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Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

# NZZ AG

BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

Seite 21

Feuilleton 10.11.16 / Nr. 263 / Seite 37 / Teil 01

! NZZ AG

Die vielfache Vertreibungaus dem ParadiesÜber die Gesellschaft 4.0 und ihre Voraussetzungen. Von Dirk Baecker

Seit der Einführung des Internets spieltsich ein Medienwandel ab, der in seinerepochalen Bedeutung nur mit der Ein-führung der Sprache, der Schrift und desBuchdrucks zu vergleichen ist. Zähltman nach dem Vorbild der Softwareent-wickler, bekommen wir es nach derStammesgesellschaft – der Gesellschaft1.0 –, der antiken Hochkultur, 2.0, undder modernen Buchdruckgesellschaft,3.0, mit der digitalen Gesellschaft, 4.0, zutun. Die Null deutet an, dass es sich umeine historisch grobe Einteilung handelt.

Dieser Medienwandel begann langevor der Einführung des Internets in denfrühen 1990er Jahren und auch lange vorder Entwicklung von Computern mit derEntdeckung der Elektrizität. Elektrizi-tät bedeutet Wechselwirkung, die sichnahezu gleichzeitig abspielt und sich da-her nicht mehr auf Kausalität herunter-buchstabieren lässt. Elektrizität bedeu-tet nahezu instantane Verknüpfungen inLichtgeschwindigkeit und damit eineNachrichtentechnik, die die Welt zum«globalen Dorf» (Marshall McLuhan)schrumpfen lässt. Und Elektrizität be-deutet die Möglichkeit elektronischerSteuerung, der sich Computer und Netz-werke von Computern verdanken, zu-nächst als Grossrechner in Behörden,Unternehmen und wissenschaftlichenEinrichtungen, dann als Personalcompu-ter auf den Schreibtischen, schliesslichals Smartphone für jedermann. Elektri-zität bedeutet, dass mithilfe kleinsterSignale oder Impulse grosse Energien zudirigieren und zu kontrollieren sind.

Ins Gefüge der Welt eingreifen

Die Elektronik greift in das Gefüge derWelt selbst ein, transformiert die Mate-rie, ermöglicht Fernsteuerung und ver-wandelt den Menschen selbst in einenImpuls, der nur noch an wenigen Stellender Maschinerie die Chance hat, einenSchalter umzulegen, um etwas zu bewir-ken, oder ein Ergebnis abzulesen, mitdem er etwas anfangen kann. Streng-genommen machen sich die Computer,die sogenannten sozialen Netzwerke undauch das Internet der Dinge nur das zu-nutze, was mit der Elektronik in den Be-reich des Möglichen rückt. Das sind ers-tens nahezu instantane Verknüpfungenquer über den ganzen Globus und zwei-

tens eine Verschaltung aller alten Me-dien, Sprache, Bild, Ton und Schrift, ineinem neuen Medienverbund, dessenLogik mit unseren an das respektvolleGespräch, die kritische Lektüre, daskonzentrierte Zuhören und die aufmerk-same Betrachtung gebundenen Ge-wohnheiten kaum noch etwas zu tun hat.

Wir müssen unsere Theorie der Ge-sellschaft auf ein neues Verständnis vonMedien umstellen, um zu begreifen, wasmit uns geschieht. Medien sind Kultur-techniken. Sie vermitteln Kommunika-tion und Handlung. Das ist ihr einfachs-ter Begriff. Im Medium der Sprache kön-nen Gedanken, die im Bewusstsein ver-schlossen sind, anderen zugänglich ge-macht werden. Im Medium der Schriftkönnen nicht nur Abwesende erreichtwerden, sondern es kann ein Zeitenübergreifendes Gedächtnis aufgebautwerden, das die Gegenwart unter denDruck setzt, sich gegenüber Ursprungund Herkunft zu rechtfertigen. ImMedium des Buchdrucks beginnt einmassenhaftes und nicht mehr durch dieAutorität der Kirche kontrolliertes Le-sen und Schreiben, das alle Verhältnisse«kritisch» auf den Kopf stellt und nurmühsam durch «Vernunft» und «Aufklä-rung» kanalisiert werden kann. ImMedium der Elektronik werden Rechen-prozesse, Speicherkapazitäten und Netz-werke aufgebaut, die von menschlichenAktivitäten und anderen Sensoren ge-füttert werden und eine Welt errechnen,die unser Verständnis überfordert.

