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Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 1
Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtsethik I
Elisabeth Holzleithner
SoSe 2013
Basierend auf dem Skriptum von Gerhard Luf
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 2
1. KapitelZur Frage nach Begriff und Wesen des Rechts
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 3Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 3
Von der Schwierigkeit, Recht zu definieren
• „Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder … auf das, was in irgend einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, … in Verlegenheit setzen … . Was rechtens sei …, d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er wohl noch angeben; aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, …
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 4Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 4
Von der Schwierigkeit, Recht zu definieren
• … wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen Prinzipien verlässt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (…), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus‘ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade, dass er kein Gehirn hat.“(Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, VI, 230)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 5Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 5
Phaedrus, Fabula 1.7: Vulpes ad personamtragicam / Der Fuchs zur tragischen Maske
• Personam tragicam forte vulpes viderat:
• „O quanta species“, inquit, „cerebrum non habet!“
• Hoc illis dictum est, quibushonorem et gloriam
• Fortuna tribuit, sensum communem abstulit.
• Der Fuchs traf zufällig eine tragische Theatermaske
• und sagte: „Hui, welch großartiger Anblick ‐ und hat kein Hirn!“
• Dies ist jenen gesagt, denen das Schicksal Ehre und Ruhm
• gegeben, aber den gesunden Menschenverstand geraubt hat. http://performance.unibas.ch/texte/
Personatragica.html
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 6Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 6
„Was rechtens ist“
• Setzt Rechtsbegriff bereits voraus
• Wonach zu suchen ist (nach Kant)
Grundlage: „Recht und Unrecht“„Bloße Vernunft“
Positive Gesetzgebung
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 7Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 7
Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Begriff und Wesen des Rechts
• Unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen– Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Politologie
• Methodischer Standort– Rechtspositivismus vs „materiale“ Rechtsauffassungen
• Recht als historisches Phänomen – Sozio‐ökonomische, kulturelle, zivilisatorische Bedingunge– Davon geprägte Interessen‐ und Konfliktlagen
Regelungserfordernisse; institutionelle Strukturen des Rechts
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 8Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 8
Annäherung über Elemente des Rechtsbegriffs
• Recht: „die für eine Rechtsgemeinschaft verbindliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die unter der Anforderung der Gerechtigkeit steht und allenfalls mit Zwang durchgesetzt wird.“
• Koziol/Welser, Grundriss des bürgerlichen Rechts
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 9Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 9
Recht als normative Ordnung ‐Rechtsgesetz und Naturgesetz
• Naturgesetz: Versuch, die Welt des „Seienden“ in ihrer Ordnung zu erfassen
• Rechtsgesetz: Sollensnormen Ordnung menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft
• Ausgangspunkt: menschlicher Wille – Mensch als verantwortliche PersonZurechnung von Handlung und Rechtsfolgen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 10Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 10
Recht als normative Ordnung ‐Rechtsgesetz und andere normative Ordnungen
• Sitte
• Moral
• Recht
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 11Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 11
Recht als richtige Ordnung:Recht unter der Anforderung von Gerechtigkeit?
• Dagegen Rechtspositivismus:• Recht: „Normen, deren Nichtbefolgung staatlichen Zwang auslösen soll, sind Normen des Rechts und als solche Gegenstand der Rechtswissenschaft. [Sie] haben notwendigerweise gemeinsam, dass sie von Menschen gesetzt wurden; wir bezeichnen sie daher als positives Recht (‚ponere‘).“
• (Heinz Mayer, Einführung in das öffentliche Recht)
• Gründe: erkenntnistheoretischer Art
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 12Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 12
Recht als richtige Ordnung:Recht unter der Anforderung von Gerechtigkeit?
