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DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit „Stefan Zweigs und Romain Rollands Pazifismus in
den Jahren des Ersten Weltkrieges. Dargestellt anhand der Werke Jeremias und Clerambault“
Verfasserin
Denise Valerie Indinger
angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, im Januar 2013 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 393
Studienrichtung lt. Studienblatt: Vergleichende Literaturwissenschaft
Betreuerin: Univ. Ass. Dr. Barbara Agnese
3
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Dr. Barbara Agnese, die mich beim
Schreiben meiner Arbeit motivierend unterstützt hat und während des ganzen Studiums
immer ein offenes Ohr für meine Anliegen hatte.
Zudem möchte ich natürlich meinen Eltern danken, die mich mein ganzes Studium
hindurch emotional und finanziell unterstützt haben und immer an mich glauben.
Außerdem danke ich Felix, der schon seit so vielen Jahren immer für mich da ist und mich
mit viel Geduld durch mein Studium begleitet hat.
Bedanken möchte ich mich auch bei Jutta und Max, die mir durch die liebe Betreuung von
meinem Sohn Anton viel Zeit geschenkt haben.
Ein großes Dankeschön gilt überdies meinem gewissenhaften Lektor Gregor.
Und danke Anton, dass du mich in den stressigen Momenten daran erinnert hast, was
wirklich wichtig ist.
4
5
SIGLEN
Für die Werke Jeremias und Clerambault werden folgende Siglen verwendet:
Stefan Zweig: Tersites. Jeremias. Zwei Dramen. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006.
[erstmals veröffentlicht 1917] = J.
Romain Rolland: Clerambault. Histoire d’une conscience libre pendant la Guerre. Paris:
Ollendorff, 1920. = C.
6
7
Inhaltsverzeichnis
SIGLEN
1. EINLEITUNG............................................................................................................9
2. „PAZIFISMUS“.........................................................................................................12
2.1. Definition................................................................................................................12
2.2. Historische Entwicklung.......................................................................................13
3. STEFAN ZWEIGS UND ROMAIN ROLLANDS PAZIFISTISCHES ENGAGEMENT
IM ERSTEN WELTKRIEG...........................................................................................20
3.1. Romain Rolland im Ersten Weltkrieg.................................................................20
3.1.1. Exkurs: Die Zeit vor dem Krieg...........................................................................20
3.1.2. Der Verteidiger des europäischen Geistes............................................................21
3.1.3. Zwischen den Fronten...........................................................................................23
3.1.4. Annäherung an den Sozialismus...........................................................................26
3.1.5. Der innere Feind....................................................................................................29
3.1.6. Die ersten Friedensjahre........................................................................................31
3.2. Stefan Zweigs ambivalente Haltung im Ersten Weltkrieg..................................33
3.2.1. Phase der Wirrnis und Orientierungslosigkeit.......................................................33
3.2.2. „Heldenfriseure“- Stefan Zweig im Dienste Österreichs.......................................38
3.2.3. Jeremias- oder die Überwindung der eigenen Unsicherheit..................................42
3.2.4. Exkurs: Stefan Zweigs Judentum im Bezug auf das Drama Jeremias...................47
3.2.5. Stefan Zweigs konkretes pazifistisches Engagement.............................................49
3.2.6. Die ersten Friedensjahre.........................................................................................52
8
3.3. Stefan Zweig und Romain Rolland- eine geistige Brüderschaft im Schatten des Krieges...............................................................................................................................55
4. DIE WERKE CLERAMBAULT UND JEREMIAS ALS BEISPIELE FÜR ROMAIN ROLLANDS UND STEFAN ZWEIGS LITERARISCHEN PAZIFISMUS....................58
4.1. Clerambault- Une conscience libre pendant la Guerre............................................58
4.1.1. Die lange Zeitspanne der Entstehung des Clerambault...........................................60
4.1.2. Exkurs: Die Rezeption des Clerambault..................................................................62
4.1.3. Agénor Clerambaults stufenweise Entwicklung zum Pazifisten..............................76
4.1.4. Die Nebenfiguren- Die Kinder Clerambaults, Maxime und Rosine als Reflektoren
der Wandlung.....................................................................................................................82
4.2. Jeremias- Ein pazifistisches Drama.........................................................................82
4.2.1. Jeremias- „Prophet des schmerzensreichen Friedens“.............................................83
4.2.2. Das Volk Jerusalems als „Sturzflut der Massenseele“.............................................94
4.3. Clerambault und Jeremias- ein Vergleich................................................................98
5. SCHLUSSBETRACHTUNG.........................................................................................102
6. BIBLIOGRAFIE............................................................................................................106
6.1. Primärliteratur..........................................................................................................106
6.2. Sekundärliteratur......................................................................................................107
7. ANHANG......................................................................................................................111
7.1. Lebensläufe der Autoren..........................................................................................111
7.2. Abstract......................................................................................................................114
7.3. CurriculumVitae.......................................................................................................116
9
1. EINLEITUNG
Mein persönliches Interesse, das sich im Laufe des Studiums herauskristallisiert hat, gilt
vor allem der österreichischen und der französischen Literatur. Stefan Zweig begleitet mich
schon seit Schultagen und war auch im Studium immer wieder relevant. Es erschien mir
reizvoll, eines seiner Werke mit einem Werk seines Freundes Romain Rolland in
Wechselwirkung zu setzen und einen kritischen Blick auf beide zu werfen. Die pazifistische
Einstellung die sich in Leben und Werk der beiden Autoren manifestiert, stellte sich als
gute Grundlage für eine vergleichende Untersuchung heraus.
Stefan Zweig war schon zu Lebzeiten ein vielgelesener Autor und erfährt auch in den
Jahren nach seinem Tod eine rege Rezeption. Sowohl in deutscher als auch in
französischer Sprache finden sich viele Publikationen zu seinem Leben und Werk. Romain
Rolland konnte mit seinem mehrbändigen Romanwerk Jean-Christophe zwar einen großen
Erfolg verzeichnen und den Nobelpreis für das Jahr 1915 entgegennehmen, doch sein
kritisches intellektuelles Engagement bringt ihm im Ersten Weltkrieg viel Kritik in den
kriegführenden Ländern ein und macht ihn in Frankreich zu einem „inneren Feind“. Diese
negative Konnotation seines Namens, die sich auch nach dem Krieg hielt und die
sprachliche Form seiner Werke, welche an jene Stefan Zweigs nicht heranreicht, mögen
wohl dazu beitragen, dass Rollands Werke heute vergleichsweise wenig rezipiert werden.
Es gibt vereinzelt Fachliteratur, die sich mit Stefan Zweig und Romain Rolland beschäftigt,
in der vor allem auf den Briefwechsel Bezug genommen und auf die Freundschaft der
beiden Autoren eingegangen wird.1 Der Briefwechsel wurde in den 1980er Jahren auf
Deutsch publiziert, obwohl der Großteil der Korrespondenz in französischer Sprache
geführt wurde. In Frankreich wurden die Briefe bislang nicht veröffentlicht. Siegrun Barat
1 Siegrun Barat: „Romain Rolland et Stefan Zweig. Une amitié à l’épreuve des guerres.“ In: Cahiers de Brèves n° 24, Dezember 2009. S. 22-25; Jean-Yves Brancy: „La correspondance Romain Rolland-Stefan Zweig.“ In: Cahiers de Brèves n° 27, Juni 2011. S. 20- 24; Dragoljub- Dragan Nedeljkovic: Romain Rolland et Stefan Zweig. Paris: Éditions Klincksieck, 1970; Harry Zohn: „Stefan Zweig and Romain Rolland: the literally and personal relationship.“ Stuttgart: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Stuttgart, 1974. In: Universitas. Bd. 16. (1974), Nr. 2, S. 169-174.
10
und Jean-Yves Brancy arbeiten derzeit an einer französischen Version die bald erscheinen
soll. Die Romane Jeremias und Clerambault wurden noch nie parallel gelesen und
vergleichend betrachtet. In Nedeljkovics Publikation wird kurz sowohl auf das Werk
Jeremias als auch auf Clerambault eingegangen, jedoch geschieht keine vergleichende
Betrachtung.2
In der vorliegenden Arbeit soll nun Stefan Zweigs und Romain Rollands pazifistisches
Engagement im Ersten Weltkrieg dargestellt und die Romane Jeremias und Clerambault
parallel gelesen werden. Die Lebenswege der Autoren in den Jahren des Krieges werden
näher betrachtet, um Relevantes für die Entwicklung ihres Pazifismusbegriffes
herauszuarbeiten. Gemeinsam mit der Sekundärliteratur, der veröffentlichten
Briefkorrespondenz, den kriegskritischen Artikeln und Tagebuchaufzeichnungen der
beiden Romanciers, ist es möglich, ein umfassendes Bild ihres Engagements in den Jahren
des Krieges zu zeichnen.
Bei dem Thema handelt es sich in mehrerlei Hinsicht um ein komparatistisches Gebiet. Die
Affinitäten Stefan Zweigs und Romain Rollands, ihre Zugehörigkeit an verschiedene
Sprach- und Kulturkreise, sowie ihre Internationalität zeichnen die beiden aus und machen
die Auseinandersetzung mit ihren Werken besonders reizvoll.
Der frankophile Erzähler Zweig und Rolland, der sich für den deutschen Sprachraum
interessierte, traten in eine Wechselwirkung, die vor allem vor dem Hintergrund der
kriegerischen internationalen Konflikte des 20. Jahrhundert von Interesse ist. So schreibt
Rolland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges an Zweig:
Es tut wohl, inmitten der Stürme, die über dieses Europa fegen und in denen die Drohungen eines Krieges grollen, eine so innige Verbundenheit von Menschen zu spüren, die sich verstehen und lieben. Könnten wir doch gemeinsam für die Annäherung unserer Völker wirken- diesen beiden verfeindeten Völker.3
Stefan Zweig und Romain Rolland haben im Ersten Weltkrieg einen Teil zur Annäherung
2 Dragoljub-Dragan Nedeljkovic: Romain Rolland et Stefan Zweig. Paris: Éditions Klincksieck, 1970. 3 Romain Rolland/ Stefan Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band 1910-1923. Berlin: Rütten&Loenig, 1987. S. 50.
11
der „verfeindeten Völker“ beigetragen. Den beiden war stets eine internationale
Gesinnung, das Bemühen um internationalen Austausch und das Streben nach einem
friedlichen Europa gemein.
Ziel der Arbeit ist es aufzuzeigen was den jeweiligen Pazifismus der Autoren ausmacht,
worin er sich manifestiert und wie er in den ausgewählten Werken Jeremias, im Jahr 1917
erschienen und Clerambault, 1920 publiziert, zum Ausdruck kommt. Das Wirken der
Autoren wird immer wieder in Bezug zueinander gestellt und auch ihre Romane sollen
vergleichend betrachtet werden.
Um einen theoretischen Grundstock für die Arbeit zu bereiten wird im Vorfeld eine
Begriffsklärung des Terminus „Pazifismus“ unternommen. Die historische Entwicklung in
dem für die Arbeit relevanten Zeitraum wird kurz erläutert und der Versuch unternommen,
eine Definition zu finden.
Im darauffolgenden Punkt liegt das Hauptaugenmerk auf Romain Rollands und Stefan
Zweigs pazifistischem Engagement im Ersten Weltkrieg. Hier wird genauer auf ihre
Tätigkeit in den Jahren des Krieges eingegangen und untersucht, welche Faktoren für die
Herausbildung ihres Pazifismus prägend waren.
Im Anschluss wird anhand der Werke Clerambault und Jeremias gezeigt, wie sich
Rollands und Zweigs pazifistische Gesinnung in ihrem Werk ausdrückt.
Ungeachtet der unterschiedlichen Gattungen und der Ansiedlung in verschiedenen
historischen Epochen, soll aufgezeigt werden, dass in beiden Werken Kritik am
Kriegsgeschehen des Ersten Weltkrieges geübt und dafür auf ähnliche Mittel und auf die
Darstellung des pazifistischen Kampfes der beiden Hauptfiguren zurückgegriffen wird.
12
2. „PAZIFISMUS“
Zu Beginn soll eine Begriffsklärung zum Terminus „Pazifismus“ unternommen werden, da
sich die vorliegende Arbeit mit jenem Begriff im Bezug auf Romain Rolland und Stefan
Zweig auseinandersetzt. Das Verständnis des Begriffs war Voraussetzung für den
Arbeitsprozess am Thema und ist auch für das Begreifen der fertigen Arbeit vonnöten.
Die Pluralität des Begriffs erschwert die Eingrenzung durch eine exakte Definition. Es soll
an dieser Stelle ein historischer Abriss vorgenommen werden, wobei die Konzentration
auf Europa, und hier vor allem auf dem deutschsprachigen Raum und Frankreich liegen
soll. Ziel ist es, die wichtigsten Entwicklungen aufzuzeigen und eine Orientierung an den
verschiedenen Darstellungen des Pazifismus und diversen Beiträgen zu unternehmen. Dies
soll nicht sehr detailliert geschehen, es handelt sich bloß um einen Abriss, der den Rahmen
für die vorliegende Arbeit schaffen soll.
Es wird hier vor allem auf das Werk Pazifismus in Deutschland von Karl Holl Bezug
genommen, welches das Paradewerk zum Pazifismus im deutschsprachigen Raum
darstellt.
2.1. Definition
Es erweist sich als schwierig eine exakte Definition für den Begriff “Pazifismus“ zu
finden. Im Brockhaus wird Pazifismus als „geistige Strömung innerhalb der
Friedensbewegung bzw. antimilitarist. Bewegungen, die sich durch die Ablehnung von
(militär.) Gewalt auszeichnet“ beschrieben.4
Der Präsident der „Internationalen Liga für Frieden und Freiheit“, Émile Arnaud,
publizierte 1901 in der Brüsseler Tageszeitung, Indépendance Belge, einen Artikel, in
welchem er die Anhänger der Friedensbewegung als „pacifistes“ und ihr Programm als
„pacifisme“ bezeichnete.5
4 Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. (16. Band). Mannheim: F. A. Brockhaus. S. 621. 5 Vgl. Karl Holl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. S. 69.
13
Mit dem Retortenbegriff „Pazifismus“ [dagegen] konnten sämtliche Teilziele der Friedensbewegung und die Friedensbewegung selbst prägnant und einprägsam erfaßt werden, und das Kunstwort hatte den gleichen Vorzug der Verwendbarkeit in vielen Sprachen und somit den Vorteil, den Bedürfnissen einer internationalen Bewegung zu dienen.6
International anerkannte Pazifisten wie die Österreicherin Bertha von Suttner trugen durch
die Verwendung des Begriffs zu dessen Verbreitung zusätzlich bei.
Der Pazifismus zeichnet sich durch die Ablehnung von Gewalt aus und fordert stattdessen
eine „soziale Verteidigung“7. Weiters setzt er sich für die Anerkennung der
Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht und einen „tatsächlichen Friedensdienst“
(Zivildienst) ein.
2.2. Historische Entwicklung
Die Frühgeschichte des Pazifismus wird an dieser Stelle ausgeklammert. Die
Beschäftigung mit dem für die Arbeit relevanten Zeitraums des 19. Und 20. Jahrhunderts
soll ausreichen.
Jener Zeitraum war ohnehin der Prägendste. Durch das Ende des Ancien Régime und die
Errungenschaften der Französischen Revolution wurde der Boden für die Entwicklung
einer Friedensbewegung in Europa bereitet. Der Terminus Friedensbewegung ist hier mit
dem Begriff des Pazifismus gleichzusetzen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die beiden
Begriffe synonym verwendet.
Als bürgerliche Reformbewegung im Kontext bürgerlicher Emanzipation ist die Friedensbewegung aus Bedingungen entstanden, die erst aus dem Zusammenbruch des Ancien Régime hervorgehen konnten, und erst seit der säkularen Wende der Französischen Revolution hat der Krieg als Herausforderung an die Menschheit mit dem Aufkommen der Friedensbewegung eine neue, vorher unbekannte Reaktion ausgelöst.8
Es sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass es wohl auch zuvor Publikationen großer Denker
gab, die sich mit dem Wesen des Friedens auseinandersetzten, die jedoch nicht zu einem
6 Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 70. 7 Brockhaus. S. 621. 8 Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 7.
14
Aufbau von Friedensbewegungen geführt haben.9 Hervorzuheben ist hier Immanuel Kants
„Schrift zum ewigen Frieden“ (1795) und das Essay „Über den ewigen Frieden“ (1800)
von Friedrich von Gentz, auf die spätere Theoretiker bereits zurückgreifen konnten.
Bedingt durch einzelne Entwicklungen in unterschiedlichen Staaten, gab es andere
Voraussetzungen beziehungsweise unterschiedliche Ausgangssituationen für die
Friedensbewegungen der jeweiligen Länder. Trotz jener nationalen Unterschiede kann man
im zeitlichen Rahmen bis zum Ersten Weltkrieg vielerlei Gleichheiten ausmachen.10 Diese
Übereinstimmungen lassen sich vor allem im Bereich der internen Organisation und
Informationsübermittlung feststellen. Die Erscheinungsformen reichten beispielsweise von
lokalen Gruppen, Gesellschaften und Vereinen bis hin zu nationalen und internationalen
Zusammenschlüssen. Im öffentlichen Bereich fanden Kongresse statt und auch die Presse
trug mit der Veröffentlichung von Zeitschriftenartikeln und Traktaten einen wichtigen Teil
zum Austausch von Informationen bei. Im Privaten gab es regen Schriftverkehr zwischen
den verschiedenen Organisationen und Privatpersonen. Somit gelang es gemeinhin bis zum
Ersten Weltkrieg ein internationales Gefüge aufrecht zu erhalten.11 Die frühen
Pazifismusbewegungen, welche zu diesem Zeitpunkt vor allem von bürgerlichen
Vertretern getragen wurden, lehnten Kriege auch aus Angst vor sozialen Umstürzen ab.
Die Anfänge der pazifistischen Bewegungen sind in den USA zu finden. 1814 schrieb
Noah Worcester das Manifest „A Solemn Review of the Custom of War“, dessen
Grundaussage die Sinnlosigkeit von Kriegen ist.12 1814 kam es zur Gründung der
„Massachusetts Peace Society“. In den folgenden Jahren folgten viele weitere
Neugründungen, woraufhin auch die Friedenspublizistik immer mehr an Wichtigkeit
erlangte. 1828 kam es unter Zusammenschluss aller amerikanischen
Pazifismusvereinigungen zur „American Peace Society“.
Die erste europäische Friedensvereinigung, die „London Peace Society“ entstand 1816 in
London. Weitere wichtige Gründungen waren die der französischen Friedensgesellschaft
„Comité de la Paix“ 1841, und die der Genfer Vereinigung, im Jahre 1830. Diese ersten
9 Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 8. 10 Vgl. Ebenda. S. 13. 11 Vgl. Ebenda. S. 13. 12 Vgl. Ebenda. S. 20.
15
Friedensgesellschaften traten in eine gegenseitige Wechselwirkung. Zuerst in Form von
persönlichen Kontakten der Mitglieder, ab den 1840er Jahren auch durch erste Kongresse.
Der erste internationale Friedenskongress fand 1848 in Brüssel statt, wobei nur wenige
Nationen daran teilnahmen. Im Jahr darauf wurde der Kongress in Paris abgehalten und
hatte etwas mehr Zulauf. Victor Hugo hielt die Eröffnungsrede. Auch die Vorschläge für
nötige Maßnahmen waren genauer formuliert. So wurde beispielsweise die Forderung nach
einer systematischen Abrüstung gestellt, sowie die Ablehnung von Kriegsanleihen. Der
dritte Kongress 1850 in Frankfurt fand in der gedrückten Stimmung statt, die Gewissheit
zu haben, dass die Revolutionsbewegungen gescheitert waren. In den 1850er Jahren
folgten zwar noch Kongresse im angloamerikanischen Raum, im Allgemeinen ging das
Interesse an pazifistischen Bestrebungen jedoch zurück. Vor allem das Streben
Deutschlands und Italiens nach nationaler Einheit ließ den Pazifismus-Gedanken in den
Hintergrund rücken.
In den 1860er Jahren erstarkte das Interesse wieder. Vor allem in Frankreich, wo sich der
Pazifismus im Repertoire des politischen Liberalismus und des Republikanismus festigte.
1867 kam es in Paris aus Angst vor einem Krieg aufgrund des Luxemburg-Konflikts, zur
Gründung der „Ligue Internationale et Permanente de la Paix“.
Als Reaktion auf den Wunsch eine Stelle zur Koordinierung der bereits recht zahlreichen
internationalen Organisationen des Pazifismus zu gründen, wurde 1892 in Bern ein
internationales Friedensbüro eröffnet, das seit 1919 seinen Sitz in Genf hat.13
Die Pazifistin und Österreicherin Bertha von Suttner landete mit ihrem Anti-Kriegs-
Roman Die Waffen nieder 1889 einen großen Erfolg. Ihrem Engagement ist es zu
verdanken, dass es auch in Österreich 1891 zur Gründung einer Friedensbewegung kam.
Unter Mithilfe Bertha von Suttners und dem jungen Wiener Alfred Hermann Fried wurde
in Berlin 1892 „Die Deutsche Friedensgesellschaft“ gegründet, woraufhin bald auch die
Gründung weiterer pazifistischer Organisationen in Deutschland folgte. 1897 richtete
Deutschland sogar den Welt- Friedenskongress aus. In den 1890er Jahren sahen sich die
Pazifisten vor allem mit der drohenden Gefahr globaler Kolonialkonflikten konfrontiert.
1907 wollte man bei dem bereits zweiten internationalen Friedenskongress in Den Haag 13 Vgl.: Brockhaus. S. 621.
16
die öffentliche Aufmerksamkeit zur Verbreitung der pazifistischen Ideen nützen.14
Den Vertretern der Pazifismusbewegungen war das Fehlen einer theoretischen Grundlage
bewusst. Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder! und ihre Auffassung des
Pazifismus stieß auf viele kritische Stimmen, welchen Suttners Einstellung zu sentimental,
naiv und moralisierend war.15 In ihrer Schrift „Das Maschinenzeitalter.
Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit.“ aus dem Jahr 1888 war es jedoch ihr Ansinnen,
einen theoretischen Zugang zum Pazifismus aufzuzeigen:
Im wesentlichen stellt das, was sich aufgrund ihrer Äußerungen als „Theorie“ erkennen läßt, den Versuch dar, bestimmte methodische Elemente aus dem Werk einflußreicher zeitgenössischer Autoren, in denen der Fortschrittsoptimismus der Epoche Bestätigung fand, zu einer umfassenden Kulturtheorie zu adaptieren.16
Suttner ging davon aus, dass sich die Menschheit allmählich zu einem sogenannten
„Edelmenschentum“ hin entwickle. Solch einer zukünftigen Gesellschaft würden Kriege
freilich zuwider sein. Auch durch die künftigen Entwicklungen im technischen Sektor
würden Kriege zu Absurditäten werden. Sie sah es als ihre, und natürlich als Aufgabe des
von ihr vertretenen Pazifismusgedankens, die gegenwärtig existierende Menschheit
aufzurütteln, um ihrem Gesellschaftsideal näher zu kommen.
Hier ist zu erkennen, dass Bertha von Suttner ausschließlich mit ethischen Argumenten
argumentierte. Eine andere Richtung schlug beispielsweise Fried ein. Er trat für einen
„wissenschaftlichen Pazifismus“ ein. Dem Pazifismus wurde immer wieder vorgeworfen,
kein wirkliches Mittel zur Kriegsverhinderung darzustellen. Die persönliche Integrität von
Pazifisten wurde häufig in Frage gestellt. So wurden diese als „Drückeberger“ und
„Idealisten“ abgestempelt.17
Vor allem in Deutschland gab es viele Gegner des organisierten Pazifismus. Dies erklärte
sich vor allem aus der xenophoben Einstellung vieler und der Tatsache, dass der
Pazifismus die Rolle des Militärs, sowie die Schaffung nationaler Feindbilder in Frage
stellte.18 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem Anstieg des
14 Vgl. Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 22. 15 Vgl. Ebenda. S. 74. 16 Ebenda. S. 74. 17 Vgl.: Brockhaus. S. 622. 18 Vgl. Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 84.
17
Antipazifismus der politischen Rechten. Es gab jedoch Versuche, internationale Konflikte
zu lösen. So kam es 1912 zu einer deutsch-britischen Verständigungskonferenz in London.
1913 und 1914 trafen sich deutsch-französische Parlamentarier in Bern und Basel.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete für den Pazifismus freilich einen
Zusammenbruch der pazifistischen Utopie. Die ersten Wochen des Krieges waren eine
Prüfung für die Standhaftigkeit der pazifistischen Anhänger. So gab es sowohl Anhänger,
die nach Kriegsausbruch ihr Nationalgefühl für sich entdeckten und dem Pazifismus den
Rücken kehrten, als auch solche, die in der Kriegszeit keine Möglichkeit für eine
pazifistische Betätigung in den kriegführenden Ländern sahen und sich deshalb zum Exil
in der Schweiz entschlossen. All jene Pazifisten, die von der Kriegseuphorie verschont
blieben, sahen im Krieg eine Katastrophe, welche die Ansätze einer internationalen
Verständigung und Zusammenarbeit zu zerstören drohte.19 Die Rekrutierung vieler junger
Männer ließ eine Lücke entstehen, die junge Pazifistinnen zu füllen vermochten. So wurde
1915 die „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ gegründet. Den
Friedensbewegungen in den, vom Krieg betroffenen Staaten fiel die Aufgabe zu, sich „der
Vaterlandsliebe in der Stunde nationaler Bedrohung“20 zu widmen. Aber wichtiger noch
war der Versuch, sich trotz des Krieges, das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen
Kultur zu bewahren und auch zu propagieren. Zu nennen wäre hier der Appell des Berliner
Mediziners Georg Friedrich Nicolai „An die Europäer“ und auch Romain Rollands Schrift
„Au-dessus de la mêlée.“21
Das „Internationale Friedensbüro“ in Bern schaffte es kaum, seinen pazifistischen
Verpflichtungen nachzukommen. Es fand lediglich eine Sitzung im Januar 1915 statt, die
keinen wünschenswerten Ausgang fand. Der Vorsitzende Henri La Fontaine konnte seine
Aktivität im Friedensbüro nicht losgelöst von der Kriegspolitik der Länder sehen und tat
sich im Anbetracht der deutschen Kriegsführung schwer, seine deutschen Kollegen zu
empfangen. Zudem verhinderte die Kriegssituation die Teilnahme einiger Mitglieder aus
neutralen Staaten und bis auf ein Mitglied aus England, war niemand aus den
Ententestaaten gekommen. So fand sich kein einziges französisches Mitglied ein. Die
19 Vgl. Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 103- 106. 20 Ebenda. S. 108. 21 Vgl.: Ebenda. S. 109.
18
Unüberbrückbarkeit der Standpunkte wurde offensichtlich und die Versuche, einen
Kompromiss zu finden scheiterten. Der Kongress machte deutlich „wie tief der Riß war,
den der Weltkrieg binnen kurzem in der pazifistischen Internationale erzeugt hatte.22 Ein
weiterer Kongress des „Internationalen Friedensbüros“ fand im Krieg nicht mehr statt.
Zum einen kehrte der Präsident La Fontaine erst nach Ende des Krieges aus den USA
zurück, zum anderen bestand auf der französischen Seite der Friedensbewegung kein
Interesse. Bis zum Ende des Krieges beteiligte sich kein Vertreter der französischen
Friedensbewegung an einer Beratung mit Pazifisten aus Deutschland und Österreich-
Ungarn.23 So vollkommen untätig war kaum eine nationale Friedensgesellschaft im Krieg.
Es wurde aber dennoch deutlich, dass durch den Krieg das traditionelle Verständnis
pazifistischer Arbeit infrage gestellt wurde. So kam es zu zahlreichen Neugründungen von
pazifistischen Organisationen.
Den Neugründungen gemeinsam war die Überzeugung, daß nach dem Ende des Krieges nicht einfach an die Vorkriegssituation angeknüpft werden könne und daß aus den Erfahrungen des Krieges vielmehr fundamentale Veränderungen im internationalen System und im Zusammenspiel zwischen innerer und äußerer Politik hervorgehen müßten.
In den Niederlanden kam es zu der Gründung der „Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad“, in
der Schweiz wurde das „Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauernden Friedens“
gegründet und in den USA war es die „League to Enforce Peace“, die einen neuen
Pazifismus vertrat. In Frankreich kam es zu keiner Neugründung. Die bereits bestehende
„Ligue des Droits de l’homme“ erfüllte bereits einen wesentlichen Teil der neuen
Forderungen. In Deutschland wurde 1914 der „Bund Neues Vaterland“ gegründet.
Von 7. bis 10. April 1915 fand eine, von der „Anti-Oorlog-Raad“ organisierte
Pazifistenkonferenz in Den Haag statt. Man kam zu der Vereinbarung, eine Diskussion der
aktuellen Kriegslage zu unterlassen und sich auf ein von den Niederländern erarbeitetes
„Minimalprogramm für einen dauernden Frieden“24 als Beratungsgrundlage zu verwenden.
Dieses Programm wurde im Übrigen während des ganzen Krieges als wichtiger
Ausgangspunkt bei jeder pazifistischen Friedensdiskussion verwendet.25 Je weiter der
22 Vgl.: Holl: Pazifismus in Deutschland. S.110 f. 23 Vgl.: Ebenda. S. 112. 24 Ebenda. S. 117. 25 Vgl.: Ebenda. S. 116 f.
19
Krieg voranschritt, umso mehr kam es zum Versuch der Unterbindung pazifistischer
Tätigkeiten durch die Regierungen der jeweiligen Länder.
Das Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson führte zur Anregung eines
Völkerbundes, der für die künftige Friedenssicherung wesentlich zu sein schien und im
Zeichen der Forderung eines internationalen Pazifismus stand. Vom 19. bis 20. November
1917 fand in Bern eine Konferenz statt, die sich mit der Frage der Grundlagen eines
Völkerbundes befasste.26 Doch wieder kam es zu einem Fehlen an Internationalität.
Diesmal vor allem durch die Tatsache, dass das Reisen schwer, bis nahezu unmöglich war.
Im letzten Jahr des Krieges nahmen internationale pazifistische Aktionen zu. So bemühten
sich österreichische Pazifisten wie Heinrich Lammasch und Julius Meinl und ungarische
Pazifisten um ein gemeinsames Friedenskonzept mit den Mittelmächten. Leider
vergeblich.27 Bei Bekanntwerden der Waffenstillstandsbedingungen kam es vor allem auf
der Seite der deutschen Pazifisten zu Aufruhr und der Forderung nach der Orientierung am
Programm Wilsons. Doch auch Pazifisten aus anderen Ländern, wie Romain Rolland,
sahen in den Bedingungen eine Gefahr für die Bewahrung eines künftigen Friedens, wobei
sie leider Recht behalten sollten.
Für die internationalen pazifistischen Bewegungen stellte der Erste Weltkrieg eine Zäsur
dar, die in gewissen Punkten zu einer Wandlung führte. Die Friedensbewegungen konnten
beispielsweise einen Teil ihrer Erstarrung ablegen und einen Zugewinn an
organisatorischer Beweglichkeit und Phantasie verzeichnen, sowie ihre Tätigkeit in der
Praxis erproben.28
Romain Rolland und Stefan Zweig haben sich durch ihr pazifistisches Engagement
hervorgetan und waren vor allem in der Zeit des Ersten Weltkrieges zwei Stimmen, die für
Völkerverständigung und ein Ende des Krieges eingetreten sind. Im nachfolgenden Punkt
soll ihr konkretes Wirken für ein friedliches Europa nun genauer betrachtet werden.
26 Vgl.: Holl: Pazifismus in Deutschland. S. 130. 27 Vgl.: Ebenda. S. 130f. 28 Vgl.: Ebenda. S. 132.
20
3. STEFAN ZWEIGS UND ROMAIN ROLLANDS PAZIFISTISCHES
ENGAGEMENT IM ERSTEN WELTKRIEG
3.1. Romain Rolland im Ersten Weltkrieg
3.1.1. Exkurs: Die Zeit vor dem Krieg
Bevor Romain Rollands Rolle im Ersten Weltkrieg und der von ihm gelebte Pazifismus
beleuchtet werden soll, wird noch ein kurzer Blick auf seine politische Einstellung vor
1914 geworfen. Rolland tut sich bereits vor Kriegsausbruch durch die Thematisierung
sozialer Missstände und sein Interesse für Politik hervor. Zu erwähnen wäre hier sein
Dramenzyklus über die Französische Revolution29 und vor allem sein Entwurf eines
„théâtre du peuple“. Hierbei handelt es sich um ein Konzept, das von Rolland und anderen
Intellektuellen und Künstlern, die mit der sozialistischen Arbeiterbewegung liebäugeln,
entworfen wird. Deren Ansinnen ist es „Eine neue Form des Theaters zu schaffen, das sich
in einer aufklärerischen Weise vornehmlich an die besitzlosen städtischen
Bevölkerungsschichten wandte.“30
In seinem zehnbändigem Romanwerk Jean-Christophe, mit dem Rolland der literarische
Durchbruch gelingt, schreibt er über einen deutschen Komponisten, der in Frankreich Fuß
fasst und thematisiert, beziehungsweise propagiert, somit die deutsch-französische
Völkerverständigung. „Ohne jegliche Pathetik läßt sich sicher festhalten, daß Romain
Rolland in der Vorkriegszeit zusammen mit Émile Zola und Anatole France zu den
renommiertesten Vertretern einer universalistischen Gegenströmung im französischen
Geistesleben zum Nationalismus à la Barrès und Maurras gehörte.“31
29 Dieser wurde über vierzig Jahre hinweg erweitert und besteht letztlich aus Les Loups (1898), Danton (1899), Le triomphe de la raison (1899), Le Quatorze- Julillet (1902), Le jeu de l’amour et de la mort (1925), Paques fleuries (1926), Les Léonides (1928), Robespierre (1939) 30 Klepsch, Michael: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Kohlhammer, 2000. S. 13. 31 Ebenda. S. 14.
21
3.1.2. Der Verteidiger des europäischen Geistes
Auch für Romain Rolland kommt der tatsächliche Ausbruch des Ersten Weltkrieges
unerwartet. „J’avais eu beau la prévoir, l’annoncer. Je fus pris à l’improviste.“32 Selbst er,
der schon in den vorangegangen Jahren vor einem europäischen Krieg gewarnt hat, wird
von den Ereignissen im August 1914 überrascht. Stefan Zweig schreibt in seinem Werk
über Rolland, dass dieser innerlich auf den Krieg und auf die damit einhergehenden
Probleme vorbereitet war:
Seit zwanzig Jahren kreist das Denken, das Schaffen dieses Künstlers unablässig um das Problem des Widerspruchs von Geist und Gewalt, Freiheit und Vaterland, Sieg und Niederlage [...] Darum war Rolland innerlich schon fertig, als die anderen anfingen, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen.33
Romain Rolland wendet sich von Anfang an gegen den Krieg und verteidigt den
europäischen Geist „gegen alle die rasenden Heerhaufen der einstmals europäischen und
nun vaterländischen Intellektuellen“34, denn auch in Frankreich folgen viele Schriftsteller
dem Appell der Regierung, sich aktiv in den Dienst der Nation zu stellen.35 Rolland
erreicht die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Schweiz, in Vevey, wo
er den Sommer verbringt. Auch wenn er mit einem nahen Krieg gerechnet hat, trifft ihn die
Gewissheit des Kriegsausbruchs hart, und lässt ihn an der Menschheit zweifeln:
Je suis accablé. Je voudrais être mort. Il est horrible de vivre au milieu de cette humanité démente, et d’assister, impuissant, à la faillite de la civilisation. Cette guerre européenne est la plus grande catastrophe de l’histoire, depuis des siècles, la ruine de nos espoirs les plus saints en la fraternité humaine.36
Rolland ist altersbedingt nicht mehr kriegstauglich und bleibt in der neutralen Schweiz.
