 1945 gelang es nicht, länger bzw. überhaupt
vier Jahre an der Parteispitze zu bleiben. Alleine in der Amtszeit des mittlerweile
zurückgetretenen Bundeskanzlers Werner Faymann benötigte die ÖVP vier
Bundesparteiobmänner: Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Michael Spindelegger und
Reinhold Mitterlehner. Dabei verweilte Spindelegger mit drei Jahren und drei Monaten
länger als seine unmittelbaren Vorgänger Wilhelm Molterer (1,4 Jahre) und Josef Pröll (2,4
Jahre) an der Spitze der Partei (vgl. O.V. 2014g).
Spindelegger hatte die sechst-kürzeste Amtszeit unter allen VP-Obmännern seit 1945 –
wobei anzumerken ist, dass Leopold Kunschak, der erste Parteiobmann bereits nach 144
Tagen den Platz an der Spitze räumte, da er anschließend Nationalratspräsident wurde. Mit
etwas mehr als zwölf Jahren erreichte Wolfgang Schüssel die mit Abstand längste
Amtsdauer in der Österreichischen Volkspartei und war gleichzeitig auch der letzte ÖVP-
5. Österreichische Volkspartei Seite 84
Bundeskanzler. Einzig Alois Mock (fast zehn Jahre) und Julius Raab (rund acht Jahre)
waren für ÖVP-Verhältnisse lange Parteichefs. Lediglich sechs ihrer Obmänner (Karl
Schleinzer, Leopold Figl, Josef Klaus, Julius Raab, Alois Mock und Wolfgang Schüssel)
standen länger als vier Jahre an der Parteispitze (vgl. O.V. 2014g).
Erwin Pröll, Landeshauptmann von Niederösterreich und damit Obmann der mächtigsten
Landesorganisation, verkörpert eine Schlüsselrolle in den Obmann-Debatten. Bereits 1995
nahm er die Rolle des „Königsmacher“ ein, indem er die Wahlvorschlagskommission
leitete, welche Erhard Busek durch Wolfgang Schüssel substituierte.
Im Vergleich mit den anderen Parteien (SPÖ, FPÖ) schneidet die ÖVP und Wolfgang
Schüssel mit seinen zwölf Jahren als längster Parteichef mittelmäßig ab:
- Friedrich Peter war von 1958 bis 1978 Parteivorsitzender der FPÖ und liegt
auf Platz 1.
- Bruno Kreisky liegt mit 16 Jahren und neun Monaten (1967 – 1983) als SPÖ-
Vorsitzender auf dem zweiten Platz.
- Jörg Haider war immerhin auch 13,6 Jahre Parteichef der FPÖ und landet auf dem
dritten Platz.
- Wolfgang Schüssel nimmt mit seinen zwölf Jahren den sechsten Platz in diesem
Ranking ein (vgl. O.V. 2014g)
Interessantes Detail am Rande: Die FPÖ belegt auch in der Rangliste der kürzesten
Amtszeit aller Obmänner den ersten Platz. Matthias Reichhold beendete im Jahr 2002
bereits nach 40 Tagen seine Obmanntätigkeit (vgl. O.V. 2014g).
5. Österreichische Volkspartei Seite 85
Die ÖVP-Obmänner seit 1945:
- Leopold Kunschak April – September 1945
- Leopold Figl 1945 – 1953
- Julius Raab 1953 – 1961
- Alfons Gorbach 1961 – 1964
- Josef Klaus 1964 – 1970
- Hermann Withalm 1970 – 1972
- Karl Schleinzer 1972 – 1975
- Josef Taus 1975 – 1979
- Alois Mock 1979 – 1989
- Josef Riegler 1989 – 1990
- Erhard Busek 1990 – 1995
- Wolfgang Schüssel 1995 – 2007
- Wilhelm Molterer 2007 – 2008
- Josef Pröll 2008 – 2011
- Michael Spindelegger 2011 – 2014
- Reinhold Mitterlehner seit 2014 (vgl. Österreichische Volkspartei 2016a)
Gernot Bauer differenziert ÖVP-Obmänner unter anderem dadurch, inwieweit sich diese
von ihrem Bund bzw. Bundesland loslösen konnten: Er schreibt, dass Wolfgang Schüssel
als ÖVP-Obmann die Abkapselung vom Wirtschaftsbund gut gelang. Wilhelm Molterer
und Josef Pröll wurden beide aus dem Bauernbund für die Position des Obmanns entsandt.
Im Gegensatz zu Pröll, der seinen Bauernbund-Wurzeln stets treu blieb, konnte sich
Molterer dieser entziehen. Michael Spindelegger entfernte sich weder von seinem Bund
(ÖAAB) noch von seinem Bundesland (Niederösterreich). Der momentane Obmann
Reinhold Mitterlehner erinnert in seinem Auftreten und Verhalten mehr an Schüssel als an
Spindelegger (vgl. Bauer 2014a).
5.3.7. Politische Führung der ÖVP Fazit
Als Einleitung in dieses Kapitel wurden mehrere Fragen den richtigen Führungsstil sowie
die (notwendigen) Charaktereigenschaften der Führungspersönlichkeit für die
Österreichische Volkspartei betreffend formuliert, die das Erarbeiten von neuen
5. Österreichische Volkspartei Seite 86
Erkenntnissen erleichtern sollten. Am Ende dieses Kapitels angelangt, gilt es nun ein
kurzes Resümee zu ziehen sowie die gewonnenen Erkenntnisse zusammenzufassen.
In ihrem 71jährigen Bestehen (seit der Gründung im April 1945) benötigte die Partei nicht
weniger als 16 Bundesparteiobmänner. Vor allem in den letzten Jahren – nach dem
Rücktritt von Wolfgang Schüssel und dem Amtsantritt von Wilhelm Molterer im Jahr 2007
reduzierte sich die Amtszeit der Obmänner erheblich. Nicht weniger als vier
Obmannwechsel fanden innerhalb dieses Zeitraums statt. In keiner anderen politischen
Partei in Österreich wird dermaßen oft ein Obmanntausch vollzogen.
Verlorene Nationalratswahlen/ Bundespräsidentenwahlen oder ein übermächtiger
Spitzenkandidat einer anderen Partei führten zumeist dazu, dass damit begonnen wurde,
die Autorität des Obmanns öffentlich zu untergraben und diesen in Frage zu stellen.
Gesundheitliche Probleme wie sie Josef Pröll hatte, sind die Ausnahme für einen Rücktritt.
Der Obmann stellt das schwächste Glied innerhalb der Partei dar. Die Bünde wie auch die
Landesorganisationen und ihre Landeshauptleute verfolgen die eigenen Interessen und
Ziele. Versuche, die Macht der Bünde bzw. der Landesorganisationen zu beschränken,
scheiterten fast immer und hatten meistens einen Rücktritt des Obmanns zur Folge.
Andreas Wagner erklärt: „Zwar gab es bislang mehrere Ansätze, die Macht der
Teilorganisationen zu beschneiden und den Vorrang der Bundespartei statutarisch zu
begründen bzw. zu stärken, eine ausnahmslose Verdrängung bzw. Auflösung der Bünde in
den Organisationsstrukturen der Bundespartei ist bislang infolge der vielen Verflechtungen
und etablierten Proporzstrukturen der österreichischen Sozialpartnerschaft weder gelungen
noch zukünftig vorstellbar“ (Wagner 2014: 180).
Die Frage nach dem richtigen Führungsstil bzw. der richtigen Führungspersönlichkeit für
die Österreichische Volkspartei lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. Unter den 16
Bundesparteiobleuten befanden sich die verschiedensten Charaktere. Jedoch ist der
Charakter/die Persönlichkeit zweitrangig, wenn die Rückendeckung der Landeshauptleute
bzw. der Teilorganisationen im Lauf der Amtszeit abhanden kommt und die Diffamierung
des Obmanns beginnt.
5. Österreichische Volkspartei Seite 87
Gernot Bauer charakterisiert drei wesentliche Bestandteile, welche der Obmann besitzen
muss, um eine erfolgreiche Politik betreiben zu können:
- Sachwissen,
- Organisationstalent,
- Kommunikation (vgl. Bauer 2014a).