• Notwendige Begriffliche Verknüpfung von Recht und Gerechtigkeit
• Bindung von Recht an oberste Grundsätze der Gerechtigkeit – allgemeinverbindlich
• Unmöglich: Lösung von Rechtsproblemen allein mit Hilfe des positiven Rechts Anwendung von Rechtsprinzipien (Ronald Dworkin: „Hard Cases“)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 13Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 13
Recht und staatlich organisierter Zwang
• Präventiver Zwang: Motivation
• Repressiver Zwang: Antwort auf Normverletzung
• Grenzen des Zwangs?– Handeln oberster Staatsorgane
• Warum überhaupt „staatlich organisierter“ Zwang?– Zurückdrängung von Selbsthilfe– Vertrauen der Rechtsunterworfenen auf entsprechendes Tätigwerden des Staates
• Zwang als (bloßes) Mittel zum Zweck
Konsens der Rechtsgemeinschaft – „Rechtsethos“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 14Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 14
Von der Notwendigkeit des Rechts im menschlichen Zusammenleben
• Brauchen Menschen Recht?• Ist ein idealer Zustand denkbar, in dem Recht nicht notwendig wäre?Rechtsphilosophie auf der Suche nach der Grundsituation von Menschen in der Gesellschaft – Aristoteles
– Thomas Hobbes
– Immanuel Kant
– Karl Marx
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 15Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 15
Aristoteles (384‐322 v.Chr.)Mensch als „zoón politikón“
• Ein von Natur aus nach staatlicher Gemeinschaft strebendes Wesen
• Volle Entfaltung des eigenen Menschseins ausschließlich im Zusammenleben mit anderen in der Gemeinschaft der Polis
gelungen‐geglücktes Leben
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 16Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 16
Mensch als zoón politikon
• Vernunft und SpracheKommunikation mit anderen
• Regelung des Zusammenlebens nach verbindlichen Regeln von Recht und Gerechtigkeit
• „Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, dass er allein fähig ist, sich vom Guten (agathón) und Schlechten (kakón), von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaft dieser Vorstellungen ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 17Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 17
Umfassende Aufgabe des Rechts
• Den gesamten Lebensvollzügen der Bürger eine gelungen‐geglückte Wirklichkeit verschaffen
• Verhinderung eines Rückfalls in inhumane Zustände• „Denn wie der Mensch in seiner Vollendung das edelste aller Lebewesen ist, so wiederum losgerissen von Gesetz und Recht das schlimmste von allen. Denn nie ist die Ungerechtigkeit fürchterlicher, als wenn sie Waffen hat; der Mensch aber hat die natürlichen Waffen in Händen durch seine angeborene Klugheit und Tüchtigkeit, Waffen, die am allermeisten dazu geeignet sind, in den entgegengesetzten Zwecken sich ihrer zu bedienen.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 18Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 18
Mögliche Verfassungen der Polis
„Zum Nutzen der Regierten“
Herrschaftsträger„Zum Nutzen der Regierenden“
Aristokratie Einer Despotie
Aristokratie Wenige Oligarchie
Republik („Politie“) Alle Demokratie
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 19Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 19
Ideal: Politie (gemischte Verfassung)
• Mix aus Demokratie und Oligarchie
• Ergänzung der jeweils einseitigen Ziele
Freiheit / Reichtum
• in Ausrichtung auf die politische Tugend der Bürger
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 20Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 20
Zwei Anforderungen an die Politie
• Verbindung institutionell‐organisatorischer Elemente der „reinen“ Staatsformen Demokratie und Oligarchie
• Stützen auf breiten sozialen Mittelstand ökonomisch unabhängiger Bürger
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 21Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 21
Lobpreis von Maß und Mitte
• „In allen Staaten gibt es drei Teile, die sehr Reichen, die sehr Armen und die Mittleren. Wenn nun das Maß und die Mitte anerkanntermaßen das Beste sind, so ist auch in bezug auf die Glücksgüter der mittlere Besitz von allen der beste. Denn in solchen Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft. Schwierig ist es dagegen, wenn man übermäßig schön, kräftig, adelig oder reich ist, oder umgekehrt übermäßig arm, schwach und gedemütigt. Die einen werden leicht übermütig und schlecht im Großen, die anderen bösartig und schlecht im Kleinen; die einen tun im Übermut Unrecht, die anderen in Boshaftigkeit.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 22Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 22
Fazit zur maßvollen ökonomischen Unabhängigkeit
• Keine Sorge um bloße Daseinssicherung• Ausbildung sittlicher Reife und der zum politisch‐verantwortlichen Tun befähigenden bürgerlichen TugendVerwirklichung der Herrschaft über Freie und Gleiche in der gemischten Verfassung
• Fähigkeit, ebenso „gut zu regieren“ wie „gut regiert zu werden“
• Abwechslung in allen Ämtern – Ebenbürtigkeit außerhalb der Ämter
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 23Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 23
Zur Ungleichzeitigkeit gleicher politischer Macht
