hans kelsen, recht und gerechtigkeit
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Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit
Diplomarbeit zur
Erlangung des akademischen Grades eines
Magisters der Rechtswissenschaften
an der
Johannes Kepler Universität Linz,
Rechtswissenschaftliche Fakultät
Betreuer: Vizerektor Univ. Prof. DDr. Herbert Kalb
Eingereicht von
Heinrich Schaur
Kopalstraße 14/11
4070 Eferding
Eferding im April 2015
2
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre an Eides stattt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und
ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht
benutzt und die – aus den angegebenen Quellen - wörtlich oder sinngemäß
entnommenen Textstellen als solche kenntlich gemacht habe.
Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument
identisch.
Eferding im April 2015
Heinrich Schaur
3
INHALTSVERZEICHNIS 01. Der Begriff des Rechts
1.1 Eine Kurzbiografie: Hans Kelsen (1881 – 1973) 005
1.2 Reine Rechtslehre 009
1.2.1 Die „Reinheit“ der „Reinen Rechtslehre“ 011
1.2.2 Natürliches Recht und Positives Recht 011
1.2.3 Definitionen des Begriffs „Recht“ 012
1.2.4 Der Akt, sein Sinn und die Norm 013
1.2.5 Grundnorm 018
1.2.6 Geltung 023
1.2.7 Der Stufenbau der Rechtsordnung 024
1.2.8 Arten von Rechtsnormen 026
1.2.9 Formelles und materielles Recht 027
1.2.10 Selbstständige und unselbstständige Rechtsnormen 028
1.2.11 Die Struktur der Rechtsnorm als Zwangsnorm 029
1.2.12 Recht und Un-Recht 031
1.2.13 Recht und Staat 033
1.2.14 Staat und Rechts-Staat 036
1.2.15 Die physische und juristische Person 036
1.2.16 Das subjektive Recht 038
1.2.17 Objektives Recht und subjektives Recht 038
1.2.18 Subjektives Recht und Rechtspflicht 039
1.2.19 Spielarten des subjektiven Rechts 041
1.2.19.1 Rechtlich negativ erlaubt 042
1.2.19.2 Rechtlich positiv erlaubt 042
1.2.19.3 Das subjektive Recht als bloßes Reflexrecht 043
1.2.19.4 Das rechtlich geschützte Interesse 044
1.2.19.5 Das subjektive Recht als Rechtsmacht 045
1.2.19.6 Das subjektive Recht als politisches Recht 047
1.2.20 Stellvertretung und Organschaft 050
1.2.21 Rechtsnorm und Rechtssatz 051
1.2.22 Kausalität und Zurechnung 054
1.2.23 Recht und Moral 055
4
1.3 Wichtige Aufsätze über die „Reinen Rechtslehre“ 062
1.3.1 Rudolf Thinel, Wien:
„Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre“ 062
1.3.2 Gabriele Kucsko-Stadelmayer, Wien:
„Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen“ 066
1.3.3 Heinz Mayer, Wien:
„Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus“ 071
1.4 Kritik der „Reinen Rechtslehre“ 074
1.4.1 Geltung und Wirksamkeit 074
1.4.2 Die Theorie der Grundnorm 077
1.4.3 Das Recht und sein Inhalt 080
1.4.4 Identität von Recht und Staat 082
1.4.5 Die Wissenschaft und ihr Gegenstand 084
02. Der Begriff der Gerechtigkeit 2.1 Hans Kelsen und die Gerechtigkeit 087
2.1.1 Die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen 089
2.1.1.1 Die Gerechtigkeit nach Platon 089
2.1.1.2 Die Gerechtigkeit nach Jesus 090
2.1.2 Die rationalen Gerechtigkeitsnormen 091
2.1.2.1 Die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine) 091
2.1.2.2 Die Goldene Regel 092
2.1.2.3 Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant 093
2.1.2.4 Tue das Gute, meide das Böse 096
2.1.2.5 Die Lehre der „Mesotes“ 097
2.1.2.6 Das Prinzip der Vergeltung 098
2.1.2.7 Jedem nach seiner Leistung 098
2.1.2.8 Jeder nach seinen Fähigkeiten 099
2.1.2.9 Das Prinzip der Freiheit 101
2.1.2.10 Das Prinzip der Gleichheit 102
2.2 Horst Dreier über Hans Kelsen und die Gerechtigkeit 104
2.3 Zusammenfassung 106
03. Literaturverzeichnis 108 04. Internetquellen und Internetadressen 111
5
1 Der Begriff des Rechts 1.1 Eine Kurzbiografie: Hans Kelsen (1881-1973) Die Daten der nun folgenden Kurzbiografie sind der Homepage des „Hans Kelsen-Instituts“1 entnommen. Eine ausführliche Biografie kann an dieser Stelle nicht
geboten werden. Diesbezüglich sei auf die autobiografischen Texte Kelsens
„Selbstdarstellung“2 und „Autobiographie“3 sowie vor allem auf die umfassende
Biografie von Rudolf Aladár Métall mit dem Titel „Hans Kelsen, Leben und Werk“4
verwiesen.