Josef Pröll galt als ein Kommunikationstalent, sein Organisationstalent war jedoch
mangelhaft, weshalb er scheiterte. Zudem überforderte ihn die Doppelbelastung als
Parteichef und Finanzminister. Sein Nachfolger Michael Spindelegger ließ die
(notwendigen) Kompetenzen für die Ausübung des Finanzministers vermissen und hatte
Probleme mit der Kommunikation innerhalb der Partei. Mitterlehner lernte aus den Fehlern
seiner Vorgänger und hatte nie im Sinn, das Finanzministerium zu übernehmen (vgl. Bauer
2014a).
Mitterlehner zog aus dem Scheitern seiner Vorgänger Molterer, Pröll und Spindelegger die
richtigen Schlüsse. Vergleiche mit dem längst dienenden Obmann Wolfgang Schüssel
werden innerhalb der Partei schon angestellt. Als gelernter Politiker ist Mitterlehner darauf
konzipiert, sich in der Partei durchzusetzen und zu überleben. Barbara Toth formuliert es
sehr treffend: Auch wenn Mitterlehner nur als Übergangskandidat gilt, will er mit der
Partei etwas erreichen und die Partei wieder an die Spitze führen. In letzter Zeit wurde von
keinem anderen Obmann ein Neustart so schlagartig durchgezogen (vgl. Toth 2014).
Die kommenden Nationalratswahlen im Jahr 2018 werden in jeder Hinsicht eine
Entscheidung bringen: Kann Mitterlehner den momentanen Rückstand auf den ersten Platz
reduzieren und die Wahl gewinnen, wird er weiterhin Obmann bleiben. Verliert er jedoch
die Wahl, wird eine Obmanndiskussion nicht lange auf sich warten lassen.
5.4. Wählerschaft der ÖVP
„Ein Sozialdemokrat braucht nur einen Grund, um SPÖ zu wählen. Bei der ÖVP reicht ein
Grund, um die Partei nicht zu wählen“ (Rösner 2011). Diese Aussage über die
Wählerschaft der ÖVP stammt von Fritz Kaltenegger, einem ehemaligen ÖVP-
Generalsekretär.
5. Österreichische Volkspartei Seite 88
Trotz zahlreicher Wahlerfolge, wie beispielsweise die Alleinregierung unter Josef Klaus in
den 1960er Jahren, sieht sich die ÖVP seit ihrem Bestehen mit einer höchst heterogenen
und schwierigen Wählerschaft konfrontiert (vgl. Nimmervoll 2008). Die absolute
Mehrheit und die erste Alleinregierung sollte für längere Zeit der letzte große Wahlerfolg
gewesen sein, der der Partei gelang. Knapp fünf Jahrzehnte später schaffte die ÖVP wieder
den Sprung an die Spitze und konnte eine Wahl für sich entscheiden. Die Ursache für
zahlreiche Wahlniederlagen liegt auf der Hand: „Das Kernproblem der ÖVP bestand seit
jeher im Zusammenspiel der Bünde und der Abhängigkeit von der Kernwählerschaft,
sodass die Parteigeschichte oftmals von vielschichtigen Konflikten bei der Ansprache,
Integration und Bindung der eigenen Anhängerschaft gekennzeichnet war“ (Wagner 2014:
370).
Der Stil und die Ausrichtung des Wahlkampfes wurden maßgeblich beeinflusst durch die
pluralistische Parteiorganisation der Bünde. Unkoordiniert und kaum mit den
Wahlkampfanstrengungen der Bundespartei verbunden – so liefen bis in die Mitte der
1990er Jahre die Wahlkämpfe der Partei ab (vgl. Wagner 2014: 370).
Mit Hilfe einer Segmentierung der Wählerschichten gelang es ab Mitte der 1990er Jahre
die Wahlkampfauftritte der Partei zu verbessern. Die Parteiführung beauftragte ein
Marktforschungsinstitut eine Clusteranalyse durchzuführen, mit dem Ziel, die Bevölkerung
in drei Gruppen einzuteilen und die Wahlkampfstrategie danach auszurichten bzw. auf die
jeweiligen Gruppen optimal abzustimmen (vgl. Auer/Scheucher 1995: 158f).
Höhere Angestellte sowie jüngere, reformorientierte Wähler/innen bildeten die erste
Gruppe, welche von dem Spitzenkandidaten Erhard Busek betreut sowie überzeugt werden
sollten, die Partei zu wählen. Auer und Scheucher meinen hierbei wertkonservative
Individualisten und libertäre Postmaterialisten, die es umzustimmen und zu gewinnen galt
(vgl. Auer/Scheucher 1995: 158f).
Der dazumal amtierende Außenminister Alois Mock widmete sich der zweiten Gruppe,
bestehend aus verunsicherten Materialisten und traditionellen Sozialstaats- und
Wachstumsorientierten. Vor allem ältere, schlechter gebildete Durchschnittsverdiener des
Dienstleistungsgewerbes haderten in den 1990er Jahren mit Tumulten in der
Parteienlandschaft Österreichs und versprachen sich von dem Außenminister eine neue
Stabilität und urgierten sozialstaatliche Lösungskompetenz von der ÖVP (vgl.
Auer/Scheucher 1995: 158f).
5. Österreichische Volkspartei Seite 89
Alois Mock war es auch, der sich um die dritte Gruppe, zusammensetzend aus skeptischen
Traditionalisten mittleren Einkommens, beheimatet in eher ländlich geprägten Gebieten,
annehmen sollte. Nach dem Zerfall des Ostblocks sowie dem Beitritt von Österreich zur
Europäischen Union lag es an Alois Mock, Vertrauen im Sinne der Wahlkampfausrichtung
„Wirtschaft, Sicherheit, Heimat“ an diese Gruppe auszustrahlen (vgl. Auer/Scheucher
1995: 158f).
Die getätigten Anstrengungen und die Aufteilung der Wählerschaft in drei Gruppen
wurden jedoch nicht belohnt und der erhoffte Erfolg blieb aus: Dem Spitzenkandidaten der
freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Jörg Haider war es mittels eines populistischen und
medienwirksamen Wahlkampfs gelungen, die Strategie der ÖVP zu durchkreuzen. Die
gesetzten Ziele wie der sozialdemokratischen Partei die Kanzlerschaft abzuringen in
Verbindung mit dem eigenen Anspruch, die stärkste Kraft in der Parteienlandschaft in
Österreich zu sein, konnten nicht realisiert werden (vgl. Wagner 2014: 372).
„Begünstigt wurde der permanente Rückstand auf die SPÖ durch den beträchtlichen Grad
an Faktionalismus und interner Zerstrittenheit, die bei der Volkspartei bereits inmitten der
Legislaturperiode überdurchschnittlich hoch waren“ (Wagner 2014: 372). „Aber auch
Wahlkampftermine begründeten zusätzliche konstante innerparteiliche Konflikte mit
Ausnahme der Schüssel- Regierungen“ (Wagner 2014: 372).
Zu einem Rückgang der innerparteilichen Konflikte kam es erst in den Jahren 2000 – 2007.
Der Vorteil, dass die ÖVP in dieser Zeit den Kanzler in der Regierung stellte, war
ausschlaggebend für eine Reduzierung der Streitigkeiten um mögliche Positionen und
Ämter, die es mit Vertretern der Teilorganisationen zu besetzten galt (vgl. Wagner 2014:
372).
5. Österreichische Volkspartei Seite 90
Sozialstruktur der ÖVP-Wähler/innen nach Berufsmilieu 1969 – 1983
(Werte in Prozent)
05
101520253035404550
1969 1973 1978 1983
Selbstständige
Angestellte/Beamte
Arbeiter/Facharbeiter
Landwirte
Abbildung 10: Sozialstruktur der ÖVP-Wähler/innen; Quelle: Schwarz-bunter Vogel. Studien zu Programm,
Politik und Struktur der ÖVP (1985)
Bei ihrer Gründung galt die ÖVP als eine Partei für Gewerbetreibende und die
Bauernschaft. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich zu einer Arbeitnehmerpartei (vgl.