„[...] je me retirai de France. Je l’aime. Elle est pour moi une âme dans un corps; et malgré
ses défauts, j’aime cette âme et ce corps [...] La Suisse ne m’est qu’un lieu sans peuple. Les
liens qui me lient à elle ne sont pas tant d’homme à homme, que d’homme à terre- à la
32 Romain Rolland: Le Voyage intérieur. Songe d’une Vie. Paris: Éditions Albin Michel, 1959. S. 267. 33 Zweig : Romain Rolland. S. 256. 34 Ebenda. S. 259. 35 Vor allem die Autoren der „Action Francaise“ traten für den Krieg ein; Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 31. 36 Romain Rolland: Journal des années de guerre. 1914-1919. Paris: Éditions Albin Michel, 1952. S. 32 f.
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Terre.“37
Rolland wird von der Schweiz aus selbst zu einer neutralen Größe, die über den Tellerrand
des Nationalhasses hinwegblickt. Er unterhält zahlreiche Korrespondenzen mit Künstlern
und Intellektuellen in ganz Europa und kann diese von der Schweiz aus auch im Krieg fast
uneingeschränkt weiterführen. Vor allem mit Stefan Zweig unterhält er regen brieflichen
Kontakt. Dieser schreibt in seiner Monographie über Romain Rolland von der
Notwendigkeit der Aktion im Kampf gegen den Krieg und führt Rolland als beispielhaften
Fall an. Im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen, die einen „sentimentalen Pazifismus“38
vertreten, welcher sich in der Kriegszeit oftmals zu Nationalismus und Kriegsmoral
wandelt, obwohl das Wissen um das Rechte durchaus vorhanden wäre, schafft es Rolland
seinen Grundsätzen treu zu bleiben.
Denn Pazifismus heißt nicht nur Friedensfreund sein, sondern Friedenstäter „ειρηνοποισς“ wie es im Evangelium heißt; Pazifismus meint Aktivität, wirkenden Willen zum Frieden, nicht bloß Neigung zur Ruhe und Behaglichkeit. Er meint Kampf und fordert wie jeder Kampf in der Stunde der Gefahr Aufopferung, Heroismus.39
Im September veröffentlicht Romain Rolland einen „Lettre ouverte à Gerhart
Hauptmann“40, der den ersten einer Serie von kriegskritischen Aufsätzen darstellt, welche
später unter dem Titel Au-dessus de la mêlée (1915) und Les Précurseurs (1919) auch in
Buchform erscheinen. Im Journal de Genève publiziert Rolland seinen Artikel „Au-dessus
de la mêlée“41, in dem er an die kulturelle Elite Europas appelliert, wieder zur Besinnung
zu kommen und sich nicht für die nationale Kriegspropaganda gewinnen zu lassen. Laut
Michael Klepsch handelt es sich bei „Au-dessus de la mêlée“ nicht um ein Manifest eines
radikalen Pazifismus, da es kein sofortiges Ende des Krieges fordert, sondern lediglich eine
Schadensbegrenzung, den Versuch, die Schäden so klein wie möglich zu halten. Rolland
wendet sich an die kulturelle Elite, um diese aufzufordern nicht noch mehr Hass zwischen
den Völkern zu säen. Er selbst beginnt im Herbst 1914 für das Genfer Rote Kreuz in der
37 Rolland: Le Voyage intérieur. S. 275. 38 Vgl.: Stefan Zweig : Romain Rolland. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987. S. 258. 39 Ebenda. S. 258. 40 Romain Rolland: „Lettre ouverte à Gerhart Hauptmann.“ Erstmals in: Journal de Genève, 15. September 1914. In: L’esprit libre. Paris: Éditions Albin Michel, 1953. S. 63- 67. 41 Rolland, Romain: „Au-dessus de la mêlée.“ Erstmals in : Journal de Genève, 15. September 1914. In: L’esprit libre. Paris: Éditions Albin Michel, 1953. S. 76- 90.
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Kriegsgefangenenstelle zu arbeiten. Er versucht als ehrenamtlicher Mitarbeiter Anfragen
nach vermissten Zivilisten zu beantworten und kümmert sich um Anliegen der
Kriegsgefangenen.42 Stefan Zweig beschreibt Rollands Arbeitsplatz beim Roten Kreuz als
„Kampfplatz“:
Ein kleiner ungehobelter Schreibtisch mit einem nackten Holzsessel mitten im Gedränge einer schmucklosen, mit Brettern aufgezimmerten Kajüte, neben hämmernden Schreibmaschinen, drängenden rufenden, eilenden, fragenden Menschen-, das war Romain Rollands Kampfplatz gegen das Elend des Krieges. Hier hat er versucht, was die anderen Dichter und Intellektuellen durch Haß gegeneinanderhetzten, durch gütige Sorge zu versöhnen, wenigstens einen Bruchteil der millionenfachen Qual zu lindern durch gelegentliche Beruhigung und menschliche Tröstung.43
Ein weiterer Versuch der Verständigung sind Aufrufe, die Rolland in seinen Artikeln im
Journal de Genève verbreitet, wie beispielsweise jener, von der niederländischen
Friedensbewegung „Anti-Oorlog-Raad“44, den Rolland als bedeutendsten Versuch der
Zusammenfassung der pazifistischen Gedanken seit Kriegsbeginn bezeichnet.
3.1.3. Zwischen den Fronten
Rolland stößt durch seine Versuche der Völkerverständigung auf heftige Kritik seiner
Landsleute. Vor allem die Tatsache, dass er die Deutschen nicht kategorisch ablehnt,
sondern zwischen dem deutschen Militär beziehungsweise der Kriegspolitik und dem
Zivilvolk unterscheidet, wird ihm übel genommen. Aus Rollands persönlichen
Aufzeichnungen geht hervor, dass er die Brutalität des deutschen Militärs sehr wohl
verurteilt, jedoch differiert er zwischen dem deutschen Volk und den Kriegsführenden:
„Toutes les nations ont leur part de culpabilité. Mais la plus grosse est celle de
l’Allemagne: je n’en ai jamais douté. Elle porte tout à l’exces. Sa caractéristique constante
est le déséquilibre, dans le mal comme dans le bien.“45 Weiters wird Rolland vorgeworfen
sein Land im Krieg im Stich zu lassen, sich in der Schweiz zu verschanzen und mit den
Deutschen zu Milde ins Gericht zu gehen. Die Kritik geht nicht nur von Schriftstellern und
42 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 76. 43 Zweig : Romain Rolland. S. 265. 44 Vgl.: Romain Rolland: „Pour l’Europe. Un Appel de la Hollande.“ Erstmals in: Journal de Genève, 7. Februar 1915. In: L’esprit libre. Paris: Éditions Albin Michel, 1953. S. 131-137. 45 Romain Rolland: Journal des années de guerre. S. 940.
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Intellektuellen der politischen Rechten aus, sondern wird auch vom linken Lager geäußert.
Zwischen Rolland und der französischen Nation wird eine klare Trennungslinie gezogen,
obwohl dieser darauf bedacht ist, seine Kritik an Frankreich gering zu halten, weil er dem
Land auf keinen Fall schaden will indem er sein Ansehen im Ausland verringert.46 Ohne
genauer auf den tatsächlichen Inhalt Rollands Schriften einzugehen, wird ihm von
französischer Seite unterstellt, bloß als neutraler Beobachter in Erscheinung zu treten und
die Feindschaft zur deutschen Nation nicht eng genug zu sehen.47 In Deutschland
bezichtigt man ihn wiederum des Deutschenhasses.48 Rolland befindet sich in einer
schwierigen Situation. Die Ablehnung, die ihm aus der Heimat entgegenkommt ist so groß,
dass er, bei einer Rückkehr nach Frankreich, um sein Leben fürchten muss. In seinem
Tagebuch äußert er sich im Februar 1915 über sein Unverständnis bezüglich des Hasses
der ihm entgegenschlägt, obwohl er bloß versucht human zu handeln: „Je sens la haine qui
monte en France contre moi. Pourtant, je n’ai rien fait que dire des paroles humaines et
persister sans bruit dans une attitude modérée et sans haine.“49 Die Zensur macht es ihm
zudem unmöglich sich öffentlich zu rechtfertigen. An Stefan Zweig schreibt er: „Sie
können sich nicht vorstellen, wie reich an Feinden ich bin. Ich ziehe eine heulende Meute
hinter mir her; und ihre Raserei scheint noch zuzunehmen, weil ich ihnen nicht antworte
und meinen Weg fortsetze.“50
Rolland verurteilt alle kriegführenden Staaten dafür, bloß einen „Siegfrieden“51 herstellen
zu wollen, wobei keine Möglichkeit für eine umsichtige Lösung besteht. Er tritt trotz der
Anfeindungen vehement gegen die nationalistische Propaganda der Länder, und „für eine
realistische Einschätzung der Gegner“52 ein. Rolland leidet unter den öffentlichen
Angriffen und angesichts der Unmenschlichkeit des Krieges:
46 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 106 f. 47 Vgl.: Ebenda. S. 109. 48 Vgl.: Kontroverse mit Gerhart Hauptmann. 49 Romain Rolland: Journal des années de guerre. S. 271. 50 Rolland, Romain/ Stefan Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band 1910-1923. Berlin: Rütten & Loening, 1987. S. 244. 51 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 115. 52 Ebenda. S. 127.
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Je suis seul. Je passe les journées les plus tristes de ma vie, dans un sentiment de solitude morale, de détresse de coeur et d’esprit, auquel viennent s’ajouter d’autres chagrins intimes. A certaines heures, je n’y tiens plus. Je me jette sur ma chaise longue, je me couvre le visage, et je cherche à goûter la saveur de la mort.53
Durch seine öffentliche Kritik tritt Rolland aus dem Privaten in die Öffentlichkeit. Als
Zielscheibe vieler verbaler Angriffe wird Rolland als öffentliche Figur kritisiert und seine
künstlerische Existenz außer Acht gelassen. Sein Werk wird dadurch anders betrachtet:
Mais pendant très longtemps, et jusqu’aux approches de 1914, je pu écrire, sans crainte que ma pensée fût méconnue. Car elle fut inconnue. Aucun n’y avait pris garde. Chaque oeuvre, chaque fragment d’oeuvre était vu comme un tout, jugé séparément; on l’oubliait ensuite pour juger le suivant.“54
Rolland veröffentlicht weitere Artikel, die seine Position bekräftigen, doch im Sommer
1915 resigniert er und will keine Beiträge mehr publizieren. Die Verweigerung der
öffentlichen Kritik hält bis Ende November 1916 an:
Ich bin es am Ende leid. Seit einem Jahr versuche ich, etwas Vernunft und brüderliches Mitgefühl in die Köpfe dieser Fanatiker zu bringen [...] ich erreiche nur, daß ich von beiden Seiten beschuldigt werde, für die Sache des Gegners Partei zu ergreifen. Es macht mir nicht viel aus, von allen beschimpft und verurteilt zu werden. Aber letztlich vergeude ich meine Zeit damit [...] Nun denn, ich ziehe mich zurück [...] ich schreibe keine Artikel mehr.55
Im Juli 1915 beendet Romain Rolland auch die Arbeit beim Roten Kreuz und will sich
wieder vermehrt der Kunst widmen, die neben seiner Arbeit zu kurz kam. Er verlässt Genf
und sucht Erholung in den Bergen: „Je quitte Genève, où je vis depuis dix mois. Je suis
dans un état de très grande fatigue nerveuse. [...] Je vais chercher un peu de repos et de
recuillement dans un coin de montagne, où je suis seul [...]“56 An Stefan Zweig schreibt er
in einem vertraulichen Brief:
Deshalb lasse ich die Politik beiseite und beschränke mich jetzt auf das rein Menschliche, im allgemeinsten Sinn. Ich versuche nicht, den Krieg zu bekämpfen, weil ich weiß, daß das unmöglich ist- unmöglicher als je zuvor. Ich versuche den Haß zu bekämpfen. Ich versuche, vor ihm zu retten, was zu retten ist: Klarheit der Vernunft, menschliches Mitgefühl, christliche Nächstenliebe [...]57
53 Romain Rolland: Journal des années de guerre.. 271. 54 Romain Rolland: Le Voyage intérieur. Songe d’une Vie. Paris: Éditions Albin Michel, 1959. S. 248. 55 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S.199. 56 Rolland: Journal des années de guerre. S. 446. 57 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 143.
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In Le voyage intérieur wird deutlich, was Rolland für seinen Einsatz im Kampf gegen den
Krieg geopfert hat: „Il suffit d’établir ici que cette action de guerre, - de paix au-dessus de
la guerre,- dont l’echo fut mondial, a été un arrêt de quatre ans (et plus) dans la marche
naturelle de ma vie intérieure.“58
Trotz der Anfeindungen in Frankreich ist Rollands internationales Ansehen beträchtlich.
So bekommt er im Jahr 1916 den Nobelpreis für das Vorjahr verliehen. Das Preisgeld
spendet Rolland dem Roten Kreuz. Die Verleihung ruft international viel Zustimmung
hervor, während es in Frankreich zu einem Höhepunkt der Feindseligkeit gegen ihn kommt
und ihm die Bezeichnung des „inneren Feindes“59 einbringt.
3.1.4. Annäherung an den Sozialismus
In Frankreich entdeckt die sozialistische Partei Rollands Gedankengut für sich: „Die
scharfe Kritik des renommierten Literaten am Krieg, den kulturellen Eliten und der
Haltung der Sozialisten gibt der bis dahin isolierten Opposition einen Bezugspunkt und
begründete zudem ihre Einschätzung, nicht alleine zu stehen.“60 Aufgrund vergangener
Enttäuschungen durch die sozialistische Partei nimmt Rolland das Lob an seiner Person
nur zögerlich auf, es bestätigt ihn aber, mit seinen Ansichten in Frankreich nicht alleine zu
sein.61 Im Januar 1915 erhält Rolland Besuch von Anatoli Lunatscharski, dem „Künder der
künftigen russischen Revolution“62. Romain Rollands Interesse hat sich „zunehmend von
den kulturellen Eliten auf die wirtschaftlichen Ursachen und die sozialen Folgen des
Konflikts verlagert.“63 Darin hofft der Schriftsteller die eigentlichen Gründe für den Krieg
zu finden. Vor allem die Kriegsgewinnler, „les nouveaux riches“64 die aus dem Krieg
finanziellen Profit schlagen, entrüsten Rolland:
58 Rolland: Le Voyage intérieur. S. 270. 59 Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 193. 60 Ebenda. S. 143. 61 Ebenda. S. 144 ff. 62 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Anhang S. 792. 63 Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 194. 64 Rolland: Journal des années de guerre. S. 968.
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Les héros qui se font tuer font un marché de dupes. Il y a surabondance de héros sur la place: tout le monde est héros. Mais les millionaires comptent bien être les maîtres de demain. Et en attendant, ils font la fête „en parlant avec emphase de la grandeur sublime de la patrie et de la religion du sacrifice.“65
Der Journalist Henri Guilbeaux gründet 1916 die bis Oktober 1918 erscheinende
Zeitschrift Demain. Diese wird zum Organ vieler Kriegsgegner und nimmt immer mehr
eine revolutionäre Orientierung an. Ende November 1916 bricht Rolland sein Schweigen
und verfasst den Artikel „Aux peuples assassinés“66, der in der Zeitschrift Demain
erscheint und seine neugewonnene Einsichten widerspiegelt. Angesichts der Auswüchse
des Krieges und der Gewissenlosigkeit der Machthabenden ist Rolland entrüstet und seine
Verachtung für die herrschenden Autoritäten bringt eine Annäherung an den Sozialismus
mit sich. 67 So misst er dem Kapital und jener Gruppe, die sich am Krieg finanziell
bereichert, eine große Bedeutung für die Fortdauer des Krieges bei: „Dans le ragoût
innommable que forme aujourd’hui la politique européenne, le gros morceau, c’est
l’argent.“68 Er bezeichnet den „égoisme anti-social“69 als Plage der Zeit und zitiert
Flaubert, wenn er anmerkt, dass bei einem lange andauernden Krieg, die ökonomischen
Interessen in den Mittelpunkt treten: „Toute guerre qui se prolonge, même la plus idéaliste
à son point de départ, s’affirme de plus en plus une guerre d’affaires, und „guerre pour
l’argent“, comme écrivait Flaubert.“70 Rolland kritisiert den Einfluss des Kapitals auf das
Kriegsgeschehen. Er meint, solange der Krieg den Mächtigen Profit einbringe, könne man
kein Ende des Krieges erwarten.71 Die Kernaussage von Rollands Artikel ist der Appell an
alle kriegführenden Völker, den gegenseitigen Hass zu bezwingen und sich
zusammenzutun, da er sonst keinerlei Zukunft für Europa sieht. Nur eine soziale
Erneuerung kann laut Rolland nach Kriegsende einen neuen kriegerischen Konflikt
vermeiden: „[...] si cette guerre n’a pas pour premier fruit un renouvellement social dans
toutes les nations- adieu, Europe, reine de la pensée, guide de l’humanité! Tu as perdu ton
chemin, tu piétines dans une cimetière. Ta place est là. Couche- toi! – Et que d’autres
65 Rolland: Journal des années de guerre.. S. 968 f. 66 Romain Rolland: „Aux peuples assassinés.“ Erstmals in: Revue Demain, Genève, November/Dezember 1916. In: L’esprit libre. S. 195-203. 67 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 200. 68 Rolland: „Aux peuples assassinés.“ S. 199. 69 Ebenda. S. 200. 70 Ebenda. S. 201. 71 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 200 f.
28
conduisent le monde!“72
Im Jänner 1917 erhält Rolland einen Brief von Maxim Gorki, der ihn bittet, eine
Beethoven-Biographie für Kinder zu verfassen. Rolland antwortet und so beginnt eine über
Jahre andauernde Korrespondenz der beiden.73
Durch die russische Februarrevolution kommt es bei Rolland dann endgültig zu einer
eingehenderen Beschäftigung mit dem Sozialismus. In der Zeitschrift Demain erscheint ein
Gruß Rollands: „A la Russie libre et libératrice“. Er sieht in der russischen Revolution eine
Hoffnung auf Frieden in ganz Europa, wenn die Revolutionäre sich nicht in
Gewalttätigkeiten verlieren würden. 74 Rolland überträgt lange Textstellen aus Lenins
„Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“ und nennt diesen den „ersten Kampfruf der
Weltrevolution, die wir in der von Fieber und Krieg ausgezehrten Menschheit schlummern
fühlen.“75 In einem, zur Zeitschrift Demain zugehörigen Verlag erscheint die Broschüre
„Salut à la révolution russe“, in welcher sich unter anderem Beiträge von Romain Rolland,
Jean Jouve, Henri Guilbeaux und Frans Masereel finden lassen.76
Romain Rolland bleibt trotz seiner Sympathien für den Sozialismus bei seiner
humanistischen Überzeugung und bei seiner Entscheidung, sich als Intellektueller nicht an
eine Partei zu binden. Zudem schreckt ihn die gewaltsame Vorgehensweise Lenins Partei
ab. Mit seinen Sympathien für die sozialistischen Ideale in Russland ist Rolland zu jener
Zeit nicht alleine. Viele Intellektuelle Europas sehen nach dem Krieg im Sozialismus eine
Chance auf eine friedliche und gerechte Sozialordnung.77
72 Rolland: „Aux peuples assassinés“. S. 203. 73 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Anhang. S.793. 74 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 205. 75 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Anhang. S. 793. 76 Vgl.: Ebenda. S. 793. 77 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 209.
29
3.1.5. Der innere Feind
Als sich der Krieg in die Länge zieht und enorme Verluste verzeichnet werden, kommt es
in Frankreich zu Revolten. Sowohl in der Zivilbevölkerung, als auch in den Reihen der
Soldaten, kommt es zur Forderung, dass man das Blutbad beenden solle. Als eine Folge
dessen, wird versucht den Pazifisten die Verantwortung für das Scheitern von Angriffen
und die vermeintlich damit zusammenhängende lange Dauer des Krieges zuzuschieben.
Romain Rolland wird beschuldigt, mit der Verbreitung seiner geistigen Gesinnung
maßgeblichen Einfluss geübt zu haben. Ihm wird der Vorwurf des „Defaitismus“
vorgebracht.78 Stefan Zweig, der in einer Zeitschrift davon liest, schreibt Rolland, dass er
in der Bezeichnung des „Defaitisten“ ein Kompliment sehe und legt ihm seinen Artikel in
der Friedenswarte ans Herz, worin er eine Erklärung zum Defaitismus abgibt und den
Vorschlag äußert, den Begriff als Parole aufzunehmen.79 Rolland reagiert darauf negativ:
[...] ich kann Ihnen in Ihrem Aufruf zum Defaitismus nicht folgen. Nein, ich werde in diesem Schimpfwort nie einen Ehrentitel sehen, und ich für meinen Teil weise es mit aller Entschiedenheit zurück. Defaitismus liegt, ob man will oder nicht, auf der Ebene jenes Gemisches aus Haß und Habsucht, von dem ich mich zu lösen trachte. Und er nimmt dort den ärgerlichsten Platz ein, weil er sich mit der Passivität abzufinden scheint. Besser wäre es, im Üblen aktiv als passiv zu sein! [...] Ich gebe mich keineswegs damit zufrieden, besiegt zu sein. Und ich werde es auch anderen niemals raten. Ich will dazu beitragen, für alle Menschen den hohen Turm des Geistes zu erbauen, die Hängenden Gärten Babylons, von denen aus man das Getümmel überschaut, von denen man “
Die Maßnahmen gegen die sogenannten „inneren Feinde“ Frankreichs, zu denen freilich
auch Rolland zählt, werden ab dem Jahr 1917 verschärft und es kommt zu zahlreichen
Prozessen.80 Romain Rolland wird öffentlich beschuldigt Artikel mit „zersetzender
Wirkung“81 zu verfassen, mit den Deutschen zu kollaborieren und ein Gesinnungsgenosse
der russischen Revolutionäre zu sein. Selbst in der Schweiz ist er vor derartigen Vorwürfen
nicht sicher. Rolland ist verzweifelt über die starre Haltung der Länder, die einen
Siegfrieden davontragen wollen und damit ein Ende des Krieges weiter in die Ferne
rücken. Er tritt für eine Verhandlungslösung ein und wird dafür bis zuletzt in der
französischen Öffentlichkeit heftig attackiert. In seinem Artikel „Pour l’ internationale de 78 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 212. 79 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 359. 80 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 223 ff. 81 Vgl.: Ebenda. S.234.
30
l’esprit“82 spricht sich Rolland für eine kulturelle Gemeinschaft Europas, Asiens und
Amerikas aus. Er sympathisiert mit dem 14-Punkte Programm vom Jänner 1918 des
amerikanischen Präsidenten Wilson zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der
Völker und sieht darin eine Möglichkeit für einen dauerhaften Frieden. Rolland ist
weitsichtig genug, eine gerechte Friedensregelung zu fordern, um einen langfristigen
Frieden zwischen den Völkern zu sichern, wofür eine Aussöhnung der kriegführenden
Länder vonnöten wäre. Im November 1918 erscheint der „Lettre ouverte au président
Wilson“83. Rolland bittet Wilson darin, seinen Einfluss zu nutzen, um dazu beizutragen,
„daß nationale Leidenschaft und Rivalität im Interesse der jetzigen und des künftigen
Friedens überwunden werden.“84 „Aidez ces peuples, qui tâtonnent, à trouver leur route, à
fonder la charte nouvelle d’affranchissement et d’union, dont ils cherchent confusément les
principes.“85
In einem Brief an Stefan Zweig geht hervor, wie wenig Hoffnung Rolland dennoch in
einen dauerhaften Frieden setzt:
Ich bin erstaunt, so wenig Freude darüber zu empfinden, daß der Frieden bevorsteht. Weder für den Geist noch für das Herz bedeutet es etwas Großes. [...] ich glaube nicht, daß die Menschen unserer Generation das Glück haben werden, „den dauerhaften Frieden“ außerhalb ihrer eingeschlossenen Seele zu finden.86
Rolland sorgt sich um die Zukunft Europas: „Mein Denken kreist um vergangenes,
gegenwärtiges und kommendes Leid. Ich habe keinerlei Vertrauen auf morgen.“87 Wilson
gelingt es entgegen Rollands Hoffnungen nicht, in den Friedensverhandlungen großen
Einfluss auf die verhandelnden Länder auszuüben. Rolland verurteilt das Verhalten der
europäischen Regierungen, zu keinen Kompromissen bereit zu sein. Mit dem Ausgang der
Friedensverhandlungen ist Rolland trotz des endgültigen Waffenstillstandes unzufrieden,
da er den Weg für künftige Konflikte geebnet sieht. So endet Rollands Journal des années
de guerre mit den pessimistischen Worten: „Triste paix! Entr’acte dérisoire entre deux
82 Romain Rolland: „Pour l’Internationale de l’esprit.“. Erstmals in: Revue Politique Internationale, Lausanne. März/April 1918. In: L’esprit libre. S. 328-338. 83 Romain Rolland: „Lettre ouverte au président Wilson.“ Erstmals in: Le Populaire. Paris, 18. November 1918. In: L’esprit libre. S. 338-340. 84 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Anhang. S. 795. 85 Rolland: „Lettre ouverte au président Wilson.“ S. 338 f. 86 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 381. 87 Ebenda. S. 392.
31
massacres de peuples! Mais qui pense au lendemain?“88
3.1.6. Die ersten Friedensjahre
Zusammen mit Nicolai plant Romain Rolland einen Aufruf an die Intellektuellen der Welt,
sich zu einer „Internationale des Geistes“ zusammenzuschließen. Die „Déclaration
d’Indépendance de l’esprit.“89 erscheint in der Humanité am 26. Juni 1919.
Das Manifest wird weltweit von über 800 Intellektuellen unterzeichnet.90 Rolland
appelliert darin an die Intellektuellen Europas, ihre Gemeinschaft nach dem Krieg zu
erneuern. Er stimmt hier einen versöhnlichen Ton an und verurteilt niemanden, da er um
die Kraft der „Massenseele“ weiß. Rolland fordert die Unabhängigkeit der intellektuellen
Elite Europas von jeglichen Interessen, sei es politischer oder sozialer Art. Direkt nach
dem Krieg findet Rollands Manifest viel Zulauf, es erweist sich in der Folge aber als wenig
umsetzbar. Selbst der Verfasser selbst tritt in den 30er Jahren als Verteidiger der
Sowjetunion auf und untergräbt somit seine Forderung nach politischer Unabhängigkeit
der Intellektuellen.91
Im Jahr 1920 entwirft Romain Rolland mit weiteren Intellektuellen einen Aufruf zu einem
„Internationalen Kongreß der Geistesschaffenden“92. In einem Brief an Stefan Zweig, der
sein Vorhaben unterstützen möchte, schreibt er, selbst nicht allzu viel davon zu halten,
jedoch den Eindruck zu haben, „daß viele junge Leute im Ausland von Frankreich eine
brüderliche Geste erwarten. Und da sie vonnöten ist, muß man versuchen, daß sie in einem
Geiste getan wird, der wirklich frei ist von jeder literarischen Cliquenwirtschaft und jeder
politischen Partei.“93 Einige Monate später, als das Stattfinden des Kongresses zu scheitern
droht, erläutert Rolland Zweig brieflich, dass er ohnehin nicht an die Wirkung eines
solchen glaube. Der Kongress findet nie statt.
88 Rolland: Journal des années de guerre.. S. 1832. 89 Romain Rolland: „Déclaration d’Indipendence de l’esprit“. Erstmals in: Humanité, 26. Juni 1919. In: L’esprit libre. S. 343-349. 90 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 259. 91 Vgl.: Ebenda. S. 259 ff. 92 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band S. 490. 93 Vgl.: Ebenda. S. 491.
32
Lieber Freund, ich glaube nicht, daß eine Begegnung von fünf sechs pazifistischen Schriftstellern aus Frankreich und Deutschland die geringste praktische Wirkung haben kann, um den Haß zu bekämpfen, der sich in Ihrem Land anstaut. Dieser Haß hat wohlbegründete materielle Ursachen. Mit Worten kann man die Wunden nicht heilen, die durch den Verlust von Territorien, Kolonien und Vermögen geschlagen wurden. Ich bin der verbalen Manifestationen überdrüssig.94
Rolland verwirklicht sein Projekt einer internationalen Zeitschrift. Diese erscheint erstmals
am 15. Februar 1923 unter dem Titel Europe. Bis August 1939 erscheinen 200 Hefte.95
94 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 573. 95 Vgl.: Ebenda. Anhang. S. 800.
33
3.2. Stefan Zweigs ambivalente Haltung im Ersten Weltkrieg
3.2.1. Phase der Wirrnis und Orientierungslosigkeit
Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist es vor allem das Gefühl für „die Einheit einer
geistig- künstlerischen Elite“96, welches Stefan Zweigs Internationalismus ausmacht. Der
Ausbruch des Krieges 1914 übermannt ihn jedoch mit einer Heftigkeit, die seine Ideale ins
Wanken bringt. Seine erste Reaktion ist Bestürzung und Fassungslosigkeit: „Ich bin ganz
zerbrochen, ich kann nichts essen, meine Nerven flimmern, ich vermag nicht zu schlafen,
ich spüre mit zu viel Phantasie dies Grauen der ganzen Stadt, Haus um Haus.“97
Stefan Zweig wird jedoch von der allgemeinen Kriegshysterie stückweise mitgerissen:
„Hier erlebte er die Massenpsychose einer Kriegsbegeisterung, die er rückblickend jener
kindlich-naiven Gläubigkeit zuschrieb, wie sie eben durch den Ersten Weltkrieg für immer
verlorenging.“98 Er kann sich der allseitigen Begeisterung, die in Österreich, aber auch in
den anderen kriegführenden Ländern herrscht, nicht entziehen. Hildemar Holl spricht in
seinem Aufsatz zu Zweigs Patriotismus99 von einer „Zerrissenheit zwischen seinem
Patriotismus, der sein öffentliches Auftreten bestimmte, in dem er aber keinen Haß gegen
fremde Völker kannte, und seiner Hinwendung zu pazifistischen Idealen.“100
Von August 1914 bis Dezember 1914 beherrscht das Thema Krieg Stefan Zweigs
essayistisches Werk und spiegelt seine patriotische Einstellung und die Sympathie für
Deutschland wider. Vor allem der patriotische Artikel „Heimfahrt nach Österreich“101 zeigt
sein ausgeprägtes Nationalbewusstsein jener Zeit auf.102 Der Ausbruch des Krieges
überrascht Zweig in Belgien. Als er davon erfährt, tritt er die Heimreise nach Österreich
96 Hildemar Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Hrsg. v. Mark H. Gelber und Klaus Zelewitz. (= Studies In Austrian literature, culture, and thought) Goins Court: Ariadne Press, 1995. S. 36. 97 Zweig: Tagebücher. S. 82. 98 Strelka, Joseph: Stefan Zweig. Freier Geist der Menschlichkeit. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1981. S. 31. 99 Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. 100 Ebenda. S. 37. 101 Stefan Zweig: „Heimfahrt nach Österreich.“ Erstmals in: Neuen Freien Presse, 1. August 1914. In: Stefan Zweig: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909-1941. S. 25-30. 102 Vgl. Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. S. 36.
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an. Die lange Zugfahrt von Belgien nach Wien nützt er, um den Artikel „Heimfahrt nach
Österreich“ zu verfassen, der schon am 1. August 1914 in der Neuen Freien Presse
erscheint.103 Zweig schildert darin, wie ihn die Nachricht über den Kriegsausbruch in
Ostende überrascht und in ihm den sofortigen Wunsch hervorruft, nach Österreich
zurückzukehren: „Ohne Zwang auch spürt man, jetzt müsse jeder nahe sein, all dies, was
ein Land bewegt, nicht außen fühlen an den letzten erkaltenden Nervenfasern, sondern heiß
mitten innen im Blut, im Herzen, in der Hauptstadt.“104 Stefan Zweigs Nationalgefühl und
seine Sympathien für Deutschland werden hier bereits erkenntlich: „Endlich Herbesthal,
die deutsche Grenze. [...] Man fühlt Deutschland und damit eine tiefe Entspannung.“105
Der Artikel schließt mit der Ankunft in Wien und Zweig schildert die Anzeichen des
Krieges mit pathetischen Worten:
Ich möchte es in meinem Leben nicht missen, diese sonst so frohberühmte Stadt gesehen zu haben, wie sie in ernster Stunde sich eine edle und neue Würde fand, eine Stille, die schöner tönte als sonst ihre Musik, und eine sinnende Ruhe, die mir wertvoller dünkte, als sonst ihre heitere Bewegtheit. Nie ist sie mir liebenswerter erschienen, und ich freue mich, gerade in dieser Stunde den Weg zu ihr gefunden zu haben.106
Die Tagebuchaufzeichnungen aus der ersten Zeit des Krieges zeigen seinen Wunsch nach
Agitation und einem positiven Ausgang für Österreich. Des öfteren wird deutlich, dass er
mit der Präsenz der Österreicher im Krieg unzufrieden ist: „Mit Gewalt bläht man
Scharmützel zu Schlachten auf, aber von einer Leistung Österreichs ist noch nichts zu
sehen.“107 Auch das Urteil über die Wiener Zivilbevölkerung in der Kriegszeit fällt wenig
schmeichelhaft aus: „Mir ist manchmal so entsetzlich bang, wenn ich das Volk sehe [...]
nichts kann die Wiener Vergnügungssucht niederhalten [...] der Ernst der deutschen
Mobilisierung mit Alkoholverbot und im Gegensatz dazu die Besoffenheit unserer
Reservisten [...]“108 Der Internationalist Zweig geht sogar so weit, stereotype
Verallgemeinerungen anzustellen: „Ein Augenblick [,] selbst der größte, kann eben die
Eigenschaften einer Rasse nicht austilgen und wir sind weich, ohne Widerstand, eine
103 Vgl.: Matuschek, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben- eine Biographie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 130. 104 Zweig: „Heimfahrt nach Österreich.“ S. 26. 105 Ebenda. S. 27. 106 Ebenda. S. 29. 107 Zweig: Tagebücher. S. 86. 108 Ebenda. S. 87.