• „Denn es können nicht alle gleichzeitig regieren, sondern jahrweise oder nach irgend einer anderen Ordnung oder Zeit. Auf diese Weise werden doch alle regieren, wie wenn etwa Schuster und Schreiner in der Arbeit abwechselten und nicht immer dieselben Schuster und Schreiner wären. … Da regieren sie dann abwechslungsweise und werden regiert, als wären sie andere geworden.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 24Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 24
Fazit Aristoteles
• Recht dient auf notwendige und ursprüngliche Weise der Selbstverwirklichung der Menschen in ihrem Zusammenleben miteinander
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 25Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 25
Thomas Hobbes (1588‐1679)
• Gesellschaft im Zustand eines bellumomniumcontra omnes
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 26Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 26
Hobbes: Philosoph der Furcht
• Karfreitag, 5. April 1588, Nachricht von der drohenden Ankunft der Armada ‐ Frühgeburt
• „Und eine solche Furcht empfing da meine Mutter, dass sie Zwillingegebar, mich zugleich und die Furcht.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 27Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 27
Menschenbild von Hobbes: kausal‐mechanistisch• Menschen primär selbstinteressiert• Elementare Erscheinungsformen dieses Selbstinteresses:
– Streben nach Selbsterhaltung
– Verlangen nach Glück
• Gedankenexperiment: Naturzustand– Keine Begrenzung oder Ordnung menschlichen Strebens danach, das Selbstinteresse zu befriedigen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 28Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 28
Naturzustand• Menschliche Freiheit als Willkürfreiheit• „genaugenommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich mit Widerstand äußere Bewegungshindernisse meine.“Recht, die eigene Macht nach eigenem Willen „zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste ansieht.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 29Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 29
Problematik der Menschen im Naturzustand• Alle haben ein Recht auf alles• Rastlose Unmäßigkeit des Menschen bei der persönlichen Glückssuche
• „I put for a general inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death.“
• Befürchtung, gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren, wenn diese Mittel nicht vermehrt werden.
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 30Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 30
Dynamik der Eskalation
• Konkurrenz um knappe Güter, die das Überleben sichern und Glück verheißen
• Ungewissheit künftiger Bedrohung und darauf antwortende präventiv‐aggressive Maßnahmen:
• „Die Furcht, von einem anderen Schaden zu erleiden, spornt uns an, dem zuvorzukommen oder sich Anhang zu verschaffen; denn ein anderes Mittel, sich Leben und Freiheit zu sichern, gibt es nicht.“Atomarer Erstschlag; US‐Sicherheitsdoktrin der „pre‐emptive strikes“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 31Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 31
Krieg aller gegen alle
• Recht auf alles Recht auf nichts• „Da findet sich kein Fleiß, weil kein Vorteil davon zu erwarten ist; es gibt keinen Ackerbau, keine Schifffahrt, keine bequemen Wohnungen, keine Werkzeuge höherer Art, keine Länderkenntnis, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine gesellschaftlichen Verbindungen; statt dessen ein tausendfaches Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 32Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 32
Aus: Alison Bechdel,
The Essential Dykes to
Watch OutFor
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 33Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 33
Grundlegende Gleichheit im Kriegszustand
• „Die Natur hat die Menschen sowohl hinsichtlich der Körperkräfte wie der Geistesfähigkeiten untereinander gleichmäßig begabt ... Bezüglich der körperlichen Kraft wird man gewiss selten einen so schwachen Menschen finden, der nicht durch List oder in Verbindung mit andern, die mit ihm in gleicher Gefahr sind, auch den stärksten töten könnte.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 34Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 34
Hobbesisches in Buffy the Vampire SlayerGespräch mit einem Vampir
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 35Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 35
• Unmöglichkeit, allein und auf Dauer dem allgemeinen Elend des Kriegszustandes und der Unsicherheit zu entkommen
Wunsch nach Frieden• „Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 36Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 36
Gesellschaftsvertrag – Errichtung einer starken Staatsgewalt• Gewährleistung der Selbsterhaltung der Bürgerinnen und Bürger
• Garantie des Friedens auf Dauer• „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufriedengeben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 37Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 37
„Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei“„Keine Macht ist auf Erden, die ihm zu vergleichen ist“„Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei“„Keine Macht ist auf Erden, die ihm zu vergleichen ist“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 38Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 38
Leviathan: Ein totaler Staat?