Plasser 1988: 60).
Wie in der Grafik ersichtlich, bestand die Wählerschaft der ÖVP im Jahr 1969 noch aus 19
Prozent Selbstständigen/ Gewerbetreibenden, 35 Prozent Landwirten, 23 Prozent Arbeitern
und 29 Prozent Angestellten. In den darauf folgenden Jahren veränderte sich diese Struktur
der ÖVP-Wählerschaft erheblich.
Die oben abgebildete Grafik belegt diesen „Trend“: Beamte und Angestellte bilden
mittlerweile die größte Wählergruppe der ÖVP. Im Jahr 1983 bekam die ÖVP von 67
Prozent der unselbstständig Erwerbstätigen der Bevölkerung ihre Stimme, lediglich 20
Prozent der Landwirte und 12 Prozent der Selbstständigen entschieden sich am Wahltag
die ÖVP zu wählen.
5. Österreichische Volkspartei Seite 91
5.4.1. Rückgang des katholisch-ländlichen Bestands
Der Aufschwung, der der rechtspopulistischen FPÖ unter der Führung von Jörg Haider ab
den 1980er Jahren gelang, beunruhigte die österreichische Parteienlandschaft. Weiters kam
hinzu, dass sich die anerkannten Parteien im Nationalrat mit wesentlichen
gesellschaftlichen und auch ökonomischen Veränderungen in Österreich auseinandersetzen
und der Bevölkerung Lösungsvorschläge präsentieren mussten (vgl. Wagner 2014: 373).
Frühzeitig wurde von der Parteiführung der ÖVP festgestellt, dass durch ein Abschmelzen
der wahlberechtigten Bevölkerung aus der Landwirtschaft aufgrund der voranschreitenden
Industrialisierung und der Ausweitung des Dienstleistungsbereichs, eine zielgerichtete
Ansprache der „neuen, angestellten Mittelschicht“ (Plasser 1995: 569) unabdingbar war
(vgl. Wagner 2014: 373).
Mittlerweile sorgte sich die ÖVP um ihre Kernwählerschaft, da durch die Erfolge der FPÖ
traditionelle Strukturen aufgeweicht worden sind. Speziell bei der Arbeiterschaft konnte
die FPÖ punkten, fügte allerdings nicht nur der traditionellen Arbeiterpartei SPÖ Verluste
zu, sondern führte auch die beispielsweise von der ÖVP als selbstverständlich gehaltenen
Alleinregierungen in der Steiermark zu einem Ende (vgl. Wagner 2014: 373).
Da die Wahlkämpfe der Partei bis dahin noch selbstbewusst und mit einer gewissen Stärke
geführt worden sind, waren die erlittenen Einbrüche innerhalb der christdemokratischen
Wählerschaft doch eine gewisse Überraschung. So konnte sich die ÖVP Anfang der
1980er Jahre doch über eine verlässliche Unterstützung bei wichtigen Bevölkerungsteilen,
wie beispielsweise den Landwirten und Gewerbetreibenden, sicher sein. Regelmäßige
Kirchgänger/innen wählten ebenso bevorzugt die ÖVP anstatt der SPÖ (vgl. Kofler 1985:
13ff).
Das Jahr 1986 sollte alles verändern: Bezeichnet als „Wendejahr“, symbolisierte dieses
Jahr einerseits einen starken Einbruch bei Parteibindungen in Österreich und sorgte
andererseits mit einer Verdoppelung der Stimmen im Vergleich zur letzten
Nationalratswahl 1983 bei der FPÖ für eine Etablierung in der österreichischen
Parteienlandschaft. Lediglich in ländlich-peripheren Gebieten fand die ÖVP Rückhalt und
wusste eine starke Wahlgemeinde hinter sich (vgl. Müller/Nissel 1996: 270).
Sieder, Steinert und Talos schreiben, dass seit dem politischen Wendejahr 1986 theoretisch
bürgerliche Mehrheiten rechts von der Mitte existierten, jedoch eine andere Koalition als
die innerhalb des sozialpartnerschaftlichen Gefüges mit der SPÖ vorerst unvorstellbar war
(vgl. Sieder/Steinert/Tálos 1996: 26f). „In der Phase der Verunsicherung hatten aber auch
5. Österreichische Volkspartei Seite 92
einige restaurative Elemente volksparteilicher Verankerung in der österreichischen
Bevölkerung Bestand und verhinderten eine Erosion“ (Wagner 2014: 374).
Beispielsweise war die ÖVP in den Fremdenverkehrsregionen Tirol und Vorarlberg
vorherrschend. Ebenso konnte sich die Partei in Oberösterreich, Niederösterreich und der
Südoststeiermark behaupten und ihre Führungsposition behalten (vgl. Müller/Nissel 1996:
270ff).
Trotz turbulenter Zeiten und unabhängig unwiderlegbarer Erosionstendenzen, bekannte
sich die Partei weiterhin zu ihrer konfessionellen Prägung, da diese eine lange historische
Tradition besaß: Schon im Jahr 1949 gab es mehrfach Aufforderungen von der Bewegung
„Katholische Aktion“, die ÖVP zu wählen (vgl. Wagner 2014: 374). Die katholische
Kirche oder Persönlichkeiten katholischer Vereinigungen nutzen auch in den darauf
folgenden Jahrzehnten ihre Stimme und haben für die Volkspartei geworben (vgl. Steger
1985: 72f). „Als aber in den 1960er und 1970er Jahren der Zerfall konfessioneller
Selbstverständlichkeiten in der österreichischen Gesellschaft und abgemindert auch in der
Umgebung der ÖVP weiter voranschritt, zog diese Entwicklung auch die Gefahr eines
verminderten Beistands durch die Kirche nach sich, was sich in der Folgezeit auch auf die
konfessionell geprägten Teilorganisationen und das direkte Umfeld der eigenen
Anhängerschaft auswirken sollte“ (Steger 1985: 78). So schreibt Ulram, dass sich in den
1970er Jahren noch 78 Prozent der ÖVP-Anhänger im parteipolitischen Netzwerk
befunden haben, knapp drei Jahrzehnte später jedoch ein Rückgang um 30 Prozent auf 48
Prozent festgemacht werden konnte (vgl. Ulram 1997: 515).
Gelang es der ÖVP im Jahr 2002 noch mehr als zwei Drittel der regelmäßigen
Kirchenbesucher zu überzeugen, reduzierte sich der Anteil im Jahr 2008 auf nur noch 50
Prozent. Wesentlich bedenklicher war die Entwicklung bei den gelegentlichen
Kirchgängern/innen: War es Anfang der 2000er Jahre noch ein Drittel, das sich mit den
Vorstellungen der ÖVP identifizieren konnte, sank es innerhalb eines Jahrzehnts auf ein
Viertel. Natürlich hatte dieser Verlauf der abnehmenden Mobilisierung auch
Konsequenzen in Bezug auf die Wählerstruktur der Volkspartei: Nahmen 2001 nur noch
33 Prozent der Anhänger/innen zumindest einmal pro Woche an einem Gottesdienst teil,
waren es im Jahr 1955 noch doppelt so viele gewesen (67 Prozent) (vgl. Plasser/Ulram
2002: 93). Zusätzlich erschwerte die Koalition unter dem Bundeskanzler Wolfgang
Schüssel mit der FPÖ im Jahr 2000 das Erfassen konfessionell geprägter Anhänger/innen,
5. Österreichische Volkspartei Seite 93
weswegen die Einbindung katholischer Wählergruppen noch seltener funktionierte (vgl.
Zulehner 2000: 232f).
„Zu allen Rekrutierungsschwierigkeiten kam hinzu, dass die zunehmende Profilierung der
SPÖ unter den sporadischen Kirchgängern die Zustimmung der Katholiken für die ÖVP
noch deutlich weiter erodieren ließ“ (Wagner 2014: 376).