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Rasse, die hübsche Burschen und liebe Mädel gibt, aber selten den Mann.“109
In Stefan Zweigs Aufzeichnungen und Artikeln110 wird deutlich, dass er sich der deutschen
Kultur zugehörig fühlt. Er äußert sich wiederholt positiv über die deutsche Kriegsführung
und die Deutschen im Allgemeinen, wobei sein Nationalismus zutage tritt. So heißt es in
seinem Artikel „Ein Wort zu Deutschland“: „Mit beiden Fäusten, nach rechts und links
muß Deutschland jetzt zuschlagen [...] Jeder Muskel seiner herrlichen Volkskraft ist
angespannt bis zum Äußersten, jeder Nerv seines Willens bebt von Mut und
Zuversicht.“111 Oliver Matuschek112 sieht einen möglichen Grund für Zweigs Sympathie
gegenüber den deutschen Nachbarn in seiner jüdischen Abstammung:
Er war Wiener. Und er war Jude. Aber das schloß keinesfalls aus, daß er sich weit über die Sprache hinaus der deutschen Kultur zugehörig fühlte. Ganz im Gegenteil, er war damit nicht allein: viele seiner Landsleute waren zwar nicht deutsche Juden, fühlte sich aber als jüdische Deutsche.113
Doch schon im Dezember 1914 beginnt Zweig seine Einstellung hinsichtlich der
Deutschen zu überdenken und fühlt eine Diskrepanz zwischen seiner einstigen Einstellung
und dem aktuellen Empfinden:
Ich bin jetzt so seltsam ausgestoßen, wirklich ich habe kein Recht mit den Deutschen zu sein, weil ich kein ganzer Deutscher bin. Ich empfinde je länger in [= ich ] mich prüfe, umsoweniger das [= die ] aufrechte gerade Zustimmung, selbst zu dem heroischen nicht, weil etwas Knechtisches dabei ist. Die Kaiservergötterung z. B. ist mir unerträglich sowie die Fürstendienerei, der Mangel an Democratie, der selbst jetzt so furchtbar zum Durchbruch kommt, sehr im Gegensatz zu Frankreich und England.114
Wie viele andere auch, hofft Stefan Zweig auf ein rasches Ende des Krieges. Seine
Ungeduld zeigt sich in Tagebuchaufzeichnungen: „Wenn nur schon Taten da wären,
Leistungen!“115 Und weiter: „Endlich die erste Siegesnachricht aus Serbien [...] Im
Publicum ist eine gewisse Missstimmung, daß Alles so langsam dort unten geht, nicht zu
verkennen, man hatte auf ein entscheidendes rasches Ende gehofft.“116 Nach dem ersten
109 Zweig: Tagebücher. S. 87. 110 Vgl.: vor allem der Artikel „Ein Wort zu Deutschland“. In: Stefan Zweig: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909- 1941. S. 30-34. 111 Zweig: „Ein Wort zu Deutschland.“ S. 30. 112 Vgl.: Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. 113 Ebenda. S. 130 f. 114 Zweig: Tagebücher. S. 126 f. 115 Ebenda. S. 87 116 Zweig: Tagebücher. S. 89.
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großen deutsche Sieg bei Metz notiert Stefan Zweig in sein Tagebuch: „Mit einemmale
Mut: man ist stolz auf die deutsche Sprache, sie zu sprechen, sie zu schreiben . Endlich ein
wirklicher Sieg.“ Gelingt den Soldaten ein Vorstoß wird das alsbald notiert. So schreibt
Zweig am ersten September 1914: „[...] alles fiebert voll Zuversicht. Wir haben plötzlich
ein grenzenloses Vertrauen, schon teilt man die Welt. Diesen Tag erlebt zu haben war
wahrhaft schön, schon freue ich mich auf morgen. Man spricht von 100 000
Gefangenen.“117
In Stefan Zweigs Autobiografie Die Welt von gestern, verdrängt der Autor seinen
anfänglichen Patriotismus, wenn er schreibt: „Daß ich selbst diesem plötzlichen Rausch
des Patriotismus nicht erlag, hatte ich keineswegs einer besonderen Nüchternheit oder
Klarsichtigkeit zu verdanken, sondern der bisherigen Form meines Lebens.“118
Im September 1914 schreibt Zweig den Artikel „An die Freunde im Fremdland“119, der im
Berliner Tageblatt erscheint120 Darin verabschiedet er sich für die Zeit des Krieges von
seinen Kameraden im Ausland und legt den Gedanken eines internationalen Europäertums
somit auf Eis: „Lebt wohl, ihr Lieben, ihr Gefährten vieler brüderlicher Stunden in
Frankreich, Belgien und England drüben, wir müssen Abschied nehmen für lange Tage.
Kein Wort, kein Brief, kein Gruß, den ich euch jetzt hinübersendete in eure nun
feindlichen Städte [...]“121 Rolland antwortet Zweig und macht ihm klar, dass er die
gemeinsamen Ideale durch den Krieg keineswegs aufgebe: „Ich bin unserm Europa treuer
als Sie, lieber Stefan Zweig, und ich verleugne keinen meiner Freunde.“122 Nur einen Tag
später erhält Stefan Zweig auch noch eine Postkarte, auf der Rolland anmerkt: „Aber ich
verleugne meine Freunde nicht, wie Sie es tun. Da bedürfte es schon anderer Katastrophen,
um meinen Geist und mein Herz zu ändern.“123 Zweig ist Rolland für seine Rüge dankbar
und bezeichnet Rollands Brief später als einen der „größten Glücksmomente“124 in seinem
Leben. Er antwortet Rolland in warmen Ton und gibt zu, durch die furchtbaren Ereignisse
117 Zweig: Tagebücher. S. 94. 118 Vgl.: Stefan Zweig: Die Welt von gestern. S. 252. 119 Stefan Zweig: „An die Freunde im Fremdland.“ In: Die schlaflose Welt. S. 34-42. 120 „Einen Essay begonnen: an die Freunde in Fremdland!“ Zweig: Tagebücher. S. 95. 121 Zweig: An die Freunde im Fremdland. S. 42. 122 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 70. 123 Ebenda. S. 70. 124 Vgl.: Zweig: Die Welt von gestern. S. 264.
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„in die wilde Leidenschaftlichkeit“125 geraten zu sein. Von diesem Zeitpunkt an erstarkt
die Korrespondenz der beiden und führt zu einer jahrelang anhaltenden Freundschaft der
Romanciers.
Auch wenn Zweig von der Begeisterung mitgerissen wird, kennt er keinen Hass gegen
andere Völker, äußert sich im Privaten über die Grausamkeiten des Krieges und drückt sein
Unverständnis darüber aus: „[...] es ist grauenhaft dies Alles zu denken und ich glaube
wirklich, Mut ist zum Teil ein Mangel an Phantasie! Die Menschen scheinen oben ganz
vernichtet [...]“126 In seinen Artikeln lässt er diese Ansichten zu jener Zeit freilich außen
vor. Bereits 1914 greift Zweig jedoch den Gedanken Rollands begeistert auf, ein Treffen
der geistigen Vertreter der kriegführenden und neutralen Staaten zu organisieren. Zweig
selbst will aber nicht solch eine Vermittlerfunktion für sein Land übernehmen, was
Rolland bedauert.127 Rolland zweifelt am Gelingen des Unterfangens angesichts des
Hasses, zwischen den kriegführenden Ländern Und tatsächlich scheitert die Idee aufgrund
der Ablehnung der ausgewählten Vertreter.128
Im Briefwechsel mit Romain Rolland kommt ebenfalls jene Seite Zweigs zum Vorschein,
die seinen Idealismus und Pazifismus widerspiegelt. Rollands Freisein von Nationalismus
erscheint Zweig als erstrebenswert und wertvoll:
Ein namenlos schöner Brief von Romain Rolland hebt mich über alles Traurige hinweg. [...] Er spricht mir Trost zu und mahnt zum Märtyrertum des Weltgedankens. Vielleicht wird er heimatlos sein im nächsten Jahr für diese seine Aufopferung, aber in unsern Herzen wird im eine Stätte für immer bereitet sein. Die Tränen waren mir nah, als ich seine Zeilen las, ich schien mir klein und gemein vor seiner erhabenen Aufopferung. In seinem Wesen ist Alles das, was mir zur Güte emporsteigen wollte. Alles das, was in mir von den Leidenschaften aufgesaugt wird und ich fühle seine Existenz gleichsam als eine Anfeuerung alles Wertvollen in mir.129
Dennoch wird es zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass Rolland, der bereits von Oktober 1914
bis Juli 1915 beim Internationalen Roten Kreuz in der Kriegsgefangenenauskunftsstelle in
Genf tätig ist130, mit seinen Taten und seinem öffentlichen Auftreten im Sinne eines
125 Vgl. Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 71. 126 Zweig: Tagebücher. S. 97 f. 127 Vgl.: Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. S. 92. 128 Vgl.: Ebenda. S. 94 f. 129 Zweig: Tagebücher. S. 119. 130 Vgl. Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 74.
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internationalen Pazifismus, seinem österreichischen Freund voraus ist. Zweig fühlte sich
noch nicht bereit sein Wort gegen den Hass zwischen den kriegführenden Völkern zu
erheben: „Zwei Briefe Rollands, in denen ein spitzer Ton unverkennbar ist. Er fordert wir
sollen „das Schweigen brechen“ [.] Was sollen, was können wir sagen? Nichts!
Keinesfalls, auch wenn wir wollten, denn wie würde jedes Wort entstellt und verstümmelt
werden und wem würde es helfen.“131
Hier ist Zweigs bereits erwähnte Ambivalenz der ersten Kriegszeit erkennbar. Zum einen
schreibt er patriotische Artikel und spricht sich positiv zum Kriegsgeschehen aus, zum
anderen leidet er unter den Grausamkeiten der Länder untereinander und sucht Zuspruch
bei seinem pazifistischen Freund Romain Rolland.
3.2.2. „Heldenfriseure“132- Stefan Zweig im Dienste Österreichs
Stefan Zweig arbeitet im Kriegspressequartier in Wien. Aufzeichnungen in seinem
Tagebuch und etliche Briefe belegen, dass sich Zweig nutzlos und untätig fühlt, bevor er
seinen Dienst dort antritt. Er wird zu Friedenszeiten untauglich gemustert und scheint ein
schlechtes Gefühl dabei zu haben, Männer seines Alters- unter ihnen auch Freunde- an der
Front zu wissen, und selbst nichts zum Kriegsverlauf beizutragen: „Meine Freunde sind
schon alle an der Front, auch Hofmansthal [sic!], der Dichter. Es ist gräßlich noch hier
herumzugehen, die Frauen sehen einen an: was tust Du noch hier, Du junger Mensch.133
Stefan Zweig meldet sich noch im Sommer 1914 beim Pressedepartement des
Kriegsministeriums. Er äußert sich erfreut über seine nochmalige Musterung am 12.
November 1914, bei der er für tauglich erklärt wird: „Feierlicher Akt: meine Assentierung
zum T.Z.D.“134 Dennoch stört ihn die Tatsache, erst so spät seinen Dienst ableisten zu
können. Wie aus den Aufzeichnungen hervorgeht, dürfte auch Zweigs Mutter auf eine
Beschäftigung Zweigs beim Militär gehofft haben: „Dr. Steif ist stolz, mich langweilt die
Sache eher, mit 33 Jahren dort zu sein, wo die andern mit 18 sind. Jedenfalls ist der
131 Zweig: Tagebücher. S. 122 f. 132 Vgl.: Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. S. 137. 133 Zweig: Tagebücher. S. 83. 134 Ebenda. S. 116.
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Wunsch meiner Mama erfüllt.“135 Die Stelle im Kriegspressearchiv entspricht Zweigs
Wunsch nach einer Beschäftigung im Dienste Österreichs:
Vorstellung im Kriegsarchiv. Es ist mir wirklich eine sehr schöne Arbeit zugedacht, auf die ich mich sehr freue. Nichts Subalternes und Minderwertiges, sondern wirkliche Arbeit. Hoffentlich gelingt’s! Heute zum erstenmale Uniform angezogen- ein seltsames Gefühl trotz alledem! Man kommt sich ein wenig lächerlich vor mit dem Säbel, wenn man nicht dreinhauen soll.136
Die Arbeit der „literarischen Gruppe“ im Kriegsarchiv besteht im Erstellen von Artikeln
über Soldaten, die sich besonders hervortun konnten und somit mit Auszeichnungen geehrt
wurden. Stefan Zweig und seine Kollegen hatten es nun zur Aufgabe, deren Leistungen
möglichst vorteilhaft darzustellen. Jene Artikel erschienen dann in Zeitungen und in
mehreren Sammelbänden.137
Zweig vermerkt im Tagebuch, dass er wichtige Arbeiten zu verrichten habe und endlich für
das „Gemeinsame“ agieren könne:
Ich habe die Uniform angezogen, lerne das Militärische und bin im Kriegsarchiv für sehr wichtige geheime Arbeiten zugeteilt. Ich glaube, daß ich meinen schweren und schönen Dienst gut und wirksam tun werde, an Wille und Freude fehlt es mir nicht. Ich bin beglückt, nun endlich auch im Gemeinsamen wirken zu dürfen [...] Nun habe ich’s endlich erreicht und freue mich ungemein.138
Und auch an anderer Stelle äußert sich Zweig sehr positiv über seine Arbeit im
Kriegsarchiv: „Mein Amt macht mir Freude, ich bin dort ruhiger als überall“.139 In einem
Brief an Romain Rolland von Ende Mai 1915 bezeichnet er seine Arbeit im Archiv sogar
als Stütze für sein seelisches Gleichgewicht:
135 Zweig: Tagebücher. S. 116. 136 Ebenda. S. 120. 137 Vgl.: Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. S. 136 f. 138 Brief an Anton Kippenberg, undatiert; vermutlich Dezember 1914, in: Stefan Zweig: Briefe an Freunde. Hrsg. v. Richard Friedenthal. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1978. S. 47. 139 Zweig: Tagebücher. S. 124.
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Meine Qualificierung ist bisher immer Untauglichkeit fürs Feld gewesen [...] Ein richtiger Soldat zu werden wird mir, fürchte ich, nie gelingen, aber der Wille zur Arbeit, zum Wirken ist stark in mir. [...] Jetzt ertrinke ich in harter Arbeit, und das Gefühl, daß sie wichtig ist, tut mir wohl. Ich möchte nicht frei sein jetzt, um keinen Preis. Und wir werden es nie mehr sein!140
Doch Zweigs Besinnung auf seine Grundwerte bahnt sich schnell an. So schreibt er bereits
am 26. Dezember 1914 in sein Tagebuch:
Ein wenig Eigenes überdacht. [...] Darüber kann ich mit den Wenigsten sprechen, sie sind alle umnebelt und betäubt von der kriegerischen Atmosphäre- vielleicht haben sie wiederum Recht. Ich selbst fühle nichts als einen dumpfen Schmerz von dem Geschehen, in den sich keine Freude mengt.141
Mit Fortschreiten des Krieges mehren sich Zweigs negative Aufzeichnungen zum Krieg
und die Äußerungen zu seinem Wunsch nach Frieden werden zahlreicher: „Ich freilich
kann nicht anders als auf das letzte Ziel hin sehen und das heißt Friede, Friede.“142 Und
weiter: „Die ungeheure Sinnlosigkeit des Gemordes entsetzt mich.“143 Als es sich
abzeichnet, dass sich das Kriegsgeschehen noch weiter in die Länge zieht wird Zweigs Ton
noch negativer: „Jeder spürt das Unabsehbare, das Endlose dieses Krieges und allmählich
wird man seiner Sinnlosigkeit gewahr.“144
Aus Zweigs Aufzeichnungen geht hervor, dass er nur mehr wenig Hoffnung auf eine
Änderung der Situation setzt: „Nein, ich schreibe die Kriegsberichte gar nicht mehr nieder.
Es ist ein ewiges Auf und Ab ohne Ende. Dazu Gerüchte, die alles zu beschleunigen
suchen, den Krieg und den Frieden. Aber sie sind machtlos, sie beruhigen keinen mehr.“145
Auch Zweigs Patriotismus war im Kleinerwerden begriffen, so drückt er sich negativ über
die Patrioten im Heimatland aus:
140 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 184. 141 Zweig: Tagebücher. S. 126 f. 142 Ebenda. S. 122. 143 Ebenda. S. 125. 144 Ebenda. S. 128. 145 Ebenda. S. 137.
41
Im Spital selbst erst das Gefühl des Grauens wieder körperlich gefühlt, als ich sah, wie kranke arme alte Menschen wieder an die Front gejagt werden, während die Patrioten hier bleiben und sich feiern lassen. Und alles dies für’s „Vaterland“ als ob eine Frau und vier Kinder nicht mehr Vaterland wären als alle Grenzen und Sprachen der Welt!146
In all seinen Zweifeln und seiner zunehmenden Abneigung gegenüber dem
Kriegsgeschehen („Auch hier bei uns ist der Enthusiasmus allmählich einer Art Lähmung
gewichen. Das Grauen ist beispiellos.“147), sind es vor allem Romain Rollands Briefe, die
ihm Kraft geben und ihn stärken: „Ein herrlicher Brief von Rolland. Atem aus der Welt,
Güte über die Trauer. Ich sehe den Brief wie einen Regenbogen auf verdüstertem Himmel.
Werde ich ihm je genug dankbar sein können.“148 Und wieder: „Brief Rollands voll Güte
und Zuversicht. Wenn ich ihn nicht hätte, den Tröster.“149 Im Jahr 1916 beginnt Stefan
Zweig bei der pazifistischen Zeitschrift Le Carmel mitzuarbeiten Sie wird in Genf von
Charles Baudouin herausgegeben.150
Auch seiner Arbeit im Kriegsarchiv steht Zweig allmählich skeptisch gegenüber. So legt er
seiner Figur König Zedekia im Jeremias die Worte „Ich mußte Krieg künden, aber ich
liebte den Frieden“151, in den Mund und spricht damit wohl auch von seiner Zeit im
Pressedepartement, als er noch Artikel verfasste, obwohl er bereits Zweifel an der
Sinnhaftigkeit und Legitimität des Krieges hatte. Die Freude an seiner Arbeit vom Beginn
ist einer Desillusionierung gewichen. In sein Tagebuch notiert er: „Ich bin zu müde von
der Erwartung des Endes und kann mich nicht immer galvanisieren.“152 Und ein paar Tage
später heißt es: „Das Bureau- auch ein Capitel. Ich kann nicht mehr. Mein Kopf ist
ausgeronnen, die Arbeit widert mich an, weil ich ihre Notwendigkeit nicht einsehe. Das
Frühere hatte wenigstens einen Schein von Sinn, das Jetzige ist öde und nur zu privatem
Zweck.“153 Doch bewahrt ihn die Anstellung vor einem Dienst an der Front. Stefan Zweig
erreicht, dass er am 5. November 1917 für zwei Monate vom Kriegsdienst suspendiert
146 Zweig: Tagebücher. S. 149. 147Ebenda. S. 239. 148 Ebenda. S. 150. 149 Zweig: Tagebücher. S. 178. 150 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Anhang S. 793. 151 Zweig: Jeremias. S. 254. 152 Zweig: Tagebücher. S. 217. 153 Ebenda. S. 219.
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wird, um eine Vortragsreise in die Schweiz zu unternehmen. Zweig soll dort
„Kulturpropaganda im Sinne der Donaumonarchie“ 154 machen. Die tatsächlichen
Aktivitäten Zweigs missfielen den Zuständigen in Wien jedoch: „Der Propagandist
entpuppte sich leider als Defaitist. Eigenhändig notierte Österreich- Ungarns
Außenminister Ottokar Graf Czernin auf einem Akt seine Überzeugung, „daß Dr. Zweig
ein Drückeberger ist.““155 Die Tatsache, dass die Premiere seines Stückes Jeremias im
Februar 1917 in Zürich stattfinden sollte, beschert Stefan Zweig eine erneute Freistellung
von seinem Dienst im Kriegsarchiv. Anschließend wird Zweig endgültig vom Kriegsdienst
freigestellt, indem er sich verpflichtet, jeden Monat einen Artikel für die Neue Freie Presse
aus der Schweiz zu senden.156
3.2.3. Jeremias- oder die Überwindung der eigenen Unsicherheit
Stefan Zweigs pazifistisches Drama Jeremias. Eine Dichtung in neun Bildern. stellt einen
wichtigen Punkt in Stefan Zweigs Schaffen dar. Sowohl persönlich als auch
schriftstellerisch ist der relativ lange Zeitraum der Entstehung, von Frühjahr 1915 bis
Frühjahr 1917, zugleich auch eine Phase der Entwicklung und Selbstfindung des Autors.
Das Werk fungiert hierbei als Mittel zur inneren Besinnung und Ausdrucksform eines
neuen Humanismus und Pazifismus Stefan Zweigs. Der Autor bezeichnet Jeremias als sein
wichtigstes Werk: „Jedenfalls ist es mein aufrichtigstes und wichtigstes Werk, das einzige,
das ich in einem höheren Sinn als ein für mich notwendiges empfinde.“157 Rolland, der
Einblick in Zweigs Denken hat, schreibt über Zweigs Verfassung im Krieg: “[...] bin ich
Zeuge der Leiden gewesen, die dieser freie europäische Geist erduldet hat, den der Krieg
zermarterte in dem, was ihm am teuersten war, in seinem Glauben an die Kunst und an die
Menschen: er beraubte ihn jeglichen Lebenssinns.“158
154 Weinzierl, Ulrich: „Außerordentlich gelehrige Halbaffen. Wortkämpfe eines Pazifisten.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, am 24.3.1998. S. 6. 155 Weinzierl: Außerordentlich gelehrige Halbaffen. Wortkämpfe eines Pazifisten.“ S. 6. 156 Vgl.: Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band.S. 794 f. 157 Auszug aus Brief an Martin Buber, undatiert; vermutlich Anfang Februar 1918; In: Zweig: Briefe an Freunde. S. 83. 158 Romain Rolland: „Vox Clamantis. Jeremias. Eine dramatische Dichtung von Stefan Zweig.“ (Erstmals in der Zeitschrift Coenobium, im November 1917) Weiters in: Romain Rolland: Der freie Geist. Berlin: Rütten & Loening, 1966. S. 308.
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Dank seiner Tagebuchaufzeichnungen und der Veröffentlichung etlicher
Briefkorrespondenzen ist der Entstehungsprozess von Jeremias gut dokumentiert und gibt
somit Aufschluss über die Lebensumstände des Autors und über die Entwicklungsphasen
des Stückes. Stefan Zweigs Arbeit an Jeremias trug neben, seinem Meinungsaustausch mit
Romain Rolland und der Galizien-Reise im Sommer 1915, zu einer zunehmenden
Entfaltung seines Pazifismus bei.
Am 17. Mai 1915 erwähnt Zweig im Anschluss an Gedanken über den Kriegsverlauf, das
Werk Jeremias erstmals in seinem Tagebuch: „Ich denke jetzt an die Tragödie Jeremias die
ich ja immer schon schreiben wollte.“159 Das Schreiben an Jeremias war für Zweig ein
wichtiger Prozess, um die größer werdende Kluft zwischen seiner Arbeit im
Kriegspressearchiv und den immer ausgeprägteren Gedanken an den Pazifismus zu
überwinden: „Mit diesem Drama überwand Zweig seine Zerrissenheit zwischen
patriotischer Pflichterfüllung im Kriegsarchiv und seiner Vision eines Neubeginns im
Zeichen der Kunst nach der wohl unvermeidlichen Niederlage und läuterte sich zu einer
eindeutigen Haltung.“160 Am 1. Juni 1915 ringt Zweig damit, sich auf das Werk einlassen
zu können: „Entwurf zum Jeremias. Oh Zeit und Kraft, nur die zwei Dinge- oder nur das
Letzte, denn sie erzwingt sich die Zeit.“161 Und nur wenige Tage später heißt es positiv:
„Das Drama gewinnt Formen.“162 Die äußeren Umstände, seine Anstellung im
Kriegsarchiv und private Erschöpfung, erschweren ihm seine Arbeit am Stück: „Ich bin
müde den ganzen Tag- aller Dinge müde. Das Drama so reif in mir, aber ich finde nicht die
Kraft.“163 Neben niederschmetternden Tagen gibt es auch solche, an denen ihm das
Schreiben leicht von der Hand geht und sich positiv auf sein Wohlbefinden auswirkt. Die
Arbeit am Stück ermöglicht es ihm, die Zerrissenheit zwischen seiner Tätigkeit im
Kriegsarchiv und seinem privaten Empfinden leichter zu ertragen: „Ich bin jetzt in meinem
Stück und seitdem tut die Außenwelt mir weniger weh, seitdem bin ich gerechtfertigt vor
mir selbst. Es ist die einzige Flucht, da Länder und Städte gesperrt sind.“164 Obwohl Zweig
die ewigen Nachrichten von der Rohheit des Krieges deprimieren, rafft er sich auf, um sein
159 Zweig: Tagebücher. S. 172. 160 Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914- 1921. S. 38. 161 Zweig: Tagebücher. S. 175. 162 Ebenda. S. 177. 163 Ebenda. S. 177. 164 Zweig: Tagebücher. S. 179.
44
Stück zu realisieren: „Inzwischen Vorarbeiten zu Jeremias, obwohl die momentane
Stimmung dagegen spricht.“165 Am 28. Mai vermerkt er: „Ich arbeite gut. Auch der Regen
tut mir nicht [s]. Ein gutes Bewußtsein, daß er die Ernte fördert. [...] Weiter gearbeitet, die
Untermalung des ersten Actes und das Vorspiel beendet. Wenn ich nur so im Schwung
bleiben könnte! Ein Urlaub und ich wäre gerettet.“166 Und nur wenige Tage später dürfte
Zweig ein gutes Stück weitergekommen sein:
Die Arbeit tut mir ordentlich wohl- einziges Stahlbad des Leiden schleichenden Kummers, der innern quälenden Müdigkeit. Ich habe da ein großes Problem gut und kühn angefasst- in den Nebenfiguren ist noch Unruhe, zu wenig Begründung und mich stört eine gewisse Monotonie der Steigerung. Vielleicht finde ich noch die Wendung. 167
Vom 14. bis zum 26. Juli 1915 unternimmt Stefan Zweig eine dienstliche Reise nach
Galizien. Er blickt der Reise positiv entgegen, da er dem Alltag des Militärdienstes im
Kriegsarchiv entfliehen kann und die Realität an der Front, die er bis dahin lediglich aus
Zeitdokumenten kennt, eigenständig zu sehen hofft. Während der Reise wird er sich erst
des verheerenden Ausmaßes des Krieges gewahr. Er ist zutiefst erschüttert über die
Zerstörung, welche die Kämpfe hinterlassen haben und die Not der dortigen Bevölkerung.
In einem Brief an Romain Rolland berichtet er von seinen persönlichen Eindrücken:
„[...] ich komme eben aus Galizien, wo ich zu dienstlicher Reise hart bis an die Front kam und Unendliches gesehen habe. [...] Niederdrückendes und Tröstendes [...] Und ich bin dem Geschick dankbar, das mich einmal nahe sein ließ und es mir leichter macht, gerecht zu sein. [...] Drei Tage, drei Wochen in jener Welt sagen mehr als 1000 Bücher und Broschüren.“168
Nach seiner Rückkehr verfasst Zweig zwar einen Bericht in dem der Optimismus
überwiegt, für seine persönliche Einstellung zum Krieg dürfte die Reise jedoch prägend
gewesen sein und ihn in seiner pazifistischen Überzeugung bestärkt haben. In einem Brief
an Rolland wird ersichtlich, dass er erkannt hat, wie die Zerrissenheit sein inneres
Gleichgewicht beeinträchtigt: „Mir selbst geht es nicht zum besten. Seit ich aus Galizien
wieder heim bin und wieder im täglichen Dienst, knistern meine Nerven. [...] Es ist wohl
mehr das Persönliche, das auf mir lastet: ich leide unter dem Druck des Allgemeinen, der
165 Zweig: Tagebücher.. S. 180. 166 Ebenda. S. 181. 167 Ebenda. S. 182. 168 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 202 f.
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Weltspannung [...]“169 Sein Weg, um jenen „Druck“ zu lindern war unter anderem die
Arbeit an Jeremias, welche er alsgleich wieder aufnimmt: „Tagebuch, Entwurf des dritten
Aktes vollendet. Jetzt muss es weiter gehen, nicht alles klar.“ 170 Anfang Dezember geht
ihm das Schreiben so leicht von der Hand, dass er nicht einmal in sein Tagebuch einträgt
und die getane Arbeit mehrerer Tage zusammenfasst:
Ich habe ein paar Tage nichts eingeschrieben, weil ich jetzt ernstlich an meinem Stück tätig bin. Die Vorarbeiten sind jetzt bald so viel wie beendet, das Scenarium ist klar, jetzt bedarf es nur mehr des rechten Ruckes um an das Werk zu gehen. Innerlich ist Alles sicher, jetzt nur die Frage, wie ich es stilistisch bewältigen werde. Ich will am 1. Januar ganz wirklich damit anfangen, vielleicht vermögen vier Monate es zu beenden. Aber diese äußere Unsicherheit des Lebens liegt so schwer lastend auf mir, daß ich gar nicht weiß, ob ich dazu komme.171
Der Eintrag vom 7. Jänner 1916 lässt auf eine positive Verfassung Zweigs schließen. Er
hat in sein Stück gefunden und schreibt: „Jetzt bin ich es, der die Menschen ermutigt. Ich
erlebe den Jeremias! Daß ich ihn nur schreiben könnte.“ Tagebucheintragungen aus der
Zeit von Ende Februar 1916 bis Mitte November 1917 sind nicht erhalten. Man kann
jedoch aus Zweigs Briefen Rückschlüsse auf die weitere Entstehung des Jeremias ziehen.
In einem Brief an Rolland vom 18. Februar 1917, schreibt Zweig, dass sein Jeremias nun
nahezu vollendet sei und bezeichnet das Stück als Werk, „das alles aussagt, was ich vom
ersten Tage des Krieges fühlte“172 und als „innere Befreiung“173. An Ami Kaemmerer
sendet Zweig nach der Fertigstellung des Jeremias einen Brief in dem er schildert, was die
Arbeit daran für ihn persönlich bedeutet hat:
[...] ein Stein ist zu Berge gewälzt, wie er mir schwerer nie auf der Seele gelegen. Denn Alles, was in mir an Widerstand, Verzweiflung wider die Zeit und ihre Wortführer niedergezwungen kämpfte, hat sich in verwandelter Form freigemacht. Es war mein Ventil, um nicht zu ersticken in einer Welt, die einem das Wort verschloß.174
169 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 207. 170 Zweig: Tagebücher. S. 209. 171 Zweig: Tagebücher. S. 238. 172 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 259. 173 Ebenda. S. 259. 174 Auszug aus Brief an Ami Kaemmerer, 3.5.1917 In: Zweig: Briefe an Freunde. S. 72.
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Stefan Zweig sieht im Abschluss des Werkes das Ende eines Abschnittes in seinem Leben,
welcher von persönlicher Unsicherheit geprägt war. Er bedankt sich bei Romain Rolland
für seine moralische Unterstützung und für sein Vorbild, ohne dass er sich in den
Wirrnissen der Zeit womöglich noch mehr verloren hätte:
Denn ich weiß nicht, ob ich sie hätte vollenden können ohne Ihr moralisches Beispiel, ohne die Sicherheit, die mir gegeben durch das Bewusstsein der Gerechtigkeit, die aus großen Gestalten sich zum Gesetz des Herzens erhebt. Meine Müdigkeit habe ich darin in Leidenschaft verwandelt und mein eigenes Erlebnis ins Symbol: Oh, ich habe den tiefen Sinn der Worte Goethes gefühlt, sich zu befreien im Gedicht!175
Auch in folgendem Auszug aus einem Brief an Romain Rolland wird ersichtlich, welche
innere Zuflucht vor der Zeit die Arbeit an Jeremias für Zweig dargestellt hat: „In mir ist
etwas leer jetzt im Herzen, seit ich es von mir getan habe, und die Zeit hat jetzt im Herzen,
seit ich es von mir getan habe, und die Zeit hat wieder mehr Macht über mich.“176
Romain Rolland zeigt sich von Zweigs Werk berührt und erkennt seinen Nutzen in der
Vermittlung der pazifistischen Idee: „Ich habe Ihren Jeremias erhalten und mit bewegter
Freude gelesen. Er ist von großer Schönheit, und ich hatte Ihnen geschrieben, wie sehr ich
ihn bewundere [...]“. 177 „Es ist eines der seltenen großen Werke des Krieges. Das einzige
große Theaterstück, das den Krieg behandelt und überwindet.“178
Der Aufenthalt in der Schweiz ab November 1917 und die damit verbundene Freistellung
vom Militärdienst tun Stefan Zweig gut. In der Schweiz wird die Aufführung des Jeremias
am Theater vorbereitet und Zweig findet Anschluss an die pazifistischen Kreise in Genf, zu
denen Frans Masereel, Jean Debrit, René Arcos, Pierre Jean Jouve und Charles Baudouin
gehören.179 Der Abschluss der Arbeit an Jeremias, der Aufenthalt in der neutralen Schweiz
und die Bekanntschaft mit den Schweizer Pazifisten scheinen Zweig nach langer Zeit
wieder einmal zur Ruhe kommen zu lassen: „[...] der äußere Frieden in der Schweiz hat
mir den inneren Frieden wiedergegeben.“180. Zweig, der für sich eine Entscheidung gefällt
hat, übergibt Romain Rolland in der Schweiz ein Schriftstück, das er sein „Testament des
175 Rolland, Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 262 f. 176 Ebenda. S. 263. 177 Ebenda. S. 264. 178 Ebenda. S. 481. 179 Ebenda. S. 795. 180 Ebenda. S. 308.
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Gewissens“ nennt. Darin legt Zweig fest, dass er sich niemals zum Dienst an der Waffe
zwingen ließe.181 Stefan Zweig hat für sich seine Position zum Krieg gefunden, nämlich
die „Überwindung der Unsicherheit und die Hinwendung zu einer eindeutigen
pazifistischen Position“182. Dies war ein „Bekenntnis“, und der Jeremias hat ihm dabei
maßgeblich geholfen.
Rolland hat Zweigs Entwicklung in den Kriegsjahren und dessen „verzweifelte
Zerrissenheit“183, die er erst allmählich überwinden konnte, miterlebt: „Nach und nach
jedoch haben die Unermesslichkeit der Katastrophe, die Gemeinschaft mit der weltweiten
Qual wieder die Ruhe in ihn einkehren lassen, die sich mit dem Schicksal abfindet [...].“184
3.2.4. Exkurs: Stefan Zweigs Judentum in Bezug auf das Drama Jeremias
Stefan Zweig selbst ist es, der sein Drama Jeremias als „jüdische Tragödie“ bezeichnet:
„Ich arbeite jetzt in den wenigen Stunden, die mir der Militärdienst läßt, an einer großen
(und durch Beziehungen zeitlosen) jüdischen Tragödie, einem Jeremias- Drama [...]“185
Zweig steht mit der Wahl eines jüdischen Themas nicht alleine. Im zwanzigsten
Jahrhundert kommt es zu einer Wiederentdeckung der biblischen Prophetenschriften und
Themen.
Themen, die bislang christlich dominiert oder besetzt waren, werden wieder dem Judentum zugänglich. Daraus erwacht ein neues selbstbewusstes Judentum, das sich in vielerlei Hinsicht in die deutsche Kultur integriert und dabei dennoch die jüdische Identität nicht verliert.186
In der Phase des Verfassens des Jeremias gelingt es Zweig nicht nur seine Einstellung zum
Ersten Weltkrieg für sich selbst herauszuarbeiten und für die Öffentlichkeit zu
manifestieren, sondern auch Position zum Judentum zu beziehen.
Stefan Zweig entstammt einer assimilierten jüdischen Familie in Wien. Das Judentum 181 Vgl.: Matuschek: Stefan Zweig. S. 157. 182 Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914- 1921. S. 39. 183 Rolland: „Vox Clamantis.“ S. 308. 184 Ebenda. S 308. 185 Stefan Zweig: Briefe an Freunde. S.64. 186 Gerhard Langer: „Stefan Zweig und die jüdische Religion.“ In: „Das Buch als Eingang zur Welt“ Hrsg. v. Joachim Brügge. (=Schriftenreihe des Stefan Zweig Centre Salzburg) Würzburg: Königshausen&Neumann, 2009. S. 42.
