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Einsatz von Medikamenten bei alten Menschen
Zercur, 27.09.2013
K. Hager
Zentrum für Medizin im Alter
Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung
Folgen aus den Veränderungen
mit zunehmendem Alter
• Multimorbidität
• Polypharmazie
– Zahl der unerwünschte Arzneimittelwirkungen
(UAW) steigt
• alte Menschen erleiden mehr UAW
• hilfebedürftige Personen (z.B. in Pflegeheimen)
besonders betroffen
– Risiko von Interaktionen nimmt zu
Fall EV, 2007 - Diagnosen
• Z.n. Hirninfarkt re. mit Hemisymptomatik li.
(01.09.2006).
• Z.n. kleinem Hirninfarkt mit passager
Facialisläsion re. (11/2005).
• Bek. rheumatoide Arthritis.
• Hyperlipidämie Typ II a.
• PNP bd. Beine.
• Mitralinsuffizienz I. Grades,
• Z.n. Myokardinfarkt (1961).
Fall EV, 2007 - Medikamente Medikament morgens mittags abends zur Nacht
Sortis 10 mg Tbl. --- --- 1 ---
Lasix 40 mg Tbl. 1 --- --- ---
Corangin 20 mg Tbl. 1 --- --- ---
ASS 100 mg Tbl. --- 1 --- ---
Prednisolon 5 mg Tbl. 1 --- --- ---
Cipramil 20 mg Tbl. 1 --- --- ---
Neurontin 300 mg Tbl. 1 --- 1 ---
Benuron 500 mg Tbl. --- --- --- 1
Remergil 15 mg Tbl. --- --- 1 (20 Uhr) ---
Actonel 35 mg Tbl.
Calci-APS Brausetbl. 1 --- --- ---
Delix 2,5 mg Tbl. 1 --- --- ---
Movicol Btl. 1 --- --- ---
Hannover 7
Medikamente im Alter (Berliner
Altersstudie, 1996)
96% aller 70-jährigen und Älteren nehmen regelmäßig ein Medikament ein.
87% aller 70jährigen und Älteren nehmen ein ärztlich verordnetes Medikament ein.
56% aller 70jährigen und Älteren nehmen fünf oder mehr Medikamente ein.
23% Aller 70jährigen und Älteren nehmen fünf oder mehr Medikamente ärztlich verordnet ein.
Einige Risikofaktoren für unerwünschte
Arzneimittelwirkungen (UAW‘s)
Anstieg der UAW mit
• dem Alter
• mit der Zahl der gleichzeitig eingenommenen Medikamente
• bei alleine lebenden Patienten
• mit der Multimorbidität, z.B. bei – 6 oder mehr chronische Begleiterkrankungen
– schlechter Sehfähigkeit
– Demenz/Delir
• bei Frauen (im Alter zu ¾ alleinstehend)
• frühere Nebenwirkung (irgendeine)
• niedriges Körpergewicht
• Alter > 85 Jahre
• geschätzte Kreatinin-Clearance < 50 ml/min
• ...
Hager, 2004 Hannover 10
Nebenwirkungen
• ca. 6% der ambulanten Patienten
• ca. 50% der Patienten in Altenheimen/Krankenhaus.
• oft berichten die alten Patienten nicht über die
Nebenwirkungen, sondern wir müssen gezielt danach
fragen
• bei plötzlichen Änderungen des körperlichen Zustandes
immer an Arzneimittelnebenwirkung denken
Hager, 2004 Hannover 11
Einige Folgen von UAW im Alter
Funktionelle Syndrome!
• Intellektueller Abbau
• Verwirrtheit, Desorientiertheit
• Somnolenz
• Orthostatische Dysregulation (Sturzgefahr)
• Parkinsonismus (Gangstörungen, Stürze)
• Inappetenz (Gewichtsabnahme)
• Inkontinenz
• Bettlägerigkeit
The Magnitude of the Problem
If ranked as a disease, medication related problems
would be the 5th Leading Cause of Death in the US !