• Zurückhaltende Ausübung staatlicher Macht aus politischer Raison
• Pflicht der Herrschenden, das Wohl des Volkes als höchstes Gesetz zu beachten
1. Schutz vor äußeren Feinden
2. Wahrung des inneren Friedens3. Recht zur Bereicherung, soweit sich dies mit der öffentlichen Sicherheit verträgt
4. Erfreuen einer unschädlichen Freiheit
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 39Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 39
Einschätzung eines totalitären Denkers: Carl Schmitt• „Der Leviathan wurde [...] zu einem riesenhaften Mechanismus im Dienst der Sicherung des diesseitigen physischen Daseins der von ihm beherrschten und beschützten Menschen“(DL, 54).
• Bei Hobbes finde sich ein „unausrottbare(r) individualistische(r) Vorbehalt“ (DL, 84)
• Differenzierung zwischen öffentlichem Bekenntnis und privatem Glauben: die zentrale „Bruchstelle in der sonst so geschlossenen, unwiderstehlichen Einheit“ des Leviathans
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 40Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 40
Recht als Institution zur Ermöglichung menschlicher FreiheitImmanuel Kant• 1724‐1804
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 41Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 41
Das „krumme Holz“ des Menschen
• Daraus kann „nichts Gerades gezimmert werden“.• Natur mutet dem Menschen eine Besonderheit zu: die Vernunft
• Fähigkeit zur Selbstbestimmung – im Rahmen der selbst gewählten „Lebensreise“
• Verfolgen der eigenen Ziele ist nicht von vornherein mit jenen von anderen vereinbarWechselseitige Einschränkung der Willkür nach allgemeingültigen – rechtlichen – Regeln
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 42Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 42
Was Recht ist und was UnrechtVernunft (kein „hölzerner Kopf“!)
• Wechselseitige Einschränkung der Handlungssphären nach allgemeinen Regeln:
• Verpflichtung auf leitendes normatives Prinzip:• FREIHEIT des Menschen – a priori (auf unbedingte und unverzichtbare Weise) – im Sinne der
• AUTONOMIE (Selbstgesetzgebung)• Fähigkeit, die Regeln des eigenen Handelns unabhängig von Befehlen anderer selbstverantwortlich zu setzen
„Negatives“ Element„Negatives“ Element
„Positives“ Element„Positives“ Element
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 43Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 43
Aufgabe des Rechts
• Äußerlich in Erscheinung tretendem menschlichem Freiheitshandeln („Willkür“) einen äußeren Entfaltungsbereich gewähren.
• Recht als der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen ereinigt werden kann.“Wechselseitige Anerkennung als gleichermaßen freies Individuum
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 44Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 44
Freiheit als Rechtsprinzip
• „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 45Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 45
Freiheit und die Begründung von Rechtszwang • Doppelte Negation• Negation der Beeinträchtigung (Negation) von Freiheit durch Rechtszwang
• „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt ist, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d.i. recht: ...
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 46Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 46
Legitimer Ort der Ausübung von Zwang: Rechtsstaatliche Republik• Gewaltenteilung• Bindung der staatlichen Organe an die Gesetze• Bindung an den „vereinigten Willen des Volkes“(praktische Vernunftidee):
• Jeder Gesetzgeber soll seine Gesetze so geben, „als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe.“
• Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 47Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 47
Klassencharakter des Rechts in marxistischer Rechtskritik
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 48Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 48
Vorrevolutionäre Gesellschaften
• Klassengegensätze
• Wurzeln: – Arbeitsteilung
– Privateigentum an den Produktionsmitteln
• Geschichte: Klassenkämpfe Entfremdung, Ausbeutung, Erniedrigung des Menschen durch den Menschen
Recht = Klassenrecht
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 49Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 49
Recht als Klassenrecht
• Ausdruck des Willens der jeweils herrschenden Klasse
• Aufgabe, die „materiellen Lebensbedingungen“ der herrschenden Klasse auf der jeweiligen Entwicklungsstufe einer Gesellschaft zu sichern
• Staat und Recht: Instrument zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 50Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 50
