euripides hekabe_ edition und kommentar -de gruyter (2010)
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8/19/2019 Euripides Hekabe_ Edition Und Kommentar -De Gruyter (2010)
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Kjeld Matthiessen
Euripides, Hekabe
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TEXTE UND KOMMENTARE
Eine altertumswissenschaftliche Reihe
Herausgegeben von
Siegmar Döpp, Adolf Köhnken, Ruth Scodel
Band 34
De Gruyter
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Euripides,
Hekabe
Edition und Kommentar
von
Kjeld Matthiessen
De Gruyter
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ISBN 978-3-11-022945-5
e-ISBN 978-3-11-022946-2
ISSN 0563-3087
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek
The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche
Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internetat http://dnb.d-nb.de.
© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York
Typesetting: Katharina Fischer
Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Printed on acid-free paper
Printed in Germany
www.degruyter.com
Euripides.
[Hecuba. German & Greek]Euripides "Hekabe" : Edition und Kommentar / von Kjeld Matthiessen.
p. cm. -- (Texte und Kommentare, ISSN 0563-3087 ; Bd. 34)
Includes bibliographical references and index.ISBN 978-3-11-022945-5 (hardcover : alk. paper)
1. Hecuba (Legendary character)--Drama. I. Matthiessen, Kjeld. II.
Title. III. Title: Hekabe.
PA3973.H3 2010882'.01--dc22
2010028065
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Vorwort
Im Jahre 2008 erschien meine Ausgabe der Hekabe mit Einführung, Über-setzung und Kommentar in diesem Verlag in der Reihe Griechische Dra-men. Der Konzeption dieser Reihe erlaubt für Textkritik und Überliefe-rungsgeschichte nur einen geringen Raum, so dass ich manches nicht indas Buch aufnehmen konnte, was in einer wissenschaftlichen Ausgabe
nicht fehlen sollte. Ich freue mich, dass mir der Verlag jetzt Gelegenheitgibt, das Stück noch einmal in einer stark erweiterten Edition zu publizie-ren: Die hier vorgelegte Ausgabe enthält auch einen vollständigen text-kritischen Apparat und ein Verzeichnis der Stellen bei antiken und byzanti-nischen Autoren, an denen Verse aus der Hekabe zitiert oder nachgeahmtwerden (Testimonia, Imitationes), sowie eine metrische Analyse der lyri-schen Passagen (421 37). Die Einführung wurde um zwei Kapitel erwei-tert, nämlich um das über die Sentenzen in der Hekabe (48 50) und das zurRezeptionsgeschichte des Stückes (52 71). Das Kapitel Textgeschichte
und Textkonstitution (71 79) wurde weitgehend neu geschrieben, derDramentext fast unverändert gelassen und die Übersetzung sprachlich undstilistisch überprüft.
Bei meiner Kommentierung stütze ich mich weitgehend auf meinezahlreichen Vorgänger. Unter ihnen sind zunächst die alexandrinischenPhilologen zu nennen, von deren Wirken sich die Spuren in den ScholiaVetera finden. Es folgt die lange Reihe der modernen Kommentare vonPorson (1798) und Hermann (1800) bis hin zu Collard (1991), Gregory(1999) und dem bisher ausführlichsten Kommentar von Synodinou (2005).
Meine Abhängigkeit von den drei letztgenannten ist besonders groß. Darü- ber hinaus habe ich alle mir erreichbaren Kommentare durchgesehen undauch aus ihnen manches übernommen. Die wissenschaftliche Literaturhabe ich herangezogen, soweit sie mir noch rechtzeitig zugänglich gewor-den ist. Ich habe mich aber bemüht, den Kommentar nicht mehr als nötigmit gelehrten Diskussionen zu belasten. Themen, die das Stück als Ganzes betreffen, behandele ich in der Einführung.
Bei der dem Text beigegebenen Übersetzung habe ich mich um einemöglichst genaue Wiedergabe des originalen Wortlauts, aber auch um
einen sprechbaren Text bemüht.
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VI Vorwort
Für Hilfe und mancherlei Anregungen danke ich Klaus Alpers, Horst-Dieter Blume, Stephen G. Daitz, James Diggle, Jens Holzhausen, Hermanvan Looy , Gustav Adolf Seeck, Bernd Seidensticker und besonders
Sabine Vogt vom Verlag De Gruyter. Außerdem danke ich den Teil-nehmern an meinem Seminar über die Hekabe im Wintersemester 1994/95Katrin Frommhold, Guido Gunderloch, Melanie Just und Susanne Liell fürihre Beiträge zur Interpretation des Stückes.
Meinem Sohn Kai danke ich für Rat und Hilfe bei der Herstellungdes Satzmanuskripts und Barbara und Horst-Dieter Blume für großzügiggewährte Gastfreundschaft in Münster.
Lübeck, Januar 2010 Kjeld Matthiessen
Nachtrag der Herausgeber
Text und Überlieferung der Hekabe des Euripides waren KjeldMatthiessens bevorzugter Forschungsgegenstand schon in seiner Zeit alsJunior Fellow am Center for Hellenic Studies (1968/69) und in seiner
Habilitationsschrift (1970). Das Erscheinen seiner neuen kritischen undkommentierten Werkausgabe des Dramas, in der die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschung dokumentiert werden, hatte er sich zu seinem80. Geburtstag im Juli 2010 gewünscht. Wir bedauern zutiefst, dass er beides nicht mehr erleben konnte. Noch vor der Schlussredaktion derDruckfassung ist Kjeld Matthiessen am 26. Februar 2010 verstorben. Erhatte jedoch die Durchsicht der ersten Fahnen zu diesem Zeitpunkt imWesentlichen abgeschlossen. Mit seiner Zustimmung hat der Verlag dieVerantwortung für die Fertigstellung des Buches übernommen, einschließ-
lich einer abermaligen Kontrolle. Für das gründliche Korrekturlesen dan-ken Verlag und Herausgeber der Reihe Texte und Kommentare vor al-lem den beiden Berliner Gräzistinnen Katja Flügel und Katharina Fischer.Frau Fischer hat sich darüber hinaus um die Fertigstellung der Druckvorla-ge und die Zusammenstellung des Registers verdient gemacht.
November 2010 Siegmar Döpp, Adolf Köhnken, Ruth Scodel
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Inhalt
Vorwort ................................................................................................. V
Einführung ............................................................................................. 1
Autor, Datierung, historische Situation ...................................... 3
Der Stoff und seine Geschichte .................................................. 6Der Aufbau des Stückes .............................................................. 8
Dramaturgie, Aufführungsbedingungen ..................................... 10
Einheit trotz Zweiteiligkeit ......................................................... 13
Die Polyxene-Handlung .............................................................. 16
Die Polymestor-Handlung .......................................................... 23
Hekabe als Zentralgestalt ............................................................ 27
Nebenthemen .............................................................................. 34
Die Macht der Beredsamkeit ............................................... 34Charis: Gunst und Dank ...................................................... 35Dynasten und Demokraten? ................................................ 36Griechen und Barbaren ........................................................ 37Freie und Sklaven ................................................................ 40
Die Chorlieder ............................................................................ 42
Die Funktion der Götter .............................................................. 45
Das Wehen der Winde und die Götter ................................. 46
Im Zeichen des Dionysos? .................................................. 47Die Sentenzen ............................................................................. 48
Hekabe und Troerinnen .............................................................. 51
Zur Rezeptionsgeschichte ........................................................... 52
Die frühen römischen Tragiker, Vergil und Ovid ............... 52Seneca ................................................................................. 54Quintus Smyrnaeus ............................................................. 56Die Spätantike und Byzanz ................................................. 58
Das Mittelalter im Westen ................................................... 59Die frühe Neuzeit ................................................................ 60Kritische Stimmen im 18. und 19. Jahrhundert ................... 65
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VIII Inhalt
Textgeschichte und Textkonstitution .......................................... 71
Scholien ............................................................................... 72Papyri .................................................................................. 73Testimonien ......................................................................... 74Die mittelalterlichen Handschriften .................................... 75Einteilung der Handschriften der Hekabe ........................... 75Grundsätze dieser Edition ................................................... 77
Kritische Edition und Übersetzung ........................................................ 81
Kommentar ............................................................................................ 251
Anhang .................................................................................................. 439
Liste der Abweichungen vom Text der Ausgabe von Diggle ..... 441
Literaturverzeichnis .................................................................... 443
Register ....................................................................................... 455
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Einführung
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Rex sedet in vertice,caveat ruinam. Nam sub axe legimusHecubam reginam.
Carmina Burana
Whats Hecuba for him or he to Hecuba,That he should weep for her?
Shakespeare, Hamlet
Autor, Datierung, historische Situation
Euripides, Sohn des Mnesarchides oder Mnesarchos, eines athenischenBürgers, wurde 484 oder 480 geboren und zwar, wie berichtet wird, auf derInsel Salamis. Er begann seine Laufbahn als Dichter und Regisseur vonTragödien 455, also im Todesjahr des Aischylos. Er trat von vornherein alsKonkurrent des mehr als zehn Jahre älteren Sophokles an, der damalsschon erste Erfolge gefeiert hatte und während seiner ganzen Lebenszeiterfolgreicher bleiben sollte als er selbst. Seinen ersten Sieg mit einer tragi-schen Tetralogie, also einer Abfolge von drei Tragödien und einem Satyr-
spiel, errang Euripides erst im Jahre 441. Wir wissen von einem zweitenSieg im Jahre 428 mit der Tetralogie, von der uns der Hippolytos erhaltenist. Zu seinen Lebzeiten errang er nur noch zwei weitere Siege sowie einen postumen Sieg, den sein gleichnamiger Sohn oder Neffe mit einigen Stü-cken errang, die er hinterlassen hatte, darunter den Bakchen und der Aulischen Iphigenie. Sophokles dagegen brachte es auf 18, 20 oder gar 24Siege. Wir wissen auch, dass Euripides sogar mit so hervorragenden Tra-gödien wie der Medea und den Troerinnen nur den zweiten oder drittenPlatz erreichte. Offenbar gab es im athenischen Publikum und entspre-chend im Preisrichterkollegium Vorbehalte gegen ihn. Damit mag zusam-menhängen, dass er 408 oder 407, also in der Zeit großer innerer Spannun-gen in Athen kurz vor dem Ende des Peloponnesischen Krieges, eineEinladung des Makedonenkönigs Archelaos an seinen Hof annahm undseine Heimatstadt verließ. In Makedonien ist er auch gestorben, und zwarschon im Jahr 406, ein Jahr vor seinem großen Kollegen und KonkurrentenSophokles.
Die Hekabe ist wie viele andere Dramen dieses Dichters nicht fest da-tiert. Es gibt jedoch Anhaltspunkte für eine ungefähre Datierung. In den423 aufgeführten Wolken des Aristophanes finden sich zwei sichere oder
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zumindest wahrscheinliche Parodien von Passagen der Hekabe.1 Dasspricht für eine Datierung des Stückes auf die Zeit vor 423, also etwa aufdie Jahre 425 oder 424. Auch die Stellung des Stückes in der Entwicklung
der Sprechverse von größerer Strenge hin zu größerer Flexibilität legt esnahe, dass die Hekabe etwa zu dieser Zeit entstanden ist.2 Dagegen ist einZusammenhang der ausführlichen Erwähnung des Apollonfestes auf Delos(V. 458 65) mit der Neuordnung des Kultfestes im Jahre 426 durch dieAthener (Thukydides 3,104) zwar möglich, aber nicht als gesichert anzuse-hen.3 So ist es recht wahrscheinlich, dass die Hekabe in der Abfolge derTragödien des Euripides nach dem auf 428 fest datierten Hippolytos, kurznach der Andromache, kurz vor den Hiketiden und jedenfalls weit vor denauf 415 fest datierten Troerinnen einzuordnen ist.4 Der König Ödipus des
Sophokles dürfte in die gleiche Zeit gehören. Ich nehme an, dass er etwasälter ist. Dass der große Auftritt des geblendeten Ödipus Euripides zu demähnlich eindrucksvollen Auftritt des geblendeten Polymestor angeregt hat,lässt sich vermuten, aber nicht beweisen.