Gelang es der Volkspartei mit Fortdauer der Zeit immer weniger Katholiken/innen für die
Partei zu gewinnen, reduzierte sich außerdem der Wählerzulauf seit den
Nationalratswahlen 2006 bei den Bekenntnislosen auf 15 Prozent. Diese beiden Aspekte –
Verlust der katholischen Kernwähler/innen und das Nichterreichen der bekenntnislosen
Wahlberechtigten – führten zu einem Abwärtstrend für die Partei, welcher auch durch
Zuwächse an Wählern/innen in anderen Bereichen nicht aufgefangen werden konnte (vgl.
Wagner 2014: 376).
Negative Auswirkungen hatte zudem das Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors in
den letzten Jahrzehnten, demzufolge es zu einer Abnahme der traditionellen
Kernwählerschicht der ÖVP kam. Anzumerken ist, dass zwar nach wie vor traditionelle
Beweggründe bei der Stimmenabgabe und der Parteibindung einen hohen Stellenwert
hatten, allerdings bloß nur mehr bei einem Viertel der ÖVP-Wähler/innen (vgl.
Nemella/Sebinger 2005: 24). Rainer Nick schreibt, dass es die Volkspartei in den 1970er
Jahren schaffte, 84 Prozent aller Landwirte zu erreichen, die konstant den Gottesdienst
besuchten, hingegen nur jeden achten Arbeiter ohne Bindung zur Kirche (vgl. Nick 1985:
29).
Weiters verweist Wagner in seinen Ausführungen auf Votzi, der erkannte, dass die Partei
an mehreren Seiten zu kämpfen hatte, um ihre Wählerschaft nicht zu verlieren: Aufgrund
der zunehmenden Wahlerfolge der FPÖ gelang es dieser, die Beamtenschaft, die sich über
Jahre als treue Wähler/innen erwiesen hatte, von der ÖVP loszueisen. Die daraus
resultierenden Einbußen an Wählern/innen konnte aber durch eine gestiegene Zustimmung
im Bereich der Angestellten ausgeglichen werden (vgl. Wagner 2014: 376).
Mithilfe eines neuen Programms, das unter anderem Themen wie zukünftige
Sparprogramme oder das Verbot der Einführung neuer Steuern beinhaltete, erhoffte man
sich in der ÖVP in den 1990er Jahren die Angestellten und auch alle anderen
Erwerbstätigen verstärkt anzusprechen und davon überzeugen zu können (vgl. Wagner
2014: 376f).
5. Österreichische Volkspartei Seite 94
„Diese Vorgehensweise verfing Mitte der 1990er Jahre deutlich stärker als personelle
Fragen, wie etwa die nach der Spitzenkandidatur Wolfgang Schüssels“ (O.V. 1995: 4).
Folgende Grafik soll einen Überblick über das Abschneiden der jeweiligen Partei bei
spezifischen Themen in der Bevölkerung geben. Demnach befindet sich die ÖVP bei allen
Themen entweder im Mittelfeld oder am Ende des Rankings. Beispielsweise liegt die SPÖ
beim Thema Arbeitsplatzsicherung und Rentensicherung unangefochten an der Spitze.
Vergleichsweiße mäßig schneidet hierbei die ÖVP ab. Schlusslicht bildet die ÖVP beim
Thema der Ausländerfrage. Lediglich 13 Prozent denken, dass die ÖVP dieses Problem in
den Griff bekommt – Spitzenreiter ist die FPÖ, der in dieser Hinsicht Vertrauen geschenkt
wird.
Abbildung 11: evaluierte Kompetenzen der einzelnen Parteien; Quelle: Parteien auf komplexen
Wählermärkten (1999)
Wagner bezieht sich hierbei auf Votzi, welcher in einem Artikel konstatiert: Aufgrund der
geringen Kompetenzwerte richtete die ÖVP unter der Führung von Wolfgang Schüssel
vorerst den Fokus auf die Themen der Budgetsanierung und der Arbeitsplatzsicherheit, da
hierbei die größte Steigerung realisierbar war. Allerdings brachte diese
arbeitnehmerfreundliche Ausrichtung Auseinandersetzungen mit dem Wirtschaftsbund mit
sich, da dieser Flügel der Partei eine deutlichere Abgrenzung zur FPÖ verlangte, um die
ÖVP-Wahlverluste im Bereich der Selbstständigen Wähler/innen möglichst gering zu
halten bzw. zu reduzieren, da es der FPÖ bereits gelungen war, die ÖVP in diesem Bereich
zu überholen (vgl. Wagner 2014: 378).
In der Koalition mit der FPÖ führte Kanzler Wolfgang Schüssel die Partei in Richtung
liberaler und wertkonservativer Wählergruppen, worauf sich für die ÖVP
Kompetenzvorsprünge in gewissen Politikfeldern ergaben (vgl. Plasser/Ulram/2006: 369).
5. Österreichische Volkspartei Seite 95
Infolge dieser Entwicklung schaffte es die Volkspartei im Laufe der gesamten 2000er Jahre
bei Wahlen auf Landtags-, Nationalrats-, und EU-Ebene zweistellige Zuwachsraten unter
den Selbstständigen zu erzielen. Außerdem erarbeitete sich die Partei mit diesem neuen
Kurs einen Vorteil/Vorsprung gegenüber der SPÖ und der FPÖ in den Bereichen
Interessensschutz der Wohnungseigentümer, bei den unternehmerischen Freiheiten, als
auch bei den Interessen von Unternehmern/innen und Kapitalanleger/innen (vgl.
Filzmaier/Perlot 2008: 21).
Angesichts dieser wirtschaftsfreundlichen Kehrtwende konnten sich die Sozialdemokraten
bei den Wählergruppen Senioren, Beamten und Arbeitern wieder von der Volkspartei
absetzen und einen Vorsprung aufbauen. Themen wie Chancengleichheit, Schaffung von
neuen Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen waren ebenfalls in sozialdemokratischer
Hand (vgl. Haller 2008: 408).
5.4.2. Verlust der Wechselwähler/innen und der Rückgang städtischer Repräsentanz
„Die gesellschaftliche Aufbruchstimmung seit den späten 1980er Jahren erreichte die
Volkspartei insofern nur sehr begrenzt, als sie sich ab diesem Zeitpunkt vermehrt mit
parteiinternen Obmanndebatten auseinanderzusetzen hatte“ (Wagner 2014: 378).
Gerade zu dieser Zeit kam der ÖVP in weiten Teilen ihre Stammwählerschaft abhanden, da
es der Partei nicht gelang, sich bei sozial- und wirtschaftspolitischen (hinter der SPÖ) bzw.
kulturell- und sicherheitspolitischen (hinter der FPÖ) Fragestellungen zu empfehlen.
Gleichzeitig konnte die ÖVP aber auch keine Wählerzuströme verzeichnen, weshalb die
erlittenen Verluste nicht kompensiert werden konnten (vgl. Wagner 2014: 378). Ferner sah
sich die ÖVP mit einem ansteigenden volatilen Wählerverhalten konfrontiert: War im Jahr
1979 der Anteil der Wechselwähler/innen mit bloß sieben Prozent der Wahlberechtigten
noch sehr gering, hatte sich dieser bei der Nationalratswahl 1990 mehr als verdoppelt und
machte hier immerhin schon 16 Prozent aus. Bei der Nationalratswahl 1999 stieg der
Prozentsatz der Wechselwähler/innen weiter an und erlangte 21 Prozent, bevor er im Jahr
2000 den neuen Höchststand mit 48 Prozent markierte (vgl. Fallend 2004: 82). Innerhalb
von zehn Jahren hatte sich der Wert von 16 Prozent (1990) auf 48 Prozent (2000) somit
verdreifacht.
Simultan dazu verringerte sich die Verlässlichkeit der traditionellen Kernwählerschaft
offensichtlich: Wurden im Jahr 1979 noch 82 Prozent der konstanten Parteiwähler/innen
5. Österreichische Volkspartei Seite 96
erreicht, musste die ÖVP in den darauf folgenden Jahren immer größere Verluste
hinnehmen. Konnten bei der Nationalratswahl 1986 zumindest noch 68 Prozent der
Stammwähler überzeugt werden, verzeichnen die Statistiken für das Jahr 2002 mit gerade
einmal 55 Prozent den neuen Tiefststand (vgl. Hofinger/Breitenfelder/Salfinger 2003:
171).