Jeweilige Gestalt des RechtsÖkonomische Struktur einer Gesellschaft
Sozio‐ökonomische BasisEntwicklungsstand der # Produktivkräfte
# Produktionsverhältnisse ( ET-Verh.)
ÜberbauPolitische, juristische,Moralische, religiöseIdeen und Institutionen:Staat, Rechtswesen, Parteien, Kulturelle Einrichtungen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 51Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 51
Ideologische Hauptaufgabe des Rechts
• Stabilisierung der herrschenden Herrschafts‐ und Produktionsverhältnisse
• Anschein einer gerechten Ordnung • Verschleierung der Interessenbedingtheit des Klassenrechts gegenüber der Kritik
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 52Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 52
Proletarische Revolution
• Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln
• Dadurch Überwindung der Klassengliederung und ihrer Antagonismen
Leitprinzip, letzte Stufe: „Klassenlose Gesellschaft“• Arbeitsteilung als „knechtende Unterordnung“ wird abgeschafft
• Vergesellschaftung der Produktionsmittel
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 53Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 53
Klassenlose Gesellschaft: jenseits der Gerechtigkeit• Klassenbedingte Interessensgegensätze verflüchtigen sich• Keine „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“
mehr• Optimale Entwicklung der Produktivkräfte lässt Mangel
entfallen• „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen.“• „Absterben“ von Recht und Staat, weil als Mittel der
Herrschaft überflüssig
• Allenfalls eingesetzt zur „Verwaltung von Sachen“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 54
2. KapitelDie Quellen des Rechts
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 55Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 55
Zum Begriff der Rechtsquelle
• Befassung mit Rechtserzeugungsquellen: jene Rechtsformen, in denen Recht erzeugt wird
• Grundtypen– Rechtsbildung durch Tradition (Gewohnheitsrecht)
– Rechtsbildung durch gesatztes Recht
– Rechtsbildung durch Rechtsprechung
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 56Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 56
Rechtsbildung durch Tradition (Gewohnheitsrecht)
• Naheverhältnis zu Brauch und Sitte –Verdichtung zu Rechtssätzen
• Zeitlicher Faktor tatsächlich durch längere Zeit allgemein und gleichmäßig geübter Brauch
• Normativer FaktorÜberzeugung, dass man es mit einer Forderung des Rechts zu tun hat (opinio iuris)
• Heute: Untergeordnete Rolle
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 57Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 57
Rechtsbildung durch Gesetzesrecht
• Resultat eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses
• Einsetzen gegen Ende des Mittelalters• Gesetz zunächst vornehmlich zur Verbesserung des „guten alten Rechts“ eingesetzt – zur Bereinigung strittiger Punkte
• Volle Ausformung: Zeit der großen Kodifikationen, Entwicklung des Rechts‐ und Verfassungsstaates (Ende 18./Anfang 19. Jh)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 58Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 58
Faktoren der Entwicklung des modernen Gesetzesrechts
• Politischer Faktor: Gesetz als Ausdrucksform staatlicher Souveränität (Bodin)
• Gesellschaftliche Faktoren
• Rechtsstaatlicher Faktor
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 59Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 59
Politischer Faktor: Gesetz als Ausdrucksform staatlicher Souveränität (Bodin)
• Souverän: Träger der Staatsgewalt
• Zunächst: Absolut herrschender Fürst – siehe Jean Bodin, Sechs Bücher über die Republik„Herrschersouveränität“
• In heutigen Verfassungsstaaten: Volk„Volkssouveränität“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 60Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 60
Sinn von Souveränität
• Befugnis, für alle anderen verbindlich kraft autoritativer Entscheidung Recht setzen zu dürfen
• Rechtstitel: Ermächtigung, altes und partikulares Recht aufzuheben, abzuändern
• „princeps legibus solutus“
• „car tel est nostre plaisir“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 61Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 61
Historische Hintergründe
• Glaubensspaltung, Religionskriege• Radikale Umbildung der Legitimitätsgrundlagen der Rechtsordnung
• Bis dahin: Religiöses Fundament des Rechts• Recht in seinen Grundzügen: Ausdruck eines gottgewollten Ordnungsplans
• Bruch durch die Glaubensspaltung: Streit gerade über den Inhalt des göttlichen Willens
Religionskriege
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 62Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 62
Souveräne Macht als Antwort auf die Religionskriege
• Streit über Glaubensinhalt konnte nicht beigelegt werden
• Innerer Friede nur durch Trennung von Politik und Religion
• Politische Instanz über den religiösen Streitparteien: Machtvollkommenheit (Fürst)Zwang der Bürgerkriegsparteien zum friedlichen Zusammenleben
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 63Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 63
Was der souveräne Fürst/die souveräne Fürstin vermag
• Exkurs zur souveränen Fürstin: Jean Bodin vs. Elisabeth I.