Da weitaus die meisten erhaltenen Tragödien des Euripides von den Herakliden (etwa 430) bis hin zur Aulischen Iphigenie (nach 408) währenddes Peloponnesischen Krieges (431 404) entstanden sind, liegt die Fragenahe, ob die in das Leben der Athener stark eingreifenden Ereignisse desKrieges in diesen Stücken Spuren hinterlassen haben. Solche Spuren fin-
den sich in der Tat. In den Herakliden und auch in den Hiketiden (etwa 423) verherrlicht Euripides ganz im Einklang mit der zeitgenössischenPropaganda Athens die segensreiche Rolle der Athener der mythischenZeit als Schützer und Helfer der Bedrängten. In der Andromache (etwa 425) macht er Menelaos, den König des feindlichen Sparta, zum Schurkendes Stückes und legt der Heldin Andromache etliche Schmähungen Spartasund der Spartaner in den Mund. Doch finden sich solche Anzeichen einerParteinahme für die Athener oder der Feindseligkeit gegen Sparta oderTheben in den späteren Stücken nicht mehr. Der Krieg, und zwar zumeist
der trojanische Krieg, dient dem Dichter als mythisches Exempel dafür, _____________1 Hek . 160f. ~ Wolken 718f.; Hek . 172 74a ~ Wolken 1165f. Freilich bleibt eine
gewisse Unsicherheit bestehen, weil Aristophanes die Buchfassung des Stückeszwischen 420 und 417 überarbeitet haben soll. Hierzu K. J. Dover, AristophanesClouds, Oxford 1968, lxxx xcviii. Es ist nicht völlig auszuschließen, allerdingswenig wahrscheinlich, dass Aristophanes die Anspielungen auf die Hek . erst beiGelegenheit der Bearbeitung eingefügt hat.
2 Matthiessen (1964) 167 72; Cropp Fick (1985). 3 Hierzu Wilamowitz, Eur. Her . 2, 140f.
4 Collard (1991) 35 meint, die mitleidvolle Äußerung des Chores über das Leid derSpartanerinnen in V. 650 56 sei ein Indiz dafür, dass das Stück erst in derSchlussphase des Archidamischen Krieges entstanden ist, als der Frieden mit Spar-ta nicht mehr fern zu sein schien.
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Autor, Datierung, historische Situation 5
dass Kriege ein gottverhängtes und darum unabwendbares Schicksal sind,das für die Sieger nicht weniger furchtbare Folgen hat als für die Besieg-ten. Als Beispiel für diese Folgen dient ihm mehrmals das unglückliche
Los der vornehmen Frauen der Besiegten, die zu Sklavinnen geworden undder Willkür ihrer neuen Besitzer ausgeliefert sind. Der erste Fall dieser Art,der uns bei Euripides begegnet, ist der Andromaches, der Witwe Hektors,die zur Sklavin und Nebenfrau des Neoptolemos geworden ist und vondessen legitimer Frau verfolgt und mit dem Tode bedroht wird. Das Leidder kriegsgefangenen Frauen wird dann zum zentralen Thema sowohl inder Hekabe als auch in den Troerinnen (415). Hekabe, einst Königin einesmächtigen Reiches, die durch die Niederlage ihrer Stadt in die Sklavereigeraten ist, steht im Mittelpunkt beider Stücke, und um sie gruppieren sich
ihre ähnlich leidgeprüften Töchter Kassandra und Polyxene und ihreSchwiegertochter Andromache. Die Brutalität der Sieger wird in beidenStücken breit dargestellt, aber auch den Siegern wird es nicht viel besserergehen als den Besiegten. Das zeigt der Götterprolog der Troerinnen, woAthene und Poseidon ankündigen, dass sie die heimkehrende Flotte derGriechen vernichten werden, aber auch die Schlussprophezeiung in der Hekabe, wo Agamemnon seine baldige Ermordung vorausgesagt wird. Inzwei Stücken, nämlich der Elektra (etwa 420 18) und der Helena (412),müssen die Zuschauer zur Kenntnis nehmen, dass alle Leiden vergeblich
erlitten wurden, die beide Seiten erdulden mussten, weil der Krieg nichtum die wahre Helena geführt wurde, sondern nur um ein von den Götternerschaffenes Scheinbild. Der eigentliche Zweck des Krieges war nach demRatschluss des Zeus die Entlastung der Erde durch eine Verminderung derübergroßen Zahl von Menschen. Auch am Schluss des Orestes (408) verrätApollon, dass dies der wahre Zweck war.5
Man kann in den Stücken dieser Zeit auch Anzeichen dafür suchen,dass sich der Dichter Gedanken über den nach dem Tode des Perikles (428) beginnenden und nach dem Scheitern der Sizilischen Expedition
(415 13) sich beschleunigenden Zerfall der attischen Demokratie gemachthat. Solche Anzeichen kann man, wenn man will, auch schon in der Hekabe finden, wo der große Feldherr Agamemnon nicht imstande ist,seine Meinung in der Heeresversammlung gegen den demagogisch argu-mentierenden Odysseus durchzusetzen, und auch nicht so, wie er es eigent-lich für richtig hält, den Rechtsbruch Polymestors bestrafen kann, weil erauf die Stimmung des Heeres Rücksicht nehmen muss. In den wenig späteraufgeführten Hiketiden muss der athenische König Theseus, der die demo-kratische Verfassung seiner Vaterstadt preist, es hinnehmen, dass derthebanische Herold unwidersprochen mancherlei Schwächen nennen kann,
_____________5 Vgl. auch Hel. 36 41.
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Einführung6
die dieser Staatsform anhaften. Im Orestes wird über den Verlauf einerVolksversammlung berichtet, in der ein Demagoge von zweifelhafter Her-kunft die Masse so beeinflusst, dass sie eine Fehlentscheidung trifft, indem
sie Orestes, der auf Befehl Apollons seine Mutter getötet hat, und seineSchwester Elektra zum Tode verurteilt. In der Aulischen Iphigenie schließ-lich ist weder der Oberfeldherr Agamemnon noch der große Achilleusimstande, sich der durch die Demagogen Odysseus und Kalchas aufge-stachelten Menge des Heeres zu widersetzen. Sogar die Myrmidonen, dieeigenen Gefolgsleute des Achilleus, lehnen sich gegen ihn auf.
Der Stoff und seine Geschichte
Das nachhomerische Epos über den Fall Trojas, die Iliupersis, berichtetunter anderem, dass die Griechen, nachdem sie das eroberte Troja nieder-gebrannt hatten, Polyxene auf dem Grabe des Achilleus opferten.6 Ob die-ses Epos irgendetwas über das Schicksal Hekabes nach der Einnahme Tro- jas berichtet hat, lässt sich den wenigen Angaben, die wir über seinenInhalt besitzen, nicht entnehmen. In den Kyprien, dem Epos über den Be-ginn des trojanischen Krieges, wurde erwähnt, dass Polyxene durch Odys-seus und Diomedes verwundet und durch Neoptolemos bestattet wurde.7 In
den Nostoi, dem Epos über die Heimkehr der Helden von Troja, wurdedarüber berichtet, dass der Geist des Achilleus dem Agamemnon erschienund ihn an der Heimkehr zu hindern versuchte, indem er ihm sein bevor-stehendes Schicksal verkündete.8 Doch war offenbar nicht von irgendwel-chen Forderungen des Geistes die Rede. Eine sehr eindrucksvolle Erschei-nung dieses Geistes scheint auch von Simonides beschrieben worden zusein.9
Über die chorlyrische Dichtung Iliupersis des Stesichoros ist zu wenig bekannt, als dass sich Aussagen darüber machen ließen, ob und wie die
Schicksale Hekabes und Polyxenes in dieser Dichtung erwähnt wurden.Der Chorlyriker Ibykos erwähnte dagegen, dass Polyxene von Neoptole-mos geopfert wurde.10
Etwas mehr wissen wir von der Tragödie Polyxene des Sophokles. Siehandelte von der Erscheinung des Geistes des Achilleus, von seiner Forde-
_____________
6 Iliupersis (Proclus) p. 62, 34 EGF ed. Davies.7 Kyprien fr. 27 EGF; vgl. F. Jouan, Eur. et les légendes des Chants Cypriens, Paris
1966, 368 71.8 Nostoi (Proclus) p. 67, 15 17 EGF.9 Simonides fr. 557 PMG.10 Ibycus fr. 307 PMG = schol Hec. 41.
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Der Stoff und seine Geschichte 7
rung, Polyxene an seinem Grab zu opfern, und von der Erfüllung dieserForderung durch das griechische Heer. Sie ist mit großer Wahrscheinlich-keit vor unserer Hekabe entstanden.11 Uns sind nur wenige Zitate bei anti-
ken Autoren erhalten, aus denen sich nicht viel über Inhalt und Form diesesStückes entnehmen lässt. Es scheint immerhin gewiss zu sein, dass So- phokles die Erscheinung des Geistes des Achilleus auf der Bühne sichtbarwerden ließ und dass er ihn bei seinem Auftritt ähnliche Worte sprechenließ, wie Euripides sie seinem Polydoros in den Mund legte (F 523 TrGF).Es ist zu vermuten, dass bei Sophokles ähnlich wie später bei Euripides dieRede des Geistes am Anfang des Stückes stand. Einem anderen Fragmentist zu entnehmen, dass in dem Stück die griechischen Feldherren darüberstritten, wann man von Troja aufbrechen solle (F 522 TrGF). Wenn die
Annahme richtig ist, dass die Polyxene der Hekabe vorausging, hat Euripi-des nicht nur die erste Teilhandlung seines Stückes von Sophokles über-nommen, sondern auch das Motiv der Erscheinung des Geistes desAchilleus und wohl auch die besondere Form des vom Geist eines Totengesprochenen Prologes.
Mit der zweiten Teilhandlung der Hekabe, nämlich der Polymestor-Handlung, scheint Euripides dagegen Neuland betreten zu haben. Die Ilias berichtet über einen Polydoros, welcher der jüngste Sohn des Priamos war,als dessen Mutter aber Laothoe und nicht Hekabe genannt wird (22,46 48).
Diesen Polydoros versuchte der Vater vom Kampf fernzuhalten, weil erihm besonders lieb war. Der Sohn mischte sich aber trotzdem unter dieKämpfenden, wurde von Achilleus am Unterleib verwundet und starb ei-nen qualvollen Tod (20,407 18). Diese kurze Episode der Ilias scheintEuripides zu seiner Polydorosgestalt angeregt zu haben. Bei ihm gelingt esPriamos tatsächlich, seinen jüngsten Sohn vom Kampf fernzuhalten, indemer ihn in die vermeintlich sichere Obhut seines Gastfreundes Polymestorgibt, doch auch dieser Versuch, das Leben seines Sohnes zu retten, schlägtfehl, weil Polymestor seinen Schützling nach dem Fall Trojas und dem Tod
des Priamos ermordet. Dies ist bei Euripides die Vorgeschichte der Hand-lung, und die Tragödie selbst handelt davon, wie die zur Sklavin der Grie-chen gewordene Königin Hekabe, die bei ihm anders als bei Homer dieMutter des Polydoros ist, vom Tod ihres Sohnes erfährt und ihn an demMörder rächt. Es ist möglich, dass der Dichter sich bei der VerbindungHekabes mit Thrakien und besonders bei der Prophezeiung, die Polymestoram Schluss des Stückes gibt, von einer lokalen Überlieferung auf der inathenischem Besitz befindlichen thrakischen Chersones hat anregen lassen,
_____________11 Dazu W. M. Calder III, A Reconstruction of Sophocles Polyxena, Greek Roman
and Byzantine Studies 7 (1966) 31 56, jetzt auch in: Theatrokratia, Spudasmata104, Hildesheim 2005, 233 66.