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spielt für ihn zunächst keine große Rolle.187 Der Erste Weltkrieg lässt ihn seine Wurzeln
näher betrachten und im Judentum eine Möglichkeit der Überwindung des Nationalismus
zu sehen.
Durch die Erfahrung der Katastrophe des Ersten Weltkrieges wandte sich Zweig nicht nur einem aktiven Humanismus zu, sondern er erkannte im Judentum eine Chance: das daraus abzuleitende Weltbürgertum, das als jüdische Selbstverständlichkeit in der Stunde des Zerfalls eine dringende Aufgabe zu erfüllen hatte, nämlich ein friedliches, geeintes Europa zu errichten, das seine Traditionen und Werten wieder bewußt werden und als Phönix aus der Asche steigen sollte.188
Theodor Herzl, mit dem Zweig schon recht früh Bekanntschaft macht189, hätte es gerne
gesehen, dass sich Zweig der zionistischen Bewegung anschließt. Dieser wich einer
Entscheidung jedoch immer aus: „Er wollte einerseits nicht undankbar erscheinen, doch
sah er andererseits keinen Grund, irgend etwas an seiner Loyalität zum alten
österreichischen Staat zu ändern, der ihm neben der „Sicherheit“ auch geistige Freiheit
garantierte.“190 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges muss er sich entscheiden, wie
er sich positionieren soll.
Zweig entscheidet sich gegen den Gedanken eines jüdischen Nationalstaates, womit er bei
einigen Zionisten auf Ablehnung stößt:
[...] Für mich ist es der Ruhm und die Größe des jüdischen Volkes, das einzige zu sein, das nur eine geistige Heimat, ein ewiges Jerusalem anstrebt, während er zur Wiederkehr ins reale Palästina gravitiert. Für mich ist das Große des Judentums, übernational zu sein, Ferment und Bindung aller Nationen in seiner eigenen Idee, er [Martin Buber, Anm.] wünscht die jüdische Nation, und ich sehe in jedem Nationalismus die Gefahr der Entzweiung, des Stolzes, der Eingrenzung und der Eitelkeit.191
Für Zweig gilt die Überwindung des Nationalismus als erstrebenswert. Hier sieht er im
Judentum eine Chance:
187 Vgl.: Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Frankfurt: S. Fischer, 1965. S. 39. 188 Thomas Bodmer: „Jeremias. Ein Bekenntnis zu Pazifismus, Humanismus und Weltbürgertum.“ In: „Das Buch als Eingang zur Welt.“ Hrsg. v. Joachim Brügge. Würzburg: Königshausen&Neumann, 2009. (=Schriftenreihe des Stefan Zweig Centre Salzburg) S. 75. 189 Vgl.: Zweig: Die Welt von gestern. S. 123-129. 190 Joseph Strelka: Stefan Zweig. Freier Geist der Menschlichkeit. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1981 S. 30. 191 Auszug aus Brief an Abraham Schwadron, undatiert; vermutlich Frühjahr 1917. In: Zweig: Briefe an Freunde. S. 71.
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Ich sehe die Aufgabe des Jüdischen politisch darin den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern, um so die Bindung im reinen Geiste herbeizuführen. Deshalb lehne ich den jüdischen Nationalismus ab [...] Unser Geist ist Weltgeist- deshalb sind wir geworden, was wir sind und wenn wir dafür leiden müssen, ist das unser Schicksal.192
Zweig bekennt sich in der Korrespondenz mit Martin Buber eindeutig zu seinem
Judentum, lehnt aber jegliche zionistische Tendenzen ab.
Nie habe ich mich durch das Judentum in mir so frei gefühlt als jetzt in der Zeit des nationalen Irrwahns- und von ihnen den Ihren- trennt mich nur dies, daß ich nie wollte, daß das Judentum wieder Nation wird und damit sich in die Concurrenz der Realitäten erniedrigt. Daß ich die Diaspora liebe und bejahe als den Sinn seines Idealismus, als seinen Idealismus, als seine weltbürgerliche allmenschliche Berufung. Und ich wollte keine andere Vereinigung als im Geist, in unserem einzigen realen Element, nie in einer Sprache, in einem Volke, in Sitten, in Gebräuchen, diesen ebenso schönen als gefährlichen Synthesen. Ich finde den allgegenwärtigen Zustand den großartigsten der Menschheit: dieses Eins-Sein ohne Sprache, ohne Bindung, ohne Heimat nur durch das Fluidum des Wesens.193
Stefan Zweig hat seine Wurzeln, sein Judentum wohl durch den Ersten Weltkrieg und
durch die Arbeit an Jeremias für sich entdeckt.194
Er sieht auch seine Internationalität und seine pazifistischen Bestrebungen eng mit seinem
Judentum verknüpft: „Deshalb glaube ich, daß es nicht Zufall ist, wenn ich Internationalist
und Pazifist bin- ich müsste mich und mein Blut verleugnen, wenn ich es nicht wäre!“195
3.2.5. Stefan Zweigs konkretes pazifistisches Engagement
Das Jahr 1918 kann in Bezug auf Stefan Zweigs Schaffen als „archimedischer Punkt“196
bezeichnet werden. Nachdem ihm seine Arbeit an Jeremias geholfen hat eine eindeutige
Position zum Krieg zu finden, kommt es in den Jahren 1917 und 1918 zu einem Anstieg
seiner literarischen Produktion.197 Das vorletzte Kriegsjahr bringt zudem eine theoretische
Beschäftigung Zweigs mit dem Pazifismus mit sich.
192 Brief an Marek Scherlag, 22. Juli 1920. Zitiert nach Matuschek: Stefan Zweig. S. 185. 193 Auszug aus Brief an Martin Buber, 24.1.1917. In: Zweig: Briefe an Freunde. S. 68 f. 194 Vgl.: Bodmer: „Jeremias. Ein Bekenntnis zu Pazifismus, Humanismus und Weltbürgertum.“ S. 73. 195 Brief an Marek Scherlag, 22. Juli 1920. Zitiert nach Matuschek: Stefan Zweig. S. 186. 196 Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. S. 39. 197 Vgl.: Ebenda. S. 39
50
Er verfasst die Artikel „Gegen den Jusquaboutismus“198 und „Die Entwertung der
Ideen“199. In beiden Artikeln spricht sich Zweig gegen das von Alfred H. Fried200
vertretene Konzept eines „wissenschaftlichen Pazifismus“ aus. Dabei handelt es sich um
einen „vor allem organisatorisch verstandenen Pazifismus [der] durch zunehmende
wirtschaftliche Verflechtung, Kommunikation und zwischenstaatliche Organisation die
Überwindung der noch zu herrschenden zwischenstaatlichen „Anarchie“ erwartete“.201
Fried nimmt für das Erreichen eines andauernden Friedens auch den bewaffneten Kampf in
Kauf. „Die Entwertung der Ideen“ ist Zweigs Antwort auf den Aufsatz „Der
Vernunftmeridian“ von Alfred H. Fried. Fried bezeichnet darin den Sieg des
Jusquauboutismus als erstrebenswerter als jenen der Defaitisten. Zweig appelliert
daraufhin an die Menschlichkeit und fordert die „Entwertung der Ideen, Neubewertung des
einzelnen, jetzt verschleuderten Menschenlebens.“202 Stefan Zweig steht für einen
idealistischen Pazifismus, wenn er die „Entpolitisierung der Welt“203 und die
„Neubewertung des einzelnen Menschenlebens“204 propagiert. Er tritt für eine
zwischenmenschliche Völkerverständigung fernab der Politik ein.
Ein weiteres theoretisches Bekenntnis Zweigs stellt sein Aufsatz „Bekenntnis zum
Defaitismus“205 dar. Stefan Zweig fordert darin eine „Brüderlichkeit jenseits von
Politik“206 und die Vereinigung „jenseits unserer politischen Gesinnung vorerst im Gefühl
unseres Widerstands.“207 Zweig spricht davon, dass sich kurz vor Friedensabschluss jene
Intellektuelle, die während des Krieges keineswegs eine pazifistische Haltung
eingenommen haben, nun „auf die Plattform des Pazifismus“208 aufspringen und den
Begriff somit verfälschen werden: „Kriegsfeinde, Friedensfreunde- das Wort ist zu
schwach. Pazifismus: der Gedanke ist zu abgehurt, zu geschändet von den Landsknechten
198 Stefan Zweig: „Gegen den Jusquaboutismus.“ Erstmals in: Deutsche Morgenpost, 12. August 1918. 199 Stefan Zweig: „Die Entwertung der Ideen.“ Erstmals in: Neue Zürcher Zeitung, 4. August 1918. In: Die schlaflose Welt. S. 126-132. 200 Alfred H. Fried, Friedensnobelpreisträger, Herausgeber der zentralen Zeitschrift des deutschen Pazifismus Friedens- Warte und von Zweig eigentlich sehr geschätzt. 201 Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. S. 40. 202 Zweig: „Gegen den Jusquaboutismus.“ S. 130. 203 Ebenda. S. 131. 204 Ebenda. S. 131. 205 Stefan Zweig: „Bekenntnis zum Defaitismus“. Erstmals in: Friedens- Warte, Juli/August 1918. In: Die schlaflose Welt. S. 122-126. 206 Ebenda. S. 123. 207 Ebenda. S. 123. 208 Ebenda. S. 124.
51
und Freibeutern der Gesinnung.“209
Aus diesem Grund schlägt Zweig ein neues Kampfwort, den „Defaitismus“ vor:
Wollen wir unserm Bekenntnis, unserm Beisammensein einen rechten Sinn, eine leidenschaftliche Bedeutung geben, so müssen wir ein Kampfwort wählen unter das die Gesinnungslosen sich nicht verkriechen können. [...] Nehmen wir- wie einst die Geusen taten- das Haßwort unserer Feinde, machen wir aus ihrem Schimpf unsern Stolz, aus ihrer Verachtung unsere Ehre: nennen wir uns offen Defaitisten! Vereinigen wir uns im Defaitismus!210
Ebenfalls zur Reihe Zweigs konkreter Äußerungen über den Begriff des Pazifismus zählt
seine Rede „Bertha von Suttner“ anlässlich der Eröffnung des Internationalen
Frauenkongresses in Bern im Jahr 1917. Darin heißt es wenig optimistisch: „[...] die fast
vernichtende Tragik des Pazifismus, daß er nie zeitgemäß erscheint, im Frieden
überflüssig, im Kriege wahnwitzig, im Frieden kraftlos und in der Kriegszeit hilflos.“211
Zweig spricht darin der verstorbenen Bertha von Suttner und ihrem pazifistischen
Engagement seine Bewunderung aus. Er würdigt Bertha von Suttners Kampf für den
Frieden und ihre Weitsicht, mit der sie schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges
mit einem bewaffneten Konflikt in Europa gerechnet hatte. Im Hinblick auf Suttner, die in
ihrem unermüdlichen Einsatz bereits in Friedenszeiten für den Frieden gekämpft hat und
nur recht wenige Unterstützer fand, stellt Zweig die Problematik des „Friedenswillens“
dar:
Wie leicht hat es der Kriegswille, wie schwer der Pazifismus! Denn während jener an die offenen Instinkte der Menschheit, die der Kraft des Stolzes, der Leidenschaft, appelliert, während er auf tausendjähriger Tradition geharnischt mit uralten Argumenten steht, muß der Friedenswille immer erst die verborgenen Instinkte, die der Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit, wecken und hat der Tradition nichts entgegenzusetzen als das Ungewisse der Utopie.212
Wie auch Romain Rolland, vermag Zweig gegen Kriegsende schon über das Ende des
Krieges hinauszublicken. Die Zukunft Europas nach dem Friedensabschluss sieht auch er
nicht allzu positiv: „Mein Misstrauen gegen große Worte wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“
209 Zweig: „Bekenntnis zum Defaitismus“. S. 124. 210 Ebenda. S. 124. 211 Stefan Zweig: „Bertha von Suttner.“ In: Die schlaflose Welt. S. 120. 212 Ebenda. S. 116.
52
wird allmählich eine moralische Besessenheit, ich kann keine Worte mehr hören. Ich höre
zu laut die Verzweiflungsschreie einer ganzen Welt.“213 Kurz vor dem Ende des Krieges
will Stefan Zweig die Schweiz verlassen und nach Österreich reisen, um dort den
Waffenstillstand mitzuerleben: „Die Zeit rennt, und ich sehe das Ende einer Epoche
meines Lebens nahen; [...] Und dann will ich aus der Nähe erleben, wie dieses alte
Kaiserreich jetzt zusammenkracht [...]214
Der tatsächliche Waffenstillstand bringt für Zweig jedoch erstmals eine positiv
vorwärtsblickende Phase mit sich. Sein „prophetischer Pessimismus“215 hat richtig gelegen
und so ist er, im Gegensatz zu vielen anderen in seinem Umfeld gefasst und sieht seinen
Aufgaben mit wiederhergestelltem Idealismus entgegen. Zweig schöpft neue Hoffnung für
die „Überwindung der Gegensätze in Europa“216.
3.2.6. Die ersten Friedensjahre
Nach dem Krieg engagiert sich Zweig weiterhin. In seinen Texten und Briefen tritt er für
seine Vorstellung eines dauerhaften Friedens ein. Zudem lehnt er eine erneute Aufrüstung
und Revanchepolitik entschieden ab.217
Der enge briefliche Kontakt zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig reißt auch nach
Kriegsende nicht ab. Zweig sieht in Rolland weiterhin eine moralische Instanz und
unterstützt seine „Déclaration de l’esprit libre“ mit seiner Unterschrift, was für Zweig
bemerkenswert erscheint, wenn man die Tatsache betrachtet, dass dies das einzige Mal
bleiben soll, dass er ein Manifest unterschreibt: „Ich unterschreibe mit Freude und
Begeisterung Ihren wunderbaren Appell an das freie Gewissen. Wenn Worte noch einen
Widerhall finden können, so diese.“218 Zweig schätzt vor allem das Versöhnliche an
Rollands Deklaration, die niemanden verurteilt. Er selbst tritt ebenfalls für die pazifistische
213 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band S. 382. 214 Ebenda. S. 388. 215 Strelka: Stefan Zweig. S. 41. 216 Vgl.: Holl: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914-1921. S. 41. 217 Vgl.: Ebenda. S. 41. 218 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 441.
53
Idee, die einem „Geiste der Versöhnung“219 entwächst ein. Zweig unterstützt Rolland in
der Verbreitung seiner „Déclaration de l’esprit libre“ und so hält er am 2. April 1919 im
Wiener Konzerthaus einen Vortrag darüber.
Nach der Phase der theoretischen Befassung Zweigs mit dem Pazifismus, wirkt er auf dem
Gebiet weiter, welches ihm am nächsten ist- jenem der Literatur. Stefan Zweigs vielleicht
größter Verdienst in der Völkerverständigung und somit auch für sein pazifistisches
Bestreben, ist wohl sein Projekt der Biblioteca mundi. Dabei handelt es sich um den
Versuch, eine Bibliothek der Weltliteratur in Deutschland zu erstellen. Stefan Zweig und
sein Freund und Verleger Anton Kippenberg220 entwickeln im Februar 1919 die Idee einer
Reihe der Weltliteratur, die internationale Meisterwerke mit Interlineartext in Französisch,
Deutsch, Italienisch und Englisch anbieten soll. Der Interlineartext soll den Lesern, welche
die Sprachen kennen, sie jedoch nicht exakt beherrschen, die Möglichkeit bieten, ihr
Wissen über die europäische Literatur zu erweitern.221 Zweig bezeichnet das Projekt im
Vorfeld des Erscheinens als „große und schöne Sache“222, die „ein großes dauerhaftes
Monument der Einheit der Kunst über alle Unterschiede der Sprachen und alle Strömungen
der Jahrhunderte hinweg“223 werden soll. Zweig misst der Verwirklichung des Projekts
große Wichtigkeit zu und ist bereit viel Kraft und Aufwand seinerseits aufzuwenden. Aus
einem Brief an Romain Rolland geht hervor, dass Zweig in seinem Projekt die Möglichkeit
einer pazifistischen Vermittlung zwischen den ehemals kriegführenden Staaten sieht. So
schreibt er: „[...] durch ihre großen Männer sollten die Völker einander kennenlernen und
nicht durch ihre schmutzigen Zeitungen“224, wobei hier auf die Kriegspropaganda im
Ersten Weltkrieg angespielt wird. Die Reihe soll außerdem „ohne Aufhebens, ohne
Reklame, ohne Politik [dem] Ideal der weltweiten Brüderlichkeit dienen“225. Stefan Zweig
stellt das pazifistische Wirken der Biblioteca mundi sogar über jenes von Kongressen und
Verträgen.226 Der Insel- Verlag publizierte von 1920 bis 1923 vierzehn Bände der
Biblioteca mundi. Durch die Inflation in Deutschland und die daraus resultierende
219 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 442. 220 Vgl.: Stefan Zweig: Die Welt von gestern. S. 189. 221 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster. Band. S. 443. 222 Ebenda. S. 443. 223 Ebenda. S. 443. 224 Ebenda. S. 443. 225 Ebenda. S. 443. 226 Vgl.: Ebenda. S. 443.
54
Veränderung der wirtschaftlichen Bedingungen, wird die „pazifistische“ Buchreihe jedoch
bald eingestellt.227 228
Die Realität des Zwischenkriegs-Wien ist für Zweig nur schwer zu ertragen. Er zieht sich
nach Salzburg zurück, wo er ein Haus am Kapuzinerberg erwirbt und wirkt von dort aus.
1920 setzt sich Zweig ein, um den „Internationalen Kongreß der Geistesschaffenden“229,
den Romain Rolland mit weiteren Intellektuellen entworfen hat, zu ermöglichen. Zweig
schlägt Salzburg als Austragungsort vor. Seine Bemühungen scheitern jedoch und der
Kongress findet nie statt.
227 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster. Band. S. 443. 228 Es erschienen folgende Bände der Biblioteca mundi im Insel- Verlag:
Anthologia hebraica Anthologia hungarica Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal. Byron, Lord: Poems. Duhamel, Georges: Anthologie de la poesié lyrique francaise. Eliasberg, Alexander und David Eliasberg: Russkij Parnass. Faesi, Robert: Anthologia Helvetica. Horatius: Flaccus Quintus: Opera. Kleist, Heinrich v.: Erzählungen. Musset, Alfred de: Trois drames. André del Sarto. Lorenzaccio: La coupe et les lèvres. Napoleon I.: Documents, discours, lettres. Rinascimento, Il. Stendhal, Fréderic de (Henry Beyle): De l’amour. Teresa de Jesús, Santa Madre, Libro de su vida.
229 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 490
55
3.3. Stefan Zweig und Romain Rolland- eine geistige Brüderschaft im Schatten des Krieges
Wie im bisherigen Teil der Arbeit bereits sichtbar wurde, verband Romain Rolland und
Stefan Zweig eine innige Freundschaft, die vor allem durch ihre briefliche Korrespondenz
dokumentiert ist. Der Zeitraum des Ersten Weltkrieges und die Zeit unmittelbar danach, ist
jene Periode, in der sich die beiden wohl am nahesten waren. 1910 findet der erste
briefliche Kontakt der beiden statt. Zweig lässt Rolland eines seiner Werke zukommen und
spricht ihm seine Bewunderung aus. Rolland antwortet, dann hören sie längere Zeit nichts
voneinander, bis es im Februar 1911 zu einem Treffen in Paris kommt. Zweig nimmt sich
der Werke Rollands an, um sie ins Deutsche zu übersetzen und im deutschen Sprachraum
zu verbreiten. Es entwickelt sich ein regelmäßiger brieflicher Austausch, der jedoch erst
nach Beginn des Ersten Weltkrieges eine ausgedehntere Form annehmen soll. Rollands
weitsichtige Antwort auf Zweigs Artikel „An die Freunde im Fremdland“230, ist 1914 der
Beginn eines intensiven Kontakts der beiden. Zweig, dem es zu Beginn des Krieges schwer
fällt, eine eindeutige Position für sich zum Kriegsgeschehen zu finden, sieht im fünfzehn
Jahre älteren Rolland eine moralische Instanz zu der er aufschaut und auf deren Meinung
er vertraut. Rolland ist im Ersten Weltkrieg für Zweig, der eine tiefe Krise durchlebt, eine
wichtige moralische Stütze. Die beiden verbindet ein ähnlicher, pazifistisch gefärbter
Grundgedanke einer geistigen Einheit Europas, wobei Rolland in seinem Denken immer
gefestigter ist als Zweig. „Zweig est souvent au bord du désespoir. Rolland, plus stoïque et
surtout plus confiant, essaie de le persuader que le mal n’a qu’un temps, ce dont il restera
lui-même convaincu jusqu’à la fin de sa vie [...]“231. Stefan Zweig kann schließlich seinen
Platz in den Wirrnissen des Krieges dank der Arbeit an Jeremias, seinem Aufenthalt in der
Schweiz und der Unterstützung Rollands finden. Die beiden engagieren sich für eine
gemeinsame Sache, dem Streben nach Frieden und der Völkerverständigung, der
Beseitigung des Hasses zwischen den kriegführenden Staaten. Sowohl bei Rolland, als
auch bei Zweig kann man eine Betonung des Geistigen festmachen, wobei man auch hier
zwischen Zweig und Rolland differenzieren muss. So teilt Rolland die fast apolitische 230 „Ich bin unserm Europa treuer als Sie, lieber Stefan Zweig, und ich verleugne keinen meiner Freunde.“ (Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 70) 231 Siegrun Barat: „Romain Rolland et Stefan Zweig. Une amitié à l’épreuve des guerres.“ In: Cahiers de Brèves n° 24, Dezember 2009. S. 22 f.
56
Einstellung Zweigs nicht:
Ich teile Ihre Abscheu vor der Politik nicht. Man könnte ebenso gut Abscheu vor dem Leben empfinden. Denn das eine ist vom andern nicht zu trennen- außer in den Träumereien von Dichtern und jungen Damen. Politik, das sind die notwendigen Bedingungen, um zu existieren- und auch um zu ästhetisieren. Wir gewinnen nichts dabei, wenn wir ihr unser Interesse entziehen. Denn diese Bedingungen werden so oder so geschaffen, mit uns oder gegen uns.232
Wolfgang Klein macht im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Korrespondenz von Zweig
und Rolland ein Element der Illusion in deren Humanismus aus, worin er eine Begrenztheit
sieht:
Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Existenzbedingungen ist dem Individuum nicht möglich. Es kann diese Bedingungen beeinflussen, sich aber nicht außerhalb ihrer setzen. Ohne politische Aktion, ja ohne ihren zeitweilig absoluten Vorrang ist nach allen historischen Erfahrungen soziale Veränderung nicht möglich.233
Auch wenn Rolland die Tagespolitik weit mehr in sein Schaffen miteinbezieht als Stefan
Zweig, hat der politische Aktionismus im Leben beider keinen Platz.
Im Falle Rollands ist es die konstante Bemühung um einen andauernden Frieden und das
Eintreten für ein internationales Denken, das sich nicht an staatlichen Grenzen stört, was
sein pazifistisches Engagement ausmacht. Rollands Pazifismus nimmt bereits vor dem
Ersten Weltkrieg seinen Anfang. In seinen frühen Werken kommt es zu einer
Thematisierung sozialer Missstände und Rollands Interesse für Politik wird deutlich. Sein
wohl bekanntestes Werk, Jean-Christophe ist ein Beispiel für sein Bemühen um die
deutsch-französische Völkerverständigung. Zudem warnt Rolland bereits vor Ausbruch des
Krieges vor einem kriegerischen Konflikt in Europa. Im Ersten Weltkrieg fungiert er von
der neutralen Schweiz aus als übernationaler Vermittler und moralische Instanz. Nach der
Überwindung Zweigs Unsicherheit in Bezug auf seine Stellung zum Krieg, verbindet die
beiden Autoren der gemeinsame geistige Kampf für ein friedliches Europa. Jenes Ringen
um den Frieden manifestiert sich in mehreren Aktionsbereichen. So unterhalten sowohl
Stefan Zweig als auch Romain Rolland einen regen brieflichen Austausch mit
internationalen Kollegen und Gleichgesinnten, was in einigen Fällen zu einem
232 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Zweiter Band. S. 594. 233 Ebenda. S. 14 f.
57
Zustandekommen internationaler Treffen führt. Schon alleine die Sammlung der Briefe der
beiden Autoren kann wohl als eigenständiges moralisches Werk und als gelebte
Völkerverständigung begriffen werden.234 Das Veröffentlichen kriegskritischer Artikel
Zweigs und Rollands in diversen Zeitschriften transportiert ihre pazifistische Gesinnung in
die Öffentlichkeit, was ihnen viele Feinde, aber auch Zustimmung einbringt. Die
Teilnahme an Kongressen und Rollands Tätigkeit beim Genfer Roten Kreuz bilden die
Säule der aktiven Aktion für den Pazifismus.
Romain Rolland und Stefan Zweig wirken aber vor allem in ihrer Domäne- der Literatur.
Die literarischen Werke der Autoren transportieren einen pazifistischen und
supranationalen Grundgedanken, der oftmals nicht explizit benannt wird, sondern vielmehr
als Subtext das erzählerische Werk untermauert.
Die Werke Jeremias und Clerambault behandeln jeweils auf ihre eigene Weise das Thema
des Pazifismus und sollen hier das literarische pazifistische Engagement der Autoren
aufzeigen.
234 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. Vorwort. S. 22.
58
4. DIE WERKE CLERAMBAULT UND JEREMIAS ALS BEISPIELE FÜR ROMAIN ROLLANDS UND STEFAN ZWEIGS LITERARISCHEN PAZIFISMUS
4.1. Clerambault- Une conscience libre pendant la Guerre
Romain Rollands Roman Clerambault erschien Ende September 1920 im Pariser Verlag
Ollendorf. Das Erscheinungsdatum fällt somit nicht in die Zeit des Ersten Weltkrieges,
jedoch ist der Krieg mit seinen Begleiterscheinungen das Hauptthema des Buches. Rolland
nimmt gleich vorweg, dass es sich bei seinem Werk um keine Selbstschilderung (C, 5)
handelt, wenngleich sein Held einige seiner Anschauungen zum Ausdruck bringt. Es ist
also nicht sein Ansinnen, seine politische Meinung darzulegen: „Je laisse délibérément au
second plan les questions politiques.“ (C, 7)
Wie Stefan Zweig bei seinem Drama Jeremias, gelingt es auch Rolland, durch die
allgemeine Gültigkeit seiner Botschaft einen Roman zu schreiben, der nicht an die Zeit
gebunden ist. Rolland bezeichnet in der Einleitung seines Romans das Versinken der
Einzelseele im Abgrund der Massenseele- “l’engloutissement de l’âme individuelle dans le
gouffre de l’âme multitudinaire“ (C, 7)- als eigentliches Thema des Buches. Hierdurch
erhält das Geschehen, trotz der Gebundenheit an das historische Ereignis des Ersten
Weltkrieges, eine Allgemeingültigkeit, die über eine bestimmte Epoche hinauswirkt.
4.1.1. Die lange Zeitspanne der Entstehung des Clerambault
Romain Rolland verfasst erst einmal nur ein Kapitel des Clerambault, das in einer Zeitung
erscheint. Am 23. Dezember 1917 schreibt Zweig in einem Brief an Rolland, dass er das
erste Kapitel des Werks Clerambault bereits übersetzt habe und es bald in der Neuen
Zürcher Zeitung erscheinen werde. Schon nach der Lektüre eines Kapitels ist er begeistert
und sieht ein Andenken ihrer Epoche darin:
59
Stellen Sie sich vor, wie ungeduldig ich bin, das ganze Werk kennenzulernen: ich denke mir einen Monsieur Bergeret [...] ein Mann, der mit seinem Herzen denkt, der den Mut zu leiden hat. Schon in diesem kleinen Kapitel erfühle ich, mit welcher Güte Sie die Figur umhüllen, und ich bin überzeugt, daß dieses Werk gleichsam ein Denkmal unserer Epoche sein wird, errichtet auf dem großen Postament des Jean- Christophe.235
Die Arbeit Rollands an Clerambault stagniert für einige Zeit und der Autor widmet sich
anderen Arbeiten. Es ist Stefan Zweig, der ihn in einem seiner Briefe drängt, weiter daran
zu arbeiten. Er setzt große Hoffnung in das Werk, welches den vom Kriege zerrütteten
Menschen Mut schenken soll.
Es wäre an der Zeit „L’un contre tous“ herauszubringen, innerlich mit dieser Vergangenheit abzuschließen. Immer waren Sie derjenige, der die Zukunft kraft seines Gewissens voraussagte. Niemals, nicht einmal während des Krieges, hatte die Jugend so großes Bedürfnis nach einem, der ihr den Weg weist. Man erwartet ihr Wort, man erwartet ihr Werk.236
Am 4. Jänner 1920 kann Rolland Zweig von der Wiederaufnahme der Arbeit an
Clerambault berichten.237 Am 3. März teilt er Zweig mit, dass er bereits bei der Durchsicht
des Werks sei, und dieses nahezu beendet habe.238 Knapp zwei Monate später, am 6. Mai
schreibt Rolland an Zweig, dass sich das für ihn bestimmte Manuskript von Clerambault
am Weg zu ihm befinde. Er merkt außerdem an: „Es präzisiert eine moralische
Entwicklung, die Sie im Übrigen kennen.“239 Man könnte dies als eine Anspielung auf
Zweigs Hang zum Nationalismus zu Beginn des Ersten Weltkrieges, und sein erst
allmähliches Eintreten für den Pazifismus auslegen.
Zweig ist nach der Durchsicht des Manuskripts wahrlich beflügelt und sendet Rolland
einen Brief voll des Lobes und der Bewunderung. Zweig sieht das Werk als Markierung
des Endes einer Epoche, in der „die Vernichtung des alten nationalen Ideals“240 geschieht.
Zweig ist von Rollands Güte und Verständnis für die Schwächen der Menschheit
beeindruckt:
235 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 281. 236 Ebenda. S. 480. 237 Vgl.: „Ich habe die Arbeit an „L’un contre tous“ wieder aufgenommen (der Titel wird sich noch ändern).“ Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 491. 238 Vgl.: „Ich bin bei der Durchsicht von L’Un contre tous“ und nahezu damit fertig;“ Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 519. 239 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 535. 240 Ebenda. S. 537.
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Und das ist für mich die tiefste Macht dieses Buches, daß es jedem Hoffnung läßt- nicht auf die verbesserte, schönere Welt, sondern auf sich. Es ist trostreicher als alle, die sie bisher gegeben haben. Es ist auf höherer Stufe: dort wo es keinen Zorn mehr gibt, keinen Wahn und keinen Haß. Es ist weise. Und weise durch Güte.241
Weiters ist er voll Anerkennung für Rollands Gelingen, ein Buch mit solch einer Botschaft
unter den erschwerten Bedingungen des Krieges zu schreiben: „Nur wir ahnen, was es
bedeutet, sich dieses Werk inmitten des Krieges zu entringen [...] so daß dieses Werk ganz
geläutert sein konnte von Ironie, von kleinem Ärger- ganz frei, ganz hoch, aus den
Himmeln der geklärten Seele niederschauend in unsere Qual.“242 Der letzte Satz Stefan
Zweigs Briefes drückt seine Ergriffenheit über den Roman wohl vollends aus: „Ich erfühle
das Buch, es ist in mir und schon ein Teil meines Seins, darüber zu sprechen, empfinde ich
eine gewisse Scham, als spräche ich von mir selber.“243
Romain Rolland selbst gibt sich in der Beurteilung des Werks weit kritischer. Er spricht in
einem Antwortschreiben an Zweig von einigen „Unvollkommenheiten“244, die der Roman
aufweise. So hofft er auf die Nachsichtigkeit der Leser, die bedenken sollen, in welch
schwierigen Zeiten er das Buch verfasst hat.245 Hier spielt Rolland auf die Kriegsjahre und
die damit verbundenen Hindernisse an. Die Anfeindungen seitens der eigenen Landsleute
und den Vertretern anderer Nationen, aber auch seine Tätigkeit beim Internationalen Roten
Kreuz in Genf, ließen Rolland nicht zur Ruhe kommen. Wiederholte Krankheitsfälle hatten
ihn ebenfalls geschwächt.
4.1.2. Exkurs: Rezeption des Clerambault
Im Gegensatz zu Rollands berühmten Werken, wie dem mehrbändigen Romanzyklus Jean-
Christophe, war Clerambault kein literarischer Erfolg. Weder in Frankreich noch im
Ausland. Gerhard Schewe246 sieht den Grund dafür vor allem in der Ablehnung des
241 Rolland,/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 537. 242 Ebenda. S. 537. 243 Ebenda. S. 539. 244 Vgl.: Ebenda. S.539. 245 „inmitten drückender Sorgen , vielfältiger Verpflichtungen, immer wieder von den Unruhen und Kämpfen des Tages unterbrochen- ganz zu schweigen von einer Passion, die während dieser Jahre einen Teil meiner Energie verschlungen hat;“Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 540. 246 Vgl. Nachwort zu Clerambault. Geschichte eines freien Gewissens im Kriege. S. 305 ff.
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Werkes sowohl im bürgerlichen, als auch im linkssozialistischen Lager. Im Falle der
bürgerlichen Kritik war dies keine Überraschung, da Rolland in seinem Werk das
kapitalistische Gesellschaftssystem anficht. Die Ablehnung durch die Sozialisten kam
unerwarteter. Laut Schewe handelt es sich vor allem um die Clarté- Gruppe, rund um Henri
Barbusse, eine Gemeinschaft linker französischer Intellektueller. In der gleichnamigen
Zeitschrift, Clarté, wurde das Werk Clerambault von Henri Barbusse stark kritisiert.247 Die
Kritik beinhaltete den „Vorwurf des Pazifismus, des Individualismus und- im
Zusammenhang damit- des richtungslosen Objektivismus, der sich vor allem in Rollands
unklarer Stellungnahme zur proletarischen Revolution sowie in seinem Skeptizismus in
bezug [sic!] auf die Zukunft der Menschheit äußerte.“248 In dieser Auseinandersetzung
ging es aber nicht nur primär um den Roman Clerambault, sondern vor allem um Rollands
grundsätzliche Einstellung zur Revolution. Der Roman wurde bezüglich seiner Position zur
Revolution betrachtet und der Inhalt mit der persönlichen und endgültigen Gesinnung
Rollands gleichgesetzt.249 Die Gruppe der Clarté vertrat die Einstellung einer radikalen
Aktion nach sowjetischem Vorbild, Rolland war im Wesentlichen mit den Zielen des
revolutionären Kampfes einverstanden, hatte jedoch mit der gewalttätigen Umsetzung und
der Anpassung des Einzelnen an den Kollektivwillen Probleme.250 Rolland schreibt
diesbezüglich in einem Brief an Stefan Zweig: „Diese jungen Fanatiker verzeihen es mir
nicht, daß ich meine geistige Unabhängigkeit im revolutionären Getümmel ebenso
bewahre, wie ich es in dem der Nationen getan habe.“251 Liest man den Roman hinsichtlich
jener Thematik durch, lassen sich wohl Stellen finden, die eine kritische Einstellung des
Autors zur Revolution vermuten lassen, wobei man hier nicht außer acht lassen darf, dass
die Ansicht des Autors nicht mit der im Werk transportierten Meinung gleichzusetzen ist:
Sa pensée aspirait au règne de la paix. Et très probablement, elle contribuerait, pour une part qui n’était pas infime, au déchaînement des luttes sociales. Comme tout vrai pacifisme,- si paradoxal que ce semble. Car il est une condamnation du présent. (C, 267)
247 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 607. 248 Nachwort zu Clerambault. Geschichte eines freien Gewissens im Kriege. S. 307. 249 Vgl. Ebenda. S. 308. 250 Ebenda. S. 307. 251 Rolland/ Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 607.