Bodin, vous êtes un
Badin!
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 64Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 64
Was der souveräne Fürst/die souveräne Fürstin vermag
• Kraft Machtmonopol: Durchsetzen einer einheitlichen Rechtsordnung in ihrem Herrschaftsgebiet
• Positives Gesetz wird zum zentralen Instrument staatlicher Politik – zur Verwirklichung der „salus publica“
• Mittel bewusster und zweckgerichteter Sozialgestaltung
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 65
Gesellschaftliche Faktoren
• Auflösung der alten sozialen Gebilde:Stände, partikulare Rechtskreise
• Hervortreten sozialer Einheiten mit größter Mobilitätbeschleunigte strukturelle Anpassung an
veränderte Gegebenheiten:Aufschwung der Städte, Entstehung überregionaler Märkte, Umstellung von Tausch‐ auf Geldwirtschaft, Arbeitsteilung
• Differenzierung der Gesellschaft nach Funktionsbereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 65
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 66
Gesellschaftliche Faktoren
• Aufstieg des Bürgertums
• Industrialisierung (seit ca. Mitte 19. Jh.)
• Technischer Fortschritt
zunehmende Komplexität von Sozialbeziehungen
erhöhte Anforderungen an das RechtBewusste, zweckgerichtete Gestaltung der soziale Ordnung durch positives Recht
Kodifikationen: Rechtssicherheit Rechtsreform Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 66
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 67
Rechtsstaatlicher Faktor
• Moderner Rechts‐ und Verfassungsstaat• Frontstellung gegen ständische Ungleichheiten und absolutistische Bevormundung
Bindung alles staatlichen Handelns an Gesetze• Schutz der gleichen Freiheit aller Rechtsunterworfenen durch allgemeine Normen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 67
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 68
Verrechtlichung und ihre Probleme
• Zunahme von:
• Regelungsdichte Verhältnis von geregelten und regelungsfreien Räumen
• RegelungsbesatzSumme der Rechtsgültigen Normen
• RegelungstiefeDetaillierungs‐ und Spezialisierungsgrad von Regelungen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 68
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 69
Gründe für Verrechtlichung IVerändertes Selbstverständnis des Gesetzgebers im Sozialstaat
• Ausgangspunkt: Bürgerlicher Rechtsstaat• Generelle, allgemeingültige Regelungen für unbestimmte Zeit
formelle Gleichbehandlung
• Kein Eingriff in die Vorgänge des Marktes• Annahme: Anonyme Mechanismen des Marktes sorgen von sich aus für gerechte Güterverteilung (Adam Smith: „Unsichtbare Hand“ des Marktes)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 69
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 70
Gründe für Verrechtlichung IVerändertes Selbstverständnis des Gesetzgebers im Sozialstaat
• Einsicht: Marktversagen mit Blick auf dauerhafte Sicherung der Realbedingungen gleicher Freiheit aller
• Regulierungsmöglichkeiten des Sozialstaats:
• Auch kurzfristiger Einsatz von
• Speziellen Gesetzen
• Mit bestimmtem Adressatenkreis
bewusste Steuerung Prozesse sozialen Austauschs
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 70
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 71
Gründe für Verrechtlichung IITechnisierung• Bislang dem menschlichen Einfluss entzogene Lebensbereiche: künstlich gestaltbar bzw. zumindest beeinflussbar
Gestaltungsanforderungen an das Recht
• Gestaltungsalternativen
• Unterschiedliche, zum Teil kontroverse Interessen
• GefahrenquellenSchutz‐ und Begrenzungsfunktion des Rechts, weil nicht mit Selbstbeschränkung zu rechnen ist
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 71
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 72
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 73
Kontroversen über diese Entwicklung in der Forschung
• Stammzell‐Experte: gar kein Fortschritt beim reproduktiven Klonen; Vergleich mit Mäuseembryonen
• US‐amerikanische Bischofskonferenz: „zutiefst beunruhigend“; Befürchtung, dass die Methode für das reproduktive Klonen aufgegriffen wird
• Hengstschläger: „Die Anwendung von embryonalen Stammzellen entwickelt sich sehr zäh.“ –Problematik unkontrollierten Wachstums
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 74
Probleme der Verrechtlichung INachlassende Macht rechtlicher Steuerung
• Unübersichtlichkeit Orientierungsprobleme• Hohes Maß an Rechtsunkenntnis auch und gerade unter Begünstigten
• Zuviel an Regelungen nicht mehr ernst genommen
• Mangelnde Zustimmung zu Regelungen bei Adressaten wie Vollzugsorganen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 74
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 75
Probleme der Verrechtlichung IFreiheitsbedrohende Wirkung• Verengung von Ermessensspielräumen des Handelns („Willkür“)
• Entfaltung qualitativ freiheitsbedrohenderWirkungen
• Habermas: „Kolonialisierung der Lebenswelt“• Wenn subjektive Rechte dort gewährt werden, wo menschliches Zusammenleben notwendig von Vertrauen und persönlicher Begegnung geprägt ist.