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Einführung8
die zwischen dem Namen des sehr markanten, weil an der engsten Stelledes Hellesponts gelegenen Kaps Kynossema (kunòß sñma) und der Sagen-gestalt der Königin Hekabe eine Verbindung herstellte.12 Eine solche loka-
le Überlieferung dürfte jedoch nicht vielen Athenern bekannt gewesensein. Darum ist es anzunehmen, dass die meisten von ihnen hier eine Ge-schichte erfuhren, die ihnen neu war, eben weil sie ganz oder zum Teil einefreie Erfindung des Euripides war.13
Der Aufbau des Stückes
Zunächst gebe ich eine Gliederung des Stückes nach den Teilen der Tra-
gödie, wie sie im 12. Kapitel der Poetik des Aristoteles definiert werden(mérh tragwḑíaß: 1452b 14 27). Diese Termini haben sich allgemeineingebürgert, denn mit ihnen lässt sich der Aufbau einer jeden attischenTragödie gut beschreiben, für die ein regelmäßiger Wechsel zwischenSprechpartien und lyrischen Partien charakteristisch ist. Allerdings weicheich von der aristotelischen Terminologie bei der Benennung der lyrischenoder halblyrischen Partien ab, welche die Parodos umgeben.
1 58
59 9798 152154 215216 443
444 83484 628
629 56658 904
905 51953 10221024 34
1035 1295
Prologrede
Monodie vor der ParodosParodosMonodie, Amoibaion, Monodie1. Epeisodion1. Stasimon2. Epeisodion2. Stasimon3. Epeisodion3. Stasimon4. EpeisodionChorikon anstelle eines 4. Stasimons
Exodos
_____________
12 Dies vermuten Stephanopulos (1980) 79 83; Erbse (1984) 55. 13 Meridor (1983) 18 20 nimmt an, dass sich Eur. bei der Weise der Bestrafung
Polymestors vom Schicksal des Artayktes bei Herodot (9,116 20) anregen ließ.
Das ist zwar möglich, muss aber Vermutung bleiben. Gleiches gilt für die Annah-me von Delebecque (1951) 154 58, dass Eur. zur negativen Zeichnung der GestaltPolymestors durch die Unzuverlässigkeit der Thraker als Verbündete der Athenerveranlasst worden sei.
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Der Aufbau des Stückes 9
Die hier gegebene Gliederung der Tragödie14 stellt freilich nur ein Rasterdar, das durch die Handlung in ihren einzelnen Stufen ausgefüllt wird. DieHandlung der Hekabe besteht aus zwei Teilhandlungen, die dadurch zu-
sammengehalten werden, dass im Mittelpunkt einer jeden von ihnen die-selbe Person Hekabe steht und dass es in jeder von ihnen darum geht, dasssie eines ihrer letzten Kinder verliert. Im übrigen aber unterscheiden sichdie beiden Teilhandlungen im Inhalt und in der Stimmung erheblich. Die Hekabe ist also wie die Troerinnen ein Episodendrama.
Wenn man die Handlungsstruktur zur Epeisodienstruktur in Beziehungsetzt, kommt man zu folgender Gliederung:
1 97 Prologrede und Monodie vor der Parodos:
Einführung in beide Teilhandlungen98 215 Parodos und folgende lyrische Partien:Vorbereitung der Polyxene-Handlung
216 443 1. Epeisodion: erster Teil der Polyxene-Handlung (Odysseus-Szene)1. Stasimon:gleichzeitig mit dem Vollzug der Opferung
444 83
484 628 2. Epeisodion: zweiter Teil der Polyxene-Handlung (Botenszene)
629 56 2. Stasimon: steht zwischen den beidenTeilhandlungen
658 904 3. Epeisodion: Überleitung zur zweitenTeilhandlung, Beginn der Polymestor-Handlung (Agamemnon-Szene)3. Stasimon: gleichzeitig mit derHerbeiholung Polymestors
905 51
953 1022 4. Epeisodion: zweiter Teil derPolymestor-Handlung (Überlistungsszene)
1024 55 Chorikon und Anfang der Exodos:Katastrophe PolymestorsDer größte Teil der Exodos: Abschluss der
Polymestor-Handlung(Monodie, Gerichtsszene)
1055a
1286
1287 95 Die letzten neun Verse:Abschluss beider Teilhandlungen(Gemeinsames Begräbnis der Kinder,Aufbruch nach Griechenland)
_____________14 Die meisten Kommentatoren äußern sich nicht zur Gliederung des Stückes. Bond
Walpole rechnen alles, was auf das 3. Stasimon folgt, zur Exodos. Ich meine, dass
V. 953
1022 noch der Vorbereitung der Rachehandlung dienen, also den Charak-ter eines Epeisodions haben, während die Exodos (1035 1295) hier wie auch sonstimmer der Ort für die Katastrophe und die Reaktion der Beteiligten auf sie ist.Collard, Gregory und Synodinou gliedern etwa so, wie es hier geschieht.
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Einführung10
Dramaturgie, Aufführungsbedingungen
Das Stück spielt im Lager der griechischen Flotte auf der thrakischenChersones vor der Unterkunft der gefangenen troischen Frauen. Es istmehrfach von einem oder mehreren Zelten die Rede (skhnä 53), auch vonHäusern (oi®koi, dåmata, dómoi 174, 1019, 1049, 1053) oder Dächern(stégai 880, 1016). Das ist wohl so zu verstehen, dass das den Bühnen-hintergrund bildende Haus nicht besonders dekoriert, sondern als notdürf-tige Unterkunft gekennzeichnet ist, etwa durch darüber geworfene Zelt- bahnen. Manche Interpreten meinen, dass zwei Zelte anzunehmen sind,nämlich das ärmliche der Gefangenen und ein prächtigeres fürAgamemnon. Ich finde im Text jedoch keine Anhaltspunkte für ein solches
zweites Zelt. Wenn Agamemnon auftritt, kommt er nicht aus seinem Zelt,sondern aus der Richtung der Heeresversammlung, also aus der gleichenRichtung wie Odysseus. Hekabe tritt aus dem Zelt hervor (53f.), ebensoPolyxene (178f.). Später geht Hekabe mehrfach ins Zelt ab (628, wohlauch 904) und tritt wieder aus ihm hervor (665f., 953). Nach dem AuftrittPolymestors betritt sie zusammen mit ihm das Zelt (1019 22) und verlässtes kurz darauf wieder fluchtartig (1044), während er ihr wenige Versespäter auf allen Vieren folgt (1053).
Die Parodoi, die seitlichen Zugänge zur Orchestra, stellen die Verbin-
dung der Bühnenhandlung mit der Außenwelt her. In der Hekabe sind zweiaußerszenische Orte bedeutsam, nämlich das Meeresufer und das übrigeHeerlager. Man kann entsprechend den athenischen lokalen Gegebenheitendas Ufer der vom Zuschauer aus gesehen linken Parodos zuordnen, alsoder Richtung nach Phaleron, dem alten Hafen Athens, das Lager dagegender rechten, also der Richtung nach der Akropolis. Wenn man für denGeist des Polydoros nicht eine (vielleicht gar mit Hilfe eines Krans be-werkstelligte) Erscheinung auf dem Dach des Bühnenhauses annehmenwill, was nicht völlig auszuschließen, aber nicht nötig ist, lässt sich vermu-
ten, dass er aus der Richtung des Ufers erscheint und auch dorthin wiederabgeht. Eben dorthin geht auch die Dienerin (609f.), und von dort kommtsie mit seinem Leichnam zurück (658). Odysseus kommt vom Lager undgeht zusammen mit Polyxene dorthin ab (216f., 437), ebenso Talthybios (484, 604 08) und Agamemnon (724f., 904, 1109). Da die Dienerin, diePolymestor herbeirufen soll, durch das Lager geleitet wird (889f.), mussder Thrakerkönig auch aus dieser Richtung die Orchestra betreten (953),und zwar zusammen mit der Dienerin, die ihn herbeigeholt hat (966). Da eram Schluss des Stückes auf einer Insel ausgesetzt werden soll, liegt die
Annahme nahe, dass er in Richtung nach dem Ufer abgeführt wird (1284 86). Die übrigen Personen, also Agamemnon, Hekabe und der Chor, gehen
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Dramaturgie, Aufführungsbedingungen 11
zusammen in Richtung zum Lager ab, da dort die gemeinsame Bestattungder beiden Geschwister geschehen soll (1287 95).
Man darf nicht vergessen, dass in der attischen Tragödie alle Rollen,
also auch die der Hekabe, der Polyxene und der Frauen des Chores, vonMännern übernommen wurden. Ferner muss man bedenken, dass grund-sätzlich nur drei berufsmäßige Schauspieler zur Verfügung standen, auf diealle im Stück vorkommenden Sprechrollen verteilt werden mussten. DerRollenwechsel wurde durch wechselnde Masken und Kostüme emöglicht.Die Verteilung auf drei Schaupieler lässt sich in unserem Fall in der Weise bewerkstelligen, dass die tragende Rolle des Stückes, nämlich die der fastständig auf der Bühne anwesenden Hekabe, vom ersten Schauspieler über-nommen wird, die des Polydoros, der Polyxene, der Dienerin und des
Polymestor vom zweiten und die des Odysseus und des Agamemnon vomdritten Schauspieler.Dass es mehrere Gruppen von Statisten gegeben hat, ist dem Text öf-
ters zu entnehmen. So wird Hekabe bei ihrem ersten Auftritt von mehreren(wohl zwei) jüngeren Frauen, ihren einstigen Dienerinnen, geleitet undgestützt (59 63); so kann sie später einer Dienerin befehlen, Wasser vomMeeresufer zu holen (609f.). Auch Agamemnon wird von Kriegern beglei-tet, von denen er einige abordnet, welche die Dienerin beim Weg durch dasLager beschützen (889f.), und andere, die Polymestor ergreifen und an
seinen Verbannungsort bringen (1282 86). Polymestor tritt zusammen mitder Dienerin auf, die jetzt von einem Statisten gespielt wird (966). Er hatferner einige bewaffnete Begleiter, die er zuerst auf Hekabes Wunsch weg-schickt und die er dann später vergeblich um Hilfe anruft (979 81, 1088 90). Ausserdem wird er von seinen beiden kleinen Söhnen begleitet, derenfurchtbares Schicksal im folgenden mehrfach erwähnt wird (893f., 1005 7, 1037, 1046, 1075 78, 1082, 1118f., 1160 62, 1231).
Bei den Kostümen wird ein scharfer Kontrast zwischen den königli-chen Gewändern der siegreichen Feldherren Odysseus und Agamemnon
und den ärmlichen Kleidern der kriegsgefangenen Sklavinnen bestandenhaben. Hekabe wird sich von den Frauen des Chores und ihren anderenBegleiterinnen in der Kleidung nicht unterschieden haben. Sie gehört alsozu den Königen in Lumpen, wie sie bei Euripides so häufig sind.Polymestor wird thrakische Gewänder getragen haben, wie sie auf atti-schen Vasenbildern häufig zu sehen sind und zu denen vor allem ein buntgewebter Mantel gehört. Er ist zunächst auch bewaffnet, doch als er späterals Geblendeter wieder auf der Bühne erscheint, ist er unbewaffnet undwohl auch ohne Mantel (1155f.).