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Und an einer anderen Stelle heißt es: „Et ces autres, révoltes, qui discutent d’autres
violences, d’autres idoles assassines à opposer aux premières, de nouveaux dieux de
carnage, que l’homme se forge à lui-même pour tâcher d’ennoblir ses instincts
malfaisants!.“ (C, 297)
Man darf hier nicht außer Acht lassen, dass das Erscheinungsdatum des Clerambault in die
Zeit einer wichtigen Entwicklungsphase der sozialistischen Bewegung in Frankreich fiel.
Im Winter 1920 fiel der Entschluss zur Gründung einer kommunistischen Partei in
Frankreich. So mag es nicht allzu viel verwundern, dass der Roman in die Debatte
involviert wurde.252 Es sollte noch einige Jahre dauern, bis der Roman korrekterweise
losgelöst von jener Debatte über revolutionäre Veränderungen betrachtet wurde. Doch
auch von deutscher Seite wurde der Roman kritisiert und als „antideutsch“253 bezeichnet.
Romain Rolland sah den Anfeindungen relativ gelassen entgegen, war er diese doch schon
zur Genüge gewohnt: „Wichtig ist, daß das Werk sich verbreitet und von Herz zu Herzen
spricht. Es wird hie und da schon Menschen finden, an die es sich wendet.“254
4.1.3. Agénor Clerambaults stufenweise Entwicklung zum Pazifisten
Stufe um Stufe aus dem Irrtum und der Schwäche steigen wir mit einem Menschen zur Klarheit empor.255
Schon im Titel „Clerambault“ taucht der Name Agénor Clerambaults erstmals auf und
nimmt somit die Wichtigkeit seiner Figur für den Roman vorweg. Agénor Clerambault
fungiert als Zentralfigur der Geschichte. Es ist seine Geschichte, seine stufenweise
Entwicklung, welche mit dem Schicksal der Zeit verwoben wird. Bereits der Untertitel
„Histoire d’une conscience libre pendant la Guerre.“ gibt sowohl einen Ausblick auf die
Handlung des Werks als auch auf den Charakter der Hauptfigur. Bis die Beschreibung
„une conscience libre“ auf Agénor Clerambault zutrifft, bedarf es eines Reifeprozesses.
Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, wobei jeder Teil eine Entwicklungsstufe
Clerambaults darstellt.
252 Vgl. Nachwort zu Clerambault. Geschichte eines freien Gewissens im Kriege. S. 309. 253 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 597. 254 Ebenda. S. 583. 255 Stefan Zweig : Romain Rolland. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987. S. 321.
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Zu Beginn des Romans wird Clerambault als feinsinniger und idealistischer Dichter
dargestellt, der es schätzt, die Menge hinter sich zu wissen:
“[...] il était un pur bourgeois, d’idées généreuses et vagues. Plus encore que le peuple, il adorait la foule, il aimait à s’y baigner; il jouissait de se fondre (il le pensait du moins). “ (C, 18)
Au total, bon poète et bon homme, intelligent et un peu bêta, pur de coeur et faible de caractère, sensible à l’admiration comme au blâme et à toutes les suggestions de son milieu, incapable toutefois d’un sentiment mesquin d’envie ou de haine, incapable aussi de le prêter aux autres, et, dans la complexité des sentiments humains, restant myope pour le mal et presbyte pour le bien. C’est un typ d’écrivain qui est fait pour plaire au public, car il ne voit pas les défauts des hommes, et il dore leurs petites vertus. Même ceux qui n’en sont pas dupes, en sont reconnaissants; [...] (C, 21)
Am tagespolitischen Geschehen ist er wenig interessiert und so hält er einen Weltkrieg
zunächst für unmöglich: „Un bluff [...] La guerre était impossible: on l’avait démontré.
C’était un croquemitaine dont il restait à purger le cerveau des libres démocraties.“ (C, 23)
Als ihm sein Sohn Maxime vom Kriegszustand in Deutschland erzählt, versucht
Clerambault die Tatsachen zu ignorieren und sich auf die Schönheit seiner Umgebung zu
konzentrieren, in welcher er sich keinen Krieg vorstellen kann: „[...] la splendeur
merveilleuse de la nature entourant de ses bras affectueux, avec un beau sourire de pitié,
l’abjecte race humaine, prête à se dévorer.“ (C, 26) Auch wenn Clerambault die Tatsachen
verdrängen will, fühlt er eine Last auf seinen Schultern und ahnt, dass er sich dem Unheil
nicht entziehen kann. „L’ombre d’un malheur immense, tel le Destin antique, pesait sur la
maison.“ (C, 27) Er fällt in ein Loch, da der Krieg seiner idealistischen Lebenseinstellung
widerspricht.
Cette guerre inévitable entre les plus grands peuples du monde lui apparissait comme la faillite de la civilisation, la ruine des espoirs les plus saints en la fraternité humaine [...] Il sentait qu’il ne pourrait plus vivre, si sa foi dans la raison des hommes et leur amour mutuel était détruite, s’il lui fait fallait reconnaître que son Credo de vie et d’art était une erreur, que le mot de l’énigme du monde était le noir pessimisme. Et il était trop lâche, pour le regarder en face; il en détournait les yeux, avec effroi. Mais le monstre était là et lui soufflait au visage. (C, 28)
Clerambault ist in seinem Pessimismus gefangen. Er kann den Ausbruch des Krieges nicht
weiter ignorieren. Er weiß zunächst weder, wie er sich verhalten, noch wie er zu diesem
Ereignis stehen soll und durchwacht daher eine Nacht. In der Schlaflosigkeit gefangen,
überlegt er, wie er sich in Bezug auf das Kriegsgeschehen verhalten soll:
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Mais la vérité dévorante se tenait derrière la porte! ! qui s’ouvrait. Toute la nuit, Clerambault lutta, pour repousser la porte... Jusqu’à ce que, vers le matin, commença de poindre un instinct animal, venu on ne sait d’ où, qui faisait dévier le désespoir vers le sourd besoin de lui trouver une cause précise et limitée, d’objectiver le mal dans un homme, dans un groupe d’hommes, et de se décharger colériquement sur eux de la misère de l’univers... Ce ne fut encore qu’une brève apparition, - premiers effluves lointains d’une âme étrangère, obscure, énorme, impérieuse, prête à faire irruption,- de l’Âme multitudinaire. (C, 29)
Im weiteren Verlauf des Romans wird sich zeigen, dass einem Entwicklungsschritt
Clerambaults meist eine schlaflose Nacht vorangeht. Nach dem ersten Empfinden, einer
inneren Leere und Schwäche im Angesicht eines Krieges, empfindet er nun das Bedürfnis,
sich zu der Masse zu gesellen: „Clerambault n’eut plus qu’un désir: rejoindre le troupeau,
se frotter aux bêtes humaines, ses frères, sentir comme eux.“ (C, 30) In dieser Phase seiner
Entwicklung kann Clerambault sein eigentlich friedfertiges Naturell nicht verleugnen.
Unfähig, die Energie aufzubringen, um gegen den Krieg einzutreten- wie es seinem Wesen
eigentlich entsprechen würde, mischt er sich in die kriegseuphorische Masse. Bei all der
Begeisterung bleibt ihm der bittere Beigeschmack, nicht ganz bei sich zu bleiben:
Toute occasion lui fut bonne pour s’y plonger, pour descendre dans la rue, se joindre aux groupes, suivre les manifestations [...] Il revenait de là toujours plus dépersonnalisé, anesthésié pour ce qui se passait au fond de lui, déshabitué de sa propre conscience, étranger dans sa maison, - son moi. (C, 34)
Es wird eindringlich beschrieben, wie Clerambault gegen sein eigentliches Empfinden
ankämpft und krampfhaft versucht, sich der vermeintlichen Meinung der Masse
anzupassen und sich für den Krieg zu begeistern:
Clerambault s’exaltait. Il ne l’était pas encore à fond: mais il s’appliquait consciencieusement à l’être. Il lui restait pourtant assez de lucidité pour s’effarer parfois de ses progrès. (C, 26)
Clerambaults Bemühungen fruchten, die anfängliche Kriegseuphorie in den Straßen steckt
ihn an. Seine primären Zweifel lösen sich kontinuierlich auf: „Il n’était pas fier [...] Il se
méfiait [...] Clerambault, éloigné de la foule, en avait pris la contagion; et le mal
s’annonçait par les prodromes habitiels. Cet homme affectueux et tendre haïssait, haïssait
par amour. “ (C, 38) Clerambaults Entwicklung geht weiter, er baut sich ein geistiges
Gerüst, welches versucht den Krieg zu rechtfertigen: „Clerambault commençait à se
fabriquer une thèse, un idéal- absurdes- où s’accordaient les contradictoires: la guerre
contre la guerre, la guerre pour la paix, pour la paix éternelle.“ (C, 38) Letztendlich kann
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Clerambault seine Zweifel so weit reduzieren, dass er von einem richtiggehenden
Enthusiasmus mitgerissen wird: „[...] son enthousiasme patriothique grossissait et noyait
dans une ivresse salutaire ses derniers tourments d’esprit.“ (C, 42) Der ehemals ruhige,
feinsinnige und gemäßigte Dichter steigert sich in seine neue Rolle hinein und beginnt
dadurch Leidenschaften zu entwickeln, die er vormals nicht kannte. Seine Entwicklung
zum Kriegsbefürworter und Kriegsbegeisterten scheint abgeschlossen, als es heißt: „En
effet, il ne lui manquait plus rien pour ressembler à la bassesse des autres.“ (C, 58) Doch
sind es wieder die ruhigen Nächte, die seine Zweifel zwischendurch wieder aufkeimen
lassen und ihn die Diskrepanz zwischen seiner früheren Einstellung und seinem
gegenwärtigen Verhalten fühlen lassen. (Vgl.: C, 60)
Rolland bezeichnet in der Einleitung seines Romans „l’engloutissement de l’âme
individuelle dans le gouffre de l’âme multitudinaire.“ (C, 7) als eigentliches Thema des
Buches. Hierdurch erhält das Geschehen, trotz der Gebundenheit an das historische
Ereignis des Ersten Weltkrieges, eine Allgemeingültigkeit, die über eine bestimmte Epoche
hinauswirkt.
In jener Phase der Kriegsbegeisterung findet zwischen Clerambault und seinem Schwager
Leo Camus eine Annäherung statt. Camus repräsentiert im Roman den Typus des
unbekehrbaren Kriegsbefürworters. Der Krieg beruhigt den ewig pessimistischen und
gehässigen Mann. Er ist voller Ehrfurcht vor der sozialen Dynamik und dem
Zusammengehörigkeitsgefühl, das während der ersten Kriegszeit entsteht. Das Gefühl der
Brüderlichkeit ist neu für ihn und er beneidet die Soldaten an der Front, um ihre Aufgabe,
dem Ganzen zu dienen. Rolland thematisiert hier das Phänomen, dass einsame und
egoistische Menschen im Krieg erstmals ein Zusammengehörigkeitsgefühl verspüren:
Le groupement de la horde en armes contre l’étranger est une déchéance pour les rares esprits libres embrassant l’univers; mais il grandit la foule de ceux qui végètent dans l’impuissance d’un egoisme anarchique; il les porte à l’étage supérieur de l’égoisme organisé. Camus s’évailla soudain, avec le sentiment que, pour la première fois, il n’était plus seul au monde. (C, 54)
Im Falle von Leo Camus heißt es deshalb: „La paix lui est donc ennemie. Ennemis, ceux
qui la veulent!“ (C, 56) Am Anfang des Krieges findet zwischen Camus und Clerambault
ein reger Gedankenaustausch statt. Als sich Clerambault in weiterer Folge jedoch vom
Krieg distanziert, zerbricht die Freundschaft.
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Clerambaults Sohn Maxime, der von Anfang an mit Begeisterung auf den Krieg reagiert,
ist als Soldat an der Front stationiert und schreibt seinen Eltern leidenschaftliche und
heroisch gefärbte Briefe. Die Nachrichten sind ein Trost für die Eltern, die ihren Sohn
gehen ließen, damit er für Frankreich eintritt. Zudem nehmen sie Maximes Veränderung
vom weichlichen Burschen zum tapferen, vitalen Helden mit Wohlwollen und elterlichem
Stolz auf. Als sich Maxime im Heimaturlaub befindet, überschütten sie ihn mit Fragen und
Gefälligkeiten. Als Maxime bald nach seiner Rückkehr an die Front als vermisst registriert
wird, beginnt eine stufenweise Veränderung von Clerambaults Verhalten. Die anfänglichen
Zweifel am Sinn des Krieges beginnen wieder größer zu werden. Es wird ihm bewusst,
dass er sich nicht bloß entgegen seiner ureigenen Gesinnung verhalten hat, sondern auch
im Bezug auf das Wohlergehen seines Sohnes das Wesentliche aus den Augen verloren
hat: „Moi aussi, j’ai tout donné, - même ce qui ne m’appartenait point.“ (C, 75)
Clerambault unternimmt freilich alles, um Maxime zu finden. Er geht allen Hinweisen
nach, erkundigt sich beim Roten Kreuz in Genf und befragt Kameraden seines Sohnes.
Während er sich fieberhaft auf die Suche macht, vergeht seine Frau im Hass gegen den
Feind, dem ihrer Ansicht nach einzig Schuldigen am Tod ihres Sohnes: „Elle criait
vengeance. Pour la première fois, Clerambault n’y répondit pas. Il ne lui restait plus assez
de force pour haïr,- juste assez pour souffrir.“ (C, 76) Als Clerambault von seiner Suche
nach Hause zurückkehrt und sich zum ersten Mal auf seine Gedanken besinnt, wird er sich
plötzlich mit schmerzhafter Klarheit bewusst, dass Maxime mit Sicherheit tot ist. In der
ersten Phase seiner Trauer versucht er, sich an den Gedanken zu klammern, dass dies alles
für etwas Großes geschehen sei und Maximes Tod somit etwas Notwendiges und
Sinnvolles an sich hat. Doch je länger er darüber nachsinnt, desto weniger glaubt er daran.
Es wird ihm langsam bewusst, dass er sich in eine Begeisterung für eine Sache
hineingesteigert hat, die ihm eigentlich nicht entspricht: “[...] cette découverte du
mensonge intérieur l’écrasa.“ (C, 78) Clerambaults Tochter Rosine engagiert sich bei
Hilfsaktionen, bei denen sie sich um verwundete feindliche Soldaten kümmert. Nach
Maximes Tod zeigt die Mutter beim Abendessen ihren Unmut über Rosines Tätigkeit. Als
sie bei ihrem Gatten auf Rückenstärkung hofft, tritt dieser unerwartet für seine Tochter ein.
„Rosine rougit de saisissement (elle ne s’y attendait pas). Elle leva vers lui ses yeux qui le
remerciaient; leur regard semblait dire: - Enfin! Je t’ai retrouvé!“ (C, 84) Vor allem nach
Maximes Tod bedeutet dieser Moment der zurückgewonnenen Vertrautheit mit seiner
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Tochter sehr viel für Clerambault. „Le regard de sa fille avait détendu son coeur, raidi de
douleur: c’était son âme perdue, depuis des mois étouffée, la même qu’avant la guerre,
qu’il avait retrouvée: et elle le regardait...“ (C, 84) Es ist auch Rosine, vor der Clerambault
als erstes zugibt, dass er in der vergangenen Kriegszeit wie im Wahn gehandelt hatte.
Durch den Augenblick der Vertrautheit beim Abendessen bestärkt, sucht er sie in ihrem
Zimmer auf und die beiden versichern sich ihrer gegenseitigen Zuneigung. Diese innige
Begegnung mit Rosine bestärkt Clerambault in der Annahme, dass sie sich wegen seiner
Kriegseuphorie, die er inzwischen als Wahn bezeichnet, von ihm entfernt hat. Als Folge
dieser Bestärkung ist er bereit, zu sich selbst zurückzukehren und den kriegsbegeisterten
Hitzkopf, zu dem er geworden war, zurückzulassen. Er begibt sich hierfür in sein Zimmer
und beginnt in sich gekehrt, über das Vergangene nachzudenken, um sich seines wahren
Selbst wieder bewusst zu werden. Am Ende des schmerzhaften Prozesses heißt es: „Quand
il eût tout arraché, il ne lui restait plus que son âme nue [...] Vaste silence inusité. Bien-
être courbaturé du devoir accompli....“ (C, 91 f.) Mit Clerambaults Erwachen aus dem
Kriegstaumel endet der erste Teil des Romans.
Zu Beginn des zweiten Teils liest man: „Après huit jours, Clerambault recommença de
sortir. La terrible crise qu’il venait de traverser le laissait brisé, mais résolu.“ (C, 95) Er
sieht sein vergangenes Handeln und seinen Irrtum nun ganz klar: „il se disait pacifiste, en
célébrant la guerre; il se disait humanitaire, en mettant au préalable l’ennemi en dehors de
l’humanité...“ (C, 97) In diesem zweiten Teil des Buches folgt nach Clerambaults
Erkenntnis eine erste Orientierungsphase. Stefan Zweig sieht hierin den Beginn der
eigentlichen Tragödie und des Kampfes Clerambaults, nämlich „das Ringen eines
Menschen um seine eigene, ihm persönlich zugehörige Wahrheit.“256 Worin er wohl auch
sein eigenes Ringen in den ersten Jahren des Krieges wiederzufinden vermag.
Clerambault sucht nach einem Weg, seiner neuen Einstellung Worte zu verleihen, sich zu
artikulieren. In jener Phase des Suchens sieht er sich nach Gleichgesinnten um. Es kommt
ihm ein gewisser Alexandre Mignon in den Sinn. Dieser wird als „pacifiste d’avant-
guerre.“ (C, 118) und Intellektueller bezeichnet. „[...] il était de la Ligue des Droits de
l’Homme et avait la démangeaison de parler, pour l’un, pour l’autre, au petit malheur! Il lui
suffisait que son client se nommât opprimé. Il ne se demandait pas si le dit opprimé n’était 256 Zweig : Romain Rolland. S. 325.
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pas, d’aventure, un oppresseur manqué.“ (C, 118) Das gelingt ihm aber nur, wenn er sich
von seiner Gruppe gedeckt fühlt. Diese Gruppe verliert zu Kriegsbeginn ihre geistige
Homogenität. Die Kameraden Mignons, „les pauvres pacifistes.“ (C, 119), sehen im Krieg
eine Gelegenheit, ihre Friedensideen umzusetzen. Auch wenn dies mit Gewalt zu
geschehen hat. Mignon hat alleine nicht die Kraft sich entgegenzusetzen. „Il souffrait. Il
passa par des angoisses assez proches de celles de Clerambault. Mais il n’en sortit pas de
même.“ (C, 119) So sucht er nach vernünftigen Gründen für die Unausweichlichkeit eines
Krieges, wenn man sich einem zielbewussten Pazifismus verschrieben hat. „A mesure qu’il
s’emmaillotait dans sa logique de guerre, il lui devenait plus difficile de s’en dépêtrer
[...] L’effet fut surprenant. Mignon, déjà troublé, s’indigna contre Clerambault.“ (C, 121)
Somit findet Clerambault in Mignon keinen Weggefährten mit derselben geistigen
Gesinnung, sondern einen gehässigen Feind. Perrotin, ein weiterer Freund Clerambaults
drückt sich in Bezug auf den Krieg immer sehr wage aus. Er will es im Prinzip allen recht
machen, ist nicht dafür und nicht dagegen. Nach Clerambaults Erkennen seines Irrtums,
den Kriegsbegeisterten gemimt zu haben, sucht er abermals Perrotin auf. Dieser meint er
sei froh, dass Clerambault sein Gefühlsirrtum nun erkannt habe. Auf dessen Selbstanklage,
reagiert er jedoch ausweichend. Er spricht der Meinung eines Einzelnen die Bedeutung ab:
„Les uns parlent, les autres agissent; mais ce ne sont pas ceux qui parlent qui font agir les
autres: ils s’en vont tous à la dérive.“ (C, 97) Während Clerambaults Besuch kommt der
Unterstaatssekretär und fragt Perrotin, ob er das Präsidium einer Sitzung kriegsbegeisterter
Intellektueller von zehn Nationen an der Sorbonne übernehmen möchte. Perrotin sagt
geehrt zu, was freilich völlig im Gegensatz zu seiner zuvor geäußerten Meinung steht.
Clerambault ist enttäuscht, dass Perrotin in der Öffentlichkeit nicht zu seiner Meinung
steht: „Clerambault le quitta, sans brouille, mais avec une grande pitié.“ (C, 102)
Als sich Clerambault mit seiner Antikriegshaltung allzu einsam fühlt, stellt er sich die
Frage, ob sein Engagement im Kampf gegen die Kriegsbegeisterung, sein Versuch der
Ernüchterung der Massen, für die Gesellschaft von nützen sei, oder ob er mit seinen
Aktionen mehr Schaden anrichte und nur sein Gewissen beruhigen möchte. Er erkennt das
Dilemma der Menschen, da er es selbst durchlebt hat. Das Problem, welches er in seinem
Versuch der Desillusionierung sieht ist, dass man den Menschen weh tut, indem man ihren
Glauben verletzt. Die Zerstörung ihres Hasses bringt sie um ihr Schutzschild und um den
Sinn ihres Tuns. „Vouloir arracher leur illusion à ceux qui meurent pour elle, c’est vouloir
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les faire mourir deux fois.“ (C, 131) Clerambault fühlt die ganze Last der Menschheit in
diesem Krieg auf seinen Schultern. Er empfindet eine immense Verantwortung und kann
es vor sich selbst nicht verantworten, zu den Geschehnissen zu schweigen.
Perrotin hat hierzu eine ganz andere Einstellung, er sieht die Lage der Menschheit weniger
pessimistisch als Clerambault:
Votre coeur généreux, votre sensibilité d’artiste vous abusent, heureusement, mon ami. Le monde n’est pas près de finir. Il en a vu bien d’autres. Ce qui se passe aujourd’hui est certes fort pénible, mais anormal, non pas. La guerre n’a jamais empêché la terre de tourner, ni la vie d’évolution. (C, 132)
Er erklärt auch ganz nüchtern, dass Gewalt eben Teil des Prozesses der Weiterentwicklung
der Menschheit sei und man sie deshalb nicht per se ablehnen könne. Clerambault sieht es
als Pflicht der Künstler und Intellektuellen, sich gegen den Krieg aufzulehnen, auch wenn
viele der Meinung seien, ein einzelner könne nichts bewirken: „[...] je sais bien le peu que
je suis, je sais bien le peu que je puis, l’inanité de mes voeux et de mes protestation.“ (C,
135) „[...] j’ai souvent pensé: nous ne faisons pas notre devoir. Nous tous, hommes de
pensée, artistes...“ (C, 135) Clerambault fühlt seine Verantwortung, ist zu diesem
Zeitpunkt aber noch nicht selbstbewusst genug, aktiv etwas zu unternehmen. Am Ende des
zweiten Teils steht jedoch die klare Erkenntnis Clerambaults, dass es seine Pflicht ist,
etwas gegen den Krieg zu unternehmen, auch wenn er das Gefühl hat, alleine da zu stehen:
„Il était résolu. Le silence du peuple, sur son lit d’agonie, le décidait à parler.“ (C, 149)
Der dritte Teil des Buches steht nun im Zeichen des aktiven Engagements Clerambaults. Er
hat sein inneres Chaos geordnet und ist sich bewusst, wie er zum Krieg steht und wie er
sich zu verhalten hat, um sich selbst treu zu bleiben. Dafür tritt Clerambault aus seiner
Privatheit in die Öffentlichkeit. Stefan Zweig sieht in jenem Schritt eine Notwendigkeit,
denn „Jede Erkenntnis bleibt wertlos, solange sie nicht in Bekenntnis verwandelt wird
[...]257.
Clerambault verfasst seine erste Schrift, die den Verlust des Sohnes im Krieg thematisiert
und den Krieg als großes Verbrechen darstellt. Als er diese bei einem kleinen Verlag
abgibt, fühlt er eine große Erleichterung, endlich gesprochen, seine Pflicht erledigt zu
haben. Doch schon bald folgt dem Artikel ein weiterer. Nach einiger Zeit ohne Resonanz 257 Zweig : Romain Rolland. S. 325.
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antwortet ein Schriftstellerkollege Clerambaults mit einer vernichtenden Antwort. „Und in
dem Augenblick, da er beginnt den Menschen helfen zu wollen, beginnt auch sein Kampf
mit den Menschen. Nun wird er plötzlich „L’un contre tous“, der Eine gegen Alle, aus den
brüchigen, unsichern Menschen erwächst der Charakter, der heroische Mensch.“258
Clerambault erscheint plötzlich in einem ganz anderen Licht, er tritt an die Öffentlichkeit
und steht für seine Meinung ein. Seine Frau missbilligt das offensive Verhalten. Sie
fürchtet einen Skandal für die Familie und sieht das Andenken an Maximes Tod dadurch
geschädigt. Clerambault ist richtiggehend getrieben. Wie ein Prophet ist er mit der
Meinung seiner Verkündungen alleine, er wird in der Öffentlichkeit verbal angegriffen und
fährt dennoch fort, seine kriegskritischen Artikel zu veröffentlichen:
Clerambault sieht es als Mission an, mit seiner Antikriegshaltung an die Öffentlichkeit zu
gehen. Er macht sich dadurch viele Feinde und seine Artikel werden durch die Eingriffe
der Zensur zum Teil bis zur Unkenntlichkeit des Sinns bearbeitet. Die neue Art des
Schreibens und seines Auftretens beflügeln seinen Charakter: „Le sens du ridicule
universel venait tonifier Clerambault. Son caractère prenait soudain une complexité
vivante, à peine s’était- il dégagé des conventions où il était enroulé.“ (C, 210)
Il était comme re-né, depuis la nuit d’angoisse. Il apprit à goûter une espèce de joie, dont il n’avait pas idée, - la joie vertigineuse et détachée de l’homme libre dans le combat: tous ses sens ajustés, comme un arc bien tendu, et jouissant de ce parfait bient- être. (C, 210)
Der dritte Teil endet mit einer Passage, in der Clerambaults neue offensive Haltung
thematisiert wird. Er wird als einsamer Kämpfer bezeichnet, der es sich zum Ziel gemacht
hat, die Illusion eines gerechten Krieges zu zerstören: „L’un contre tous.- Oui, l’ennemi
commun, le destructeur des illusions qui font vivre...“ (C, 210) Auch wenn sich
Clerambault inzwischen durchgerungen hat, entgegen seinem zurückhaltenden Naturell,
aktiv und öffentlich gegen den Krieg einzutreten, kann er seine innere Zerrissenheit nicht
ganz ignorieren. Diese Zerrissenheit wird aufgezeigt, indem immer wieder Wortwechsel
zwischen Clerambaults „beiden Seelen“ stattfinden. So zweifelt beispielsweise ein Teil
von ihm an der Richtigkeit seines Engagements, da er bei den Menschen, die an den Krieg
glauben womöglich Leiden verursacht, der andere Teil ruft ihn zum Durchhalten auf und
ist trotzig davon überzeugt, die Oberhand zu behalten: „Je passerai quand même.“ (C, 236) 258 Zweig : Romain Rolland. S. 325.
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Hier wird abermals erkenntlich, dass Rolland seinen Lesern mit Clerambault keinen
durchwegs gefestigten Charakter vorlegt, es handelt sich vielmehr um einen mediokren
Held, der eine Entwicklung durchmacht und Zweifeln unterworfen ist. Stefan Zweig macht
im mittelmäßigen Charakter Clerambaults sogar die wahre moralische Größe des Buches
aus: „[...] die Tröstung, daß es jedem, auch dem einfachsten Menschen, nicht bloß dem
Genius, gestattet sei, stärker zu sein als die Welt wider ihn, wenn er seinen Willen aufrecht
hält, frei zu sein gegen alle und wahr gegen sich selbst.“259 So ist der dritte Teil des Buches
zwar vom Entschluss Clerambaults geprägt, aktiv gegen die Kriegslüge zu kämpfen,
jedoch ist seine Verzweiflung allgegenwärtig, den Leuten zwar die Sinnlosigkeit des
Krieges aufzuzeigen, ohne jedoch einen positiven Gegenentwurf, beziehungsweise einen
bejahenden Blick in die Zukunft anbieten zu können. Dies soll sich im vierten Teil des
Buches verändern.
Zu Beginn des vierten Teils befindet sich Clerambault in einer Krise und ist kurz davor,
seinen geistigen Kampf aufzugeben:
Clerambault traversa une nouvelle zone de dangers. Son voyage dans la solitude était pareil une ascension de montagne, où l’on se trouve subitement enveloppé de brouillards, agrippé au rocher, sans pouvoir avancer. Il ne voyait plus devant lui. De quelque côté qu’il se tournât, il entendait bruire, au fond, le torrent de la souffrance. Et cependant il ne pouvait rester immobile. Il surplombait l’abîme, et l’appui menaçait de céder. (C, 239)
Durch den Besuch des jungen Kriegsinvaliden Julien Moreau verändert sich etwas in
Clerambaults Denken. Julien sucht Clerambault auf, um diesem für seine Schriften zu
danken, die ihm und seinen Kameraden an der Front gezeigt haben, dass doch nicht alle
Zuhausegebliebenen der heroischen Kriegspropaganda Glauben schenken. Das Schicksal
Moreaus und seiner Generation der jungen Heimkehrer geht Clerambault sehr nahe. Er
spürt Moreaus Verlangen nach Hoffnung und schenkt ihm ein paar positive und
aufmunternde Worte. So sagt er ihm , dass sein Leiden nicht ohne Sinn war und er nach
vorne blicken muss. Nun geschieht mit Clerambault etwas Interessantes. Durch den
Versuch Julien, der noch verzweifelter und haltloser als er zu sein scheint, zu stärken,
schöpft er selbst neue Kraft:
259 Zweig : Romain Rolland. S. 327.
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Cette sécurité de l’âme, cette harmonie intérieure, que les yeux de Julien Moreau cherchaient dans les yeux de Clerambault, Clerambault, tourmenté. Ne la possédait- il point?...- Or, regardant Julien, en souriant humblement, comme pour s’excuser, il vit... il vit que Julien l’avait trouvé en lui... Et voici que, de même qu’en montant au milieu du brouillard on est soudain dans la lumière, il vit que la lumière était en lui. Elle était venue à lui, parce qu’il lui fallait en éclairer un autre. (C, 253)
Diese Veränderung in Clerambaults Denken stellt einen Wendepunkt im Roman dar.
Endlich hat er einen Ausweg aus dem Gewissenskonflikt gefunden, entweder untätig zu
sein, oder den Menschen Leid zuzufügen indem er ihre Illusionen zerstört. Durch den
Blick nach vorne soll es gelingen, einen positiven Gegenentwurf zur Kriegsverherrlichung
zu schaffen. Clerambault gelingt es aus seinem pessimistischen Denken auszubrechen und
eine Hinwendung zur Zukunft zu vollziehen. „À partir de ce jour, il détourna les yeux du
fait irréparable de la guerre et des morts, pour se tourner vers les vivants et vers l’avenir
qui est dans nos mains.“ (C, 255) Zeitgleich tut sich ein Weg aus Clerambaults Einsamkeit
auf. Eine Gruppe junger Leute rund um Julien Moreau nimmt ihn in ihre Kreise auf.
Clerambault empfindet es als Bereicherung, nicht mehr alleine seinen Widerstand zu
leisten. Ganz nach seiner Überzeugung handeln die Jungen jedoch nicht. Sie sind gierig
danach mit der Vergangenheit zu brechen und nach vorne zu blicken. Ihr Credo lautet
jedoch „Sans retard. Point de milieu! Des solutions nettes. Ou la servitude consentie au
passé, ou la Révolution!“ (C, 260) Clerambault ist da gemäßigter und weitsichtiger. Die
Gruppe nimmt ihn mit solcher Zuneigung und Überschwang auf und will ihn ganz zu
einem Ihrigen machen. Ehe es sich Clerambault versieht, werden seine Gedanken
angepasst und an die Idee einer Revolution gekoppelt: „Personne, dans ce milieu,- au
moins les premiers temps,- ne songeait à contraindre Clerambault. Mais sa pensée se
trouvait quelquefois étrangement costumée, à la mode de ses hôtes.“ (C, 265)
Im Roman heißt es: „Bien peu aimaient la vie plus que l’idée.“ (C, 267) Dieser Meinung ist
Clerambault keineswegs. Doch auch in der Gruppe gibt es unterschiedliche Auffassungen.
So wird in einem Wortwechsel zwischen Clerambault und einem Mitglied der Gruppe,
ironisch aufgezeigt, dass es sich um eine Generation Suchender handelt. Sie wollen einen
Umbruch, einen Ausweg aus der gegenwärtigen Lage. Die Revolution ist bloß eine
mögliche Idee dies zu verwirklichen.
Nach der Erkenntnis, dass die Gruppe aus einer anderen Überzeugung heraus handelt und
diese mit seinem Denken nicht übereinstimmt, wendet sich Clerambault ab.
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Im fünften und letzten Teil des Romans wird Clerambault wieder ein Einsamer genannt.
Jedoch ein Einsamer, der in sich ruht und mit seiner Einsamkeit zufrieden scheint. „Une
fois encore, il se retrouva dans la solitude. Mais elle lui apparut, cette fois, comme il ne
l’avait jamais vue, belle et calme, avec un visage de bonté, des yeux affectueux., et de très
douces mains qui posaient sur son front leur fraîcheur apaisante“(C, 302) Vielleicht hat
Clerambault das Erkennen der Diskrepanz zwischen ihm und der revolutionären Gruppe
geholfen, sich seiner Einstellung sicherer zu werden. Von der Richtigkeit seines Handelns
überzeugt, kann ihm die Einsamkeit weniger anhaben. Zudem ist sich Clerambault nun
sicher, dass er auserwählt wurde jenen einsamen Kampf zu führen: „Et il sut que, cette
fois, la divine compagne l’avait élu.“ (C, 301) Wie auch schon in den Romanteilen zuvor
steht am Anfang des Teils eine Neuerung im Denken der Hauptfigur. Neben der
Abwendung von der Gruppe junger Revolutionärer und der Zufriedenheit in der
Einsamkeit, wird auch Clerambaults Pazifismus neu definiert: „non plus avec sa pensée de
pacifiste, de tolstoyen, ce qui est un autre folie,- mais avec la pensée de chacun, et en se
muant en lui.“ (C, 304) Während ihn anfangs die Anfeindungen der Presse und der
Öffentlichkeit getroffen haben, steht er nun über den Dingen: „Et on le haïssait.
Clerambault ne leur en voulait plus. Il les eût presque aidés à replâtrer leur illusion.“ (C,
305) Der Hass der Menge und ihr Wille einen Schuldigen für all das, nun auch in der
Heimat sichtbar werdende, Elend des Krieges zu finden wird immer größer und richtet sich
im allgemeinen gegen alle Kriegsgegner und im Speziellen gegen Clerambault: „Tous ceux
qui avaient prévu, dénoncé leur échec et tâché de le prévenir, ils le leur attribuèrent.