• ABER: Frage der Verteilung von Macht
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 75
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 76
Rechtsbildung durch Rechtsprechung
• Überhaupt Rechtsquellencharakter?– Bindung an Gesetze
– Verbindlichkeit nur für den Einzelfall
• Richter als „Mund des Gesetzes“?
Einzig mögliches Urteil
Sachverhalt
Feststehende gesetzliche Regel
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 77
Rechtsanwendung: Komplexer Vorgang mit rechtsschöpferischen Komponenten
• Konkretisierung des Gesetzes und Anreicherung um Fallvarianten
• Logische Differenz zwischen abstraktem Charakter der Regel und konkretem Charakter des Rechtsfalls
• Zeitliche Kluft zwischen Erlassung der Norm und ihrer Anwendung (ABGB!)– Differenz in Wertungsperspektiven– Veränderte geschichtliche Bedingungen
• Judizieren mit dem Bemühen um systematische Einheit der verschiedenen Rechtsschichten
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 78
Präjudizien und ihre Verbindlichkeit• Urteile, die zeitlich vorhergehend in gleichen Fällen bzw. ähnlichen Fällen gesprochen wurden
• Auffinden von Präjudizien: Interpretation• Orientierung an den „rationes decidendi“ eines Prinzips – den leitenden Entscheidungsgründen„ständige Rechtsprechung“
• Beispiel aus der Judikatur des OGH (Gz. 10 Ob S85/11i):„Nach ständiger Rechtsprechung ist die erstmalige Bemessung einer Gesamtrente aus mehreren Unfallereignissen ohne die Einschränkung des § 183 ASVG vorzunehmen (10 ObS 413/97a, SSV‐NF 11/157; 10 ObS 405/97z, SSV‐NF 11/154).“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 79
Gründe für das Heranziehen von Präjudizien
• Ideal: Richter, Richterin soll sich fragen, ob die konkrete Entscheidung geeignet ist, die Grundlage auch jeder weiteren Entscheidung zum gleichen Falltypus zu bilden
• Gerechtigkeitsprinzipien, z.B. Gleichbehandlung• Rechtssicherheit, Rechtskontinuität Vorhersehbarkeit
• Entlastungsfunktion für Gerichte
• Besondere Bedeutung: Judikatur von Oberinstanzen
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 80
Zum Ethos gerichtlichen Urteilens
• „Der Jurist knüpft an die zurückliegenden einschlägigen Präjudizien an. Er muss aber auch bedenken, dass seine Entscheidung in der Zukunft als Präjudiz herangezogen werden wird, vor allem, wenn er eine neue Rechtsfrage erstmals entscheidet. Er muss so entscheiden, dass er wollen kann, dass seine Entscheidung künftig als Präjudiz geeignet sein wird. Er zeigt also eine Verantwortung, die über den konkreten Einzelfall hinausweist. ... Nichts anderes als ein Anwendungsfall des kantischen kategorischen Imperativs: Der Richter muss wollen können, dass die Maxime seiner konkreten Entscheidung zur allgemeinen Maxime werde.“(Kriele)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 81
Freie Autorität von Präjudizien• KEINE dem Gesetz entsprechende normative Bindungswirkung
• Verbindlichkeit ALLEIN über die argumentative Überzeugungskraft der Entscheidungsgründe
• Präjudizienvermutung: Zumutung der Richtigkeit• Bei Hinwegsetzen über Präjudiz: Argumentationslast• Normative Bindung an JudikateBsp. OGH: Verstärkter Senat (um 6 Mitglieder)– Bei Abgehen von ständiger Rspr des OGH– Bei Abgehen von Entscheidung eines verstärkten Senats– Bei uneinheitlicher Rechtsprechung des OGH bzglRechtsfrage von grundlegender Bedeutung
NICHT: Beweislast!