An Requisiten werden wenige Gegenstände erwähnt: der Stock, aufden sich Hekabe bei ihrem ersten Auftritt stützt (65f.), der Wasserkrug, mitdem die Dienerin Wasser vom Meeresufer holen soll (609), und die Waffe
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Einführung12
Polymestors, die er zunächst trägt, die ihm dann aber abgenommen wird (1155f.). Die wichtigsten Requisiten sind allerdings die auf die Bühnegebrachten Leichname des Polydoros und der beiden Söhne Polymestors.
Der Leichnam des Polydoros ist von großer Bedeutung in der zentralenSzene des Stückes (658 720), und er bleibt auch wichtig bei der folgendenAuseinandersetzung zwischen Hekabe und Agamemnon (724 904). Ob erauch während der folgenden Szenen auf der Bühne liegen bleibt, ist um-stritten. Ich halte es für gut möglich, dass er weiter dort bleibt, weil dannmehrere Stellen im Dialog zwischen Polymestor und Hekabe an Ironiegewinnen würden. Demgegenüber spielen die Leichname der SöhnePolymestors in der Handlung keine große Rolle. Sie werden offenbar zu-sammen mit dem Auftritt des geblendeten Polymestor sichtbar, vielleicht
mit dem Ekkyklema (e¬kkúklhma), einer niedrigen Plattform, die aus demBühnenhaus herausgerollt werden kann.15 Seine Klagen nehmen immerwieder auf die Kinder Bezug, und auch Agamemnon erwähnt sie als sicht- bar (1118). Aber im weiteren Verlauf des Stückes werden sie nicht mehr beachtet. Es bleibt auch unklar, was weiter mit ihnen geschieht. Da sie jairgendwo bleiben müssen, könnten sie am Schluss des Stückes von derabgehenden Gruppe mit hinausgetragen oder mit dem Ekkyklema wiederins Bühnenhaus zurückgerollt worden sein.
Wie es in der Tragödie üblich ist, wird oft durch Formulierungen im
Text deutlich gemacht, was auf der Bühne gerade geschieht, oder es wirdangekündigt, was dort bald geschehen wird. Damit wird einerseits dieAufmerksamkeit des Zuschauers auf die gewünschte Bahn gelenkt, undandererseits erhalten auch die Schauspieler durch den Text Anweisungenfür ihr Verhalten. Man spricht in solchen Fällen von Wortregie. Der Auf-tritt von Personen wird, meist durch den Chor, gelegentlich auch durchandere Personen, im voraus angekündigt oder im Augenblick, in dem siesichtbar werden, gemeldet (52 54, 172 76, 216f., 665f., 724f., 1049 53).Manchmal werden neu auftretende Personen angeredet und dadurch dem
Publikum vorgestellt (487, 968f., 1114). Für die Handlung wichtige Gestenwerden in dem Augenblick, in dem sie vollzogen werden, auch benanntund damit für den Zuschauer interpretiert, so die Gesten der Hikesie (286f., 752f., 787f., 836 40), aber auch das Sich-Abwenden dessen, der sich einerHikesie entziehen will (342 45) oder die Geduld verliert (812f., wohl auch 747f.). Beim Abschied Polyxenes von ihrer Mutter wird von einem Hände-druck, von Umarmungen, vom Verhüllen des Hauptes und vom letztenAusstrecken der Hand gesprochen (409f., 432, 439f.), danach vom Zu-Boden-Sinken Hekabes aus Erschöpfung und Verzweiflung (440). Dass
_____________15 Burnett (1998) 168 meint, dass die Leichen der Kinder von Frauen aus Hekabes
Gefolge auf die Bühne getragen werden.
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Einheit trotz Zweiteiligkeit 13
Hekabe während des folgenden Chorliedes in ihr Gewand gehüllt auf demBoden verharrt und sich erst nach der Anrede durch Talthybios wiedererhebt, wird aus dem Text deutlich (486f., 501f., 505 07). Das Herbei-
bringen des Leichnams des Polydoros und seine Enthüllung und Identifi-zierung werden ebenfalls angesprochen (671f., 679 82), während HekabesGesten heftiger Trauer nur aus dem Wechsel des Metrums und aus derlyrischen Sprache erschlossen werden können (684 720). Ihre ersten Wor-te zu Polymestor lassen erkennen, dass sie ihre Augen vor ihm verbirgt,und sie geben zugleich eine (irreführende) Deutung dieser Geste (968 75).Als sie ihre Rache vollzogen hat und aus dem Zelt hervortritt, kündigt siean, dass Polymestor ihr folgen wird, und nimmt das Ungeheuerliche, dasdem Publikum alsbald vor die Augen kommen wird, schon in Worten vor-
weg und erklärt es ihm damit zugleich (1049 55). Die wilden Bewegun-gen, die Polymestor während seines großen Klageliedes vollzieht, lassensich aus dem Text freilich nur erahnen, ebenso die körperlichen Äußerun-gen des Zornausbruchs, als er von der Anwesenheit Hekabes erfährt (1055a 1106, 1124 26). Deutlich erkennbar ist dagegen, dass er, nachdemer seine Voraussagen gemacht hat, von den Begleitern Agamemnons er-griffen wird, dass ihm der Mund verschlossen wird und dass er schließlichvon der Bühne gezerrt und abgeführt wird (1282 86). Am Schluss wird derZug angekündigt, in dem Agamemnon, Hekabe, die Träger des Leichnams
des Polydoros und der Chor in der Richtung zum Lager des Heeres dieBühne verlassen (1287 95).
Einheit trotz Zweiteiligkeit
Wenn man die Hekabe angemessen beurteilen will, darf man den treffen-den Satz Gottfried Hermanns nicht vergessen, dass die Kunst früher warals die Regeln der Kunst.16 Das Stück ist viele Jahrzehnte vor der Zeit ent-
standen, in der Aristoteles die Regeln formulierte, die man beachten soll,wenn man eine gute Tragödie schreiben will. Es ist darum sinnvoll, dasStück zunächst in seiner Beschaffenheit zu beschreiben und sich zu bemü-hen, es aus dem Gesamtwerk des Dichters und seinen historischen Voraus-setzungen zu verstehen. Dies ist denn auch mein Hauptanliegen. Trotzdemsollte man sich auch überlegen, wie das Stück vielleicht von Aristoteles beurteilt worden wäre, wenn er sich zu ihm geäußert hätte. Denn dies sinddie Maßstäbe, an denen das Stück seit dem 18. Jahrhundert gemessen wor-den ist.
_____________16 Hermann (1831) XIII: Ars prior fuit regulis artis, seroque, et a philosophis magis
quam a poetis, perspecta est ratio tragoediae.
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Einführung14
Die Hekabe ist, wie eine Reihe anderer Tragödien auch, kein Stück imSinne der Regeln der Poetik des Aristoteles.17 Es gibt keine Einheit derHandlung, weil die Geschehnisse des Dramas aus zwei nicht unmittelbar
zusammenhängenden, sondern jeweils in sich abgeschlossenen Episoden bestehen, von denen eine jede Gegenstand eines eigenen Stückes seinkönnte. Die Einheit liegt vielmehr in der Hauptgestalt Hekabe, die im Mit-telpunkt beider Episoden steht. Aristoteles meint allerdings, dass mehrereGeschehnisse noch nicht allein dadurch eine einheitliche Handlung bilden,dass sie die gleiche Person betreffen ( Poetik 1451a 16 22). Vielmehr solltezwischen den verschiedenen Geschehnissen ein notwendiger oder zumin-dest wahrscheinlicher kausaler Zusammenhang bestehen (1451b 33 35).Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Auch die mit der Hekabe in ihrer Struktur eng verwandten Troerinnensind ein aus mehreren Episoden bestehendes Stück 18 Dort ist die Zahl derEpisoden größer als hier.19 In der Hekabe sind es zwei, in deren Mittel-
punkt jeweils das Schicksal eines der Kinder der zur Sklavin gewordenenKönigin steht. Dass es in beiden Fällen neben den zwei Einzelschicksalenganz wesentlich auch um das Leid der Mutter geht, trägt zur Einheit desStückes bei und erweckt in beiden Teilen der Handlung in ähnlicher Weisedas Mitgefühl des Zuschauers. Dass jedoch die Reaktionen Hekabes aufdie beiden Schicksalsschläge, die sie treffen, so unterschiedlich, ja gegen-
sätzlich sind, beeinträchtigt wiederum die Einheitlichkeit der Wirkung.Zwischen den beiden Teilhandlungen besteht nicht nur kein kausaler Zu-sammenhang, sondern auch ein erheblicher Unterschied der Stimmung.Das bedeutet zugleich, dass nach dem Ende der ersten Teilhandlung zurÜberraschung des Zuschauers ein jäher Stimmungsumschwung erfolgt.Man kann dies für eine Schwäche des Stückes halten, wie es oft geschehenist; man darf aber vermuten, dass es Euripides gerade um die Darstellungdieses Stimmungsumschwungs gegangen ist.
Ein wichtiges Einheit stiftendes Element ist jedenfalls die geschickte
Verknüpfung der beiden Teilhandlungen, die so gut gelungen ist, dass die _____________
17 Ich beziehe mich dabei auf die Forderung des Aristoteles, dass der Stoff einerTragödie die Nachahmung einer einzigen ganzen Handlung sein soll und dass dieTeile der Geschehnisse so zusammenhängen sollen, dass dann, wenn ein Teil um-gestellt oder weggenommen wird, das Ganze verändert und beeinträchtigt wird( Poetik 1451a 30 35).
18 Patin (1913) 1, 331 33 prägt für diese Art von Stücken den Terminus Tragédiesepisodiques. Damit will er aber, anders als Aristoteles ( Poetik 1451b 33 35),nicht eine Abweichung von einer Norm kritisieren, sondern einen bestimmten Tra-gödientyp beschreiben.
19 Ein Episodendrama ist auch Bertold Brechts Stück Mutter Courage und ihre Kin-der , das in mehrfacher Hinsicht der Hek. und den Tro. ähnelt.
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Zweiteiligkeit dem Zuschauer kaum auffällt. Die Verknüpfung erfolgtdurch einen meisterhaften Einfall, nämlich durch die Überbringung undEnthüllung der Leiche des Polydoros, die von Hekabe zunächst für die
Polyxenes gehalten wird (658 82). Dies ist der emotionale Höhepunkt desStückes, und es ist wohl mit Recht vermutet worden, dass hier der Aus-gangspunkt der Erfindung des Euripides war.20
Die beiden Teilhandlungen der Hekabe sind weder gleichartig nochgleichgewichtig. Hinsichtlich der Gleichartigkeit lässt sich an Über-legungen anknüpfen, die Aristoteles im 13. Kapitel seiner Poetik angestellthat.21 Die Polyxene-Handlung ist einfach strukturiert (a plñ), weil sie ge-radlinig, d. h. ohne eine unerwartete Wendung des Geschehens (Wieder-erkennung, Peripetie), auf eine schon in der Prologrede angekündigte Kata-
strophe zusteuert, nämlich auf den Vollzug der Opferung Polyxenes, da derVersuch Hekabes, die Katastrophe zu verhindern, an der Weigerung desOdysseus und auch an der Todesbereitschaft Polyxenes scheitert. So gerätdie unglückliche Hekabe trotz großer eigener Bemühungen nur noch weiterins Unglück. Ihr Leid wird aber ein wenig gemildert, als sie erfahren muss,wie tapfer und würdig ihre Tochter in den Tod gegangen ist. DiePolymestor-Handlung dagegen ist doppelt strukturiert (diplñ), weil hiernach der Weise der Odyssee die Guten und die Bösen durch eine plötzliche Wendung des Geschehens, nämlich durch das Gelingen der List
Hekabes und die Bestrafung Polymestors, gegensätzliche Schicksale erfah-ren. Denn Hekabe verliert ihren Sohn, es gelingt ihr aber, sich an demMörder zu rächen. Dadurch gerät sie zwar nicht aus dem Unglück insGlück, doch wird durch ihren Erfolg ihr Unglück zumindest zeitweisegemildert. Polymestor dagegen scheint zunächst dafür unbestraft zu blei- ben, dass er seinen Gast ermordet und sich seine Schätze angeeignet hat, ermuss es dann aber erleben, furchtbar bestraft zu werden, so dass er ausseinem vermeintlichen Glück ins tiefste Unglück gerät. Aristoteles meint,dass ein solcher Ausgang eigentlich mehr einer Komödie angemessen wä-
re, dass die Tragödiendichter ihn aber gern übernähmen, weil das Publi-kum es so wünschte.22 Nun mag bei einem so düsteren Stück wie der Hekabe die Gefahr eines Abgleitens ins Komödienhafte nicht sehr großsein. Sie fehlt aber auch hier nicht gänzlich, wie man bei einer Aufführung
_____________20 Friedrich (1953) 41. Ähnlich Michelini (1987) 148: The cruelty of the Hek . scene
is generated by the structure of the play, which has been engineered for this mo-ment of supreme coincidence.