Chaque recul d’armée, chaque bévue de diplomates se découvrit une excuse dans les
machinations des pacifistes.“ (C, 308) So ist es ein gefundenes Fressen, als Clerambaults
Name in Verbindung mit einem, wegen schmutzigen Geldangelegenheiten und
pazifistischer Tätigkeit angeklagten Journalisten gebracht wird. Clerambault wird ebenfalls
wegen des Vergehens der pazifistischen Propaganda angeklagt. „Ils exultaient!- Enfin! On
le tenait donc! Tout s’expliquait maintenant. Car, n’est-ce pas? Pour qu’un homme pense
autrement que tout le monde, il faut qu’il y ait là-dessous quelque vilain mobile; cherchez,
et vous trouverez.... On avait trouvé.“ (C, 312) Einen wesentlichen Einschnitt für
Clerambault stellt auch die Bekanntschaft mit Edme Froment dar. Der junge Mann ist seit
einer Kriegsverwundung vom Hals abwärts gelähmt, hat aber trotz seines Schicksals den
Lebensmut nicht verloren. Er ist der Mittelpunkt einer Gruppe junger Männer, die einen
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positiven Pazifismus vertreten, der vom Radikalismus der jungen Revolutionäre weit
entfernt ist. Obwohl Froment von den Kriegsinvaliden den schwersten körperlichen
Schaden davongetragen hat, ist er es, welcher der ganzen Gruppe Zusammenhalt gibt. Er
wird von seiner Mutter liebevoll umsorgt, die auch bei den Treffen der Männer meist
anwesend ist. Froments Erziehung durch seine Mutter und seinen früh verstorbenen,
jedoch sehr präsenten Vater, wird als weitsichtig, liebevoll und gütig beschrieben. Der
Einfluss seiner Eltern hat auch Froment zu einem klugen, friedvollen und weitsichtigen
jungen Mann gemacht. Sein Vater stand in engem Kontakt mit der pazifistischen
Bewegung in Wien und hatte den Krieg schon lange vorausgesehen. Froments Mutter wird
ebenso als kluge, bemerkenswerte und vorausschauende Frau charakterisiert. Sie war es
auch, welche die Artikel Clerambaults in Kreisen verbreitete, die sie dafür empfänglich
hielt. Clerambault hat also endlich gleichgesinnte Menschen gefunden, deren Einstellungen
den seinen entsprechen. Gleichzeitig werden die Anfeindungen gegen ihn immer wüster
und seine Gegner scheuen nicht einmal vor körperlicher Gewalt zurück. Als er eines
abends mit Kot beschmiert und verprügelt nach Hause kommt, sind sich zumindest seine
Angehörigen sicher, dass Clerambault in Gefahr ist. Sie möchten ihn dazu bringen, in den
kommenden Tagen nicht auszugehen. Ein nationales Blatt treibt die Hetze gegen
Clerambault voran und fordert seine Gegner auf, ihn in die Schranken zu weisen. Er selbst
trägt es mit Fassung und beruhigt die Besorgten. Clerambault hat für den folgenden Tag
eine Vorladung erhalten, in den Justizpalast zu kommen. Seine Freunde wollen ihm
zumindest Geleitschutz geben. Alles deutet auf den sich anbahnenden Höhepunkt hin.
Auch wenn Clerambault Ehefrau und Freunde beruhigt und die vorangegangenen Angriffe
herunterspielt, lässt sein Verhalten am Vorabend der Verhandlung darauf schließen, dass er
mit Angriffen auf seine Person rechnet. Bevor er zu Bett geht, erscheint ihm Maxime. In
einer kurzen Zwiesprache wird dieser als richtungweisende Figur in Clerambaults
Wandlung bezeichnet:
Cette fois, tu es content? Pensait-il. C’est bien ce que tu voulais? Et Maxime disait: - Oui. Il ajoutait avec malice: - Ce n’a pas été sans peine que je t’ai formé, papa. – Oui, disait Clerambault, nous avions bien des choses à apprendre de nos fils. Ils se regardaient en silence, et ils se souriaient.“ (C, 360)
Zum letzten Mal im Roman legt sich Clerambault in sein Bett und erwartet einen Morgen,
der wieder Veränderung in sein Leben bringen wird. Trotz des bevorstehenden Tages, ist er
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glücklich: „Il était heureux. Son corps et son esprit lui semblaient allégés; ses membres,
détendus ainsi que ses pensées, se laissaient porter, flottaient...“ (C, 361) Seine Gedanken
springen ruhelos und gleichsam kristallklar umher. Clerambault reflektiert seinen
vergangenen Lebensweg und die Mühen der letzten Zeit: „Il n’avait pas cessé d’errer dans
la forêt des doutes et des contradictions, meurtri, saignant, n’ayant pour s’orienter que les
étoiles entrevues [...].“ (C, 362) So klar wie nie zuvor erkennt er den Grund für sein
Getriebensein: „Quel sens avait cette longue course tumulteuse, qui se brisait dans la nuit?-
Un seul. Il avait été libre...“ (C, 362) Clerambault sieht jedoch auch das Unfreie in diesem
Antrieb, „cette nécessité d’être libre.“ (C, 262) und den Hass, den er sich als Staatsfeind
„L’Un contre tous.“ (C, 263) eingehandelt hat. Als er im Bett liegt, ahnt er seinen Tod
voraus:
Mais quand vous me tueriez, la lueur qui est en moi et que vous avez vue, il ne dépend plus de vous de ne plus l’avoir vue, ni, l’ayant vue une fois de renoncer à l’avoir[...] L’Un contre tous est l’Un pour tous. Et il sera bientôt l’Un avec tous... Je ne resterai pas seul. Je ne l’ai jamais été. A vous, frères du monde! Si loin que vous soyez, répandus sur la terre comme une volée de grain, vous êtes tous ici, à mes côté: je le sais. (C, 365)
So ist Clerambault letztendlich zuversichtlich, dass sein Tun, und damit das Engagement
eines vermeintlich Einzelnen, viel bewirken kann. Ruft man sich das vorangegangene
Zweifeln und die Verzweiflung Clerambaults zu Beginn des Romans in Erinnerung so
kann man seine Wandlung und Entwicklung als positiv und abgeschlossen ansehen.
Clerambault hat es geschafft, sein inneres Gleichgewicht zu finden, indem er im Sinne
seiner tiefsten Einstellung gehandelt hat. Am nächsten Morgen ist Clerambaults Sicht der
Dinge immer noch in vollem Maße klar. Als er sich mit seinen Kameraden auf den Weg zu
seiner Verhandlung macht, sprechen sie über ein mögliches Ende des Krieges in naher
Zukunft. Clerambault zeichnet ein mutmaßliches Bild des Landes nach einem
Waffenstillstand und trifft damit die Verlogenheit und Feigheit der Masse punktgenau:
[...] les innombrables coeurs en deuil; tendus pendant des années dans la dure pensée d’une victoire qui donne à leur misère un sens, un faux semblant de sens, maintenant, ils vont pouvoir se détendre, ou se briser, dormir, mourir enfin! [...] Les pacifistes d’avant-guerre se retrouveront au poste, tous sortis de leurs trous; ils s’étaleront en démonstrations émouvantes. (C, 369)
Clerambault wird am Weg zur Verhandlung plötzlich von einem Schuss niedergestreckt.
Der Schütze ist ein Mann, etwa in Clerambaults Alter, der ebenfalls seinen Sohn im Krieg
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verloren hat und zur Verarbeitung des Todes den Weg des Hasses gewählt hat. Um mit
dem Verlust fertig zu werden, hat er sich dem Hass gegen den Feind verschrieben.
Clerambaults Pazifismus hat sein errichtetes Feindbild angekratzt und somit seine
Einstellung in Frage gestellt. Seine Konsequenz daraus ist es, Clerambault ruhig zu stellen,
ihn zu töten. Es handelt sich um keine Tat aus Affekt, der Mörder hat seine Tat geplant und
empfindet keinerlei Reue. Die schaulustige Menge, die sich sogleich um den Sterbenden
und dessen herbeigeeilte Freunde versammelt, zeigt auch wenig Empathie. Ihre Einstellung
zu den Pazifisten wird deutlich: „Il n’y a qu’un moyen qu’elle finisse, c’est de la faire
jusqu’au bout. Ce sont les pacifistes qui prolongent la guerre.“ (C, 374) Clerambault, der
wohl schon eine Vorahnung hatte, fühlt sich gefestigt und ist frei von Hass. Selbst für
seinen Mörder bringt er Verständnis auf, ja mehr noch, er hat Mitleid mit ihm: „Mon
pauvre ami! Pensait-il C’est en toi qu’est l’ennemi...“ (C, 375) Clerambault nimmt im
Kampf für seine Überzeugung den Tod in Kauf und wird somit zum Märtyrer „der
Wahrheit“260. „So fügt Rolland an die Gestalten seiner irdischen Kämpfer noch die
erhabenste, die irdisch- religiöse: die des Märtyrers seiner Überzeugung.“261
Jene Rolle des Märtyrers wird uns auch in Stefan Zweigs Drama Jeremias in der
gleichnamigen Hauptperson wiederbegegnen.
4.1.4. Die Nebenfiguren- Die Kinder Clerambaults, Maxime und Rosine als
Reflektoren der Wandlung
Die stufenweise Entwicklung Agénor Clerambaults macht sich nicht bloß in der
Veränderung seiner Figur bemerkbar, sondern auch im Verhältnis zu seiner Familie. Es ist
im Roman deutlich zu erkennen, wie sich die familiären Beziehungen der Clerambaults
durch die Zäsur des Kriegsbeginns und die Wandlung des Vaters verändern. Während es
anfangs durch die gemeinsame Begeisterung für den Krieg zwischen Maxime und Agénor
Clerambault zu einer Annäherung kommt, entfernen sich Rosine und ihr Vater durch
gegenteilige Ansichten voneinander.
Maxime, der Sohn Agénor Clerambaults, ist zu Beginn des Romans neunzehn Jahre alt. Er 260 Zweig : Romain Rolland. S. 326. 261 Ebenda. S. 327.
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wird als hübscher, etwas gelangweilter Bursche aus gutem Hause beschrieben. Seine Figur
steht für die Generation junger Burschen, die sich 1914 mit Begeisterung in die kriegstolle
Menge stürzten und auf Neuerungen durch den radikalen Schritt eines Krieges hofften: „La
guerre était certaine. Elle était nécessaire. Elle était bienfaisante. Il fallait en finir. L’avenir
de l’humanité était en jeu.“ (C, 29) „Les jours sublimes de la grande Révolution allaient
renaître...“ (C, 29) Agénor Clerambault und sein Sohn erliegen beide der anfänglichen
Kriegseuphorie. Anders verhält es sich mit Clerambaults jüngerem Kind, seiner Tochter
Rosine. Ihr wird ein ruhiges, besonnenes Gemüt zugeschrieben. Agénor Clerambault fühlt
schon immer eine besondere Zuneigung für seine Tochter. Er liebt und schätzt seine Frau,
jedoch spürt er, dass sie ihm geistig unterlegen ist und seine Dichtkunst nicht recht
versteht. Deren Einfältigkeit gewahr, hat er sich seine kluge und feinsinnige Tochter zur
Vertrauten in geistigen Dingen gemacht. Während sich Vater und Sohn Clerambault zu
Kriegsbeginn in die jubelnde und emotionsgeladene Menge stürzen, ist Rosine über die
Euphorie der beiden erschrocken. „Rosine, saisie, vit son père, tête nue, qui chantait et
empoîtait le pas à la suite du cortège; riant et parlant tout haut, il traînait à son bras la jeune
fille, sans remarquer la pression de la main crispée qui tâchait de la retenir.“ (C, 36) Rosine
macht es zu schaffen, dass sie das Wesen ihres ehemals besonnenen Vaters, den sie stets
bewunderte, nicht wieder zu erkennen vermag. „Au début, le muet éloignement de Rosine,
déçue dans son affection, froissée dans son culte secret, par l’attitude de son père égarait, et
s’écartant de lui, comme une petite statue antique chastement drapée.“ (C, 83) Im Roman
wird der langsame Prozess der Entfremdung Rosines von ihrem Vater deutlich aufgezeigt.
„Rosine entendait tout et ne disait pas un mot. Mais elle jetait à son père un regard, à la
dérobée; et son regard était un étang qui se glace.“ (C, 36) Durch das Sichzurückziehen
Rosines wird es Clerambault erstmals klar, wie wichtig ihm die Meinung und die stille
Zuneigung seiner Tochter ist.
Et Clerambault ne s’apercevait pas qu’il s’était fait de sa fille sa vraie femme, d’esprit et de coeur. Il n’avait commencé à en avoir le soupçon que dans les derniers temps où la guerre sembla rompre l’accord tacite qui régnait entre eux, et où l’assentiment de Rosine, comme un voeu qui le liait, lui manqua tout à coup. (C, 81)
Maxime zieht voller Begeisterung in den Krieg, im Glauben zu etwas Großem und
Gewaltigem beitragen zu können. Anfangs steht er mit seiner Familie in regem
Briefkontakt. Seine Nachrichten sind voll positiver Schilderungen und haben einen
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heroischen Unterton. „Maxime, ce grand enfant gâté, délicat, dégoûté, qui, en temps
ordinaire, se soignait comme une petite maîtresse trouvait une saveur inattendue dans les
privations et les épreuves de sa vie nouvelle.“ (C, 62) Seine Eltern sind wahnsinnig stolz
auf ihn und erwarten sehnsüchtig die energievollen Briefe von der Front. Maximes
Einstellung zum Krieg ändert sich jedoch bald, als sich der harte und trostlose Kriegsalltag
einstellt. Mit dem Übergang in einen vorwiegend statischen Krieg, wird Maxime
zunehmend desillusionierter:
A partir du moment où ils marinèrent dans les tranchées, le ton changea Il perdit son entrain, son insouciance gamine; il se fit de jour en jour viril, stoïque, volontaire, crispé Maxime continuait d’affirmer la victoire finale. Puis, il n’en parla plus; il parlait seulement du devoir nécessaire.- De cela même il cessa de parler. Ses lettres devinrent ternes, grises, fatiguées. (C, 64)
Doch Clerambault und seine Frau übersehen den tristen Unterton in den Briefen. Sie sind
noch zu sehr in der Euphorie des vermeintlichen Umbruchs und in ihrem Stolz auf den
vitalen Sohn gefangen. So entfernen sie sich, von den Eltern unbemerkt, bereits im
gemeinsamen Briefwechsel mehr und mehr voneinander. Die endgültige Gewissheit, die
geistige Verbindung zu seinen Eltern verloren zu haben, erlangt Maxime bei seinem
Heimaturlaub. Schon als er die Familie erblickt, fühlt er die Kluft zwischen ihren
Erwartungen an ihn und seinen nunmehr beschränkten Möglichkeiten, diese zu erfüllen: „
Son père lui ouvrant les bras, l’appela: „Mon héros!“- Et Maxime, les mains crispées,
sentit brusquement l’impossibilité de parler.“ (C, 65) Es entsteht ein Abgrund zwischen
dem desillusionierten Maxime und den euphorischen Eltern, welche positive
Schilderungen und heldenhafte Geschichten von der Front hören wollen. Clerambault
erzählt Maxime in seinem Überschwang, wie es in den Schützengräben zugehe, speist sein
Wissen aber freilich nur aus den Quellen in den Zeitungen. Maxime will die Seinen nicht
enttäuschen und versucht deren Verlangen nach adäquaten Erzählungen zu befriedigen, in
seinem Inneren kämpft er jedoch mit dem Unverständnis der Zuhausegebliebenen:
„Si on Voyait!“ pensait Maxime, „si ces gens voyaient! Toute leur société craquerait... Mais ils ne verront jamais, ils ne veulent pas voir...“ Et ses yeux, cruellement aigus, découvrirent tout à coup autour de lui... l’ennemi: l’inconscience de ce monde, la bêtise, l’égoïsme, le luxe, le „je m’en fous!“ l’immonde profit de la guerre, le mensonge jusqu’aux racines... (C, 69)
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Die Atmosphäre im Hause Clerambault ist in diesen Tagen eigenartig. Die Eltern und
Maxime fühlen, dass die einstige Intimität nicht mehr vorhanden ist, und machen immer
wieder unbeholfene Versuche, diese wieder herzustellen. Maxime fühlt nicht nur die Kluft
zwischen ihm und seinen Eltern, sondern eine generelle Entfernung zwischen Heimland
und Front. Jene in der Heimat haben von den Erfahrungen der Frontsoldaten keine Ahnung
und sind durch Propaganda und Kriegseuphorie voreingenommen: „Pourtant, il les
comprenait: lui même avait subi, naguère, l’influence qui pesait sur eux; il ne s’était
dégrisé que là-bas, au contact de la souffrance et de la mort réelles.“ (C, 70) Es handelt
sich hier um ein essentielles Thema des Romans, die Kluft zwischen den Soldaten an der
Front und den Zuhausegebliebenen: „[...] le décalage entre le front et l’arrière, décalage qui
se cristallise en ce moment de rencontre, ou plutôt de non- rencontre, qu’est la
permission.“262 Ganz anders verhält es sich zwischen Maxime und seiner Schwester
Rosine. Sie kann mit der Kriegsbegeisterung der Familie nichts anfangen. Als Maxime zu
Hause ist, spürt sie seine Veränderung und gibt ihm ohne Worte das Gefühl, seine
Situation verstehen zu können. So ist es Rosine, die ihm in jenen Tagen geistig am
nächsten ist.
Quand son frère était entré, elle s’était jetée à son cou. Mais depuis, elle se tenait sur la réserve [...] la peur de ce que son frère aurait pu dire se trahissait, à des mouvements imperceptibles ou de fugitifs regards, que seul saisissait Maxime. (C, 67)
Als Maximes Urlaub schließlich ein Ende nimmt, ist er gewissermaßen erleichtert, da er
nun der aufreibenden Spannung zwischen ihm und der Familie entkommt. „Le fossé qu’il
venait de constater entre l’avant et l’arrière lui paraissait plus profond que celui des
tranchées. Et le plus meurtrier n’était pas les canons. Mais les Idées.“ (C, 72) Beim
Abschied Maximes von seiner Familie verschieben sich die Rollen. So ist es der Soldat,
der an die Front zurückkehren muss, der mit den Angehörigen Mitleid hat: „Penché à la
fenêtre du wagon qui partait, il suivait du regard les visages émus des siens qui
s’éloignaient, et il pensait: -Pauvres gens! Vous êtes leurs victimes! Et nous sommes les
vôtres!“ (C, 72) Kurz nach Maximes Abreise bricht an der Front die große
262 Claire Basquin: „Figures et représentations du soldat dans l’ouvre de guerre de Romain Rolland.“ In: Romain Rolland, une ouvre de paix. Textes rassemblés et présentés par Bernard Duchatelet. Paris: Publications de la Sorbonne, 2010. S. 93.
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Frühlingsoffensive los und Maxime wird als vermisst gemeldet. Bald ist klar, dass er
gefallen ist. Maximes Schicksal steht stellvertretend für eine ganze Generation, „une
génération sacrifiée, ou la mort des fils.“263
Wie obig bereits erwähnt, beginnt sich Clerambaults Einstellung zum Krieg nach der
Gewissheit über Maximes Tod stark zu wandeln. Rosine ist ihm bei der Überwindung
seines Wahns eine große Stütze und zeigt ihm deutlich, wie froh sie ist, den Vater mit
seinen alten Idealen wiederzuhaben. So finden sich die beiden in ihrer einstigen Nähe
wieder. Doch bald wird deutlich, dass sich Clerambault nicht bloß zu seinem alten Wesen
zurückgewandelt hat. Vielmehr findet eine Entwicklung seiner Persönlichkeit statt, die ihn
dazu drängt, gegen die herrschenden Umstände aufzubegehren. Selbst, wenn dies das
Weltbild der Allgemeinheit ins Wanken bringt. Clerambault findet sich anfangs in
Zweifeln gefangen und misst den Anfeindungen in der Gesellschaft noch große Bedeutung
zu. Aufgrund der Weitsichtigkeit Rosines während seiner vergangenen Verfehlungen,
rechnet er damit, mit seinen veröffentlichten kriegskritischen Artikeln auf ihre
Zustimmung zu treffen. Doch das tritt nicht ein. Rosine ist so ein öffentliches Auftreten
unbegreiflich und auch unangenehm. Sie reagiert mit Unverständnis, als Clerambault einen
Artikel veröffentlicht: „Oui, c’est beau!... Mais, papa, pourquoi as-tu fait cela? [...] Puisque
cela fait crier!“ (C, 170) So war die wiedergewonnene Vertrautheit der beiden nur
vorübergehend. Mit Clerambaults neuer Rolle schwindet diese wieder: „Il lui suffisait que
son père ne s’associât point aux paroles de haine, qu’il restât pitoyable et bon. Elle ne
désirait point qu’il traduisît ses sentiments en théories, ni surtout qu’il les proclamât.“ (C,
181) Es wird ersichtlich, welche Rolle Rosine im Beziehungsgeflecht der Romanfiguren
eingenommen hat. Solange Clerambault nicht bei sich ist, fungiert Rosine als mahnende
Instanz im Hintergrund. Sie tritt kurze Zeit aus ihrer Rolle des zurückhaltenden Mädchens
heraus. Als Clerambault sich wieder gefangen hat, tritt Rosine in den Hintergrund.
Maintenant qu’il l’avait repris, son rôle, à elle, était accompli. Elle était redevenue la „petite fille“, aimante, effacée, qui regarde les grands actes du monde avec des yeux un peu indifférents, et, dans le fond de son âme, comme la phosphorescence de l’heure surnaturelle qu’elle a vécue, qu’elle couve religieusement, et qu’elle ne comprend plus. (C, 181)
263 Basquin: „Figures et représentations du soldat dans l’ouvre de guerre de Romain Rolland.“ S. 93.
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Stefan Zweig war von Clerambault mehr eingenommen als Rolland selbst. Rolland war für
Zweig über Jahre hinweg eine Art geistige und moralische Stütze. Als sich Rolland gegen
seine einstige Einstellung wendet, als Intellektueller keine politische Position zu beziehen
und seine Sympathie für die Sowjetunion bekundet, schreibt er: „Non, je ne suis pas du
tout seul ou isolé comme vous me l’écrivez [...] Le temps de Clerambault est passé.“264 So
vertreten hier beide auf unterschiedliche Weise eine Seite Clerambaults: Zweig bleibt
standhaft und schließt sich keiner politischen Richtung an und Rolland zeigt, dass man sich
selbst keineswegs verleugnet, indem man seine Meinung im Laufe der Zeit ändert.
264 unveröffentlichter Brief vom 17. Juli 1936. Zitiert nach Nedeljkovic, Dragoljub-Dragan: Romain Rolland et Stefan Zweig. Paris: Klincksieck, 1970. S. 269.
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4.2. Jeremias. Ein pazifistisches Drama.
Wie der Titel bereits vorwegnimmt, greift Zweig bei seinem Jeremias ein biblisches
Thema auf. Der Autor bedient sich des Stoffes, um vor dem Hintergrund der
alttestamentarischen Thematik, Kritik am Geschehen des Ersten Weltkrieges zu üben. Mit
Jeremia, Prophet aus dem Alten Testament, wählt Zweig einen sensiblen Propheten, den
der Hass, welchen ihm das Volk aufgrund seiner Weissagungen entgegenbringt, tief trifft
und durch seine Berufung mitunter Leid zu ertragen hat. Romain Rolland erwähnt in
seinem Artikel „Vox Clamantis“ ein Gespräch mit Zweig, in welchem sich dieser zum
Propheten Jeremias äußert:
Jeremias ist unser Prophet, sagte Stefan Zweig einmal zu mir, er hat für uns, für unser Europa gesprochen. Die anderen Propheten sind erschienen, als ihre Zeit gekommen war: Moses sprach und wirkte, Christus starb und wirkte. Jeremias sprach vergebens. Sein Volk hat ihn nicht verstanden. Seine Zeit war nicht reif. Er hat nichts verhindert. So wie wir. 265
Die biblischen Propheten haben Gottes Willen zu vermitteln und das Volk zu warnen.
Doch sind es nicht bloß religiöse Angelegenheiten, welche der Prophet zu vermitteln hat,
sondern auch Vorhaben die das politische und soziale Leben betreffen. So wird Gottes
Zorn und die angedrohte Strafe für eine etwaige Nichtbefolgung seiner Anweisungen
angekündigt.266 Auch für Jeremias sind die sozialen und politischen Angelegenheiten ein
Anliegen: „Wie vor ihm Jeshajahu war auch Jeremias zutiefst an der sozialen und
politischen Entwicklung des Landes beteiligt, und war sich seiner Verpflichtung bewusst,
seine Stimme als Rater und Warner zu erheben.“267 In Stefan Zweigs Werk warnt die
Hauptfigur Jeremias das Volk von Jerusalem ebenso vor einer Katastrophe und versucht
dieser entgegenzuwirken.
Stefan Zweig hat mit seinem Werk nicht die Intention, sich getreu an die biblische Vorlage
zu halten. Er hat auch nicht den Anspruch die historischen Begebenheiten der Realität
entsprechend wiederzugeben. Der Autor bedient sich des Gerüsts des alten Stoffes, um
265 Rolland: „Vox Clamantis.“ S. 309. 266 Pazi, Margarita: „Jeremias- die hebräische Übersetzung und die Rezeption in Erez Israel und in Europa 1934.“ In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Hrsg. v. Mark H. Gelber und Klaus Zelewitz. (= Studies In Austrian literature, culture, and thought) Goins Court: Ariadne Press, 1995. S. 189. 267 Ebenda. S. 189.
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eine zeitgenössische Kritik am Ersten Weltkrieg zu üben. Die Ansiedlung des Geschehens
in einer längst vergangenen Epoche erlaubt es vielleicht freier zu sprechen und einen
länger andauernden Widerhall zu finden, der nicht an die Zeit gebunden ist. Romain
Rolland sieht in Zweigs Werk ebenfalls die Komponente der Nachhaltigkeit. So erkennt er
„hinter dem blutigen Drama von heute die ewige Tragödie der Menschheit“268. „In diesem
Epos von der Zerstörung Jerusalems finden wir unsere heutigen Sorgen wieder [...].269
4.2.1. Jeremias- „Prophet des schmerzensreichen Friedens“270
Das Drama Jeremias ist in neun Bilder unterteilt und schildert den Kampf des Propheten
Jeremias, den Frieden der Stadt Jerusalem zu erhalten. Jeremias hat sich seine Rolle als
Verkünder nicht ausgesucht, er wird zum Propheten erweckt und muss fortan im Sinne
Gottes handeln und versuchen, das Volk Jerusalems auf den rechten Weg, nämlich auf
jenen des Friedens, zu leiten. Der Prophet stößt mit seinen Verkündungen und
Weissagungen jedoch nur auf Ablehnung und Hass. Wie auch Clerambault im
gleichnamigen Roman von Rolland, ist Jeremias anfangs mit seiner Geisteshaltung allein.
Die Menschen wollen von der unangenehmen Wahrheit nichts wissen. In Jeremias will das
Volk zuerst nicht glauben, dass ein Krieg bevorsteht. Als dieser tatsächlich ausbricht und
somit nicht mehr zu leugnen ist, nehmen sie mit hohler Begeisterung an der
Kriegseuphorie teil. Jeremias setzt alles daran, das Volk und den König zur Besinnung zu
bringen. Als Dank schlägt ihm Feindseligkeit entgegen. Der Hass der Menschen steigert
sich soweit, dass ihm zeitweise sowohl das Volk Jerusalems, als auch König Zedekia nach
dem Leben trachten.
Im ersten Bild des Dramas wird Jeremias „zum Propheten erweckt“ (Vgl.: J, 119) Er wird
erstmals von furchtbaren Vorahnungen heimgesucht: „Friedlich die Stadt, friedlich das
Land, in mir nur dieser Brand, nur meine Brust ein Feuer!“ (J, 119) Zu den Vorahnungen
kommen furchtbare Albträume hinzu, die ihn in den Nächten hochschrecken lassen:
268 Rolland: „Vox Clamantis.“ S. 308. 269 Ebenda. S. 309. 270 Vgl.: Ebenda. S. 308.
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Nur ich, ich brenne Nacht um Nacht, stürz’ hin mit allen Türmen, fliehe Flucht, vergeh in Flammen, nur ich, nur ich zerwühlt in Eingeweide, fahr’ taumelnd hoch vom heißen Bett zum Mond, daß er mich kühle! Nur mir sprengt Traum den Schlaf, nur mir frisst feurig Graun das Schwarze von den Lidern! [...] Und immer gleich der Traum, gleich dieser Wahn, Nacht, Nacht und Nacht, der gleiche Schrecken sich im Fleische bäumend, der gleiche Traum zu gleicher Qual entbrennend! (J, 120)
Durch seine wiederholten Wehklagen „Nur ich [...] nur ich [...] nur ich [...]. “ (J, 120) wird
seine Beklemmung darüber deutlich, dass nur er jene Vorahnungen und Warnungen zu
vernehmen scheint. Anfangs kann er die Bilder nicht zuordnen und fragt sich nach dem
Sinn der Erscheinungen: „Wer bist du, Unsichtbares, das vom Dunkel zielt auf mich mit
Pfeilen des Entsetzens [...] in Worten sprich und nicht in Bildern brenne- tu auf dich, der
du mich verschließest, den Sinn sag dieser Qual, den Sinn, den Sinn!“ (J, 120 f.) Jeremias
ist verunsichert, da er die Bewandtnis nicht zu begreifen vermag. Kurze Zeit zweifelt er an
sich selbst und seinem Verstand: „Ein Rasender, ein Verblendeter... o Qual und Marter der
Träume... Sinn und Widersinn im Betruge... ich Narr, ich Narr meines Wahns!...“ (J, 123)
Auch Jeremias Mutter macht sich Sorgen um ihren einzigen Sohn und drängt ihn, eine
Familie zu gründen und sein Leben in die Hand zu nehmen. Sie möchte, dass er seine
Schwermut abschüttelt und seinem Dasein Sinn gibt. Sie wünscht sich eine
Schwiegertochter und Enkelkinder. Doch Jeremias, von seinen düsteren Ahnungen
gebeutelt, schildert ihr die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Der Wunsch seiner Mutter
erscheint ihm unvorstellbar und absurd angesichts seiner Visionen: „Nicht ist Zeit jetzt des
Beginnens! Zu nah ist das Ende!“ (J, 124) Und weiter heißt es: „Ein Weib heimführen in
Wüstung? Kinder zeugen dem Würger? Wahrlich, nicht bräutlich nahet die Stunde!“ (J,
125) Oder: „Soll ich bauen ein Haus in den Abgrund und mein Leben in den Tod? Soll ich
säen der Fäulnis und lobpreisen die Vernichtung?“ (J, 125) Die Reaktion seiner Mutter auf
die negativen Ausführungen lässt die Kluft zwischen Jeremias Innenleben und der
tatsächlichen momentanen Wirklichkeit, wie sie die anderen Bewohner Israels
wahrnehmen, deutlich werden. Noch gibt es ja keine äußeren Anzeichen für die nahende
Katastrophe: „Welch ein Wahn ist über dir? Wannen war sanfter die Zeit, wann stiller im
Frieden dies Land?“ ( J, 125) Selbst die eigene Mutter traut ihrem Sohn nicht und wähnt
seinen Verstand in Gefahr. Jeremias kann seine Ängste nun erstmals benennen und spricht
von einem Krieg, der kommen wird: „Mutter, eine Zeit ist nahe wie keine gewesen in
Israel, und ein Krieg, wie noch keiner über Erden gefahren!“ (J, 126) Wie in Trance
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beginnt Jeremias die zukünftigen Szenarien zu schildern. Er hat die Macht über sich
verloren, es ist Gott, der nun aus ihm spricht. Stefan Zweig greift hier auf die gebundene
Sprache zurück. Der Wechsel von der Prosa im gehobenen Stil zur Versform, verstärkt den
prophetischen Charakter der Ausführungen, Jeremias scheint von einer fremden Kraft
getrieben: „Das Ende nahet, das Ende, ⎜Es fahret aus ⎜Dräuend von Mitternacht, ⎜Feuer
sein Wagen, ⎜Würgung sein Flug! ⎜Schon rauschen Schrecknis die heiligen Himmel,
⎜Schon bebt die Erde von Donner und Huf.“ (J, 126)
Bereits im zweiten Bild trübt sich das vormals friedliche Bild der Stadt. Eine
Menschenmenge hat sich vor dem königlichen Palast versammelt, die Neuigkeit des
Vorhabens seitens der Ägypter, dem König ein Bündnis mit ihnen und gegen die Chaldäer
vorzuschlagen, hat sich verbreitet. Die Menge ist sich uneins, ob sie ein solches wünscht,
oder nicht. In einem Dialog zwischen Vater und Sohn, werden die Hoffnungen und Ängste
des Volkes sichtbar. Der Sohn, Baruch, will sich unter das jubelnde Volk mischen, sein
Vater, Sebulon, rät ihm mit der weisen Voraussicht des Älteren davon ab: „Oft und oft
noch wirst du’s erleben. Denn immer jubelt das Volk zu den lauten Worten, immer läuft es
hinter dem Gepränge.“ (J, 136) Und auf den Einwurf des Sohnes, dass die Ägypter
eventuell an ihrer Seite zu kämpfen bereit wären, erwidert der Vater nüchtern: „Für sich
wollen sie kämpfen. Jedes Volk kämpft nur für sich.“ (J, 126) Mit der Begeisterung seiner
jungen Seele für die Veränderung und den Neuanfang spricht Baruch vor dem Vater sein
Verlangen nach einem Krieg aus: „Unser ist die Stunde, unser die Rache. Ihr habt euch
gebeugt, wir wollen uns erheben, ihr habt gezögert, und wir wollen vollbringen, ihr hattet
den Frieden, und wir wollen den Krieg.“ (J, 137) Wieder ist es die Erfahrung des Vaters,
die diesen vor der Vorstellung einer gewaltsamen Auseinandersetzung zurückschrecken
lässt. Er versucht dem Sohn sein fälschliches Bild eines reinigenden Krieges auszureden:
„Was weißt du vom Kriege, du Vorwitziger. Wir, die Väter, haben ihn gekannt. Er ist groß
in den Büchern, aber ein Würger ist er in Wahrheit und ein Schänder des Lebens.“ (J, 137)
Auch hier kann man eine Parallele zu Rollands Werk Clerambault und der jüngeren
Generation von 1914 ziehen, die sich eine Aktion wünscht und den Krieg somit
enthusiastisch begrüßt.
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Inmitten dieser Menge taucht Jeremias auf und will den Menschen die Begeisterung für
den Krieg ausreden: „[...] nicht lausche, Jerusalem, den Lockpfeifen des Krieges!“ (J, 143)
Jeremias kann sich nun artikulieren, und weiß, dass es Gott war, der ihn durch Visionen
und Träume gewarnt hat. Er spricht von seiner Verantwortung als Warner und Prophet:
Nur in Träumen spricht Gott zu den Menschen, und auch mir hat er Träume gesandt. Mit Entsetzen hat er gefüllt meine Nächte und mich wach gemacht in die Zeit, er hat mir einen Mund gegeben, daß ich schreie. Er hat die Angst in mich eingetan, daß ich sie über euch werfe wie ein brennendes Tuch [...] ich will schreien meinen Schrei vor dem Volke, ich will künden meinen Träume. (143 f.)