Der entscheidende Schritt für einVerständnis der digitalen Gesellschaftist mit diesem einfachen Medienbegriffallerdings nicht getan. Medien vermit-teln nicht nur Kommunikation undHandlung, so als hätten diese ihren Ur-sprung (ihre «Intention») ausserhalb derGesellschaft in den Köpfen und Körpernder beteiligten Menschen und müsstennur noch miteinander verknüpft werden.Dieses Bild entspricht einer «humanisti-schen» Selbstüberschätzung des Men-schen. Die «Katastrophe», das heisst denSystemwandel durch die Einführungneuer Medien, versteht man erst, wennman sich vor Augen führt, dass Medienauch das Erleben von Welt und Gesell-schaft verändern.

Sie ermöglichen eine neue Orientie-rung, wecken neue Wünsche, Absichtenund Interessen. Das Buch verändert

unser Lesen, wie Mikroskop und Fern-glas unser Sehen verändern. Die Eröff-nung eines Benutzerkontos auf einersozialen Plattform im Netz verändertunseren Sinn für gesellschaftliche Mög-lichkeiten, wie die Bilder aus dem rei-chen Norden die Durchhaltebereitschaftim armen Süden verändern. Ein etwasanspruchsvollerer Medienbegriff stelltdaher darauf ab, dass Medien nicht nurbereits vorhandene Wirklichkeiten ver-mitteln, sondern neue Möglichkeiten inReichweite rücken und vorstellbar ma-chen. Die Medien, in denen wir uns be-wegen, schaffen die Welt, an der wir unsmit ihrer Hilfe orientieren.

Erst auf diesem Umweg versteht man,was sich mit der Einführung von Spra-che, Schrift, Buchdruck, Elektronik undanderen Medien jeweils ereignet. Jedesdieser Medien eröffnet eine neue Welt,die mit der alten Welt nicht abgestimmtist. Das Auftauchen der Sprache vor100 000 bis 300 000 Jahren vertrieb dieMenschen aus einer Welt, die auf die Evi-denz der Wahrnehmung beschränkt war.Das Auftauchen der Schrift vor 7000 bis10 000 Jahren durch die Einführung derBuchführung in der PalastwirtschaftMesopotamiens vertrieb die Menschenaus einer Welt, die reine Gegenwart war,abgesichert durch eine mythische Ver-gangenheit und die ewige Wiederkehrdes Gleichen. Die Welt explodiert in dieZeithorizonte von Vergangenheit, Ge-genwart und Zukunft, die sich nicht wie-derholen, sondern voneinander unter-scheiden. Die Griechen erfinden Komö-dien und Tragödien, in denen das be-schrieben werden kann, und entwickelneine Philosophie, die versucht, den Über-blick zu behalten. Das Auftauchen desBuchdrucks vor fünfhundert Jahren,vierte Vertreibung aus dem Paradies,konfrontiert die Menschen mit einerWelt, die bis in den letzten Winkel «kri-tisch» untersucht werden kann.

Nichts mehr versteht sich traditionellvon selbst, weil man über alles verglei-chend nachlesen und alles neu beschrei-ben kann. Die Ordnung der Ständebricht auseinander, und an ihre Stelletreten eine demokratisch verwalteteMacht, ein über Märkte kontrolliertesGeld, eine empirisch, das heisst unterWissenschaftern theoretisch und metho-disch überprüfte Wahrheit, eine nichtmehr an die Familie, sondern an die Lei-

Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

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BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

Seite 21

Feuilleton 10.11.16 / Nr. 263 / Seite 37 / Teil 02

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denschaft gebundene Liebe und nichtzuletzt eine Kunst, die nicht mehr amVorbild der Natur, sondern an der Origi-nalität des Künstlers orientiert ist. Dasist die moderne Gesellschaft. Sie kannnur noch dynamisch stabilisiert werden.Wir haben kaum verstanden, was dasheisst, und müssen uns doch schon wie-der auf eine neue Welt einlassen.