21 Poetik 1452b 28 1453a 39. Dort finden sich auch die Begriffe a plñ und diplñ(oder peplegménh) und die Odyssee als Beispiel für einen gegensätzlichen Aus-gang der Handlung für die gute und die böse Seite.
22 Poetik 1453a 30 36.
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Einführung16
bemerken konnte, in der der Chor angesichts des Unglücks Polymestorsseine verständliche Schadenfreude allzu deutlich zum Ausdruck brachte.
Die beiden Teilhandlungen sind auch nicht gleichgewichtig. Es gibt ein
deutliches Übergewicht auf der Seite der Polymestor-Handlung, nicht nurdadurch, dass ihr mit 627 zu 531 Versen mehr Raum gegeben wird,23 son-dern auch, weil infolge der Prologrede und der Anapäste Hekabes die ersteTeilhandlung schon von der Erwartung des Publikums überschattet wird,dass noch eine weitere Unglücksnachricht folgen wird. Außerdem sind dieEreignisse der zweiten Teilhandlung spektakulärer als die der ersten, undder letzte und zugleich stärkere Eindruck prägt sich dem Zuschauer tieferein.24
Manche Kritiker meinten, das Stück wäre wirkungsvoller gewesen,
wenn Euripides die Polymestor-Handlung vorangestellt hätte und diePolyxene-Handlung hätte folgen lassen, so dass der rühmende Bericht desTalthybios und Hekabes gefasste Reaktion einen würdigen Abschluss ge- bildet hätten.25 Nichts ist falscher als das. Denn das Gelingen der RacheHekabes an Polymestor ist der Zielpunkt der Handlung, und auf ihn strebtalles hin. Stände dagegen die Polyxene-Handlung am Schluss, würde nachder Erreichung des Ziels der gewichtigeren Teilhandlung ein Abfall derdramatischen Spannung erfolgen, und die Aufmerksamkeit des Publikumswürde nachlassen. Die subtileren Emotionen, welche die Polyxene-
Handlung erregt, bereiten die sehr viel stärkeren, mehr elementaren Emoti-onen der zweiten Teilhandlung vor. Hinsichtlich der Reihenfolge der bei-den Teilhandlungen gilt hier also in gewisser Weise doch der Satz desAristoteles, dass in einer guten Tragödie jeder Teil seinen festen Platz imHandlungsablauf hat, der sich nicht verändern lässt, ohne dass das Ganze beeinträchtigt würde ( Poetik 1451a 30 35).
Die Polyxene-Handlung
Der Geist des Achilleus hält, wie der Zuschauer im Prolog erfährt, diegriechische Flotte an der thrakischen Küste zurück und fordert, dass manihm Polyxene als Ehrengabe opfert. Man hört dort auch schon, dass dasHeer diese Forderung erfüllen wird und dass es Polyxene schicksalhaft
_____________
23 Diese Zahlen ergeben sich, wenn man jeweils das 1. bzw. 3. Stasimon mitrechnet.Würde man sie nicht mitrechnen, weil sie inhaltlich nicht zur jeweiligen Teilhand-lung gehören, wäre das Zahlenverhältnis ähnlich, nämlich 580 zu 491.
24 Zur Beurteilung der beiden Teilhandlungen durch Gustav Freytag, s. S. 69 Anm.130.
25 So Reiske (1748) 550f.; hierzu s. S. 67f. und Anm. 121.
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Die Polyxene-Handlung 17
bestimmt ist, noch am gleichen Tage zu sterben (35 46). Damit steht derAusgang dieser Teilhandlung von vornherein fest. Hekabe erfährt hiervonzunächst nur durch unheilverkündende, aber undeutliche Traumbilder, die
noch die Möglichkeit offen zu lassen scheinen, dass Achilleus sich mitdem Tod einer anderen Troerin zufrieden geben könnte (93 97). Der Chor berichtet aber, dass die Heeresversammlung tatsächlich beschlossen hat,Polyxene zu opfern, und dass Odysseus schon unterwegs ist, um sie zuihrem letzten Gang abzuholen (98 143). Trotzdem rät der Chor Hekabe,durch Bitten und Gebete zu versuchen, das Unheil von ihrer Tochter dochnoch abzuwenden (144 52). Als Polyxene von dem Beschluss des Heereserfährt, reagiert sie gefasst und beklagt vor allem den Verlust, den ihreMutter durch den Tod ihrer Tochter erleiden wird (188 215). Nachdem
Odysseus in dürren Worten den Beschluss des Heeres verkündet undHekabe aufgefordert hat, sich in das Unvermeidliche zu fügen (218 28),versucht diese doch noch, ihn durch eine mit der Gebärde der Hikesie un-terstützte eindrucksvolle Rede dazu zu bewegen, dass er das Heer zurRücknahme seines Beschlusses veranlasst (251 95). Doch ihr Versuch istzum Scheitern verurteilt, denn Odysseus verteidigt den Beschluss mit ebender Begründung, mit der er ihn in der Heeresversammlung durchgesetzt hat (299 331). Sie fordert ihre Tochter auf, sie solle auch selber Odysseus umGnade bitten, doch diese erklärt sich nicht dazu bereit, weil sie den Tod für
eine Befreiung aus dem drohenden Leid der Sklaverei hält (334 78).Hekabe versucht sich zwar auch weiterhin zu widersetzen, doch ihre Toch-ter bringt sie dazu, ihre Würde zu wahren und ihren Widerstand aufzuge- ben (382 408). Es kommt zu einer rührenden Abschiedsszene zwischenMutter und Tochter, bevor sich Polyxene von Odysseus wegführen lässt (409 37).
Man kann sich fragen, wie das zeitgenössische Publikum die Ausein-andersetzung zwischen Hekabe und Odysseus beurteilt hat.26 Durch denProlog und die anschließenden lyrischen Passagen ist die Anteilnahme der
Zuschauer mit dem Schicksal Hekabes und ihrer Kinder geweckt worden,so dass anzunehmen ist, dass sie auf der Seite Hekabes stehen werden,wenn sie das, wie sie aus V. 43f. schon wissen, unvermeidliche SchicksalPolyxenes durch ihre Rede doch noch abzuwenden versucht. Das gilt erst
_____________
26 Man wird der Rede des Odysseus nicht gerecht, wenn man sie als Meisterstückeiner durchsichtig pseudo-idealistischen Rhetorik bezeichnet; wie Abrahamson(1952) 124 Anm. 10 meint. Allzu rasch urteilt andererseits Schlesinger (1937) 70,schon aus der Tatsache, dass die Rede des Odysseus an zweiter Stelle stehe, lasse
sich entnehmen,that in the Hec. the second speaker, Odysseus, is recommendedto us by the poet. Odysseus behält zwar das letzte Wort, aber nur, weil er die
Macht hat, und nicht, weil das Recht allein auf seiner Seite wäre. Gut zu dieserRede auch Adkins (1966) 193 209.
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Einführung18
recht dann, wenn sie, wie es der Fall ist, gute Argumente vorbringt, denensich Odysseus nur schwer entziehen kann. Die Gegenargumente des Odys-seus sind zwar so beschaffen, dass Hekabe sie ihrerseits nicht akzeptieren
kann, es ist aber die Frage, wie das Publikum sie bewertet. Die Bürger vonAthen waren ja auch Krieger, und die Auffassung des Odysseus, dass manalles tun müsse, um den besten Helden zu ehren und so den Zusammenhaltdes Heeres zu stärken, wird für sie einiges Gewicht gehabt haben. Ichglaube zwar, dass das Publikum sich emotional weiter mit der SacheHekabes verbunden gefühlt haben wird, vermute aber, dass es gespürt hat,dass auch die Gegenseite einiges für sich in die Waagschale werfen kann,das man nicht unterschätzen darf.
Aristoteles ( Poetik 1452b 34 1453a 1) äußert Bedenken darüber, ob
das unverdiente Unglück eines edlen Menschen als Thema einer Tragödiegeeignet sei, denn es errege weder Furcht noch Mitleid, sondern werde alsgrässlich (miarón) empfunden. Diese Bedenken sind nicht ganz unbe-rechtigt. Polyxenes Tod würde beim Zuschauer aber nur dann Empörungauslösen, wenn er eine Vergrößerung ihres Unglücks bedeuten würde.Aber da sie sich bereits im Unglück befindet und den Tod als eine Befrei-ung auffasst, bewirkt ihr Schicksal beim Zuschauer kein Entsetzen, son-dern löst Anteilnahme aus, die man wohl am besten als eine mit Mitleidverbundene Bewunderung beschreiben kann. Man kann darüber streiten,
ob dies tragödientypische Emotionen sind. Wenn jedoch die Meinung derPhilosophen zutrifft, dass es die Aufgabe der Tragödie sei, die menschlicheFreiheit im Konflikt mit der Notwendigkeit des Schicksals zu zeigen, dannist die Polyxene-Handlung tragisch zu nennen. Denn Polyxene nimmt die Notwendigkeit ihres Todes durch eine freie Entscheidung auf sich und gibtdadurch diesem Tod einen Sinn: Nur durch den Tod ist es ihr möglich, derSklaverei zu entgehen und ihre Freiheit zu bewahren.
Für unser von Christentum, Aufklärung und Neuhumanismus gepräg-tes Bewusstsein ist die Opferung eines Menschen, aus welchen religiösen
Motiven auch immer sie erfolgt, eine Ungeheuerlichkeit, die uns tief em- pört.27 Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass die Athener des 5.Jahrhunderts offenbar anders empfanden, insbesondere wenn es sich umEreignisse handelte, die der mythischen Vergangenheit angehören. Es gibtAnhaltspunkte dafür, dass sowohl in der minoischen als auch in der myke-nischen Epoche Menschenopfer vollzogen wurden, und es sind vereinzelte
_____________27 Die Interpretation des Stückes durch Synodinou (2005) wird sehr stark von dieser
verständlichen Empörung bestimmt. Eine ähnliche Tendenz auch bei Scodel
(1996). Sourvinou-Inwood (2003) 291
94 spricht in solchen Fällen von einerculturally determined perception, also einer unreflektierten Wahrnehmung anti-ker kultureller oder religiöser Phänomene aus der Perspektive der christlich ge- prägten eigenen Kultur. Vgl. auch S. 31-33 zur Beurteilung der Rache Hekabes.