Eindringlich stellt Jeremias die Grausamkeiten eines Krieges dar: „[...] ein bös’ und bissig’
Tier ist der Krieg, er frisst das Fleisch von den Starken und saugt das Mark von den
Mächtigen, die Städte zermalmt er in seinen Kinnladen, und mit den Hufen zerstampft er
das Land.“ (J, 145) Geht es nach ihm, so rechtfertigt weder falscher Stolz noch der Verlust
des Reichtums einen Krieg: „Besser den Zins des Goldes zahlen dem Feinde denn den Zins
des Blutes dem Kriege! Besser der Weise sein denn der Starke, besser Gottes Knecht denn
der Menschen Herr!“ (J, 147)
Abimelech, der oberste Krieger kommt wütend aus dem Palast- der König hat gegen das
Bündnis mit Ägypten entschieden. Als die aufgebrachte Menge zum Palast emporstürmen
will, um König Zedekia zur Kriegserklärung zu drängen, stellt sich Jeremias den Menschen
waghalsig in den Weg. Als ihm Baruch mit seinem Schwert droht, ist Jeremias bereit mit
all seinen verfügbaren Mitteln für den Frieden einzutreten: „Mit meinem Leibe wider den
Krieg, mit meinem Leben für den Frieden!“ (J, 151) Durch die jauchzende und aufgeregte
Menge aufgewiegelt stößt Baruch Jeremias mit dem Schwert nieder. Nach einer kurzen
Irritation, befindet es die Menge rechtens, „den Aufwiegler“ zum Schweigen gebracht zu
haben. Der zu Boden gegangene Jeremias wird nicht weiter beachtet. Doch Baruch ist von
seiner Tat erschreckt und schämt sich, einen Unbewaffneten angegriffen zu haben. Er eilt
Jeremias zu Hilfe und will seine Tat wieder gut machen. Jeremias will seine Hilfe nicht,
rafft sich hoch und will sich abermals gegen die kriegeswütige Menge stellen: „[...] ich
muß schreien das Friedenswort, ich muß es gellen in die Ohren der Vertaubten... auf...
auf...“ (J, 153) Soviel Selbstlosigkeit und Überzeugung beeindrucken den jungen Baruch.
Er will sich fortan in Jeremias’ Dienste stellen und seinem pazifistischen Kampf
beiwohnen, auch wenn er die Überzeugung des Propheten nicht vollends teilt:
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Ich... helfe dir... Jeremias... wider meinen Willen und meinen Glauben... denn Macht ist in dir, die mich zwingt... wie heiß dein Auge brennt im Willen... Einen Schwachen und Scheuen vermeinte ich dich, darum stand ich wider dich, der du schmähest die Tat und den sanften Frieden gefordert. (J, 154)
Das Volk jubelt indessen, denn König Zedekia hat den Krieg erklärt. Das Gerücht, der
Krieg sei bereits gewonnen, zerschlägt sich schnell, als ein Bote die Nachricht der
nahenden feindlichen Krieger bringt.
Als Nabukadnezars Männer bereits nahe den Toren der Stadt sind, deckt ein Gespräch
zwischen zwei Soldaten Zedekias die Fraglichkeit der Bewandtnis des Krieges auf.
Während der eine Krieger den Zweck der Kämpfe zwischen den einzelnen Völkern nicht
zu sehen vermag, vertritt der zweite Krieger die Position deren Notwendigkeit. Der erste
Soldat stellt grundlegende Fragen nach dem Sinn des Krieges und der Legitimität von
bestehenden Termini wie „Volk“ und „fremd“: „Warum will Gott den Krieg zwischen den
Völkern?“ (J, 77) Auf diese Weise wird die Absurdität konstruierter Feindbilder aufgezeigt
und der Sinn der blinden Ausführung von Befehlen angezweifelt:
Wer sind die Völker? Bist du nicht unsres Volkes einer, bin ich es nicht, und unsere Frauen, die meine und die deine, sind die nicht Volkes Teil, und haben wir dieses Krieges begehrt? Hier stehe ich und wende einen Speer, nicht weiß ich, wider wen ich ihn wende. (J, 177)
Ein Vergleich mit der Natur, enthüllt einmal mehr die Abnormität von kriegerischen
Handlungen. Der Soldat weiß nicht um deren Sinn und demonstriert sein Unverständnis
darüber:
Fremd sind wir einander wie die Bäume des Waldes, doch die wachsen still und blühen aus sich, wir aber wüten widereinander mit der Axt und dem Speer, bis das Harz unseres Blutes aus den Leibern quillt. Was ist dies, das Tod unter die Menschen stellt und den Haß säet zwischen sie, da dem Leben so viel Raum ist und der Liebe so lange Frist? Ich verstehe es nicht, ich verstehe es nicht! (J, 178)
Der zweite Soldat grübelt nicht nach und hinterfragt die festgelegten Begriffe nicht,
sondern akzeptiert diese. Sein Kamerad lässt sich von seinen Zweifel jedoch nicht
abbringen, das Wissen um die sinnlosen Tode, die verhindert werden könnten, plagen sein
Gewissen:
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Sie sind unsere Feinde, wir müssen sie hassen. [...] Warum muss ich sie hassen, wenn mein Herz nicht weiß um diesen Haß? [...] Ich weiß es mit meinen Sinnen, daß ich nicht darf, und fasse es doch nicht mit meiner Seele. Wem dienen wir mit ihrem Tod? (J, 179)
Im Anschluss wird deutlich, dass der scheinbar abgeklärte Soldat, seine Augen verschließt,
um etwaige Zweifel an seinem Tun im Keim zu ersticken: „Ein Grübler bist du. Um unsere
Stadt drängen sie und wollen ihre Häuser brennen, und hier stehe ich mit Schwert und
Speer, ihnen zu wehren. Mehr des Wissens ist ungut. Ich will nicht mehr wissen.“ (J, 180)
Als König Zedekia erstmals auf Jeremias trifft, weiß er bereits um dessen Prophezeiungen
und Bemühungen um die Wahrung des Friedens Bescheid. Jeremias ergreift seine Chance
und will den König davon überzeugen, mit dem feindlichen Herrscher Nabukadnezar
Frieden zu schließen, ehe der Kampf um Jerusalem noch richtig begonnen hat: „Es muß
einer den Frieden beginnen, wie einer den Krieg.“ (J, 190) Zedekia will davon nichts
wissen, zu wertvoll scheinen ihm Ansehen und Ehre: „Ich aber sage dir, die Kinder würden
meiner spotten und die Weiber lachen meiner Schmach [...] Mit dem Schwert will ich es
[Jerusalem; Anm.] retten und meines Lebens Preis, doch mit meiner Ehre nicht. (J, 190 f.)
Die anwesenden Krieger drängen den König, Jeremias wegsperren oder gar töten zu lassen,
da sie in seinem Aufbegehren die Gefahr der Aufwiegelung des Volkes sehen. Auch der
König schätzt sein Tun als gefährdend ein, doch will er ihn noch einmal ziehen lassen,
solange er sich in seinen Weissagungen zusammen nehme: „Ich habe dich gewarnet
Jeremias, wie du mich gewarnet. Selbst schützest du fortan dein Leben. Keiner rühre ihn
feindlich an, solange er sich zähmet. Doch schreit er noch einmal Schrecknis über die
andern, so fasset ihn, und er büße nach euerm Spruch.“ (J, 194) Wieder alleine, plagen
Jeremias große Zweifel an seiner Fähigkeit, Gottes Auftrag ausführen zu können: „Wer bin
ich denn, Nichtiger, daß ich mich erfreche, seines Wortes Propheten mich zu nennen [...]
nicht ein Blatt vermag ich zu wenden mit meiner Seele Odem... ein Speichelspeier nur bin
ich, ein Tönen von Wirrsal und Wind...“ (J, 195) Baruch erweist sich als treuer Gefährte
Jeremias’. So macht er sich auf den Weg, um bei Nabukadnezar vorzusprechen.
Der Krieg dauert bereits einige Zeit an, als die Vorräte der Stadt zur Neige gehen. Zedekia
fürchtet um das Wohlergehen des Volkes. Er beruft einen Rat der Ältesten ein, um sie nach
ihrer Meinung zu fragen:
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Nicht war mir bewußt, wie karg unsere Speise sei, und doch, meine Gedanken standen auf wider die Zeit. Nicht das Schwert allein endet die Kriege, oft sänftigt sie das Wort. Und ich rief euch, zu fragen, was ihr dächtet, wenn ich Botschaft sendete zu Nabukadnezar, daß wir fragten um den Frieden zwischen unsern Völkern. (J, 227)
Die Ältesten sind geteilter Meinung. Zedekia eröffnet ihnen weiters, dass bereits ein Bote
mit Nachricht von Nabukadnezar im Palast warte. Es ist Baruch, der mit der Mitteilung
Nabukadnezars kommt, dass dieser gewillt wäre, die Belagerung aufzugeben, wenn
Zedekia einige Auflagen zu erfüllen bereit wäre. Zu diesen zählt das Tragen eines Jochs
durch den König und die Erlaubnis, dass Nabukadnezar ins Allerheiligste einzutreten
bemächtigt ist. Zedekia will die Entscheidung letztlich alleine treffen. Nur Baruch soll ihm
beiwohnen. Zedekia ist schon fast zu dem Entschluss gekommen, in die Bedingungen der
Chaldäer einzuwilligen, da stellt sich heraus, dass Baruch Nabukadnezar jeden einzelnen
Tag um Gnade für Jerusalem angefleht hat und nur durch sein Bitten jenes
Friedensangebot zu Stande gekommen war. Baruch fleht noch einmal um Zedekias
Barmherzigkeit seinem Volke und der Stadt gegenüber: „Ich flehe dich an auf den Knien,
rette Jerusalem, rette Jerusalem! Recke aus deine Hand, daß sie den Frieden fasse, sonst
stürzen die Mauern und sinkt der Tempel in Staub.“ (J, 238) Zedekia gibt sich vorerst
überrascht über die Kühnheit und Ausdauer des jungen Burschen. Alsbald wittert er jedoch
Jeremias Intervention in dieser Angelegenheit und ist darüber erzürnt: „Jeremias! Er,
immer er! Immer der Schatten hinter meiner Tat, immer in Aufruhr wider mich! In den
Kerker habe ich ihn verschlossen, aber noch immer schreit er zu mir wie am ersten Tage:
Friede! Friede!“ (J, 239) Zedekia wird bei dem Gedanken an Jeremias wütend und fühlt
sich durch ihn in seiner Macht unterjocht. In seinem Zorne schickt er Baruch mit der
Botschaft fort, dass er auf Nabukadnezars Forderungen nicht eingehe, und das
Friedensangebot somit ausschlage. Zedekia ist daraufhin erschöpft und will seine Sinne
betäuben und die Tatsache der nun unwiederbringlichen Entscheidung verdrängen:
„Vorbei! Ein Ende, ein Ende! Nur nicht mehr die Qual! [...] Wein! Bring mir Wein! Ich
will schlafen, schwarz und tief, schlafen ohne Träume!“ (J, 241) Der gewünschte Schlaf ist
ihm jedoch nicht vergönnt, ein immer wiederkehrendes Singen hält ihn von seinem
Schlummer ab: „Aber es spricht jemand! Wer dringt in meinen Schlaf, wer frisst an
meinem Schlummer? [...] Niemand ist wach mehr, nur ich! Warum auf mich alle Last, die
Mauern der Stadt und die Türme der Sorgen?“ (J, 241 f.) Zedekia fühlt die alleinige Bürde
des Schicksals seines Volkes und jenes Jerusalems auf seinen Schultern. Das „Singen aus
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der Tiefe der Erde.“(J, 243) scheint die Unruhe über seine Entscheidung noch zu
verstärken. Binnen kurzem meint er auch hier Jeremias zu vernehmen, der längst im
Kerker des Palastes weggesperrt ist: „Schweig still! Schweig still! Ich will es nicht hören.
Ich will nicht! Immer er, immer er! [...] Wer befreit mich von ihm...“ (J, 244) Er befiehlt,
Jeremias holen zu lassen. Als er alleine wartet, hadert er mit seiner Entscheidungskraft, da
er sich mit all den widersprüchlichen Ratschlägen und seiner alleinigen Macht der
Entscheidung überfordert fühlt:
Warum rief ich nur Gott, der mir schweigt, und nicht alle, die sagen, daß er rede durch sie? Aber warum reden sie einer gegen den andern und widersprechen sich, wie ja dem nein? Wie sie erkennen, wie scheiden das Falsche vom Wahren? Furchtbar, furchtbar dieser Gott, der immer nur schweigt und dessen Boten keiner erfaßt! (J, 245)
Jeremias versichert dem König abermals seine Treue und, dass er zum Warner des Volkes
berufen sei: „Dem, der da wachen soll über das Volk, ist kein Schlafen verstattet, und zum
Wächter bin ich gesetzt und zum Warner.“ (J, 245) Zedekia legt mit einem Mal Wert auf
Jeremias Meinung und Ansichten, da nun schon mehrmalig eingetroffen ist, was er
vorausgesagt hat. Jeremias ruft ihm in Erinnerung, dass er seine Ratschläge missachtet hat
und dem Frieden keine Gelegenheit geben wollte: „Wer aber den Frieden stört, dem wird
er verstöret werden, und wer Wind in die Welt gesäet, wird Sturm ernten in seiner Seele.“
(J, 247) Jeremias versucht den König umzustimmen, auf Nabukadnezars Forderungen doch
noch einzugehen, auch wenn es seine Ehre kosten sollte: „Was dein ist wirf weg! Besser
als Ehre ist Friede, besser Leiden denn Sterben.“ (J, 247) Zedekia sucht nach Ausflüchten,
um das Ausschlagen Nabukadnezars Forderungen zu rechtfertigen, er hofft auf die
Zustimmung des Propheten. Jeremias aber hat ihn schon längst durchschaut und ahnt, dass
er seine Entscheidung bereits getroffen hat: „Ja, ich, Jeremias, sage dir, dem Könige:
Unwahr handelst du an mir, und Ausflucht sind deine Worte. Denn nicht frei ist dein Wille
mehr, und du willst nicht, daß ich ihn wende.“ (J, 249) Jeremias sagt das nun
unabwendbare Schicksal Jerusalems voraus. Die Schilderung steigert sich zum
ekstatischen Taumel. Zedekia wird bange zu Mute und fleht Jeremias an, noch
einzugreifen und Jerusalem zu retten. Er erkennt plötzlich die Macht Jeremias. In
Anbetracht seiner Fehlentscheidung, die er nun nicht mehr rückgängig machen kann,
versichert er Jeremias, immer an ihn geglaubt zu haben und dass er einen Krieg ebenso
vermeiden wollte: „Jeremias, ich habe es nicht gewollt! Ich mußte Krieg künden, aber ich
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liebte den Frieden. Und ich liebte dich, weil du ihn gekündet hast.“ (J, 254) Jeremias
versichert dem König, ihm beizustehen und segnet ihn.
Im siebenten Bild ist das Volk angesichts der Feinde vor den Toren der Stadt verzweifelt.
Sie geben dem König die alleinige Schuld am Krieg. Auf einmal preisen sie Jeremias, der
dies alles vorausgesagt hat und fordern von ihm, ihnen einen Ausweg aus der Misere zu
zeigen. Jeremias ist vom Wankelmut und Eigennutz der Menge entrüstet und hält sie an,
ihr selbstverschuldetes Schicksal nun mit Anstand zu ertragen.
Jeremias macht ihnen deutlich, dass er sich einzig Gottes Wille beuge und alles von diesem
hinnehme. Selbst die Zerstörung Jerusalems. Das Volk ist entrüstet und richtet sich
abermals gegen Jeremias, der ihnen nicht zu helfen vermag. Sie wollen ihn kreuzigen.
Jeremias verlangt nach dem Martyrium. Der Fall der Mauer Jerusalems und das Eindringen
feindlicher Soldaten lässt die Menge jedoch auseinandergehen.
In der darauffolgenden Szene hat sich das Volk in ein kellerartiges Gewölbe geflüchtet.
Jeremias ist tief verzweifelt und hadert mit Gott: „[...] mein Wort ist mein Wille nicht...
Macht ist über mir... Er... Er... Der Furchtbare... Der Mitleidslose... Sein Werkzeug bin ich
nur... sein Hauch... seiner Bosheit Knecht bin ich geworden [...] ich will nicht mehr, Gott...
ich will nicht mehr... ich fluch’ deinem Fluche [...]“ (J, 278) Jeremias sagt sich von Gott
los und biedert sich den Leuten an. Er entschuldigt sich für seine Weissagungen. Plötzlich
kommen Gesandte Nabukadnezars und teilen Jeremias mit, dass ihn der König zu seinem
Obersten der Magier machen möchte. Jeremias lehnt ab: „Ich mag Gunst nicht von den
Grausamen und die Gnade nicht von den Gnadelosen, ich mag sie nicht.“ (J, 291)
Jeremias -das Volk nun hinter sich- hat neue Kraft. Er prophezeit Nabukadnezars
Untergang und fürchterliche Rache. Die anderen sind begeistert von der Kraft, die Jeremias
nun wieder ausstrahlt: „Segen auf dein Wort... Segen über dein Haupt... Gott vergisst nicht
Jerusalem... Oh Verkündigung, selige Botschaft... Segen auf dein Wort... Segen über
dich!“ (294) Der Prophet kündet in Ekstase zukünftigen Frieden für Jerusalem: „Und die
Hügel winken ihr zu wie einst, und so schatten sie die Berge, und wie der Tau auf den
Feldern, so glänzet der Friede über ihr, Friede des Herrn, Friede Israels, der Friede, Friede
Jerusalems!“ (J, 296) Jeremias erwacht aus seinem Taumel und gibt sich verwundert,
warum die einst so feindseligen Menschen nun hinter ihm stehen:
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Meine Brüder, meine Brüder, was ist mit mir geschehen! War nicht Groll zwischen uns und Fluch auf meinen Lippen, da ich redete zu euch? Ein Sturmwind hat mich gefasst und getragen, wohin ich nicht weiß, und nun ich stürze, sehen eure Augen mich liebend an, ihr Brüder, eure Hand spüre ich an meinen Knien, und eure Seele zittert wie ein Falter mir zu! Was ist mir geschehen, was ist mir geschehen? (J, 299)
Bald erkennt er jedoch, dass er nun wieder fähig ist positive Botschaften zu künden und er
dem Volk Tröstung und Erlösung versprechen kann anstatt Krieg und Leiden: „Ihr Lieben,
ihr Lieben, was ihr sprechet ist es wahr? Von meiner Lippe, der fluchverbrannten, ist
Tröstung gekommen, aus meiner Seele, der nächtigsten aller, ein liebendes Wort!“ (J, 299)
Er will jedoch nicht gefeiert werden, zu viel Lob und Ruhm beschämen ihn. Jeremias ist
einzig glücklich, dass er Gott wiedergefunden hat:
Schweiget, ihr Brüder... nicht rühmet mich... beschämet mich nicht... ich habe nicht Anteil daran. Wohl ist ein Wunder geschehen, doch nicht ich habe es vollbracht [...] schauet das Wunder, das an mir geschehen: ich habe Gott gefluchet, und er hat mich gesegnet, ich habe ihn geflohen, und er hat mich gefunden, ich wollte ihm entweichen, und er hat mich erreichet. Denn es ist kein Entweichen vor seiner Liebe und kein Obsiegen wider seine Kraft. Er hat mich besiegt, meine Brüder, und nichts ist süßer, als von ihm besiegt zu sein. (J, 300)
Im neunten Bild der Dichtung, „Der ewige Weg“, verlassen Jeremias und ein Teil des
Volkes von Jerusalem das Gewölbe, in dem sie Schutz gesucht hatten. Sie bilden einen
Zug und setzen sich in Bewegung. Menschen in der Stadt, welche die Gruppe rund um
Jeremias erblicken, werden sofort in den Bann gezogen: „[...] auch zu uns sprich,
Verkünder... Oh, Tröstung, wer gibt uns Tröstung...“ (J, 308) Das Volk Jerusalems ist über
den Fall der Stadt untröstlich und macht ihre Existenz an dieser fest. Jeremias löst ihre
Daseinsberechtigung von der Stadt und definiert den Heimatbegriff neu:
Jeremias ruft auf, das Schicksal zu akzeptieren. Das Volk soll ihre Heimat in Gott sehen
und nicht an einer Stadt festmachen:
Nicht ward uns wie andern Völkern Scholle gegeben, daran zu kleben, Heimat, darin zu verharren, nicht die Rast, darin unser Herz fett werde! Nicht zum Frieden sind wir erwählet unter den Völkern: Weltwanderschaft ist unser Zelt, Mühsal unser Acker und Gott unsere Heimat in der Zeit. (J, 311)
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Die Menge, die sich rund um Jeremias gebildet hat ist ekstatisch und folgt seinem Aufruf
zur Wanderschaft: „Ja, auf zur Wanderschaft... führe uns an... wie die Väter wollen wir
leiden [...]“ (J, 316) In der Stadt treffen sie auf Zedekia, der geblendet wurde. Von einigen
wird er als Mörder Israels bezeichnet, andere haben Mitleid mit ihm. Jeremias macht ihn
wieder zum Führer: „Doch des Leidens König bist du geworden, und nie warst du mehr
königlich! [...] führe, der du Gott nur schauest und nicht mehr die Erde, führe, führe dein
Volk.“ (J, 317) Jeremias spricht seiner Gefolgschaft Mut zu, er tröstet sie, dass ihnen der
Glaube an Gott immer Heimat sein wird: „Jede Fremde wird ihm das Gottesland! ⏐ Oh,
wer vertrauet, dem ist es erbauet, ⏐Wer glaubt, schaut immer Jerusalem!“ (J, 322)
Wo immer ihr euch in euch selber aufrichtet ⏐ Und feurig von Furcht und Fremdnis erhebt, ⏐Da ist es aus Wunsch in die Welt gedichtet, Da ist der Traum unseres Heimwehs erlebt, ⏐An jeglichem Orte, ⏐ Wo euch Glaube inwohnet, ⏐Überwölbt euch hell seine mauerne Krone: ⏐ Wer glüht, sieht ewig Jerusalem! (J, 323)
Der nunmehr gewaltige Zug setzt sich in Bewegung. Chaldäer, die das alles beobachten
sind verwirrt darüber, dass die Vertriebenen nicht klagen, sondern ihr Schicksal würdevoll
erdulden: „Sieh... sieh... wie die Tänzer schreiten sie her... ein Taumel ist über sie
gekommen... haben wir sie denn nicht besiegt... sind sie nicht in Schande... warum klagen
sie nicht...“ (J, 326) Das ausziehende Volk stimmt einen rhythmischen Schlussgesang an:
Wir wandern den heiligen Weg unserer Leiden, ⏐ Von Prüfung und Prüfung zur Läuterung, ⏐ Wir ewig Bekriegte und ewig Besiegte, ⏐ Wir ewig Verstrickte und ewig Befreite, ⏐ Wir ewig Zerstücke und ewig Erneute, ⏐ Wir aller Völker Spielball und Spott, ⏐ Wir einzig Heimatlosen der Erde, ⏐ Wir wandern in alle Ewigkeiten, ⏐ Die Letztgeblieb’nen ⏐ Unendlicher Schar ⏐ Heimwärts zu Gott, ⏐ Der Aller Anfang und Ausgang war, ⏐ Bis daß er uns selber die Heimstatt werde, ⏐ Der ruhlos wie wir mit Sternen und Jahren ⏐ Die Welt umwandert und leuchtend umkreist, ⏐ Und wir ganz aufgehn im Unsichtbaren: ⏐ Verlorenes Volk, unsterblicher Geist. (J, 326)
Ein Chaldäer sieht der ausziehenden Menge verwundert nach. Der Zug erscheint, als würde
er in eine verheißungsvolle Zukunft schreiten, dabei handelt es sich um ein besiegtes und
vertriebenes Volk. Sein Kamerad erwidert bloß:
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„Man kann das Unsichtbare nicht besiegen! Man kann Menschen töten, aber nicht den
Gott, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.“ (J, 327)
4.2.2. Das Volk Jerusalems als „Sturzflut der Massenseele“(Vgl.: J, 322)
Das Volk Jerusalems nimmt neben Jeremias einen wichtigen Platz im Dramengeschehen
ein. Es präsentiert sich als wankelmütige Menge, deren Ansichten oft weit
auseinandergehen. Wie auch im Clerambault handelt es sich bei der Mehrheit des Volkes
um ein gefährliches Konglomerat Kriegshungriger, in welchem die Einzelseele Gefahr
läuft zu verschwinden. Rolland erwähnt in seinem Vorwort zu Clerambault ebenjene
Gefahr des Versinkens der Einzelseele im Abgrund der Massenseele. (J, 7) In beiden
Werken trifft man auf jenes Phänomen. Sei es in Form von Clerambaults zeitweiligen
Abwegen auf dem Pfad der Kriegshysterie, oder dem Verschwinden des Einzelnen in der
Menge des wankelmütigen Volkes von Jerusalem.
Jeremias schlägt für seine Warnungen und Prophezeiungen einer unangenehmen Zukunft
meist Hass entgegen. Im zweiten Bild, „Die Warnung“ tritt das Volk erstmals als hitzige
Menge auf. Vor dem königlichen Palast wird die Ankunft der ägyptischen Boten
beobachtet. Die Menge heischt nach Neuigkeiten, Informationen werden ausgetauscht und
es kommt zu wirren Reden und Gegenreden: „Es lebe Pharao... Ruhm seiner Herrschaft...
Heil Ägypten!“ (J, 133), „Ja sie wenden den Sinn der Gerechten... fort mit ihnen... was
schmähst du Ägypten... ja was wollen sie... was bedeutet die Sendung... seit wann ist
Freundschaft zwischen Ägypten und Israel... was wollen sie?“ (J, 134) Die Menge ist sehr
empfänglich für reißerische Reden und aufwiegelnde Worte. Hananja, Prophet der
Regierung, der seine „falschen Weissagungen in den Dienst der Leidenschaften des Volkes
stellt“271, versetzt das Volk immer wieder in glühende Erregung und wird frenetisch
bejubelt:
271 Rolland: „Vox Clamantis.“ S. 310.
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Die Propheten rufe, daß sie uns Weisheit lehren... Hananja... Hananja... wann waren sie vonnöten, die heiligen Worte, wenn nicht zu dieser Stunde?... Ihrer sei die Entscheidung... Hananja... [...] Hananja... wo ist unser Prophet... Gott fordert ihn... Er erscheine... wir dürsten nach seinem Worte... Hananja... Hananja... (J, 140 f.)
Die Menge bezeichnet Hananja als „Meister“ (J, 142) und ist ihm tief ergeben. Als
Jeremias in jener Szenerie gegen Hananjas reißerische Worte, die den heiligen Krieg
verherrlichen, aufbegehrt, ist das Volk wieder geteilter Meinung, wem nun Gehör
geschenkt werden soll: „Er soll reden... wir wollen ihn hören... nein Hananja rede...
Hananja... er ist vielleicht gesandt vom Herrn... sprich, Jeremias.... warum ihn nicht
hören...“ (J, 144) Jeremias will die Menge warnen und Frieden künden. Seine Worte
werden unterschiedlich aufgenommen: „Israel über den Völkern... auf wider Assur...
Krieg... Krieg... nein, Friede... Friede über Israel... Krieg... Krieg...[...]“ (J, 147 f.) Als
Jeremias von einer Frau aufgrund seiner pazifistischen Rede angespuckt wird, verflucht er
diese. Das Volk ist über solche Vehemenz erschrocken und gebietet ihm zu schweigen. Die
Kunde, dass der König gegen ein Bündnis gestimmt hat, dringt durch. Hananja heizt das
Volk an, dieses lässt sich mitreißen und stürmt den Palast.
Zweig zeigt hier den Wankelmut des Volkes, das letztendlich den Verführungen der
Kriegspolitik nicht standhält. Zweigs Charakterisierung des Volkes fällt negativ aus, wenn
er seinen Protagonisten Jeremias fürchten lässt: „Wehe... wehe... wenn das Volk jubelt, ist
Unheil im Werke.“ (J, 156)
Zu Beginn des Krieges ist das Volk euphorisch und preist den Sieg, bevor der Kampf noch
begonnen hat. Ein Gerücht über den Sieg verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Menge
schwätzt und hört, was sie hören will: „[...] da sie den Sieg will, glaubt sie ihn schon
errungen.“272 „Mit bildsamer Kunst zeigt Zweig, wie sich ein unklares Gerücht in der
überspannten Seele der Menge ausbreitet und von Augenblick zu Augenblick gewisser
wird als die Wahrheit.“273 Die Wahrheit verstört das Volk und lässt es gegenüber deren
Künder Jeremias, noch misstrauischer werden.
Auch an einer weiteren Stelle im Drama wird die Unstetigkeit des Volkes dargestellt. Als
das Elend des Krieges das Brot rar werden lässt, versammelt sich die Menge abermals vor
272 Rolland: „Vox clamantis.“ S. 312. 273 Ebenda. S. 312.
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dem Palast und fordert Essen. Die Kraft der Volksmenge und die Wirkung einzelner
Aufwiegler wird augenscheinlich, als Abimelech sogar Soldaten einsetzen muss, um die
Menge in Zaum zu halten. In ihrer Not verwünscht die Menge all jene, die für den Krieg
waren. Zedekia, Hananja und die Priester werden verantwortlich gemacht. An die eigene
Mitschuld denkt niemand. Es kommt die Erinnerung an Jeremias auf, der vor dem Krieg
gewarnt hat. Plötzlich wird er gepriesen und aus dem Kerker befreit: "[...] Oh, du Heiliger
du Erlöser, nahe deinem Volke, nahe deinen Mägden, rette, rette Jerusalem! Gehe auf, du
Sonne unserer Nacht, erglühe, du Stern unseres Dunkels! Rette! Rette Jerusalem!“ (J, 263)
Als das Volk dem König die Schuld zuschiebt wird Jeremias zornig und wirft ihm
Wankelmut und Eigennützigkeit vor:
Alle habt ihr ihn gewollt, alle, alle! Wankelmütig sind eure Herzen und schwanker denn Rohr. Die jetzt Frieden schreien, hörte ich toben nach dem Kriege, und die jetzt den König schmähen, jauchzeten ihm zu. Wehe, du Volk! Doppelzüngig ist deine Seele, und jeder Wind wendet deine Meinung! Ihr habt gehurt mit dem Kriege, nun traget seine Frucht! Ihr habt gespielt mit dem Schwerte, nun fühlet seine Schärfe. (J, 265)
Es trifft sie Jeremias Zorn, als sie sich von ihm plötzlich ein Wunder erhoffen: „Was zischt
ihr wider Gottes in eurem Elend, ihr Gewürm der Erde [...] beuget euch, ihr Starren,
demütigt euch, ihr Hochmütigen, ehe ihr zerbrochen werdet!“ (J, 266) Jeremias macht
deutlich, dass er nur Gott dient. Die Menge nennt ihn einen Verräter und will ihn
kreuzigen. Nur der Einfall der Feinde bewahrt den Propheten. Zweig schildert hier zwar
das Elend des gemeinen Volkes, welches unter dem Krieg leidet, in seiner Darstellung der
Menge überwiegt jedoch das negative Moment.
Die negative Darstellung des Volkes kann auch durch die Änderung des Verhaltens nach
dem Fall Jerusalems nicht wett gemacht werden. Es kommt das Gefühl auf, die Menge
folge Jeremias bloß deshalb, weil er ihnen nun endlich das geben kann, was sie erwarten:
Trost und das Ende des Feindbildes Nabukadnezars: „Ich aber, Jeremias, sage dir:
gebrochen ist der Stab über Nabukadnezar und zerrissen das Kleid seiner Macht. Tief hat
er Jerusalem geknechtet, aber siebenmal tiefer wird er geknechtet werden.“ (J, 292) Und
weiter kündet er: „[...] so glänzet der Friede über ihr, Friede des Herrn, Friede Israels, der
Friede, Friede Jerusalems.“ (J, 296) Es kann wohl nicht von einer grundlegenden
Läuterung des Volkes ausgegangen werden, das seine vormaligen Fehler überdacht hat.
Die Umstände sind plötzlich andere, in der Stunde des Leids wird nun die Idee einer
97
geistigen Bezwingung des drückenden Schicksals einem Kriege vorgezogen.
Zweig sieht in der Figur des Jeremias auch seine eigene Person- einen Warner, der sich
nicht durchsetzen kann, der nicht gehört wird. Durch die Arbeit an Jeremias gelangt Zweig
zu einer bewussteren Weltsicht, „die in einem umfassenden, fast missionarsartigen
Humanismus gipfelte.“274
274 Bodmer: „Jeremias. Ein Bekenntnis zu Pazifismus, Humanismus und Weltbürgertum.“ S. 75
98
4.3. Clerambault und Jeremias- ein Vergleich
Stefan Zweigs und Romain Rollands pazifistische Bemühungen für den Frieden und eine
Verständigung zwischen den Völkern sind sowohl in ihren Werken als auch in der
Betrachtung ihrer Lebenswege allgegenwärtig. So verwundert es wenig, dass die Sendung
einer pazifistischen Gesinnung im Schaffen der beiden Autoren stets von großer
Bedeutung ist. Die beiden in der Arbeit besprochenen Werke Jeremias und Clerambault
sind also bloß eine mögliche Auswahl aus den für ihren Pazifismus wesentlichen Werken,
jedoch spielen sie eine bedeutende Rolle im Schaffen der Autoren.
Das Drama Jeremias hat Stefan Zweig geholfen, seine geistige Position im
Kriegsgeschehen des Ersten Weltkrieges zu formulieren und sich zu einer pazifistischen
Grundhaltung zu bekennen. Zudem wird im Werk vor der alttestamentarischen Thematik
Kritik am Ersten Weltkrieg beziehungsweise am Krieg im Allgemeinen geübt. Auch
Romain Rollands Werk Clerambault behandelt die Thematik des Ersten Weltkrieges, und
kritisiert die europäische Kriegspolitik. Ein interessanter Nebenaspekt ist die Tatsache,
dass die Autoren ihre Werke Jeremias und Clerambault gegenseitig gelesen (und im Falle
Stefan Zweigs sogar übersetzt) haben und dies umfassend dokumentiert ist. In der
brieflichen Korrespondenz finden sich Kommentare zu dem jeweiligen Werk des anderen
und sowohl Zweig als auch Rolland haben Texte zum Werk des Freundes publiziert. So
widmet Zweig dem Clerambault ein eigenes Kapitel in seiner Monographie zu Romain
Rolland275, während dieser den Artikel „Vox clamantis. Jeremias, eine dramatische
Dichtung von Stefan Zweig.“276 nach dem Erscheinen des Dramas 1917 veröffentlicht.
Augenscheinlich ist, dass in den beiden Büchern zwei pazifistische Helden als Hauptfigur
auftreten, welche für die Werke auch titelgebend waren. Clerambault und Jeremias
kämpfen für einen Frieden, der -so scheint es- von der Mehrheit der Menschen nicht
gewollt wird. Beide haben sich dem pazifistischen Kampf verschrieben und stellen dafür
alles andere hinten an. Während Jeremias auserwählt wurde, muss Clerambault erst einige
Wirrnisse durchleben, bis er sich zu der Bekenntnis seiner pazifistischen Einstellung
275 Stefan Zweig : Romain Rolland. 276 Rolland: „Vox Clamantis. Jeremias. Eine dramatische Dichtung von Stefan Zweig.“ (Erstmals in der Zeitschrift Coenobium, im November 1917) Weiters in: Romain Rolland: Der freie Geist. Berlin: Rütten & Loening, 1966. S. 307-326.
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durchringen kann. Doch auch Clerambault wohnt etwas Prophetenhaftes inne, wenn er stur
und entgegen des öffentlichen Wohlwollens, seine Artikel verbreitet.
