gutes leben braucht freie zeit! plädoyer für eine neue arbeitszeitdebatte pd dr. norbert reuter...
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Gutes Leben braucht freie Zeit!
Plädoyer für eine neue Arbeitszeitdebatte
PD Dr. Norbert Reuter Kongress „Gutes Leben für alle“
20. bis 22. Februar / Wirtschaftsuniversität Wien
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Wachstum, Arbeitsvolumen und Erwerbstätige
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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
Wirtschaftsentwicklung in Deutschland 2000 - 2014
ver.di BundesvorstandBereich Wirtschaftspolitik
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, eigene Berechnung
Bruttoinlandsprodukt (real)
Erwerbstätige
Arbeitsvolumen
2000 = 100
+15,6%
+6,9%
+0,8%
114,7%
95%
100%
105%
110%
115%
120%
Enzwicklung der ArbeitsproduktivitätReales Bruttoinlandsprodukt je geleisteter Erwerbstätigenstunde
2000 = 100%
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechung
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Produktivitätsfortschritt auf Abwegen
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„Gutes“ und „schlechtes“ Wachstum der Arbeitsproduktivität
• „Gutes“ Produktivitätswachstum:
bessere/effizientere Technik, bessere Organisation, Vermeidung von Arbeitsunfällen etc.
• „Schlechtes“ Produktivitätswachstum:
Lohndumping, Zunahme unbezahlter Arbeitszeiten, höherer Leistungsdruck, weniger Pausen etc.
Vieles deutet darauf hin, dass der „schlechte“ Produktivitätszuwachs an Bedeutung gewinnt… (veränderte politische Rahmenbedingungen; Klagen der Beschäftigten, Zunahme Burnouts etc.)
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Entwicklung der Arbeitszeit
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82 Std.
72 Std.
60 Std.57 Std.
48 Std.
42 Std.
50 Std.48 Std.
40 Std. 40 Std. 39 Std.35 Std.
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1825 1875 1900 1913 1918 1932 1941 1950 1965 1967 1984 1995
Historische Entwicklung der Wochenarbeitszeit in Deutschland
Druckindustrie
Metallindustrie
Metallindustrie
Druck-, Metall,Elektroindustrie
Quelle: Strawe, Christoph: Arbeitszeit - Sozialzeit - Freizeit. Ein Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, in: Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Nr. 4 / Dezember 1994.
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1.700
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2.000
Arb
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Sinkende ArbeitszeitArbeitsstunden je Erwerbstätigem und Jahr in Deutschland*
* bis 1990 WestdeutschlandQuelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, eigene Berechnung
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Wachsende Freizeit!Arbeitsstunden je Erwerbstätigem und Woche** in Deutschland*
* bis 1990 Westdeutschland; **bei 52 Wochen pro JahrQuelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, eigene Berechnung
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Bedeutung von Arbeitszeitverkürzung
• In Deutschland ist seit 1825 die jährliche Arbeitszeit eines Beschäftigten um mehr als 50 Prozent gesunken;
• dies bedeutet rein rechnerisch und ohne Berück-sichtigung des Produktivitätsfortschritts ein Ver-zicht auf ein doppelt so hohes Einkommensniveau höherer Zeitwohlstand statt Einkommenszuwachs
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Verwendung des Produktivitätsfortschritts
Gesamtwirtschaftliche Produktivitätssteigerung
Diese kann genutzt werden für
Lohnsteigerungen Arbeitszeitverkürzung
oder eine Kombination aus beiden
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• In der Vergangenheit ist der Produktivitätsfortschritt über viele Jahre nicht zur Steigerung der Wohlfahrt für die Beschäftigten genutzt worden.
weder zur Arbeitszeitverkürzung
noch zur Reallohnsteigerung
Verwendung des Produktivitätsfortschritts
90%
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120%
130%
140%
150%
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Einkommen in Deutschland preisbereinigte Entwicklung 2000-2015
Gewinne(Unternehmens- und Vermögenseinkommen)
Arbeitnehmerentgelte
ver.di BundesvorstandBereich Wirtschaftspolitik
2000 = 100 %
Volkseinkommen
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Prognose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2014, Preisbereinigung mit Verbraucherpreisindex
Pro
gn
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70,0%
71,8%
69,8%
72,1%
71,0%
63,6%
68,4%
66,0%
68,1%
68,5%
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015
Entwicklung der Lohnquote Anteil Arbeitnehmerentgelt am Volkseinkommen
ver.di BundesvorstandBereich Wirtschaftspolitik
Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (Revision 2014); Prognose 2015: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2014
Prognose
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Was wäre wenn…• die Verteilung zwischen Gewinnen und Arbeits-
einkommen in Deutschland seit dem Jahre 2000 konstant geblieben wäre,
• entsprechend die Lohnquote zwischen 2000 und 2014 bei 72 % geblieben wäre?
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Was wäre wenn…• die Verteilung zwischen Gewinnen und Arbeits-
einkommen in Deutschland seit dem Jahre 2000 konstant geblieben wäre,
• entsprechend die Lohnquote zwischen 2000 und 2014 bei 72 % geblieben wäre?