Lazarou, JAMA 98
leitliniengerechte Therapie
• Leitlinien oft schon sehr komplex
• nur ein kleiner Teil der Leitlinien
berücksichtigen
– Polypharmazie
– hohes Alter
– ethische Fragen
• dazu analysierte Studien meist an
Menschen unter 80 Jahren
Ausgaben für Arzneimittel in Deutschland im Jahr
2007 insgesamt und nach Ausgabenträgern
in Mrd. Euro in %
Gesetzliche Krankenversicherung 30,185 72,4
Private Haushalte / Private Organisationen ohne Erwerbszweck
6,734 16,1
Private Krankenversicherung 2,728 6,5
Arbeitgeber 1,547 3,7
Öffentliche Haushalte 0,264 0,6
Gesetzliche Unfallversicherung 0,179 0,4
Gesetzliche Rentenversicherung 0,063 0,2
Ausgabenträger insgesamt 41,699 100,0
Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Gesundheitsausgaben in Deutschland, 2009, online:
http://www.gbe-bund.de.
Historie
Measure Population # of drugs or changes
Beers, 1991 Nursing home patients Expert consensus identifying 19 medications/classes
Beers, 1997 Community-dwelling elderly Expert consensus identifying 28 medications/classes
Zhan, 2001 Community-dwelling elderly Expert panel classified Beers Criteria into 3 categories (always avoid, rarely appropriate, and some indications)
Beers, 2003 Community-dwelling elderly Expert consensus identifying 48 medications/classes
HEDIS, 2006 Community-dwelling elderly Expert panel classified Beers into 3 categories; Always Avoid and Rarely Appropriate in 2006 HEDIS measures
Potentiell inadäquate Medikation für
ältere Menschen – die Pricus-Liste
• Dtsch Ärztebl Int 107
(2010) 543-551
• PIM: Potentiell
inadäquate Medikation
• internationale PIM-
Listen,
Literaturrecherche, PIM-
Liste für Dt.,
Expertenbefragung
Langfassung
http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf
Holt, Stefanie; Schmiedl, Sven; Thürmann, Petra A.
Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste
Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31-32): 543-51; DOI: 10.3238/arztebl.2010.0543
Holt, Stefanie; Schmiedl, Sven; Thürmann, Petra A.
Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste
Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31-32): 543-51; DOI: 10.3238/arztebl.2010.0543
Holt, Stefanie; Schmiedl, Sven; Thürmann, Petra A.
Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste
Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31-32): 543-51; DOI: 10.3238/arztebl.2010.0543
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t 2010; 107(3
1-3
2):
543
-51; D
OI: 1
0.3
238/a
rzte
bl.2010.0
543
kontra • Medikamente der Pricus-Liste methodenbedingt zum
Teil klinisch nicht mehr relevant
• Medikamentenliste unvollständig, wichtige und im Alter
mit Vorsicht zu gebende Arzneimittel nicht aufgeführt
• eine Reihe von Aussagen nicht nachvollziehbar (z.B.
Oxazepam > 60 mg)
• viele weitere Medikamente könnte auf die Liste gesetzt
werden (z.B. Furosemid???)
• auf Expertenwissen basierende Aussagen
• im individuellen Fall nicht immer hilfreich und mit einer
„Pauschalverurteilung“ verknüpft bzw. Einschränkung
der „Therapiefreiheit“
pro
• Versuch einer systematischen Erfassung von potentiell
inadäquaten Medikamenten für deutsche Verhältnisse
• Ausgangspunkt für Untersuchungen zur
Arzneimittelsicherheit bei alten Menschen
• Anwendung der Medikamente (Beers Liste) mit einem
erhöhten Risiko für unerwünschte AW verknüpft
• Vermeidung dieser Medikamente in einigen
Untersuchungen mit einer Verbesserung der
Arzneimitteltherapiesicherheit assoziiert
• vielleicht eine Hilfe bei Therapieentscheidungen
Hannover 28
Compliance
• Alter schränkt die Compliance nicht generell ein
• Aber: Einschränkungen durch – schlechteres Sehen
– funktionelle Einschränkungen (z.B. Öffnen von Verpackungen usw.)