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Die Polyxene-Handlung 19
Fälle bekannt, in denen es noch in historischer Zeit zu solchen Opferungengekommen sein soll.28 In manchen Kultlegenden hieß es, dass ursprünglichMenschen geopfert wurden und diese Opfer später durch Tieropfer oder
durch symbolische Handlungen ersetzt wurden. So ist es nicht verwunder-lich, dass die Athener keinen Anstoß nahmen, wenn im Epos und der Tra-gödie, die ja in der mythischen Vergangenheit spielten, von Menschenop-fern als einer verbreiteten Praxis die Rede war. Wir müssen alsoakzeptieren, dass Euripides die Opferung von Menschen als Gegebenheitder Mythen hinnahm und sie nicht grundsätzlich in Frage stellte. Auf jedenFall hat er sie immer wieder in seinen Tragödien zum Thema gemacht.29 Die Kritik, die in unserem Stück von Hekabe geäußert wird (260f.), istganz singulär. Sie wird mit wenig Nachdruck vorgebracht, und der Gedan-
ke wird nicht weiter verfolgt.30
Der freiwillige Opfertod Polyxenes steht in einer Reihe von Fällen beiEuripides, wo die Götter ein Menschenopfer verlangen und wo sich ein junger Mensch bereit erklärt, sein Leben hinzugeben. Solche Fälle findensich in den Herakliden, den Phönizierinnen und der Aulischen Iphigenie sowie im verlorenen Erechtheus und im zweiten Phrixos. Im weiteren
_____________
28 Hierzu A. Henrichs, Human Sacrifices in Greek Religion, Entretiens FondationHardt 27 (1981) 195 235; OConnor-Visser (1987) 211 32.
29 Dass es gerade der Geist des Achilleus ist, der das Menschenopfer fordert, ist nichtverwunderlich. Schon der Achilleus der Ilias besteht unerbittlich auf einer ange-messenen Ehrung seiner Leistungen, die sich auch in Ehrengaben zu manifestierenhat. Dabei unterstützt ihn Zeus bei der Durchsetzung seiner Forderungen.Achilleus ist es auch, der sich durch besondere Grausamkeit hervortut, so bei sei-ner Behandlung des Leichnams Hektors und bei der Opferung von zwölf jungenTrojanern am Grab des Patroklos (23,175f.).
30 So richtig Steidle (1968) 44 Anm. 2: Die Berechtigung des Menschenopfers wirdnur in einer beiläufigen Bemerkung Hekabes ... angezweifelt, ansonsten ist sie einedramatische Voraussetzung des Stückes und als solche kaum ein Problem. Ähn-
lich Lesky (1972) 337, der daran erinnert, dass Hekabe
gegen eine Opferung He-lenas nichts einzuwenden hätte. Die Debatte im Heer in V. 116 40 geht auchnicht darum, ob überhaupt ein Mensch geopfert werden solle, sondern darum, obein bestimmter Mensch das Opfer sein solle. Synodinou (2005) 1, 37 47 nimmtan, dass Eur. schon dadurch, dass er den Demagogen Odysseus für das Zustande-kommen der Opferung verantwortlich macht, das Menschenopfer als eine verbre-cherische Tat kennzeichnen will. Gregory (1999) xxv xxxi vermutet, dass die Op-ferung Polyxenes von den Göttern missbilligt wurde und vielleicht sogar gegenreligiöse Normen verstieß. S. auch S. 48f. In Frage gestellt wird die Opferungvon Menschen dagegen in der Iph.T . Dort tadelt Iphigenie die Sitte der Taurer, ge-strandete Fremde der Artemis zu opfern, und versucht die Göttin von der Verant-
wortung hierfür zu entlasten (V. 380-91). Diese Kritik dient aber schon der Vorbe-reitung für die am Schluss des Stückes angeordnete Ersetzung der taurischenMenschenopfer durch die Stiftung eines weniger blutigen Ritus in Attika (1449 61).
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Einführung20
Sinne kann man hierher auch den freiwilligen Tod rechnen, den Alkestisauf sich nimmt, um das Leben Admets zu retten.31 In den meisten dieserOpferdramen lässt sich ein typischer Handlungsablauf beobachten, der im
einzelnen Stück mehr oder weniger ausführlich zur Darstellung kommt.Zunächst wird bekannt gemacht, dass sich in einer kritischen Situation dasWohlwollen der Götter nur dann gewinnen lässt, wenn ihnen ein jungerMensch geopfert wird. Dass die Götter das Recht haben, Menschenopferzu fordern, wird meist nicht in Frage gestellt. Das ausersehene Opfer(meist eine Jungfrau) erklärt, gelegentlich erst nach einigem Zögern, seineBereitschaft zum Tode und beweist dadurch seinen heroischen Charakter.Manchmal muss es noch die Widerstände seiner Angehörigen überwinden.Danach kommt es zu einer mehr oder weniger breit ausgestalteten Ab-
schiedsszene. Die Polyxene-Handlung der Hekabe stellt ein besondersvollständiges Beispiel des Handlungstyps dar. Hier wird auch noch derVollzug der Opferung gemeldet, gefolgt von einem Bericht über die Ein-zelheiten und einer Würdigung des edlen Charakters der Geopferten. EineBesonderheit der Hekabe besteht darin, dass hier kein Gott das Opfer ver-langt, sondern der Heros Achilleus. Wichtiger ist jedoch, dass Polyxenesich nicht mit dem Ziel identifizieren kann, für das ihre Opferung erfolgensoll, nämlich mit der Heimkehr der griechischen Flotte, sondern dass sieihre eigene Motivation findet. Eine weitere Besonderheit ist es, dass es
zwischen der Person, welche die Opferung fordert (Odysseus), und demAngehörigen, der sich der Opferung widersetzt (Hekabe), zu einem Rede-streit (a¬gån) kommt, der durch die Erklärung der Todesbereitschaft der fürdie Opferung vorgesehenen Person (Polyxene) entschieden wird.32
Ein ausführlicher Bericht über den Vollzug der Opferung findet sich inden Opferdramen des Euripides nur hier und in der Aulischen Iphigenie (1540 1612). Allerdings gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass derdort erhaltene Bericht nicht vom Dichter selbst stammt, sondern späterhinzugefügt wurde, während der ursprüngliche Dramenschluss verloren
ging. Es ist jedoch recht sicher, dass in diesem verlorenen Schluss, nichtanders als im überlieferten, die Opferung letztlich nicht vollzogen wurde,sondern das menschliche Opfer von Artemis durch ein Tier ersetzt wurde.33
Nur in unserem Stück wird also über die tatsächlich vollzogene Opfe-rung eines Menschen ausführlich berichtet (521 82). Dies ist jedoch ein sofurchtbares Geschehen, dass es einem menschlich empfindenden Publikum
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31 Hierzu Schmitt (1921); OConnor-Visser (1987), bes. 50 72; Matthiessen (2002)32f.
32 Zu diesem Agon und überhaupt zum Typ der von ihm so genannten Hikesie-agone Dubischar (2001) 73 78.
33 Hierzu Matthiessen (2002) 234 37.
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Die Polyxene-Handlung 21
nicht einmal in der Form eines Berichts ohne weiteres zugemutet werdenkann. Die Beschreibung der Opferung der geknebelten und nur noch mitden Augen um Hilfe flehenden Iphigenie im Agamemnon (228 47) ist
denn auch gräßlich, und sie soll es sein, da sie die Tat des Vaters in ihrerganzen Furchtbarkeit vergegenwärtigen soll. Hier jedoch erreicht es Euri- pides, dass das Geschehen dem Publikum nicht als grässlich erscheint.Polyxene befand sich bereits vor ihrer Opferung im Unglück, da ihre Stadtzerstört und sie selbst auf dem Weg in die Sklaverei ist, und der Tod er-scheint ihr eher als eine Wohltat, da er ihr diesen Weg erspart. Ausserdemlässt der Dichter sie auf eine Weise in den Tod gehen, die ihren edlen Cha-rakter offenbart und sogar dem Opferer und der Heeresversammlung Be-wunderung abnötigt. Ihr Verhalten hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
einer christlichen Märtyrerin, und es löst beim Zuschauer auch vergleich- bare Gefühle aus. Man hat hier von einer Ästhetisierung des Schrecklichengesprochen.34 Dem ist zuzustimmen, wenn diese Bezeichnung nicht alsKritik verstanden wird, sondern als angemessene Beschreibung der Verfah-rensweise des Dichters. Das Schreckliche wird in der Tat nicht aufgeho- ben, aber es wird so abgemildert dargestellt, dass es für den Zuschauernoch erträglich ist.
Manche Einzelheiten des Berichts des Talthybios sind als anstößigempfunden worden, zu Unrecht, wie ich meine. Dieser Anstoß scheint mir
in der Differenz der Zeitalter und der Kulturen begründet zu sein. Es ist mitRecht darauf hingewiesen worden, dass jedes blutige Opfer von Anfang aneine sexuelle Komponente gehabt hat, die in historischer Zeit wohl nurnoch im Unterbewusstsein vorhanden war.35 Diese Komponente dürfte beieinem Jungfrauenopfer stärker ausgeprägt gewesen sein als bei einemTieropfer. Sie fehlt auch hier nicht. Dass das Heer über den edlen TodPolyxenes begeistert war und dass dieser Begeisterung auch ein erotischesElement beigemischt war, lässt sich aus dem Bericht erahnen, besonders betont wird es aber nicht, weil sonst seine Haupttendenz beeinträchtigt
würde. Denn der Bericht dient in erster Linie der Verherrlichung des Mutesund des edlen Verhaltens des Mädchens bei ihrer Opferung, er soll aberauch bewirken, dass Hekabe aus ihm etwas Trost schöpft. So kann sie fest-stellen, dass sie zwar trauern muss, aber das Übermaß der Trauer von ihrgenommen wurde (589 92). In der Stimmungskurve des Stückes folgt aufden Zusammenbruch Hekabes am Ende des ersten Epeisodion (438 40)nunmehr am Ende des zweiten eine Mischung aus Trauer und Gefasstheit.Ihre Trauer wird bald darauf aber wieder gewaltig gesteigert werden.
_____________34 Michelini (1987) 131 80, besonders 144 48.35 Dazu Burkert (1997) 70 80, besonders 79f.
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Man hat öfters gefragt, ob die Opferung Polyxenes das vom Heer er-strebte Ziel, nämlich die Ermöglichung der Heimfahrt nach Griechenland,überhaupt erreicht habe. Manche vermuten, die Götter hätten die Annahme
des Opfers verweigert, entweder weil sie überhaupt Menschenopfer ab-lehnten oder weil es infolge von Polyxenes Verhalten oder aus anderenGründen zu keiner vollgültigen Opferung gekommen sei.36 Als Indiz füreine solche Verweigerung wird angeführt, dass der Fahrtwind nicht sofortnach der Opferung zu wehen beginnt, sondern erst später, wie aus V. 900und 1289f. zu entnehmen sei. Mir scheint jedoch kein Zweifel daran mög-lich zu sein, dass dies ein vollgültiges Opfer war. Sowohl die Freiwilligkeitdes Opfertiers als auch seine vor allen Augen sichtbare körperliche Voll-kommenheit sind Indizien für die Vollgültigkeit.37 Dass der Fahrtwind
nicht sofort weht, erfahren die Zuschauer erst später und mehr nebenbeiaus dem Munde Agamemnons (V. 900), und zwar zu einem Zeitpunkt, woihre Aufmerksamkeit schon ganz auf die Rachehandlung gerichtet ist. Dassder Fahrtwind sich verzögert, hat wohl andere Gründe38, und die Vermu-tung, dass die Götter Menschenopfer überhaupt ablehnten, setzt ein größe-res Maß an Humanität bei ihnen voraus, als man ihnen zubilligen sollte.