Plasser führt zwei wesentliche Gründe an, die für einen Verlust an Wählerstimmen bzw.
Bedeutung für die ÖVP ausschlaggebend waren: eine Verminderung der katholisch-
ländlichen Wählerstrukturen in Kombination mit einem sinkenden Interesse an
Parteibindungen (vgl. Plasser 1989: 48ff).
Ausgerechnet die FPÖ verhalf der ÖVP den Trend zu stoppen: Durch interne Streitigkeiten
kam es zu Abspaltungen in der FPÖ, wodurch die ÖVP von einer erhöhten Volatilität
profitieren konnte. Gerade die unmissverständliche Mittenstellung der Volkspartei in der
Parteienlandschaft Österreichs, die bis dahin zumeist für ein Abwandern der Wählerschaft
verantwortlich war, sollte sich nun als ein wesentlicher Vorteil gegenüber der FPÖ
herausstellen (vgl. Wagner 2014: 379). Bei sämtlichen darauf anstehenden
Nationalratswahlen schaffte es die ÖVP modernitätskritische Protestwähler/innen vom
freiheitlichen Lager zu überzeugen und so Zugewinne zu verzeichnen (vgl.
Filzmaier/Perlot 2008: 22). Dennoch erwies sich die Rückkehr in das Kanzleramt am
Ballhausplatz schwieriger als gedacht: zunehmende Probleme, die eigene Wählerschaft zu
mobilisieren, verhinderten den Weg an die Spitze. Speziell bei der Nationalratswahl 2006
musste die ÖVP zahlreiche Wählerstimmen, einerseits an die Sozialdemokraten und zum
anderen an das Nichtwählerlager, abtreten (vgl. Filzmaier/Perlot 2008: 23).
Unter Wolfgang Schüssel vollzog sich ein Wandel in der Volkspartei hin zu einer Partei
der Höhergebildeten, der Älteren und Angestellten und illustrierte sowohl den eintretenden
gesellschaftlichen als auch den demografischen Wandel der österreichischen
Dienstleistungsgesellschaft. Die vorherrschende praktische und strukturelle
Vormachtstellung des Bauernbundes sowie der bedeutende Einfluss bei
landwirtschaftlichen Werten implizierten bei solcherlei Veränderungen aber ein hohes
Maß an Konflikten (vgl. Müller/Ulram 1995: 149).
Ein ähnliches Ergebnis präsentierte auch das österreichische Market- Institut im Jahr 2009:
Hierbei wurde unter anderem ermittelt, für welche Schichten der Bevölkerung die
5. Österreichische Volkspartei Seite 97
Volkspartei am meisten eintritt. Resümee: Die ÖVP setzt sich meistens für Landwirte,
Beamte, Angestellte sowie Besserverdienende ein.
Ein anderes Bild zeigte sich beim Blick auf andere Schichten der Bevölkerung: Hinter der
SPÖ und teilweise sogar abgeschlagen hinter der FPÖ und den Grünen lag die ÖVP bei
Arbeitslosen, Frauen und Familien, gleichwohl auch bei Arbeitern/innen, Jugendlichen
sowie Pensionisten (vgl. Seidl 2009).
Für urbane und leistungsorientierte Bürger/innen sowie für Jugendliche und Familien
konnte die Volkspartei in letzter Zeit keine attraktiven programmatischen Angebote
darbieten (vgl. Burgstaller 2011). Gleichermaßen waren die umgesetzten Sozialreformen
der ÖVP-FPÖ Koalition und finanzielle Zäsuren im Rahmen der Pensionsreform bei den
Wählern/innen noch nicht vergessen. Vor allem Menschen der unteren Beamtenschicht
und die Gruppe der Hilfsarbeiter wendeten sich Anfang der 2000er Jahre von der Partei ab.
Haller schreibt, dass sich die Quote der ÖVP-Wähler/innen unter den einfachen Arbeitern
von 23 Prozent im Jahr 1986 auf drei Prozent im Jahr 2003 reduzierte. Ähnlich verhielt es
sich bei den Hilfsarbeitern: Hier sank der Anteil von ehemals 36 Prozent auf ein viertel
davon – neun Prozent (vgl. Haller 2008: 414).
Das Problem, die urbane Bevölkerung zu überzeugen, sollte die Volkspartei noch länger
beschäftigen: Auch die Obleute die auf Wolfgang Schüssel folgten (Molterer, Pröll und
Spindelegger) wussten nichts der schwindenden Repräsentanz bei der urbanen
Bevölkerung maßgeblich entgegenzusetzen und in Griff zu bekommen (vgl. Wagner 2014:
381).
Auch der mit bisweilen nur vier Prozent der Arbeiterschaft bei Landtags- und
Gemeinderatswahlen in Wien 2005 und 2010 erreichte Wähleranteil bescheinigte die nicht
vorhandene Konkurrenzfähigkeit der Volkspartei im urbanen Gebiet (vgl.
Filzmaier/Perlot/Beyrl 2011: 57).
5.4.3. Rückschlag und steigende Erwartungshaltungen
Alle Parteien in Österreich sahen sich in letzter Zeit mit erschwerten Voraussetzungen im
politischen Wettstreit konfrontiert: Während sich in den letzten Jahrzehnten der Anteil der
mobilen Wähler/innen und faktischen Wechselwähler/innen vervierfachte, halbierte sich
der Anteil der Parteimitglieder im selben Zeitraum (vgl. Plasser/Ulram/Gilg 2007: 156).
Auch dem neuen Obmann Michael Spindelegger gelang es nicht, das Hauptproblem der
5. Österreichische Volkspartei Seite 98
Volkspartei mit den Kennzeichen einer städtisch-defizitären, ländlich geprägten und
überalterten Wählerschaft zu lösen (vgl. IMAS International 2011). Lediglich 13 Prozent
der österreichischen Bevölkerung unter 30 Jahren und gar nur 15 Prozent der Wiener
entschieden sich am Wahltag für die ÖVP zu votieren. Wien war allerdings keine
Ausnahme: Auch in vielen anderen kleineren und mittleren Städten erreichte die
Volkspartei nicht mehr als 19 Prozent der Wahlberechtigten (vgl. IMAS International
2009b: 1).
Deutlich eingeschränkt wurden die Aussichten auf Wahlerfolge durch die sozialstrukturelle
Eingrenzung auf nur wenige Bevölkerungsteile der Gesellschaft: Studiert man die Statistik
des Wahlausgangs in den 20 größten Gemeinden Österreichs, so wird ersichtlich, dass es
die ÖVP erst in der zehntgrößten Stadt Dornbirn schaffte, eine relative Mehrheit der
Stimmen zu erlangen. Die wahlberechtigte Bevölkerung erteilte in nur drei kleineren
Gemeinden der Volkspartei die Mehrheit der Stimmen, jedoch nie mit mehr als 32 Prozent.
Bei den verbleibenden sechzehn Gemeinden und primär den größten Gemeinden des
Landes ging die SPÖ als Wahlsieger hervor und die ÖVP kam hinter den
Sozialdemokraten und dem BZÖ über den dritten Platz nicht hinaus. Insbesondere in den
Städten herrscht eine große Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien vor. Vor allem
Höhergebildete und Jüngere – immerhin ein Drittel der Bevölkerung – wünschen sich ein
größeres Parteienangebot (vgl. Seidl 2012a).
Die starke Dependenz der ÖVP von den Bünden, besonders der des Bauernbundes, wurde
nicht nur auf Gemeindeebene sondern auch auf Länderebene augenscheinlich: Lediglich in
den ländlich geprägten „ÖVP-Festungen“ Niederösterreich, Oberösterreich und
Vorarlberg, in denen die Volkspartei seit mehreren Jahrzehnten mit teilweise absoluter
Mehrheit die Regierungsverantwortung für das Bundesland inne hatte, konnte sich die
ÖVP durchsetzen und Wahlsiege einfahren. In den übrigen Bundesländern kam die Partei
über die Rolle einer Kleinstpartei nicht mehr hinaus und verzeichnete beispielsweise in
Wien und Kärnten bloß 13,99 Prozent bzw. 16,8 Prozent aller abgegebenen
Wählerstimmen. Wagner weist darauf hin, dass die ÖVP bei den letzten elf
Landtagswahlen von 2009 – 2013 neun Mal deutliche Verluste von zeitweise 7,5 Prozent
der Stimmen hinnehmen musste und den Abwärtstrend fortsetzte (vgl. Wagner 2014: 382).