Beide Figuren stoßen bei der kriegshungrigen Bevölkerung auf Unverständnis und Wut
über ihr Künden der unangenehmen Wahrheit. Die Umwelt verschließt die Augen vor
einer Realität, die ihr wohl konstruiertes Weltbild ins Wanken bringt. In Zweigs Drama ist
es das Verschließen der Augen vor der Unausweichlichkeit eines katastrophalen Ausgangs
des Krieges und im Clerambault droht Agénor Clerambault den Hass der Menschen zu
zerstören, was diese um ihr Schutzschild bringen würde und somit um den Sinn ihres Tuns.
So heißt es im Roman: „Le plus dangereux adversaire de la société et de l’ordre établis, de
ce monde de violences, de mensonges et de basses complaisances, -c’est, ce fut toujours
l’homme de paix absolue et de libre conscience.“ (C, 377)
Die ihnen entgegengebrachte Ablehnung und das vermeintliche Scheitern ihres Kampfes
lässt beide an einem gewissen Punkt an ihrem Tun zweifeln. Jeremias hadert mit Gott und
Clerambault stellt die Berechtigung für seine Desillusionierung der Menschen in Frage.
Schlussendlich bleiben sie sich aber treu und stellen die ihnen zugedachte Aufgabe über ihr
eigenes Leben.
Hierin kann man ein Märtyrertum ausmachen, dass sich in beiden Figuren finden lässt.
Jeremias gerät mehrmals in direkte Konfrontation mit der wütenden Menge des Volkes
oder mit dem Herrscher, die ihm aufgrund seiner Prophezeiungen nach dem Leben
trachten. Er erträgt das stoisch und verlangt in manchen Situationen geradezu nach dem
Martyrium. So will ihn das Volk im siebenten Bild des Dramas kreuzigen und Jeremias
fordert dies richtiggehend: „Was zögert ihr noch? Den seligen Preis ⎜ Des Martertods, ich
will ihn bezahlen! ⎜ oh, wie dürstig bin ich den Martern und Qualen.“ (J, 270) Auch
Clerambault trägt Züge eines Märtyrers, wenn er sich von den Drohungen seiner Feinde
nicht davon abhalten lässt seine Artikel zu verfassen und sich am Tag seiner Anhörung
sehenden Auges in Gefahr begibt. Schon am Abend zuvor sieht er in der Aufopferung
seine Bestimmung:
100
Mais quand vous me tueriez, la lueur qui est en moi et que vous avez vue, il ne dépend plus de vous de ne plus l’avoir vue, ni, l’ayant vue une fois de renoncer à l’avoir. Frappez donc! En luttant contre moi, vous luttez contre vous: d’avance, vous êtes vaincus. Et moi, en me défendant, c’est vous que je défends. L’Un contre tous est l’Un pour tous. Et il sera bientôt l’Un avec tous... (C, 365)
Als Clerambault im Sterben liegt, lächelt er, da er im Angesicht seines Mörders dessen
Hass sieht und weiß, dass er den richtigen Weg gewählt hat. „Mon pauvre ami! Pensait-il.
C’est en toi qu’est l’ennemi... Il referma les yeux... Les siècles passèrent... –Il n’y a plus
d’ennemis. Clerambault goûtait la paix des mondes à venir.“ (C, 375)
Die Figur des Märtyrers ist jedoch nicht der einzige religiöse Bezug in den Werken.
Während der alttestamentarische Bezug im Jeremias offensichtlich und vorherrschend ist,
finden sich in Rollands Werk einzelne Anspielungen. Stefan Zweig sieht in Clerambault
ein religiöses Buch: „In gewissem Sinne ist es ein religiöses Buch, die Geschichte einer
Umkehr, einer Erleuchtung, die moderne Heiligenlegende eines sehr einfachen
bürgerlichen Menschen, oder eigentlich, wie der Titel sagt, die Geschichte eines
Gewissens.“277 An einer Stelle in Clerambault diskutieren Clerambault und seine
Kameraden über die Rolle Gottes im Krieg und die Frage nach der Existenz Christus’: „On
attend le Christ pendant des siècles. Quand il vient, on l’ignore et on le crucifie [...] Où
est-il, le règne de Dieu?“ (C, 352) Clerambault sieht das Gottesreich ihn ihnen selbst, in
den Pazifisten, die dem Kriege trotzen:
La chaîne de nos épreuves et de nos espérances forme le Christ éternel. [...] Chaque Christ, chaque Dieu s’est essayé à l’avance par une série de précurseurs. Ils sont partout, perdus, isolés dans l’espace, isolés dans les siècles. Mais ces solitaires, qui ne se connaissent pas, voient tous à l’horizon le même point lumineux. Le regard du Saveur. Il vient. (C, 352)
Ganz am Ende des Romans, als sich Clerambaults Freunde an seinem Totenbett
versammeln, sagt Froment, dass der Mann des vollkommen Friedens und des freien
Gewissens- „l’homme de paix absolue et de libre conscience“( 377)- für die Gesellschaft
die wohl größte Gefahr darstellt und deshalb so gefürchtet wird. Er zieht einen Vergleich
zu Jesus Christus und bezeichnet ihn als den wohl radikalsten Revolutionär der Geschichte:
„Il est le principe éternel de la non- soumission de l’Esprit [...] à l’injuste Force.“ (C, 377)
Auf diese Weise erklärt sich laut Froment auch der Hass gegen sie selbst:
277 Zweig : Romain Rolland. S. 321 f.
101
[La haine contre ] nous, les Annonciateurs de Celui plus grand que nous, qui portera au monde la parole qui sauve, le Maître mis au tombeau, qui „sera en agonie jusqu’à la fin du monde“ et toujours renaîtra, -l’Esprit libre, le Seigneur Dieu. (C, 377)
Im Jeremias und im Clerambault spielt die Bewahrung der eigenen Freiheit (in
Kriegszeiten) eine tragende Rolle. Demnach sieht am Ende des Jeremias ein Chaldäer der
ausziehenden Menge des Volkes von Jerusalem verwundert nach. Der Zug macht den
Anschein, als würde er in eine verheißungsvolle Zukunft schreiten, dabei handelt es sich
um ein besiegtes und vertriebenes Volk. Sein Kamerad stellt bloß fest: „Man kann das
Unsichtbare nicht besiegen! Man kann Menschen töten, aber nicht den Gott, der in ihnen
lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.“ (J, 327) Auch im Untertitel
des Clerambault findet sich der Begriff des „conscience libre“, dem „freien Geist“.
Clerambault ahnt am Abend vor seiner Ermordung, dass sein Leben bald ein Ende nehmen
wird und scheint somit in der Rolle des Verlierers, doch ist ihm die Bewahrung seiner
Freiheit wichtiger als ein Leben in Verleugnung seiner selbst. Auch wenn dies seinen Tod
bedeuten soll.
Il avait nié, du même coeur qu’il avait affirmé; il n’avait pas cessé d’errer dans la forêt des doutes et des contradictions[...]Quel sens avait cette longue course tumultueuse, qui se brisait dans la nuit? –Un seul. Il avait été libre. (C, 362)
Zuletzt sei noch angemerkt, dass beide Werke mit einem versöhnlichen Schluss enden. Sie
transportieren die Botschaft, dass sich der Kampf für den Frieden auszahlt.
Die Werke Jeremias und Clerambault sind ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass es
ihren Autoren gelungen ist, in einer Zeit des Krieges und des Hasses zwischen den
Menschen in den kriegführenden Staaten, Bücher zu verfassen, die sich der
hassschürenden Kriegspropaganda entziehen und für den Frieden eintreten.
102
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
Rollands Arbeit beim Roten Kreuz in Genf, die internationale Korrespondenz mit der
geistigen Elite Europas, das literarisches Werk in dem sich sein Pazifismus widerspiegelt,
seine kriegskritischen Artikel in Zeitschriften, das Eintreten für einen Verhandlungsfrieden
als sich das Ende des Krieges abzeichnet und der anhaltende Wille eine Verbesserung der
herrschenden Zustände anzustreben, als viele seiner Kollegen bereits aufgeben, machen
Romain Rollands Pazifismus aus. Trotzdem besitzt er keinen starren Geist und verharrt
nicht bei einer Position. Rolland geht mit der Zeit. 1935 fährt er in die Sowjetunion und
bekündet seine Sympathien für den Sozialismus. Er verliert seine Hoffnungen in der
Zwischenkriegszeit nicht, sondern verlagert diese von Europa nach Asien. So beginnt er
sich beispielsweise mit Indien und Mahatma Gandhi zu beschäftigen. Nur seine
pazifistische Grundeinstellung bleibt stets dieselbe und somit das höchste Gebot. So geht
er für die Durchsetzung eines Ideals nie soweit, Gewalt oder das Brechen mit
fundamentalen Grundsätzen in Kauf zu nehmen. Infolgedessen bekundet er trotz seiner
Sympathien für den Sozialismus Skepsis vor der Gewaltanwendung im revolutionären
Russland und bricht mit den Ideen der Sowjetunion nach dem Bekanntwerden des Hitler
Stalin-Paktes.
Stefan Zweigs Pazifismus macht sich vielleicht noch mehr im Literarischen aus. Er stellt
oftmals die Arbeit an seinen eigenen Werken in den Hintergrund, um sich der Übersetzung
der von ihm geschätzten Autoren zu widmen und ist maßgeblich an der Verbreitung vieler
internationaler Autoren und deren Werken beteiligt. Und natürlich spiegeln auch seine
eigenen Werke seine pazifistische Gesinnung wider. In seinem regen Briefwechsel mit
Autoren internationaler Herkunft und seinem Projekt der Biblioteca mundi hat er sich in
seinem pazifistischen Bestreben hervorgetan. Zweig verharrt jedoch allzu oft auf seinen
idealistischen und teils utopischen Vorstellungen. In seinem Denken schwingt immer ein
gewisser Idealismus mit, der die tatsächliche Ausführung seiner oftmals utopischen Ideen
häufig scheitern lässt. Zweig selbst äußert sich folgendermaßen zum Idealismus: „
[Idealismus] das heißt nicht, wie die meisten Menschen meinen: den Widerstand der
Wirklichkeit gegen die Idee übersehen und mißkennen, sondern heißt: trotz diesem
103
Widerstand die für notwendig erkannte Idee zu Ende leben.“278 Es folgen Resignation und
Depression und der totale Rückzug aus der Politik. Zweig kann seine Vorstellungen nicht
an die Realität adaptieren. „Zweigs Pazifismus nahm von 1914 an Intensität zu, erreicht
1917/18 einen Höhepunkt und wandelte sich 1920/21 zu einer vom Kult der Freundschaft
beseelten Idee einer geistigen Einheit Europas.“279
Mit Hitlers Machtergreifung 1933 beginnt eine Periode der Unmenschlichkeit und der
Gefahr für den „freien Geist“. Stefan Zweig steht als jüdischer Autor auf der Liste der
verbotenen Autoren der Nationalsozialisten und seine Bücher werden verbrannt. Zweigs
Haus am Kapuzinerberg wird nach den Februarkämpfen 1934 nach Waffen durchsucht. Er
zieht sich danach nach London zurück und äußert sich nur mehr selten zu politischen
Fragen.280 Zweigs Glauben an die Menschheit und die Verwirklichung seiner Ideale, wird
mit der Zeit immer schwächer. Stefan Zweigs prekäre Situation aufgrund seiner jüdischen
Abstammung zwingt ihn, ins Exil zu gehen, nachdem Hitler 1938 die Macht in Österreich
ergriffen hat. Während der Jahre im Exil wird sein Pessimismus immer stärker:
Während Zweigs Werke aus der Periode des Ersten Weltkriegs Hoffnung auf die Widerlegung der Feindlichkeiten durch seinen humanistischen Idealismus darstellen, wurde sein optimistisches Verhalten immer schwächer mit dem nahenden Zweiten Weltkrieg. Zweigs pessimistische Einstellung zu diesem gründete sich in der Wahrnehmung, daß die Menschheit ihre Verantwortung der Gerechtigkeit gegenüber verloren hat.281
Rolland ist immer weitsichtiger und weniger idealistisch als Zweig, und befindet sich mehr
auf dem Boden der Realität. Sein flexibler Geist ermöglicht es ihm, seine Ideen und Ideale
der Realität anzupassen. Er bleibt sich über die Jahre hinweg treu, obwohl seine Ansichten
Änderungen durchlaufen.
[...] mais jamais il ne doute du bien fondé de ses idées. Au contraire, il se pense investi d’une véritable mission et sa vie et son oeuvre sont au service de cette mission: montrer que l’individu ne doit pas se laisser absorber par la masse, qu’il faut à tout prix résister à la tentation de se laisser embrigader dans une collectivité [...]282
Rolland thematisiert selbst die Wichtigkeit eines flexiblen Geistes und die Legitimität der 278 Stefan Zweig: „Bertha von Suttner.“ In: Die schlaflose Welt. S. 118. 279 Bodmer: „Jeremias. Ein Bekenntnis zu Pazifismus, Humanismus und Weltbürgertum.“ S. 50. 280 Vgl.: Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band. S. 18. 281 Istvan Varkonyi: „Mit meinem Leibe wider den Krieg, mit meinem Leben für den Frieden.“ Das Motiv „Krieg-Frieden“ bei Stefan Zweig. In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. S. 97. 282 Siegrun Barat: „La paix, la guerre...“ In: Cahiers de Brèves n°6. S. 5.
104
Veränderung der Ideen im Laufe eines Lebens. Man kann genau hierin einen großen
Unterschied zwischen Rolland und Zweig ausmachen, der ihren Leben einen
unterschiedlichen Verlauf gibt. Zweig zerbricht an der Zeit und nimmt sich das Leben.
Rolland ist es durch seine Flexibilität und moralische Festigkeit möglich die Wirrnisse der
Zeit zu überstehen. Doch auch sein Weltbild ändert sich durch die Grausamkeiten der
Nationalsozialisten. So schreibt er 1940:
Ces peuples qui fuient, ces peuples à leur chasse, sont les instruments d’un „Führer“ bien autrement puissant que celui d’en bas. Par-dessus les entrechocs des nations, les massacres, les délires furieux, la main souveraine de la Destinée et ses grandes lois mènent l’humanité à ses fins. Par quel chaos! Par quels cahots!... Mais les essieux tiennent; et d’entre les nuées, le char du soleil poursuit sa route, selon l’ordre qui régit les univers.283
Mit den Jahren hält die Entfremdung zwischen den beiden Schriftstellern Einzug. Zweig
scheint sich dessen bewusst zu sein, wenn er Rolland schreibt: „ [...] ich bin (Sie bedauern
es, ich weiß) kein Kämpfer, aber ich habe einen großen innerlichen Stolz und liebe nichts
so sehr wie meine Unabhängigkeit.“284 Die Entfremdung kommt vor allem beim Lesen der
Briefe zum Vorschein. Zweigs sonst so herzlicher und enthusiastischer Tonfall Rolland
gegenüber wird immer kühler und Unverständnis für die Ansichten des anderen mischen
sich in die Zeilen der vormaligen Brüder im Geiste. Es macht den Anschein, als würde
Rolland Zweigs tragisches Schicksal bereits vorausahnen, als er ihm 1938, im Jahr der
Machtergreifung Hitlers in Österreich, in einem Brief schreibt:
J’espère que vous établirez définitivement en Angleterre. Vous trouverez bien dans la grande île britannique un noble asile; avec tous leurs défauts nos vieux pays démocratiques sont une terre nourricière. Nous ne pouvons nous en passer. Je ne vous vois pas vous installer au Brésil, il est trop tard dans votre vie pour y prendre racine profonde et, sans racine, on devient une ombre.285
In der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass die Namen Stefan Zweig und Romain
Rolland unwiederbringlich mit dem Begriff des „Pazifismus“ verknüpft sind. Sie sind zwei
der prominentesten literarischen Vertreter eines solchen, und bringen ihre pazifistische
Gesinnung in ihren Werken Jeremias und Clerambault zum Ausdruck.
283 Rolland: Le Voyage Intérieur: S. 296 f. 284 Rolland/Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Zweiter Band 1924-1940 . Berlin: Rütten & Loening, 1987. S. 677. 285 Brief an Stefan Zweig aus dem Jahr 1938; Zitiert nach Roger Drouin: „Une brilliante conference de Serge Niemetz a Clamecy.“ [unveröffentlicht]
105
Die vorliegende Arbeit soll durch die gewonnenen Erkenntnisse ihren kleinen Teil zur
Rolland-Zweig Forschung beitragen. Die Werke Jeremias und Clerambault wurden
erstmals parallel gelesen, um zu sehen inwieweit sich die pazifistische Einstellung der
Autoren im Werk niederschlägt und worin die Ähnlichkeiten der Darstellung liegen. Es
wird ersichtlich, dass Romain Rolland und Stefan Zweig mit unterschiedlichen
Herangehensweisen zwei pazifistische Werke geschaffen haben, die aufgrund ihrer
allgemeingültigen Botschaft auch heute noch aktuell erscheinen.
In beiden Werken wird die Dynamik der Masse, ohne die eine frenetische
Kriegsbegeisterung nicht zustande kommen könnte, dargestellt und kritisch hinterfragt.
Anhand der Hauptfiguren der Werke werden die Schwierigkeiten der Kriegsgegner
ersichtlich, die gegen eine Vielzahl von Hindernissen ankämpfen müssen. Nicht zuletzt
gegen die eigenen Zweifel. Die Protagonisten werden als Märtyrer des Friedens dargestellt,
worin sich durchaus Parallelen zu den pazifistischen Bemühungen der Autoren ziehen
lassen. Es lässt sich also festhalten, dass sich Romain Rollands und Stefan Zweigs
Pazifismus in den Jahren des Krieges sowohl innerhalb als auch außerhalb des literarischen
Feldes manifestiert wobei die Werke Jeremias und Clerambault für sich stehen und als
Kunstwerke noch heute das pazifistische Gedankengut ihrer Verfasser verbreiten.
106
6. BIBLIOGRAFIE
6.1. Primärliteratur
• Rolland, Romain: Clerambault. Histoire d’une conscience libre pendant la Guerre. Paris: Ollendorff, 1920. [erstmals ins Deutsche übersetzt von Stefan Zweig 1922]
• Rolland, Romain: Clerambault. Geschichte eines freien Gewissens im Kriege. Berlin: Rütten&Loening, 1989. [erstmals 1922 erschienen]
• Rolland, Romain: Le Voyage Intérieur. Songe d’une Vie. Paris: Éditions Albin Michel, 1959.
• Rolland, Romain: „Au-dessus de la mêlée.“ Erstmals in: Journal de Genève, 15. September 1914. In: L’esprit libre. Paris: Éditions Albin Michel, 1953. S. 76-90.
• Romain Rolland: „Aux peuples assassinés.“ Erstmals in: Demain, Genève, November/Dezember 1916. In: L’esprit libre. Paris: Éditions Albin Michel, 1953. S. 195-204.
• Romain Rolland: „Pour l’Internationale de l’esprit.“ Erstmals in: Revue Politique Internationale, Lausanne. März/April 1918. In: L’esprit libre. S. 328-338.
• Romain Rolland: „Lettre ouverte au président Wilson.“ Erstmals in: Le Populaire.Paris, 18. November 1918. In: L’esprit libre. S. 338- 340.
• Romain Rolland: „Déclaration d’Indipendence de l’esprit.“ Erstmals in :Humanité, 26. Juni 1919. In: L’esprit libre. S. 343-349.
• Rolland, Romain: Journal des années de guerre. 1914- 1919. Notes et documents pour servir à l’histoire morale de l’Europe de ce temps. Paris: Éditions Albin Michel, 1952.
• Rolland, Romain: Textes politiques, sociaux et philosophiques choisis. Paris: Éditions sociales, 1970.
• Romain Rolland: „Vox Clamantis. Jeremias. Eine dramatische Dichtung von Stefan Zweig.“ Erstmals in: Coenobium, November 1917). In: Romain Rolland: Der freie Geist. Berlin: Rütten & Loening, 1966. S. 307-326. .
• Rolland, Romain/ Zweig, Stefan: Briefwechsel 1910-1940. Erster Band 1910-1923. Berlin: Rütten & Loening, 1987.
• Rolland, Romain/ Zweig, Stefan: Briefwechsel 1910-1940. Zweiter Band 1923-1940. Berlin: Rütten & Loening, 1987.
• Zweig, Stefan: Briefe an Freunde. Hrsg. v. Richard Friedenthal. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1978.
107
• Zweig; Stefan: Die Welt von Gestern. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1965.
• Zweig, Stefan: „An die Freunde im Fremdland.“ In: Stefan Zweig: Die schlaflose Welt. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1990. S. 34-42.
• Zweig, Stefan: „Bekenntnis zum Defaitismus.“ Erstmals in: Friedens-Warte, Juli/August 1918. In: Die schlaflose Welt. S. 122-126.
• Zweig, Stefan: „Bertha von Suttner.“ In: Die schlaflose Welt. S. 112-122.
• Zweig. Stefan: „Die Entwertung der Ideen.“ Erstmals in: Neue Zürcher Zeitung, 4. August 1918. In: Die schlaflose Welt. S. 126-132.
• Zweig, Stefan: „Ein Wort zu Deutschland.“ In: Die schlaflose Welt. S. 30-34.
• Zweig, Stefan: Tersites. Jeremias. Zwei Dramen. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006. [Erstmals veröffentlicht 1917]
• Zweig, Stefan: Tagebücher. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1984.
• Zweig, Stefan : Romain Rolland. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987. [Erstmals veröffentlicht 1920]
6.2. Sekundärliteratur
• Barat, Siegrun: „La paix, la guerre...“ In: Cahiers de Brèves n°6, Oktober 2001. S. 4-6.
• Barat, Siegrun: „Romain Rolland et Stefan Zweig. Une amitié à l’épreuve des guerres.“ In: Cahiers de Brèves n° 24, Dezember 2009. S. 22-25.
• Basquin, Claire: „Figures et représentations du soldat dans l’ouvre de guerre de
Romain Rolland.“ In: Romain Rolland, une ouvre de paix. Textes rassemblés et présentés par Bernard Duchatelet. Paris: Publications de la Sorbonne, 2010.
• Berger, Fritz: „Stefan Zweig als Deuter und Mahner.“ In: Israel-Forum. Bd. 5 (1959) Nr. 4, S. 16-17.
• Brancy, Jean-Yves: „La correspondance Romain Rolland- Stefan Zweig.“ In: Cahiers de Brèves n° 27, Juni 2011. S. 20- 24.
• Bodmer, Thomas: „Jeremias. Ein Bekenntnis zu Pazifismus, Humanismus und Weltbürgertum.“ In: Das Buch als Eingang zur Wel“(= Schriftenreihe des Stefan Zweig Centre Salzburg) Hrsg. v. Joachim Brügge. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. S. 67-77.
• Böttcher, Kurt: „Humanist auf verlorener Bastion“. Berlin In: Neue deutsche
108
Literatur, Bd. 11 (1952) Nr. 4. S. 83-92 .
• Dines, Alberto: Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt am Main/Wien/Zürich: Edition Büchergilde, 2006.
• Roger Drouin: „Une brilliante conference de Serge Niemetz a Clamecy.“ [unveröffentlicht]
• Dumont, Robert: Stefan Zweig et la France. Paris: Didier, 1967.
• Götzfried, Hans Leo: Romain Rolland. Das Weltbild im Spiegel seiner Werke. Stuttgart: J. Engelhorn, 1931.
• Holl, Hildemar: „Pazifistische“ Aktivitäten Stefan Zweigs 1914- 1921. In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Hrsg. v. Mark H. Gelber und Klaus Zelewitz. (= Studies In Austrian literature, culture, and thought) Goins Court: Ariadne Press, 1995. S. 33-59.
• Holl, Karl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.
• Nedeljkovic, Dragoljub- Dragan: Romain Rolland et Stefan Zweig. Paris: Klincksieck, 1970.
• Kempf, Marcelle: Romain Rolland et l’Allemagne. Paris: Nouvelles Éditions Debreuse, 1962.
• Klepsch, Michael: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Kohlhammer, 2000.
• Kinder, Sabine: Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu. [Ausstellungskatalog] München: Stadtbibliothek, 1993.
• Langer, Gerhard: „Stefan Zweig und die jüdische Religion.“ In: „Das Buch als Eingang zur Welt“ Hrsg. v. Joachim Brügge. (=Schriftenreihe des Stefan Zweig Centre Salzburg) Würzburg: Königshausen&Neumann, 2009. S. 39-67.
• Lerch, Eugen: Romain Rolland und die Erneuerung der Gesinnung. München: Max Huber Verlag, 1926.
• Matuschek, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben- eine Biographie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008.
• Meylan, Jean-Pierre: „Romain Rolland face à la politique en 1918- un retour dans la mêlée.“ Cahiers de Brèves. n° 21, Juni 2008. S. 16-21.
• Mühlestein, Hans: Geist und Politik. Romain Rollands politische Sendung. [Gedächtnisrede] Zürich: (= Erbe und Gegenwart. Schriftenreihe der Vereinigung „Kultur und Volk“ ), 1945.
• Müller- Kampel, Beatrix: „Krieg ist Mord auf Kommando.“ Nettenheim: Graswurzelrevolution, 2005.
109
• Pazi, Margarita: „Jeremias: die hebräische Übersetzung und die Rezeption in Erez Israel und in Europa 1934.“ In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Hrsg. v. Mark H. Gelber und Klaus Zelewitz. (= Studies In Austrian literature, culture, and thought) Goins Court: Ariadne Press, 1995. S. 189-206.
• Pichler, Rudolf: Romain Rolland. Sein Leben in Bildern. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1957.
• Prater, Donald A.: European of Yesterday. Clarendon Press, 1972.
• Der Romain Rolland Almanach. [Zum 60. Geburtstag des Dichters gemeinsam herausgegeben von seinen deutschen Verlegern] Frankfurt am Main: Rütten & Loening/München: Georg Müller Verlag/Zürich: Rotapfel- Verlag/München/ Kurt Wolff Verlag, 1926.
• Romain Rolland. Sa vie, son ouevre. 1866-1944. [Buch zur Ausstellung] Archives de France/ Hotel de Rohan, 1966.
• Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild. Hrsg. v. Donald Prater und Volker Michels. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 2001.
• Stefan Zweig und Europa. Hrsg. v. Mark H. Gelber und Anna. Dorothea Ludewig. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag, 2011.
• Steiman, L. B. : „The agony of humanism in World War I in the case of Stefan Zweig.“ In: Journal of European Studies. Bd. 6 (1971) Nr. 2. S. 100-124.
• Strelka, Joseph: Stefan Zweig. Freier Geist der Menschlichkeit. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1981.
• Varkonyi, Istvan: „„Mit meinem Leibe wider den Krieg, mit meinem Leben für den Frieden.“ Das Motiv „Krieg-Frieden“ bei Stefan Zweig.“ In: Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. S. 88-103.
• Weinzierl, Ulrich: „Außerordentlich gelehrige Halbaffen. Wortkämpfe eines Pazifisten.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 24.3.1998. S. 6.
• Zohn, Harry: „Stefan Zweig and Romain Rolland: the literally and personal relationship.“ Stuttgart: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Stuttgart, 1974. In: Universitas. Bd. 16. (1974), Nr. 2, S. 169-174.
Nachschlagewerke:
• Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. (16. Band). Mannheim: F. A. Brockhaus.
• Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Autoren-Werke-Begriffe. Bd. 5. Dortmund: Harenberg Lexikon Verlag, 1989.
110
Internetquellen:
• http://www.stefan-zweig-centre-salzburg.at/
• http://www.association-romainrolland.org/
111
7. ANHANG
7.1. Lebensläufe der Autoren
Stefan Zweig: 286
• Geboren am 28.11.1881 in Wien
• Stammte aus großbürgerlicher jüdischer Familie
• begann mit Lyrik- recht unbekannt (Silberne Saiten 1901)
• Studium (Germanistik, Philosophie, Romanistik) in Wien und Berlin
• 1904 Promotion
• Reisen durch die ganze Welt
• Während 1. WK Tätigkeit im Kriegsarchiv
• 1917 Jeremias erscheint
• Bekannte sich ab 1917 öffentlich zum Pazifismus
• in der Zwischenkriegszeit und auch im Exil war er der meistübersetzte deutsche
Autor
• 1934 schuf er sich einen zweiten Wohnsitz in England emigrierte 1938 dorthin
• Die politische und geistige kulturelle Zerstörung Europas durch den Faschismus
dominiert ab etwa 1933 Zweigs literarisches Schaffen (Biographien, Schachnovelle, Die
Welt von Gestern)
• psychologisches Erzählen Brennendes Geheimnis, Amok, Verwirrung der
Gefühle, Ungeduld des Herzens
• 1940 Übersiedlung in USA
• 1941 nach Brasilien, wo er am 23.2.1841 mit seiner zweiten Frau Selbstmord
beging
286 Vgl. Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Autoren-Werke-Begriffe. Bd. 5. Dortmund: Harenberg Lexikon Verlag, 1989, S. 3148.
112
Romain Rolland: 287 288
• geboren am 29.1.1866 in Clamecy/Burgund
• Aus protestantisch-bürgerlicher Familie
• 1880 Übersiedelung mit seiner Familie nach Paris um ihm bestmögliche Ausbildung
zu ermöglichen
• Studium der Geschichte an der École Normale Supérieure
• 1889-91 Aufenthalt in Rom- großer Einfluss durch Malwida von Meysenburg
(Freundin von Nietzsche und Wagner)
• 1895 Veröffentlichung zweier Doktorthesen über Oper und Malerei
• 1898 Beginn des Zyklus Théâtre de la Révolution
• 1901 Gründung einer musikwissenschaftlichen Zeitschrift
• 1902 Lehrtätigkeit an der École des Hautes Études Sociales
• Reisen nach Deutschland, Österreich, Italien und in die Schweiz
• 1904-1910 Lehrtätigkeit an der Sorbonne über Musikgeschichte
• 1904-12 Arbeit am10-bändigen Werk Jean-Christophe
• 1913 Grand prix de littérature de l’Académie francaise
• 1916 Nobelpreis für Literatur (für 1915) und spendete das Preisgeld dem Roten
Kreuz.
• 1915 Au-dessus de la mêlée erscheint
• 1917 Briefwechsel mit M. Gorki und Publikation des Artikels A la Russie libre et la
libératrice in der Zeitschrift Demain
• 1920 Clerambault erscheint
• 1921/1922 Auseinandersetzung mit der Gruppe Clarté rund um Henri Barbusse
• 1923 Gründung der Zeitschrift Europe
• 1924-1926 Arbeit an Voyage intérieur
• Ab 1930 Engagement für die Sowjetunion- 1935 Empfang bei Stalin und Aufnahme
in die Akademie der Wissenschaften
287 Vgl. Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Autoren-Werke-Begriffe. Bd. 4. Dortmund: Harenberg Lexikon Verlag, 1989, S. 2466 f. 288 Vgl.: Romain Rolland. Sa vie, son ouevre. 1866-1944. [Ausstellung] Archives de France/ Hotel de Rohan, 1966. S. XIII- XVII.
113
• 1932 gemeinsame Organisation mit Barbusse des Congrès mondial contre la guerre
in Amsterdam
• 1933 Ablehnung der Goethe-Medaille und Ehrenpräsident des Comité mondial
contre la guerre et le fascisme
• 1935 Juni/Juli Reise in die Sowjetunion und Aufenthalt bei Gorki
• 1937 Kauf und eines Hauses in Vézelay, zieht sich zurück
• 1938 Protest gegen die Vorgänge in Deutschland
• 1939 Austritt aus der Akademie der Wissenschaften der UdSSR aufgrund des
Hitler-Stalin Pakts
• 1942 Publikation Le Voyage intérieur
• 30. Dezember Tod in Vézelay
114
7.2. Abstract
Die vorlegende Arbeit beschäftigt sich mit Romain Rollands und Stefan Zweigs
Pazifismus in den Jahren des Ersten Weltkrieges und wie dieser in ihren Werken Jeremias
und Clerambault zum Ausdruck kommt.
Stefan Zweig war bereits zu Lebzeiten ein vielgelesener Autor und erfährt auch in den
Jahren nach seinem Tod eine rege Rezeption. Sowohl in deutscher als auch in
französischer Sprache finden sich viele Publikationen zu seinem Leben und Werk. Romain
Rollands Werke werden heute vergleichsweise wenig rezipiert. Es gibt vereinzelt
Fachliteratur, die sich mit Stefan Zweig und Romain Rolland beschäftigt, in der vor allem
auf den Briefwechsel Bezug genommen und auf die Freundschaft der beiden Autoren
eingegangen wird. Ihre Romane Jeremias und Clerambault wurden bisher noch nicht
parallel gelesen und vergleichend betrachtet.
Die Lebenswege der Autoren in den Jahren des Krieges werden näher betrachtet, um
Relevantes für die Entwicklung ihres Pazifismusbegriffes herauszuarbeiten. Dank der
veröffentlichten Briefkorrespondenz, ihren kriegskritischen Artikeln und
Tagebuchaufzeichnungen die ebenfalls zugänglich sind, sowie der Sekundärliteratur ist es
möglich ein umfassendes Bild der Jahre des Krieges zu zeichnen und so ihr pazifistisches
Engagement aufzuzeigen.
Nach diesem Blick auf die Aktionsbereiche des Pazifismus außerhalb der Domäne des
Literarischen, folgt die Analyse zweier literarischer Werke der Autoren, welche einen
pazifistischen und supranationalen Grundgedanken transportieren, der oftmals nicht
explizit benannt wird und als Subtext das erzählerische Werk untermauert. Um dies
aufzuzeigen werden die Werke Jeremias und Clerambault hinsichtlich ihrer pazifistischen
Botschaft untersucht. Einer gesonderten Betrachtung der Werke, in welcher die
Entwicklung des Protagonisten zum Pazifisten in Clerambault und der pazifistische Kampf
der Hauptfigur im Drama Jeremias dargestellt werden, folgt ein Vergleich der beiden
Werke, wobei sich einige Ähnlichkeiten finden lassen. In beiden Werken wird die
Dynamik der Masse, ohne die eine frenetische Kriegsbegeisterung nicht zustande kommen
könnte, dargestellt und kritisch hinterfragt. Anhand der Hauptfiguren der Werke werden
die Schwierigkeiten der Kriegsgegner ersichtlich, die gegen eine Vielzahl von
Hindernissen ankämpfen müssen, nicht zuletzt gegen die eigenen Zweifel. Die
115
Protagonisten werden als Märtyrer des Friedens dargestellt, worin sich durchaus Parallelen
zu den pazifistischen Bemühungen der Autoren ziehen lassen. Es lässt sich festhalten, dass
sich Romain Rollands und Stefan Zweigs Pazifismus in den Jahren des Krieges sowohl
innerhalb als auch außerhalb des literarischen Feldes manifestiert. Wobei die Werke
Jeremias und Clerambault für sich stehen und als Kunstwerke noch heute das pazifistische
Gedankengut ihrer Verfasser verbreiten.
.
116
7.3. Curriculum Vitae
Angaben zur Person: Denise Valerie Indinger
geb. 13.07.1988 in Salzburg
österreichische Staatsbürgerschaft
Sohn Anton geboren 2012
Ausbildung: 1994- 1999 Volksschule Aigen
1999- 2007 Bundesgymnasium Salzburg-Nonntal,
Europaklasse
seit 2007 Studium der Vergleichenden
Literaturwissenschaft am Institut für Komparatistik an
der Universität Wien
Praktika: 2/3 2011 Praktikum in der Dokumentationsstelle für
neuere österreichische Literatur (Literaturhaus Wien)
5/6 2011 Praktikum im Zsolnay Deuticke Verlag Wien
Sprachkenntnisse: Englisch: in Wort und Schrift
Französisch: in Wort und Schrift
Italienisch: Grundkenntnisse
Latein: großes Latinum
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