– kognitive Einbussen
• Multimorbidität – Multimedikation – mehr als fünf Medikamente werden selten verlässlich
eingenommen
• Compliance regelmäßig überprüfen – z.B. bei klinischer Verschlechterung, nach
Neuverordnung
Hager, 2004 Hannover 29
Pharmakokinetik, -dynamik
• Pharmakokinetik
– Aufnahme (Resorption)
– Verteilung (Distribution)
– Verstoffwechslung (Metabolismus)
– Ausscheidung (Exkretion)
• Pharmakodynamik
Hager, 2004 Hannover 30
Aufnahme (Resorption)
• Trockenheit der Schleimhäute im Mund und Ösophagus – Tabletten rutschen nicht gut, nachtrinken
• Verzögerte Magen-Darm-Passage
• Geringere Durchblutung des Dünndarms (vor allem bei Herzinsuffizienz)
• geringere Resorptionsfläche
• etwas langsamere Resorption möglich, Resorption im Alter aber ein geringes Problem
Hager, 2004 Hannover 32
Veränderung der
Verteilungsvolumina im Alter - 1
• Intravasale, extrazelluläre und intrazelluläre Flüssigkeitsvolumina sinken – Höhere Anfangskonzentrationen für wasserlösliche
Medikamente, geringere Sättigungs- und Erhaltungsdosis, schnellere Ausscheidung bei erhaltener Nierenfunktion, Bsp.: Digoxin
• Körperfettanteil steigt – Für fettlösliche Medikamente steigt das
Verteilungsvolumen, d.h. niedrigere Anfangskonzentrationen, höhere Sättigungsdosis, längere HWZ, Bsp.: Diazepam
Hager, 2004 Hannover 33
Veränderung der
Verteilungsvolumina im Alter - 2
• Körpergewicht kann bei Hochaltrigen stark gesunken sein („frail elderly women“) – Alle Verteilungsvolumina nehmen ab, höhere
Konzentrationen, geringere Sättigungsdosis, Bsp.: alle Medikamente
• Plasmaproteine ändern sich – Albumin nimmt meist etwas ab, höhere nicht
eiweißgebundene und dadurch wirksame Spiegel im Alter möglich, Bsp.: Phenytoin, Warfarin
• Verteilung der Medikamente schon ein Problem
Metabolismus
Altersbedingte
Veränderungen Klinische Konsequenzen
Lebergröße (bis 40%)
Höhere Serumkonzentrationen
von „high clearance“-
Arzneimitteln durch bessere
Bioverfügbarkeit und
langsamere Elimination: Propanolol
Metoprolol
Verapamil
Clomethiazol
Nifedipin
Leberdurchblutung (bis 30%)
Abnahme der Enzymaktivität:
Cytochrom-P-450-abhängige
Phase-I-Reaktionen
Phase-II-Reaktionen
(Glucuronidierung, Sulfatierung, Acetylierung)
meist unverändert
Ausscheidung
R.W. Jelliffe, Ann Intern Med., 1973, 79; 604
Altersbedingte Veränderungen Klinische Konsequenzen
Renale Durchblutung
Verzögerte Elimination
vorwiegend renal
ausgeschiedener Medikamente:
Amphotericin
Aminoglykoside
Gyrase-Hemmstoffe
Atenolol
Digoxin
Anzahl der Nephrone
GFR um ca. 1 ml / min / Jahr
Tubulusfunktion, ca. 1% / Jahr
Hager, 2004 Hannover 36
Kreatininspiegel und
Kreatininclearence in Abhängigkeit
vom Serumspiegel
0
0,2
0,4
0,6
0,8
1
1,2
1,41
0 b
is 2
0
20
bis
30
30
bis
40
40
bis
50
50
bis
60
60
bis
70
70
bis
80
üb
er
80
0
20
40
60
80
100
120
Kreatinin i.S. (mg%)
Clearence (ml/min)
aus C.J. Estler 1997
Hager, 2004 Hannover 37
Creatinin, Clearance und Alter