5. Österreichische Volkspartei Seite 99
„Durch die letzten Erfolge der Rechtspopulisten Österreichs verfestigte sich das Bild einer
ländlich, rückständig und träge wahrgenommenen Partei zusätzlich“ (Wagner 2014: 382).
Im Vergleich dazu charakterisierte sich die FPÖ, die im Wählerschnitt zwölf Jahre unter
dem der Volkspartei lag, gerade beim jungen Wahlvolk als attraktive Partei. Wie schon bei
früheren Nationalratswahlen musste die ÖVP die meisten Stimmen, abgesehen von dem
Nichtwählerlager, an die freiheitliche Partei Österreichs abtreten. Das Image einer
modernen, zielbewussten, aufstrebenden Partei kam der Volkspartei seit dem Beginn der
Schüssel Regierungen daher abhanden (vgl. Wagner 2014: 384).
Nur elf Prozent der Wechselwähler/innen entschieden sich bei der Nationalratswahl 2008
dafür, der ÖVP ihre Stimme zu geben. Bei dieser Wahl wurde die höchste Zahl der
Wechselwähler/innen sowie spät entscheidenden Personen in der Geschichte der zweiten
Republik festgestellt. Vergleichsweise dazu votierten bei der Bestätigung von Wolfgang
Schüssel nach dem Ende der Koalition mit der FPÖ immerhin noch 48 Prozent aller
Wechselwähler/innen für die ÖVP (vgl. GfK Austria Politikforschung 2008: 7).
Da in den vorigen Absätzen die negative Entwicklung der Wechselwähler/innen und das
Abhandenkommen thematisiert wurde, beweist die Literatur, dass auch ein umgekehrtes
Szenario möglich ist: Die enorme Verankerung der Volkspartei im religiös beeinflussten
Umfeld des österreichischen Wahlvolks erweist sich nach wie vor als ungebrochen stark.
Mit knapp 90 Prozent katholischer Wählerschaft behauptet die Volkspartei den größten
Anteil dieser Konfession für sich. Weitere 70 Prozent der wöchentlichen
Kirchgänger/innen betonen, bei der Wahl für die ÖVP zu votieren. Nemella und Sebinger
merken an, dass sich die Wahlentscheidungen der regelmäßigen, wie auch
unregelmäßigen, Gottesdienstbesucher/innen in allen Bevölkerungsgruppen Österreichs,
abgesehen von wenigen Prozentpunkten seit den 1980er Jahren, weitreichend konstant
verhalten haben (vgl. Sebinger/Nemella 2005: 450).
IMAS International bestätigt diese These: „Die Volkspartei war und ist nach wie vor
konfessionell verhältnismäßig homogen strukturiert: 90 Prozent der Anhängerschaft sind
katholischen Glaubens, nur sieben Prozent sind – das ist der geringste Wert aller Parteien –
ohne Konfession“ (IMAS International 2006: 3a).
5. Österreichische Volkspartei Seite 100
5.4.4. Aufschlüsselung der ÖVP-Wählerschaft bei der Nationalratswahl 2008 nach
dem Alter
Folgende Grafik widerspiegelt die ÖVP Wählerschaft bei der Nationalratswahl 2008.
Deutlich ersichtlich ist, dass sich die ÖVP mit dem Problem einer überalterten
Anhängerschaft – mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen kam von der Gruppe der
über 55Jährigen – beschäftigen und auseinandersetzen muss. Bei der Gruppe der 35-
44Jährigen sowie der 45-54Jährigen gelang es der ÖVP knapp 16 bzw. 18 Prozent der
Wählerstimmen zu bekommen. Bei der jüngsten Wählergruppe der unter 24jährigen blieb
die Partei einstellig und kam über sechs Prozent nicht hinaus.
Abbildung 12: Alter der ÖVP-Wählerschaft; Quelle: Wandel und Fortschritt in den Christdemokratien
Europas (2014)
5.4.5. Wählerschaft der ÖVP Fazit
Abschließend gilt es nun noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse des Kapitels über die
Wählerschaft der ÖVP zusammenzufassen und aufzuzeigen.
Die österreichischen Parteien sowie deren Wählerschaft sahen sich ab den 1960er und
1970er Jahren mit nachhaltigen Veränderungen konfrontiert, die sich in einer ansteigenden
Flexibilität und Bindungslosigkeit äußerten (vgl. Wagner 2014: 384).
Bezeichnend für die Wählerschaft der ÖVP sind nach wie vor der hohe Anteil von
Landwirten sowie die hohe Quote von regelmäßigen Gottesdienstbesuchern/innen im
5. Österreichische Volkspartei Seite 101
Vergleich zu den anderen Parteien in Österreich. Vor allem im Bereich der Landwirte kann
die Volkspartei nach wie vor auf eine breite Unterstützung zählen.
Trotzdem sieht sich die Partei mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Etwa der
zunehmenden Wählermobilisierung, dem Rückgang der Mitgliedschaften in der Partei und
ihre Positionierung. Ihre Ausrichtung hin zur Mitte kann für die Partei noch zu einem
großen Verhängnis werden und die Konkurrenzsituation im Kampf um potentielle
Wählerstimmen zuspitzen. Gerade die Grünen, die mittlerweile die zweithöchste Quote bei
den Kirchenbesuchern/innen aufweisen, entwickeln sich in diesem Bereich für die ÖVP als
großer Konkurrent (vgl. Jungnikl 2009).
Die Zahl der ÖVP-Wechselwähler/innen könnte sich durch die Abnahme der ideologischen
Barrieren erhöhen, wobei ebenfalls mitteorientierte Parteien, wie etwa die Grünen, davon
profitieren würden.(vgl. Jungnikl 2009) Kurzum kann gesagt werden, dass es die ÖVP in
den letzten Jahren verabsäumt hat, im Bereich der Wählermobilisierung sich zu
konsolidieren und dem Abwärtstrend erfolgreich entgegenzuwirken. Es gelang nicht, neue
Wählerschichten zu überzeugen, bei Wahlen für die Volkspartei zu votieren. Im Gegenteil
- die Partei musste vielmehr Verluste im Sektor der Beamten und im öffentlichen Dienst
sowie beim jungen Wahlvolk hinnehmen. Bislang schaffte es die ÖVP nicht, sich den
neuen gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen und Herausforderungen
anzupassen bzw. Lösungsansätze zu präsentieren. (vgl. GFK Austria Politikforschung
2008: 7)
Zunehmende Politikverdrossenheit und Protestwahlen (wie beispielsweise die Wahl des
Bundespräsidenten) aufgrund koalitionsbedingter Uneinigkeit und Streitereien zwischen
den beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP erschweren es für die ÖVP noch zusätzlich,
neue Wählergruppen zu motivieren bzw. die Wahlbeteiligung zu erhöhen.
Als deutlich schwieriger kann die Situation in den größeren Städten des Landes betrachtet
werden: Mit 9,24 Prozent der abgegebenen Stimmen und dem vierten Platz hinter der SPÖ,
der FPÖ und den Grünen bei der letzten Landtagswahl in Wien kann nicht mehr von einer
Großpartei ÖVP gesprochen werden. Die ehemaligen „schwarze Hochburgen“
Niederösterreich, Oberösterreich, Tirol und Vorarlberg konnten zwar den ersten Platz bei
den letzten Landtagswahlen noch für sich behaupten, mussten allerdings, wie
beispielsweise in Oberösterreich, Stimmenverluste im zweistelligen Prozentbereich
verbuchen.
5. Österreichische Volkspartei Seite 102
Zwischenzeitliche Zugewinne im Bereich der „blue-collar“ Arbeiter/innen, den
Angestellten sowie den Selbstständigen, die während der Kanzlerschaft von Wolfgang
Schüssel erzielt wurden, gingen in den letzten Jahren wieder verloren (vgl. Fallend 2004:
86).