Polyxene wählt mit ihrem Opfertod den einzigen Weg, auf dem es ei-ner Frau in der damaligen Gesellschaft möglich war, selbstbestimmt hero-isch zu handeln, ohne die Grenzen zu überschreiten, die ihr durch Natur
und Konvention gesetzt waren.39
Sie wird damit zu einer Heroine, die sichin ihrer Geradlinigkeit und Unbedingtheit mit sophokleischen Helden wieAias, Antigone oder Elektra messen kann.40 Auch Hekabe, die sich in eineraussichtslosen Situation mit aller Kraft für das Leben ihrer Tochter ein-
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36 Mitchell-Boyask (1993) 120 23 meint, dass die Opferung Polyxenes ihren Zweck,den günstigen Fahrtwind herbeizuführen, verfehlte, und nennt vermutungsweiseeine Reihe von Gründen für das von ihm angenommene Misslingen des Opfers.Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass sowohl die Heeresversammlung als auchdas Publikum die Opferung in keiner Weise als misslungen wahrnehmen und dass
die Mitteilung Agamemnons über das Ausbleiben des Windes erst sehr viel späterin wenigen Worten in einer Parenthese erfolgt (V. 900). Ein Interpret sollte immerdavon ausgehen, dass der Dichter dem, was er für wichtig hält, im Dramentext soviel Gewicht gibt, dass auch der Zuschauer die Wichtigkeit bemerkt.
37 Gregory (1991) 97: Polyxenas readiness to die makes her the ideal sacrificialvictim. Zur Vollkommenheit und Freiwilligkeit des Opfertiers s. Burkert (1997)10f.
38 Siehe S. 46f.39 Foley (2001) 264: There is for the Greeks no model of autonomous and heroic
femininity outside of self-sacrifice. Dazu ist freilich zu bemerken, dass in derTragödie auch Frauen ein autonomes Handeln möglich ist, dass dies aber immereine Grenzüberschreitung darstellt, die entsprechende Folgen hat. Dies zeigen Fäl-le wie die Klytaimestras, Deianeiras, Antigones, Medeas und auch Hekabes.
40 Eine schöne Würdigung der Polyxene-Handlung bei Pagani (1970).
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setzt, erweist sich schon in diesem Teil des Dramas als eine heroische Ge-stalt. Ihr Gegenspieler Odysseus dagegen erscheint als rücksichtsloserVerteidiger und Vollstrecker des Beschlusses der Heeresversammlung, den
er zuvor selbst durch seine eigene Rede herbeigeführt hat. Er braucht keineGewalt anzuwenden, da sich Polyxene freiwillig in ihr Schicksal ergibt, erlässt aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sie anwenden würde,wenn es nötig wäre. Mag seine Argumentation auch noch so geschicktsein, die Sympathien des Publikums werden wohl eher auf der Seite der beiden Frauen gewesen sein.
Die Polymestor-Handlung
Schon in der Prologrede erfährt der Zuschauer, dass der ThrakerkönigPolymestor ein Verbrecher ist. Er hat auf Wunsch seines GastfreundesPriamos dessen Sohn Polydoros bei sich aufgenommen, damit dieser imFalle des Unterganges von Troja gerettet werde. Als die Stadt gefallen ist,hat er das ihm anvertraute Kind getötet, die ihm mitgegebenen Schätze ansich genommen und die Leiche nicht bestattet, sondern ins Meer geworfen.Bei seinem Auftritt und seinem Gespräch mit Hekabe erweist er sich alsHeuchler und Lügner, aber da er sich darauf verlässt, dass seine Untat ver-
borgen bleibt und dass die Griechen ihm freundschaftlich verbunden sind,und da ihn seine Gier nach weiteren Schätzen für alle Gefahren blindmacht, kann Hekabe ihn leicht überlisten, mit Hilfe ihrer Mitgefangenen blenden und seine beiden Söhne töten.
Anders als die Polyxene-Handlung verläuft die Polymestor-Handlungnicht so, wie es der in der Prologrede erfolgenden Ankündigung ent-spräche. Dort hat der Geist des Polydoros nur angekündigt, dass seinLeichnam ein Grab erhalten wird, sobald er in die Hände seiner Muttergefallen ist (V. 49 52). Erst im Verlauf der Handlung wird sich zeigen,
dass ihm sehr viel mehr zuteil werden wird als eine würdige Bestattung,nämlich eine angemessene Bestrafung seines Mörders durch seine Mutter.Diese überraschende Wendung des Geschehens erfolgt ganz plötzlichdurch den Entschluss Hekabes, die Rache für den Tod ihres Sohnes aufsich zu nehmen (V. 736 57), sie ist aber gut vorbereitet durch die Weise,wie Hekabe durch ihr Verhalten während der vorausgehenden Handlungcharakterisiert worden ist.
Polymestor ist in jeder Hinsicht ein ganz Schlechter (sfódraponhróß) im Sinne des Aristoteles ( Poetik 1453a 1 7). Er befindet sich
zunächst in einem vermeintlichen Zustand des Glückes, da er, wie es ihmscheinen muss, ungestraft einen großen Schatz an sich gebracht hat, nach-dem er dessen rechtmäßigen Besitzer ermordet hat. Er muss jedoch im
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Verlauf der Handlung erleben, dass er für dieses Verbrechen aufs furcht- barste bestraft wird. Es handelt sich bei ihm um einen Fall von der Art, dieder Philosoph meint, wenn er sagt, der tragische Dichter solle nicht darstel-
len, wie ein solcher ganz Schlechter einen Umschlag vom Glück insUnglück erlebt, weil dies zwar menschlich erfreulich (filánqrwpon) sei,aber weder Mitleid noch Furcht errege. In der Tat löst die Bestrafung desThrakerkönigs beim Zuschauer wenig Anteilnahme aus, und zwar höchs-tens in dem Umfang, wie jeder Mensch am Leiden eines anderen Anteilnimmt, ob dieses Leiden nun verdient sei oder nicht. Diese Anteilnahmewird im Falle Polymestors aber nicht stark ausgeprägt sein, und bei vielenZuschauern wird die Schadenfreude überwiegen. Solche ganz Schlechten wie Polymestor kommen, wohl aus dem von Aristoteles genannten Grund,
in den erhaltenen Tragödien des Euripides selten vor. Mir fällt nur noch derFall des Tyrannen Lykos im Herakles ein. Sonst bemüht sich der Dichterim allgemeinen, auch die negativ gezeichneten Charaktere mit einigenfreundlicheren Zügen auszustatten, wie zum Beispiel Eurystheus in den Herakliden oder Klytaimestra in der Elektra, wohl um beim Zuschauerwenigstens eine gewisse Anteilnahme an ihrem Schicksal zu erwecken.
Man kann sich fragen, wie das zeitgenössische Publikum die doppelteBestrafung Polymestors, also seine Blendung und die Ermordung seinerKinder, beurteilt hat. Einen wichtigen Hinweis dürfte geben, dass innerhalb
des Stückes alle Beteiligten (ausser dem Betroffenen selbst) die Bestrafungfür angemessen halten und dass auch das Gerichtsverfahren, das unterAgamemnons Leitung erfolgt, zu dem gleichen Ergebnis führt.41 Was dieErmordung der Kinder betrifft, so scheint mir eine gewisse Ähnlichkeit mitder Medea zu bestehen, weil hier wie dort der Vater durch den Verlustseiner Kinder am schwersten getroffen wird ( Med . 817). Im übrigen sinddie Unterschiede jedoch groß. Denn dort wird erstens die Anteilnahme desZuschauers am Schicksal der Kinder von Anfang an geweckt und währenddes ganzen Stückes fortwährend verstärkt.42 Zweitens handelt es sich um
die eigenen Kinder der Mörderin, so dass der Zuschauer schon deswegenvon starken widerstreitenden Emotionen ergriffen wird. Er wird nicht nur
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41 Richtig urteilt Dubischar (2001) 18: Wenn sich während eines Dramenabschnittsalle Bühnenfiguren in der Verurteilung einer Figur einig sind und nirgends einegegenteilige Meinung laut wird, kann man davon ausgehen, dass in dieser Phaseauch der Rezipient gegen diese Figur eingenommen sein soll. Allerdings zieht eraus dieser Erkenntnis nicht die nötige Folgerung für die Beurteilung der Bestra-fung Polymestors (334 41). Wenn Ihm (2004) 136 die Bestrafung Polymestorsdurch Hekabe als einen schweren Bruch des Gastrechtes auffasst, verkennt sie,dass er zuvor durch sein xenoktoneîn (1247) das Gastrecht gebrochen hat und jetztdafür nach allgemeinem Konsens mit Recht bestraft wird.
42 Ähnliches gilt auch für die Kinder des Herakles im Her .
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um die Kinder, sondern auch um die Mutter fürchten, und wenn es dannzur Tat kommt, wird er für Kinder und Mutter Mitleid empfinden. In der Hekabe dagegen wird der Auftritt der Kinder kaum vorbereitet, die Gefahr,
in der sie schweben, wird nicht bewusst gemacht, und ihr Tod wird nichtangekündigt, sondern erfolgt völlig überraschend. Der Zuschauer erhältalso kaum die Möglichkeit, sich für sie emotional zu engagieren. Mangewinnt den Eindruck, dass die Kinder nur zu dem Zweck eingeführt wer-den, dass sie getötet werden, um durch den Verlust der Erben seines Ver-mögens das Leid Polymestors so sehr zu vergrößern, dass das Ausmaßseiner Bestrafung das richtige Verhältnis zur Größe seiner Verbrechen(Mord, Raub, Bruch des Gastrechts, Leichenschändung) erhält.
Ich nehme also an, dass die Zeitgenossen mit der Form der Bestrafung
Polymestors einverstanden waren. Dass es im Altertum Fälle gab, in denen jemand für ein schweres Verbrechen zusammen mit seiner Nachkom-menschaft bestraft wurde, wird von Historikern bezeugt.43 Ob eine Blen-dung als eine härtere Form der Bestrafung empfunden wurde, ist schwer zusagen. Ich vermute, dass die Ausstoßung aus der Gesellschaft der Sehen-den, die durch eine Blendung bewirkt wird, als eine etwa gleich schwereStrafe wie der Tod angesehen wurde. Für den Dichter bot diese Art derBestrafung auf jeden Fall den dramentechnischen Vorteil, dass ihmPolymestor weiterhin zur Verfügung stand, als Sänger eines Klageliedes
über sein und seiner Söhne Unglück, als Verteidiger seines Verbrechens,als Berichterstatter über seine eigene Bestrafung und schließlich als Ver-künder zukünftigen Unglücks.
Sehr eindrucksvoll ist die Erscheinung des Geblendeten auf der Bühne (1055a 1106). Er kriecht in der blutigen Maske, die dem Zuschauer wohlschon aus dem Ödipus vertraut war, auf allen Vieren aus dem Zelt heraus,tappt umher, um sich an seinen Feindinnen zu rächen, tastet nach denLeichnamen seiner Kinder und schreit seinen Schmerz und seine Wut lautheraus. Er zeigt sich in seinen wilden Gesängen und wohl nicht minder
wilden Bewegungen jetzt ganz als der Barbar, dem man seine schreck-lichen Taten auch zutrauen kann. Er hat für die Dauer seines Liedes dieMaske des Biedermannes verloren, hinter der er sich vorher beim Gespräch
_____________43 Bestrafung der Kinder als Teil der Bestrafung des Vaters auch bei Herodot 8,106
(Panionios) und 9,120 (Artayktes) sowie in späterer Zeit bei Diodor 20,70,3 4(Agathokles). Diodor stellt ausdrücklich fest, dass der Tod der Söhne desAgathokles eine gerechte göttliche Strafe für die Ermordung eines Gastfreundeswar. Hierzu Burnett (1998) 163 Anm. 83; ferner Meridor (1983) 17 20, die meint,
dass Eur. bei der Gestaltung des Schlusses der Hek. durch die Artayktes-Episode bei Herodot angeregt worden ist. Auch der von Nebukadnezar abgefallene Königin Juda Zedekia wird auf die gleiche Weise bestraft wie Polymestor ( Jeremia 39,6f.).