Zur Entstehung des „Hans Kelsen-Instituts“:
Die österreichische Bundesregierung hat aus Anlass des 90. Geburtstages von Hans
Kelsen beschlossen, eine Stiftung zu errichten. Ihre Tätigkeit hat die Stiftung mit
dem Namen „Hans Kelsen-Institut“ am 30. Oktober 1972 aufgenommen. Der Stiftbrief
verlangt als Organe einen „Präsidenten“, ein „Kuratorium“, einen „Vorstand“ und
einen „Geschäftsführer“. „Präsident“ der Stiftung ist der amtierende Bundskanzler.
Aktuell somit (wir schreiben das Jahr 2015) „Werner Faymann“. Geschäftsführer ist
zur Zeit Thomas Olechowski, der im Übrigen auch – das sei nur zusätzlich
angemerkt - an einer neuen, umfassenden Biografie Kelsens arbeitet. Beispielhaft für
die vielfältigen Aktivitäten des Hans Kelsen-Instituts sei die Herausgabe einer
speziellen Schriftenreihe5 hervorgehoben. Band 01 der genannten Schriftenreihe ist
im Jahre 1974 erschienen. Auch soll die Kooperation mit der „Hans Kelsen Forschungsstelle“6 der Universität Freiburg unter der Leitung von Matthias Jestaedt
nicht unerwähnt bleiben. Jestaedt betreibt seit 2003 in enger Zusammenarbeit mit
dem Hans Kelsen-Institut das ehrgeizige Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Hans Kelsens (Hans Kelsen Werke, HKW). 1 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 2 Kelsen, Selbstdarstellung (1927), in: Hans Kelsen, Werke, Band 01. Herausgegeben von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut (2007). 3 Kelsen„ Autobiographie (1947), in: Hans Kelsen, Werke, Band 01. Herausgegeben von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut (2007). 4 Vgl. Métall, Hans Kelsen, Leben und Werk (1969). 5 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/schriftenreihe.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. In Bezug auf die „Reine Rechtslehre“ seien folgende Bände hervorgehoben: Stanley L. Paulson / Robert Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 11 (1986); Walter (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 18 (1992). 6 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015
6
Wichtige Stationen auf der sehr ereignisreichen, 92 Jahre währenden Lebensreise
von Hans Kelsen:7
1881: Hans Kelsen wird am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn einer
deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. Vater
Adolf Kelsen stammt aus Brody in Galizien (liegt heute
in der Ukraine). Mutter Auguste Löwy stammt aus Neuhaus
in Böhmen (liegt heute in Tschechien).
1885: Umzug der Familie nach Wien.
1900: Matura am angesehenen Akademischen Gymnasium in Wien.
Nach der Matura beginnt Kelsen ein Jusstudium an der Wiener
Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.
1906: Promotion zum Doktor iuris.
1911: Habilitation für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Wiener
Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.
Veröffentlichung des Werkes „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“.
1912: Ehe mit Margarete Bondi. Aus der ehelichen Verbindung gehen
zwei Töchter hervor.
1914 – 1918: Erster Weltkrieg: Kriegsdienst. Rechtsberater des Kriegsministers.
1918 – 1919: 1918 wird Kelsen Außerordentlicher, 1919 Ordentlicher
Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Wien. Im
Studienjahr 1920/21 wird er Dekan.