Augenscheinlich wurde dabei eine gewisse Diskrepanz zwischen der alten-traditionellen
Kernwählerschaft der Partei und neuen Wählergruppen der Volkspartei. Bevorzugte die
Kernwählerschaft Stabilität vor Veränderung und Fortschritt, sprachen sich
Jungwähler/innen und Höhergebildete für einen Fortschritt in der Volkspartei aus (vgl.
SORA 2013: 11).
Für die ÖVP gilt es, die „Brennpunkte“ wie etwa Schwund der Parteimitglieder sowie der
überalterten Mitgliedschaft der Partei in den Griff zu bekommen bzw. eine moderne
zeitgemäße Politik zu betreiben, um die daraus resultierenden Verluste durch neue
Wählergruppen kompensieren zu können.
6. Schlussbetrachtung Seite 103
6. Schlussbetrachtung
Betrachtet man die aktuellen Entwicklungen und die jüngsten Umfragewerte, entsteht der
Eindruck, dass die besten Jahre der Volksparteien hinter ihr liegen. Umfragen wie
beispielsweise von Peter Hajek oder der Unique research weisen Werte von 18 Prozent für
die Österreichische Volkspartei aus.
Anfang des Jahres erreichte die ÖVP in Umfragen noch um sechs Prozent mehr und konnte
den zweiten Platz hinter der FPÖ erreichen. Seit Ende Mai – nach der Stichwahl um den
Bundespräsidenten zwischen Ing. Norbert Hofer (FPÖ) und Dr. Alexander van der Bellen
(unterstützt von den Grünen) - rangiert die ÖVP nur mehr auf dem dritten Platz hinter FPÖ
und SPÖ. Uneingeschränkt an der Spitze und großer Nutznießer der schlechten
Performance der beiden Regierungsparteien ist die FPÖ. Nach diesen Umfragewerten
würden SPÖ und ÖVP gemeinsam nur mehr 42 Prozent aller Wählerstimmen bekommen –
weit entfernt von der 50 Prozent Marke.
Abbildung 13: Umfragewerte; Quelle: http://www.nationalratswahl.at/umfragen.html (Stand: 10. August
2016)
Seit der Gründung hatte die Österreichische Volkspartei immer wieder mit Rückschlägen
und Krisen zu kämpfen. Viele dieser Krisen hatte die Partei selbst zu verantworten, da
praktisch von Anfang an ein parteiinterner Machtkampf um die wichtigen Positionen und
Ämter stattfand. Dennoch gelang es der Partei in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens
leichter, die Wähler zu überzeugen. Damals war es von Vorteil, dass das Angebot an
Parteien sehr eingeschränkt war. In der heutigen Zeit nutzen politisch engagierte Menschen
die Schwäche der beiden Großparteien aus und gründen neue Parteien. Die Entscheidung
für die Wähler/innen, welcher Partei sie ihre Stimme geben, wird immer schwieriger.
Somit wird der Wahlkampf um die Wählerstimmen immer härter. Die Anzahl der
Wechselwähler steigt mit jeder Wahl an.
6. Schlussbetrachtung Seite 104
Von Arnim kennzeichnet drei wesentliche Indikatoren, welche für den Verlust von
Wählerstimmen bzw. der Bedeutung von Volksparteien – auch für die ÖVP – zutreffen:
- Rückgang der Wählerschaft
- Überalterung und Schwund der Mitglieder
- niedrigere Wahlbeteiligung der Bürger/innen (vgl. von Arnim 2009: 190)
Abbildung 14: Nationalratswahlen; Quelle: Politik in Österreich (2006)
Seit 1970 – der Ära von Bruno Kreisky (SPÖ) verlor die ÖVP zunehmend an
Wählerstimmen – abgesehen von der Nationalratswahl 2002. Das historisch schlechteste
Ergebnis erreichte die Partei bei der letzten Nationalratswahl 2013 mit knapp 24 Prozent.
Des Weiteren verzeichnet die Volkspartei einen massiven Rückgang der
Parteimitgliedschaften: In einem Zeitraum von dreißig Jahren hat sich der Prozentanteil
eingeschriebener Parteimitglieder um die Hälfte reduziert. Zählten Ende der 1960er Jahre
27 Prozent aller Wahlberechtigten noch als Mitglieder der Partei, verringerte sich der
Prozentsatz im Jahr 2004 auf nur mehr 15 Prozent. Eine ähnliche Entwicklung ist bei der
Überalterung der Mitglieder festzustellen: Vor 35 Jahren betrug der Anteil der
Parteimitglieder, welche älter als 60 Jahre waren, rund ein Fünftel. Bis ins Jahr 2001 stieg
dieser Wert an: Mehr als ein Drittel aller Parteimitglieder hatte im Jahr 2001 das 60.
Lebensjahr erreicht bzw. überschritten (vgl. Plasser/Ulram 2006: 554ff). Auch der
Rückgang der Wahlbeteiligung in Österreich kann als eine Ursache für den Verlust von
Wählerstimmen angeführt werden. In den Anfängen der Zweiten Republik erreichte die
Wahlbeteiligung mit 96,8 Prozent ihren Höchststand. Wurde im Jahr 1990 die 90 Prozent
6. Schlussbetrachtung Seite 105
Marke bei der Wahlbeteiligung nicht mehr erreicht, lag sie knapp 20 Jahre später bei der
Nationalratswahl 2008 nur mehr bei 78,8 Prozent (Vgl. Khol/Lopatka/Molterer 2005: 376).
Es stellt sich nun die Frage: Muss angesichts dieser Entwicklungen vom Ende der
Volkspartei gesprochen werden?
„Allen Substanzverlusten und Endzeitprognosen zum Trotz ist es der Volkspartei
gelungen, sich im politischen Alltag und auf der politischen Bühne zu halten“ (Pracher
2012: 75). Für Tilmann Mayer besitzen Volksparteien durchaus eine Zukunft – er merkt
aber an, dass der Weg zurück zu alter Stärke mit viel Aufwand und Engagement verbunden
sein wird (Vgl. Mayer 2009: 12). Die ÖVP muss den Hebel bei der Bundespartei ansetzen
– die Landesorganisationen wie etwa Niederösterreich und Oberösterreich konnten ihre
Vormachtstellung behaupten und die Wahlen gewinnen (vgl. Hofer 2010: 171ff).
Anton Pelinka sieht die Zukunftsaussichten der Partei kritischer: Seiner Meinung ist „die
ÖVP nicht mehr zeitgemäß und muss sich neu erfinden“ (Pelinka 2012). „Sie wirkt von
ihrer bündischen Struktur bis zum demonstrativ zur Schau gestellten
Traditionskatholizismus wie ein liebenswürdiges, aber verstaubtes Museum“ (Pelinka
2012). Zwar bezeichnet sich die ÖVP noch als Volkspartei, allerdings fokussiert sich die
Partei auf Wählersegmente, die in der heutigen Gesellschaft unweigerlich erodieren. Die
Partei verliert ihre Kernwählerschicht, da die Landwirte sowie die katholische
Bevölkerung nur mehr einen kleinen Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung
repräsentieren. Weiters rechnet Pelinka mit der Organisationsstruktur der ÖVP ab: Für ihn
ist die bündische Struktur überholt. Er versteht, dass es 1945 durchaus sinnvoll war, das
berufsständische Denken fortzusetzen und die ÖVP als eine Partei von Landwirten,
Arbeitnehmern/innen und Selbstständigen zu deklarieren. Heutzutage wird es immer
schwieriger, Menschen einem bestimmten Berufsstand zuzuordnen, daher betrachtet
Pelinka diese Einteilung der ÖVP als veraltet (vgl. Pelinka 2012).
Der ehemalige EU-Agrarkommissar Franz Fischler stützt die Äußerungen von Anton
Pelinka: Fischler sieht für die ÖVP in ihrer derzeitigen Zusammensetzung keine Zukunft.
Sinnbildlich für das „Aus“ der ÖVP war für Fischler etwa die deutliche Niederlage bei der
Bundespräsidentenwahl. Die Tatsache, dass die SPÖ bei dieser Wahl gleichfalls schlecht
abgeschnitten hatte, ist nur ein schwacher Trost (vgl. Fischler 2016).