Das auffälligste Phänomen einerdigitalen Gesellschaft sind die Bild-schirme, die Displays unserer Compu-ter, Smartphones und Tablets. IhreOberflächen faszinieren, so Niklas Luh-mann, wie früher nur die ominösen Zei-chen der Religion faszinierten. Sie ver-binden uns mit den unergründlichenTiefen unsichtbarer Maschinen, wie wirfrüher mit der Welt der Götter undGeister verbunden waren. Wir startenunsere Suchanfragen, checken unsereE-Mails, posten unsere Blog-Beiträge,liken, was andere posten, wischen weg,was uns nicht interessiert, und sind jedesMal im Kontakt mit einem Netzwerk,das wir nicht verstehen, aber immer wie-der neu zu spüren bekommen.

Wieder liegt die Faszination desneuen Mediums nicht darin, dass es einbesseres Instrument für die Vermittlungvon Nachrichten ist als die alten Mediendes Briefs, der Bibliotheksrechercheund des Zettelkastens. Vielmehr lässt esuns eine neue Welt erleben und machtuns so zur unfreiwilligen Voraussetzungseines eigenen Bestehens. Börsenmak-ler, Piloten im Cockpit, Ingenieure anÜberwachungsmonitoren, Kranken-hausärzte an ihren mit Metadatenban-ken verknüpften Terminals, Soldatenmit einer von künstlicher Intelligenzunterstützten Gefechtsausrüstung, Fir-men und Geheimdienste, die rätseln,was ihnen die neueste Big-Data-Aus-wertung zu sagen hat, erkunden eineneue Welt, die sich ihre Menschen zu-rechtlegt, während diese noch glauben,sie würden sie erschaffen.

Kommunikation und Handlung wirdim Medium unsichtbarer Maschinenverrechnet. Diese Maschinen sind anKommunikation beteiligt, wie frühernur Menschen an ihr beteiligt waren.Auch den Maschinen wird ein unzu-gängliches Gedächtnis, eine undurch-schaubare Vernetzung, wenn auch nochnicht ein freier Wille, geschweige dennein verschlossenes Bewusstsein zuge-rechnet. Wie stellen wir uns darauf ein?Werden wir sie mit uns reden lassen?Und werden sie uns mit sich reden las-sen? Für die Gesellschaft gilt, dass nurdie Formen der Kommunikation flächen-deckend eingeführt werden, die manauch ablehnen kann. Die Möglichkeitder Negation regiert die Gesellschaft.Gilt das auch für unsere Kommunikationmit den unsichtbaren Maschinen?

Nur direkter Kontakt hilft

Das Einzige, was hilft, ist der direkte

Kontakt mit ihnen. Der Kontakt mussuns ihnen nicht ausliefern. Er wiegt unsaber auch nicht in der Illusion, dass wirnoch die Macht hätten. Das Design derSchnittstellen zwischen Mensch, Maschi-ne und Gesellschaft übernimmt dieMacht. Und daran nehmen wir teil, ohneuns restlos auszuliefern und ohne dievollständige Kontrolle zu haben. Inge-nieure entwerfen dieses Design, Künstlerspielen damit, und Nutzer setzen es ein.Worauf es ankommt, ist die Kontrollevon Maschinen, die uns kontrollieren.

Wir liefern uns den Maschinen nuraus, wenn wir das Gefühl haben, jeder-zeit auch wieder aussteigen zu können.Jede App tritt hierzu den Beweis an.Und «Kontrolle» bedeutet nicht Herr-schaft, sondern wechselseitige Abhän-gigkeit. Die Epoche der digitalen Ge-sellschaft ist das kybernetische Zeitalterder Rückkopplung auf Ebenen, die wirfrüher als Ebenen der Natur, der Kulturund der Technik voneinander unter-schieden haben, jetzt aber als medial in-einander verwoben begreifen müssen.

Dirk Baecker lehrt Kulturtheorie und Manage-ment an der Universität Witten/Herdecke.Zum Thema erschienen «Studien zur nächs-ten Gesellschaft» (2007), «Kulturkalkül» (2014)und «Wozu Theorie?» (2016) im Suhrkamp-und im Merve-Verlag.

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