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mit Hekabe verborgen hat und die er bald wieder anlegen wird, wenn erseine Sache in wohlgeordneter Rede vor Agamemnon vertritt. Es gibt imganzen Corpus der erhaltenen Tragödien nur wenig, das sich mit dieser
bewegten Szene vergleichen lässt.44 Bei Polymestors Rede (1132 82) sollte man sich nicht allzusehr durch
seine Argumentation beeindrucken lassen.45 Euripides pflegt in seinenRedeagonen Fairness walten zu lassen, indem er den Rednern für ihre Sa-che immer möglichst gute Argumente zur Verfügung stellt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er selbst sich diese Argumente zu eigen macht oder dasssich der Zuschauer von ihnen überzeugen lassen soll. Polymestor ist durchden Geist des Polydoros im Prolog als ein Mörder eingeführt worden, derzu seiner Tat allein von Habgier getrieben wurde. Diese Motivation seines
Handelns ist damit für die Zuschauer eine aus berufenem Mund beglau- bigte Tatsache.46 Sie wird denn auch von der Dienerin (712), vonAgamemnon (775) und von Hekabe (776) vorausgesetzt, und auch in sei-nem Gespräch mit Hekabe (953 1022) verhält er sich dementsprechend.Wenn Polymestor seine Tat nachträglich anders begründet, hat dies keineÜberzeugungskraft, und es fällt Hekabe denn auch leicht, seine Argumen-tation zurückzuweisen.
Man hat mit Recht auf einige Parallelen hingewiesen, die zwischenPolymestor und dem Polyphem der Kyklopenepisode der Odyssee (9,193
542) bestehen.47
Jeder von beiden ist ein Verächter des Gastrechts und einMörder und Kannibale (Polymestor zumindest potentiell: 1071f.). Beidewerden zur Strafe geblendet; beide werden zu Verkündern einer unglück-lichen Zukunft derer, die sie bestraft haben, und schöpfen dabei aus demWissen, das ihnen Seher mitgeteilt haben. Es kann also sein, dass Euripidessich beim Schlussteil der Polymestor-Handlung von der Odyssee anregenließ. Dass er damit andeuten will, dass Hekabe sich bei ihrer Rache demschnöden Verhalten des Odysseus, ihres Gegenspielers in der ersten Dra-menhälfte, angleicht, wie vermutet wurde, glaube ich freilich nicht.48 Ich
meine vielmehr, dass die Überlistung Polymestors als eine Meisterleistungwahrgenommen werden sollte, die vollen Respekt verdient und die sichdurchaus mit der berühmtesten Tat des Odysseus, der Blendung des Kyk-
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44 Gut hierzu Schadewaldt (1926) 154f.; s. zu V. 1055a 1108. 45 Dies ist z. B. der Fall bei Meridor (1979/80) 10 Anm. 16; Ihm (2004). Richtig
hierzu Battezzato (2003) 26. 46 Dubischar (2001) 200 06 spricht von der auktorial intendierten Rezeptions-
perspektive. 47 Schmid (1940) 466; Segal (1990a) 309f.; Ferla (1996) 289. 48 Segal (1990a) 309 11.
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lopen, vergleichen lässt. Übrigens wirkt der Schluss des Kyklops an einigenStellen wiederum wie eine Parodie des Schlusses der Hekabe.49
Hekabe als Zentralgestalt
In der zentralen Gestalt der Hekabe und in ihrem Schicksal verbinden sichExemplarisches und Persönliches. Einerseits ist sie, wie es im Stück immerwieder heißt, das große Exempel für den Wechsel von Glück zum Un-glück, andererseits ist sie auch ein markanter, unverwechselbarer Charak-ter.
Schon der Prologsprecher Polydoros stellt seine Mutter vor ihrem Auf-
tritt als einen Menschen vor, den das Schicksal aus dem Königspalast ver-trieben und in die Sklaverei verbannt hat und der jetzt ebenso tief steht, wiezuvor hoch (54a 58). Dem entspricht dann auch ihre Erscheinung auf derBühne. Als Talthybios sie später erblickt, wie sie nach dem Verlust ihrerTochter in ihre Kleider gehüllt zusammengesunken auf dem Boden liegt,nimmt er ihr Los als Beweis dafür, dass das Ergehen der Menschen denGöttern gleichgültig ist, und hebt hervor, wie hoch sie einst stand und wietief sie jetzt gesunken ist (488 98). Hekabe selbst fasst ihr Schicksal alsexemplarisch auf: als eine Warnung an die Menschen vor Übermut und als
eine Mahnung dazu, schon das unbeschädigte Überleben des nächstenTages für das größte Glück zu halten (619 28). Auch die Dienerin, dieHekabe den Leichnam des Polydoros überbringt, erklärt ihre Herrin zu demMenschen, der alle anderen durch sein Unglück übertrifft, zur Siegerin im Wettstreit um den Platz des Allerunglücklichsten (658 60). Ebensosieht es Agamemnon (785), und sie selbst bestätigt es, indem sie sich mitTyche, der Glücksgöttin, die in diesem Fall die Verkörperung des Un-glücks ist, auf eine Stufe stellt (786) und dann noch einmal vor seinemdistanzierten Blick ihr Leid in all seinen Aspekten ausbreitet (808 11).
Selbst Polymestor fasst ihr Unglück als exemplarisch auf und knüpft all-gemeine Betrachtungen daran an (955a 60). Aber Hekabe ist vom ersten Auftritt bis zu ihrem letzten Abgang nie-
mals nur Exempel, sondern immer zugleich auch ein fest umrissener Cha-rakter, der im Laufe des Stückes immer mehr an Profil gewinnt. Sie ist eineder eindrucksvollsten Frauengestalten, die Euripides geschaffen hat. Zuersterscheint sie als ärmlich gekleidete und gebrechliche alte Frau, die sich nurmit Hilfe eines Stockes mühsam fortbewegen kann und bei jedem Schrittgestützt werden muss (59 67), also als jemand, von dem nur noch Klagen
zu erwarten sind und der zum energischen Handeln schon zu schwach ist. _____________49 Besonders auffällig Hek . 1035-39 ~ K ykl. 663 66.
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Der Zuschauer muss dann jedoch erleben, wie sie, ohne lange zu überle-gen, den Rat der Frauen des Chores befolgt und mit einer eindringlichenRede und auch mit körperlichem Einsatz das Leben Polyxenes zu retten
versucht. Sie scheitert, weil sie der Macht der Griechen nur Worte entge-gensetzen kann, aber niemand kann ihr vorwerfen, dass sie nicht alles ver-sucht hat. Am Ende, als sie Polyxene für immer verloren hat, sinkt sie er-schöpft zusammen, doch selbst in diesem Augenblick gibt sie durch dieVerwünschung Helenas zu erkennen, dass sie noch nicht am Ende ihrerKräfte ist (441 43). Auf den Bericht des Talthybios über den Tod ihrerTochter reagiert sie gefasst und würdevoll und trifft ruhig und umsichtigdie Vorbereitungen für eine angemessene Bestattung, wobei sie, wiederganz als die Königin, die sie einmal war, auch dem griechischen Heer An-
weisungen für sein richtiges Verhalten gibt. Hekabes Bewährungsprobekommt dann, als ihr der Leichnam überbracht wird, von dem es sich her-ausstellt, dass er Polydoros gehört. Als sie sieht, dass sie sofort nach demTode Polyxenes ein neues Unglück getroffen hat, bricht sie nicht etwavöllig zusammen, wie es die Zuschauer erwartet haben mögen, sondernentschließt sich nach einem kurzen Ausbruch wilden Schmerzes, abermalsohne längere Überlegung, zur Rache am Mörder ihres Sohnes. Sie gewinntAgamemnon zwar nicht für die Übernahme der Bestrafung, aber wenigs-tens dafür, dass er ihrem Handeln nicht im Wege steht und ihr sogar Hilfs-
dienste leistet. Dabei erweist sie sich in ihrer rücksichtslosen Entschlos-senheit zum Vollzug der Rache als die Überlegene gegenüber dem König,der auf die Stimmung des Heeres Rücksicht nehmen muss. Sie stellt gera-dezu die Machtverhältnisse auf den Kopf: Obwohl sie seine Sklavin ist,kann sie ihm Befehle geben (870 74, 888 97). Bei der Begegnung mitPolymestor zeigt sie sich als Meisterin in der Entlarvung des Lügners undder Überlistung des allzu Vertrauensseligen. Auch nach dem Vollzug derRache ist sie Herrin der Situation. Da sie sich zuvor mit Agamemnon ver-ständigt hat, kann sie zuversichtlich in die Auseinandersetzung mit
Polymestor eintreten, die sie souverän besteht. Nicht einmal die Ankündi-gung ihrer Verwandlung und ihres baldigen Todes kann sie erschüttern,nachdem das letzte Ziel erreicht ist, das sie sich für ihr Leben gesetzt hat (1274, vgl. auch 756f.). Nur als sie erfährt, dass auch das LebenKassandras bedroht ist, erwacht noch einmal für einen Augenblick ihrmütterlicher Instinkt, der sie eine letzte Verwünschung ausstoßen lässt(1275f.).
Dass die weibliche Hauptgestalt in der zweiten Dramenhälfte aus einerLeidenden zu einer erfolgreich Handelnden wird, deren Handeln durch ihrLeid motiviert ist, findet bei Euripides seine Parallele insbesondere beiMedea, aber ebenfalls bei Alkmene am Schluss der Herakliden. Auch diePhaidra des Hippolytos mit ihrem plötzlichen Übergang vom Leiden an
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ihrer Liebe zum hasserfüllten Handeln gegen den eben noch geliebtenMann ist hier zu nennen. Aus den späteren Stücken ist die Kreusa des Ion mit ihrer aus Schmerz und Enttäuschung plötzlich erwachten Mordlust ein
weiteres Beispiel. In allen diesen Fällen wird die Sympathie des Publikumsmit den bisher Leidenden auf die Probe gestellt. Murray spricht von einemUmschwung der Sympathie, einer Lösung der emotionalen Bindung andie Partei, mit der sich das Publikum bisher verbunden gefühlt hat, beglei-tet von einem neu erwachenden Mitgefühl für die Gegenpartei.50 Ein sol-cher Wechsel wird nicht jedesmal gleich stark ausgeprägt sein, und er wirdauch nicht bei jedem Zuschauer in der gleichen Weise erfolgen, aber dieBeobachtung von Murray ist grundsätzlich richtig. Sie lässt darauf schlie-ßen, dass Euripides andeuten will, Recht und Unrecht seien nicht immer so
sauber verteilt, wie das Publikum es wünscht. Ich meine allerdings, dass inunserem Fall die Distanzierung von der einen und das neue Mitgefühl mitder anderen Partei besonders schwach ausgeprägt gewesen sein dürften.
Es ist oft beklagt worden, dass der Zuschauer die rasche VerwandlungHekabes von einer Leidenden zur Handelnden nicht nachvollziehen könne,so dass es ihm schwer falle, sie in beiden Teilen des Dramas als einen ein-heitlichen Charakter wahrzunehmen. Dass dieser plötzliche Übergang er-staunlich ist, lässt sich nicht leugnen. Es
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