6. Schlussbetrachtung Seite 106
Fakt ist, dass die beiden ehemaligen Großparteien keine Regierungsmehrheit mehr
innehaben. Das traditionelle System der ÖVP hat ausgedient – einzelne Wahlerfolge auf
Länderebene beschönigen die momentane Situation – können aber das bevorstehende Ende
der Partei nicht verhindern, sondern höchstens hinausschieben. Fischler prophezeit für die
ÖVP ein ähnliches Schicksal wie es anderen Mitte-rechts-Parteien in den letzten Jahren in
Europa ergangen ist: ihren Zerfall (vgl. Fischler 2016).
Neben der Kritik über die Entwicklung der Partei nennt der ehemalige EU-
Agrarkommissar aber auch eine Lösungsmöglichkeit, die die Partei retten könnte. Die
Parteiführung darf sich nur mehr aus Bundespolitiker/innen zusammensetzen, welche
ferner die Ermächtigung besitzen, die im Bund notwendigen Personalentscheidungen ohne
äußeren und inneren Einfluss von den Teilorganisationen selbstständig treffen zu können.
Thematisch sollte die ÖVP den Fokus auf die bürgerlichen Tugenden, auf Europa sowie
auf die Nachhaltigkeit legen. Fischler würde sich neue, kreative Köpfe aus allen Bereichen
der Gesellschaft für die Partei wünschen. Vor allem Frauen, junge Menschen und jene
Leute der Gesellschaft, die zum Unternehmertum tendieren und nach Neuerungen streben.
Eine klare Absage erteilt er dem Anspruch, dass die Volkspartei alle Interessen der
Gesellschaft repräsentieren soll/muss (vgl. Fischler 2016).
Ähnlich sah es Erhard Busek vor einigen Jahren: Der ehemalige Bundesobmann der Partei
schlug damals eine Neugründung der ÖVP vor. Seine Forderungen waren, dass sich die
Partei schlanker präsentieren müsste, um mit den Gegebenheiten der heutigen Zeit zu
korrespondieren. Im Falle einer Neugründung würde sich Busek für klare Abgrenzungen
einsetzen. Beispielsweise würde er bei Gegnern der Globalisierung sowie Widersachern
der Europapolitik strikte Trennlinien ziehen und diese Gruppen nicht als Zielgruppe der
Partei sehen und daher auch nicht vertreten. Die neue Ausrichtung der Partei sollte
liberaler sein (vgl. Pelinka 2012). „Statt die Partei der geschützten Werkstätten in der
Landwirtschaft und im öffentlichen Dienst zu sein, wäre die neue ÖVP die Partei des
frischen Windes von Wettbewerb und Flexibilität“ (Pelinka 2012).
Ähnlich formuliert es Pelinka in einem Artikel für die Zeitschrift „Die Zeit“ im Jahr 2011:
“Die ÖVP ist zu einer Allerweltspartei verkommen. Sie ist konturlos und beliebig.
Neugründung lautet daher das Gebot der Stunde“ (Pelinka 2011).
6. Schlussbetrachtung Seite 107
Primär gilt es für die ÖVP sich in dem grundlegend veränderten gesellschaftlichen Milieu
neu auszurichten. Weiters müssen sich die führenden Kräfte der Partei damit abfinden,
dass die Österreichische Volkspartei keine Großpartei mehr ist und bei Wahlen 45 Prozent
erreichen kann. Vorrangiges Ziel der Partei muss es sein, sich zu stabilisieren (vgl. Pelinka
2012). Angesichts einer möglichen Neu-Ausrichtung warnt Pelinka jedoch davor, „dass es
keinen Sinn macht, als zweite FPÖ („Strache light“) das Sprachrohr zorniger
Modernisierungsverlierer sein zu wollen“ (Pelinka 2012). Fischler untermauert diese These
von Pelinka, in dem er ergänzt: „Gegen die Populisten von rechts und links wird die ÖVP
nur erfolgreich sein, wenn sie aufhört, nach jeder Niederlage einen Teil von deren
Argumenten zu übernehmen, und wenn sie sich stattdessen daran erinnert, dass in der
Politik die Offensive noch immer die beste Verteidigung ist“ (Fischler 2016).
Zwar kritisiert Christian Rainer ähnlich wie Pelinka und Fischler die Struktur der Partei
sowie ihre Haltung bei speziellen Themengebieten, jedoch zeigt er in seiner Analyse über
die Parteien in Österreich bei der ÖVP einen Vorteil gegenüber den anderen Parteien auf.
Im personellen Bereich bewertet Rainer die ÖVP als überlegen positioniert und breiter
aufgestellt als die SPÖ, die FPÖ und die Grünen. Der Außenminister Sebastian Kurz,
Justizminister Wolfgang Brandstetter und Finanzminister Hans Jörg Schelling führt Rainer
als Argumentation für seine Aussage an (vgl. Rainer 2015).
Eine Frage mit der sich die Parteispitze noch auseinandersetzen wird müssen, betrifft
zukünftige Koalitionspartner. Angesichts des Wahlverhaltens der Wähler/innen und der
Gewissheit, dass bei der nächsten Nationalratswahl die Bundespartei der ÖVP gemeinsam
mit der anderen (ehemaligen) Großpartei keine 50 Prozent mehr erreichen wird, gilt es
neue Koalitionsformen zu ermitteln. Es würden sich einige Möglichkeiten anbieten –
vergleichsweise eine Neuauflage mit der FPÖ wie unter Obmann Wolfgang Schüssel oder
eine Dreierkoalition SPÖ-ÖVP-Grüne oder Neos. Beispielsweise gab es in Oberösterreich
bis Herbst 2015 eine Landesregierung zwischen der ÖVP und den Grünen. Für die beiden
Großparteien gilt es, aus der Wahlniederlage um das Amt des Bundespräsidenten zu lernen
und die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Deshalb wurde bereits Mitte Mai 2016 – kurz nach der Wahlniederlage – in einer
Zukunftskonferenz eine Analyse durchgeführt und Schlussfolgerungen für die Zukunft
gezogen. Unter anderem wurde im Rahmen dieser Konferenz der Regierungsstil
6. Schlussbetrachtung Seite 108
thematisiert: Daher will man zukünftig neue Instrumente verwenden und bestehende
Politrituale besprechen. Angedacht wurde auch die Möglichkeit, Bürger/innen vermehrt an
der Politik mittels einer direkteren Demokratie teilhaben und mitwirken zu lassen. Ebenso
gibt es ein klares Bekenntnis zum strukturellen Aufbau der Partei: Eine strukturelle
Veränderung bzw. eine Abschaffung/Auflösung der Teilorganisationen wurde nicht
diskutiert. Im Gegenteil: Innerhalb der Partei werden die Bünde nach wie vor als Vorteil
gegenüber den anderen Parteien betrachtet, da sie einen Zusammenhalt in der Volkspartei
vermitteln (vgl. O.V. 2016a).
Somit eine klare Absage an jene Experten/innen, die sich im Zuge einer Parteireform eine
strukturelle Veränderung erhofft hätten.
Äußerst zutreffend erweist sich hierbei eine Aussage von Gernot Bauer:„Die ÖVP steht
sich bei ihrer Erneuerung selbst im Weg – ein fast unüberwindliches Hindernis“ (Bauer
2016).
Auf lange Sicht gesehen wird die Österreichische Volkspartei die momentane Schwäche-
Phase überstehen. Jedoch wird sich die Partei von dem Anspruch, bei Nationalratswahlen
mehr als 30 Prozent erreichen zu können, verabschieden müssen, da die Zeiten der
absoluten Mehrheiten auf Bundesebene vorbei sind und aufgrund neu entstandener
Parteien, der „Kampf“ um Wählerstimmen für die alten, etablierten Parteien härter
geworden ist. Zusätzlich erschweren neue Parteien wie die NEOS für die ÖVP im urbanen
Bereich die Situation.
Österreichische Volkspartei – eine Volkspartei befindet sich auf der Suche nach ihrem
Volk.
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