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 82
Gesetzesrecht und Case LawAngloamerikanischer Rechtskreis
• Rechtsprechung der königlichen Gerichte von Westminster: Common Law, seit 11. Jh.
• Rechtsprechung des Gerichts des Kanzlers in Billigkeitsfällen: Equity Law, seit 15. Jh
• Verständnis von Richterrecht: Normative Bindungswirkung der leitenden Entscheidungsgründe über den Einzelfall hinaus –gesetzesgleiche Wirkung
• Zusätzlich: jede Menge Gesetzesrecht (nicht bloß zur Ergänzung und Korrektur)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 83
Begriffe und Konzeptionen des Case Law
Precedents• Gerichtlich vorentschiedene Fälle, die für die Beurteilung
künftiger Fälle als rechtlich bindend angesehen werden
Stare Decisis (bei den Entscheidungen stehen bleiben)• Normative Verpflichtung, sich an die in der ratio decidendi
gewisser precedents enthaltene(n) Regel(n) zu halten – Eigene Entscheidungen des Gerichts
– Entscheidungen von bestimmten Obergerichten
• Entscheidungen von anderen Gerichten wirken nur aufgrund ihrer Überzeugungskraft (persuasive authority)
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 84
Begriffe und Konzeptionen des Case Law
Holding
• Entscheidungsrelevantes Element des precedent:– Regel und Kern der juristischen Ableitung, aufgrund derer der Fall entschieden worden ist.
– Regel, an der nach dem Prinzip der stare decisisfestzuhalten ist.
DictumUnwesentlicher Teil der Entscheidungsbegründung des precedent: zusätzliche Erwägungen, an die die Gerichte nicht gebunden sind
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 85
Begriffe und Konzeptionen des Case Law
Distinguishing• Abrücken von einer prinzipiell als richtig anerkannten Regel durch Aufzeigen der rechtserheblichen Unterschiede zwischen den Fällen.
Anwendungsbereich des holding wird verengt.
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 86Quotenregelungen Elisabeth Holzleithner, Uni Wien 86
Bsp: EuGH‐Judikatur zu QuotenregelungenHolding (Leitsatz) 1: Eckhard Kalanke v. Freie Hansestadt Bremen (1995)
• Die Gleichbehandlungsrichtlinie „steht einer nationalen Regelung entgegen, nach der bei gleicher Qualifikation von Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts um eine Beförderung in Bereichen, in denen die Frauen unterrepräsentiert sind, den weiblichen Bewerbern automatisch der Vorrangeingeräumt wird“ …
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 87
Bsp: EuGH‐Judikatur zu QuotenregelungenHolding (Leitsatz) 2: Hellmut Marschall gegen Land Nordrhein‐Westfalen (1997)• Die Gleichbehandlungsrichtlinie „steht einer nationalen Regelung nicht
entgegen, nach der bei gleicher Qualifikation von Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts … weibliche Bewerber in behördlichen Geschäftsbereichen, in denen … weniger Frauen als Männer beschäftigt sind, bevorzugt zu befördern sind, sofern nicht in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen, vorausgesetzt,
• ‐ diese Regelung garantiert den männlichen Bewerbern, die die gleiche Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem Einzelfall, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden und der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers überwiegen, und
• ‐ solche Kriterien haben gegenüber den weiblichen Bewerbern keine diskriminierende Wirkung.“
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 88
Begriffe und Konzeptionen des Case Law
Overruling• Gericht urteilt, dass ein vorliegender precedent sachlich
unrichtig istprecedent wird verworfen
Gründe• Mangelnde Praktikabilität der im precedent enthaltenen
Entscheidungsregel• Precedent als Relikt einer veralteten Rechtsauffassung• Veränderung der Tatsachen• Prinzip des Vertrauensschutzes wiegt nicht schwer genug
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 89
Begriffe und Konzeptionen des Case Law
• Concurring OpinionsMeinung eines/mehrerer RichterInnen konvergiert im Ergebnis, enthält aber unterschiedliche juristische Ableitungen
• Dissenting OpinionsAbweichende Meinung eines Mitglieds des Richtersenats: Möglicher Ansatzpunkt für ein späteres overruling
Holzleithner Einführung Rechtsphilosophie 90
US Supreme Court 2013
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