Clearance =(140-Alter) x Gewicht
72 x Kreatinin (mg/100ml)
02.11.2013 • CKD-EPI
eGFR Estimation •
Seite 38
Errechnete Creatinin-Clearance durch
endogene Filtrationsmarker
unserer Formel in der
Laborsoftware – MDRD-Formel
• GFR = 186 x Serumkreatinin1,154 x Alter0,203
• x 0,742 bei Frauen
Hannover 42
Medikamentendosis im Alter
• Eingeschränkte Nierenfunktion, reduzierter Lebermetabolismus
• Erkrankungen beeinflussen die Pharmakokinetik (z.B. durch Herzinsuffizienz verminderter hepatischer und renaler Plasmafluss) – d.h. längere Halbwertszeit, reduzierte Erhaltungsdosis
• Reduziertes Verteilungsvolumen – d.h. reduzierte Sättigungsdosis
Wie kommt man zur sicheren Abschätzung der richtigen Dosis?
Hager, 2004 Hannover 43
Steady State - Kumulation
toxischer Bereich UAW durch Kumulation nach mehreren Dosen!
Möglicherweise erst nach Stunden oder Tagen Symptome
Hannover 44
Pharmakodynamik
• Im Vergleich zur Pharmakokinetik weniger gut untersucht
• Geringere Kompensationsfähigkeit im Alter – z.B. Antihypertensiva und orthostatische Dysregulation
• Verzögerte Anpassung an Wirkungen und Nebenwirkungen – langsamere Anpassung an Salz- und
Wassermangelzustände
– bzw. an Salz- und Wasserüberladung
• Reaktion mit zielorganfernen Körpersystemen – z.B. Verwirrtheit
Hager, 2004 Hannover 45
Allgemeine Regeln - 1
• Niedrigere Anfangsdosis
– Ab 70 Jahren um 30% reduzieren
– Ab 85 Jahren um 50% reduzieren
• Konsequente, langsame Dosissteigerung
– („start low, go slow“, „start low, but go“)
• Bei jeder raschen Änderung des Befindens sind erst einmal die Medikamente durchzusehen!
Hannover
Allgemeine Regeln – 2
• Zahl der Medikamente begrenzen
• Hierarchisierung
– Kritische Indikationsstellung, Schwerpunktbildung
• Kombinationspräparate?
• regelmäßige Prüfung der Medikation
– z.B. einmal pro Quartal, bei jeder Visite, plastic
bagging
• Selbstmedikation erfragen, OTC drugs
• Nichtmedikamentöse Therapieformen
ausreichend?
Hager, 2004 Hannover 47
Fragen vor einer Medikamenten-
gabe im Alter
• Welche der Beschwerden stehen im Vordergrund?
• Was ist mein Behandlungsziel?
• Was bringt die Behandlung dem alten Menschen?
• Verbessern sich Lebensqualität, Selbständigkeit, Funktion?
• Ist es wirklich nötig zu behandeln?
• Kann mit harmloseren Mitteln behandelt werden?
• Welches der möglichen Medikamente ist das günstigste?
• Welche anderen Maßnahmen wären noch sinnvoll?
• Kann ich Medikamente absetzen?
Hager, 2004 Hannover 48
Regeln zur Pharmakotherapie
bei älteren Patienten
1. Vollständige Medikamentenanamnese
2. Selbstmedikation erfragen
3. UAW gezielt erfragen
4. Indikation gezielt erfragen
5. Niedrige Dosen zu Beginn dann langsame Steigerung
6. Compliance ansprechen, Ziel definieren
7. Vorsicht bei Neuentwicklungen
8. Medikamente können auch abgesetzt werden
9. Medikamente mit höherem Risiko vermeiden
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