+ 1,2 Billionen Euro mehr für die Beschäftigten im Zeitraum 2000 bis 2014
allein für das Jahr 2014 hätte jeder Beschäftigte bezogen auf das Bruttoeinkommen im Schnitt gut 2.500 Euro mehr verdient.
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Was wäre wenn…
oder • bei einem Stundenlohn von 24,30 Euro* hätte jede(r) Beschäftigte 2014 im Schnitt 104 Stunden weniger arbeiten müssen, also rund 13 Tage mehr Urlaub machen können – bei gleichem Einkommen!
*Bruttolöhne und -gehälter je geleisteter Arbeitnehmerstunde 2014
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Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten:
Zunehmende Bedeutung vonZeitwohlstand
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Das „Tretmühlenproblem“
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Unternehmensberater, die in einem Experiment „gezwungen“ wurden, einen Tag in der Woche voll-kommen frei zu nehmen, bewerteten nach fünf Monaten ihre Arbeitssituation durchweg positiver als ihre Kollegen in konventionellen Teams. Quelle: Perlow, L. /Porter, S. (2010), S. 27; Grafik: M. Kopatz
Folgen „erzwungener“ Freizeitausdehnung
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Konsequenzen
Thema Zeitwohlstand auf die Agenda• Auf niedrigem Einkommensniveau hat die Einkom-menssteigerung Priorität, da wichtige materielle Bedürfnisse befriedigt werden müssen;
• mit steigendem Einkommensniveau eröffnen sich Spielräume, den Wohlstand durch mehr Freizeit statt durch höhere Einkommen (Arbeitszeitverkür-zung/AZV) zu erhöhen;
eine zusätzliche Einheit Freizeit steigert den persönlichen Wohlstand mehr als eine zusätz-liche Einheit Einkommen.
• Auch aus umweltpolitischer Sicht stellt AZV eine Möglichkeit dar, Wohlstand ohne zusätzliches Wachstum zu steigern.
Betriebliche Ebene
• „schlechte“ Produktivitätssteigerung verhindern; • verteilungsneutralen Spielraum ausschöpfen;• Wahlmöglichkeiten zwischen AZV und Lohn-
erhöhung verbessern bzw. schaffen;• bei AZV auch Arbeitsverkürzung sicherstellen; • Bedeutung der unterschiedlichen Formen von AZV
erhöhen/Tretmühlenproblem lösen (verkürzte Vollzeit für alle, Auszeiten, Sabbaticals, „Schnupper AZV“ etc.).
win-win-Situation: positive Folgen für die Beschäftigten, die Unternehmen und die Umwelt
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Politische Ebene
• gewerkschaftlicher Durchsetzungskraft stärken (gesetzlicher Mindestlohn, Leiharbeit eng begren-zen, prekäre Beschäftigung bekämpfen, Mini-/ Midi-Jobs zurückdrängen);
• Arbeitszeitgesetz reformieren (z.Zt. max. 8 Stunden/Werktag) „kürzere Vollzeit für alle“);
• Arbeitsschutz/gesundheitliche Vorsorge verbessern;
• Attraktivität von AZV erhöhen (gesetzliche Rückkehrregeln, Benachteiligung von Teilzeit abbauen).
30Vielen Dank!
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Fragen für Kleingruppe• Ist die Annahme richtig, dass Zeitwohlstand im
Vergleich zu Einkommenswohlstand an Bedeutung gewinnt?• Wenn ja, warum ist das Thema AZV dann nicht
stärker in der Debatte bzw. so schwierig im Rahmen von Tarifverhandlungen umzusetzen?
• Wenn nein, was sind die Ursachen? Bedeutet dies, das Wohlstand weiterhin nur auf die Ein-kommenshöhe bezogen wird?
• Wie lässt sich AZV stärker als Wohlstandszuwachs ins allgemeine Bewusstsein heben (nicht zuletzt aus Umweltgesichtspunkten heraus)?
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Keynes‘ Stagnationsbegründung
„(E)s mag bald ein Punkt erreicht sein, vielleicht viel eher, als wir uns alle bewusst sind, an dem die Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, dass wir es vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaft-lichen Zwecken zu widmen.
Keynes, John Maynard: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, 1930
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Keynes‘ Stagnationsbegründung
„Es wird notwendig sein, sinnvollen Konsum zu fördern, Sparen zu mißbilligen - und einen Teil des unerwünschten Über-angebots durch vermehrte Freizeit zu absorbieren, mehr Urlaub (welches ein wunderbar angenehmer Weg ist, Geld loszuwerden) und kürzere Arbeitszeiten*.“
John Maynard Keynes: Das Langzeitproblem der Vollbeschäftigung, 1943*15-Stunden Woche, vgl. John Maynard Keynes: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, 1930
„Lange Zeit war das Wohlbefinden der Menschen maßgeblich durch die wirt-schaftliche Aktivität bestimmt. (…) Seit kurzem hat sich das menschliche Wohlbefinden allerdings von der nur materiellen Güterversorgung getrennt. Andere Aspekte des Lebens sind zunehmend wichtig geworden.“ Bruno S. Frey: Wachstum, Wohlbefinden und Wirtschaftspolitik, in: Roman Herzog Institut, Position Nr. 13, München 2012
Wertewandel?
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