7 Zum beruflichen Werdegang von Hans Kelsen sei insbesondere auf folgende Schriften verwiesen: T. Olechowski / K. Staudigl-Ciechowicz, Allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, in: T. Olechowski / T. Ehs / K. Staudigl-Ciechowicz (Hrsg.), Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938 (2014) 465-521. T. Olechowski, Hans Kelsen und die Berufungen nach Graz, Czernowitz und Wien 1916-1919, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ 2014) 254-265.
7
1918 – 1921: Parallel zu seinen Verpflichtungen an der Universität ist Kelsen
als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Staatskanzlei tätig.
(Ab 1920 trägt die bisherige „Staatskanzlei“ den
Namen „Bundeskanzleramt“.)
Die Hauptaufgabe von Kelsen besteht in der
Ausarbeitung einer Verfassung für die Republik Österreich.
Kelsen wird damit zum „Schöpfer“ des Bundes-Verfassungs-
Gesetzes von 1920 (B-VG 1920). Diese Verfassung ist in ihren
Grundbausteinen noch heute (2015) in Kraft!
1919 – 1930: Tätigkeit als Richter am Verfassungsgerichtshof.
1930: Kelsen verlässt Wien und Österreich (in Reaktion auf seine
Abberufung als Verfassungsrichter) und nimmt eine Berufung
an die Universität Köln an. Für das Studienjahr 1932/33 wird
er zum Dekan gewählt.
1933: Kelsen wird aus rassistischen Gründen als Dekan zum
Rücktritt gezwungen und als Professor beurlaubt.
Der Familie gelingt –mit viel Glück- die Flucht aus dem
nationalsozialistischen Deutschland. In der Folge nimmt
Kelsen eine befristete Lehrtätigkeit in Genf an.
1934: Erste Auflage des Werkes „Reine Rechtslehre“.
1936 – 1938: 1936 wird Kelsen an die Deutsche Universität Prag berufen.
1938 kehrt er jedoch –aufgrund der politischen Entwicklung-
nach Genf zurück.
1940: Emigration in die USA. Gemeinsam mit seiner Frau und
den beiden Töchtern.
8
1940 – 1945: Kelsen arbeitet zunächst als „lecturer“ an der „Harvard Law School“ und am “Political Science Department”
der “University of California”. 1945 wird Kelsen zum
„full professor” ernannt. Gleichzeitig erlangt er die US-Staatsbürgerschaft.
1945: Das Werk „General Theory of Law an State“ erscheint.
1960: Zweite Auflage des Werkes „Reine Rechtslehre“.
1973: Kelsen stirbt am 19. April 1973 in Orinda, in der Nähe von
Berkeley, Kalifornien, USA. Seine Asche wird über dem
Pazifik verstreut. Auch die Asche seiner vorverstorbenen Frau
ist über dem Pazifik verstreut worden. Mit dieser Form der
Bestattung ist dem ausdrücklichen Wunsch des Ehepaares
Kelsen entsprochen worden.
1979: Das „Hans Kelsen-Institut“ veröffentlicht aus dem Nachlass
das -unvollendet gebliebene- Werk „Allgemeine Theorie der Normen“8.
1985: Das „Hans Kelsen-Institut“ veröffentlicht aus dem Nachlass
das Werk „Die Illusion der Gerechtigkeit“9.
Das wissenschaftliche Werk von Hans Kelsen –in der Kurzbiografie sind der
Übersichtlichkeit wegen nur 5 zentrale Werke genannt- umfasst 400 Titel.10 Darunter
Zeitungsartikel, Aufsätze, Vorträge und viele –mitunter sehr umfangreiche- Bücher.
Die „Hans Kelsen Forschungsstelle“ der Universität Freiburg spricht von „deutlich
mehr als 17.000 publizierten Seiten“.11 Der wissenschaftliche Nachlass soll sich –so
die Forschungsstelle- „nach ersten Schätzungen auf rund 58.000 Seiten belaufen“.12
8 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979). 9 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 10 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/arbeiten.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 11 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org/hkw_projekt.html> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 12 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org/hkw_projekt.html> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015.
9
Nicht wenige Arbeiten wurden in zahlreiche Sprachen –in insgesamt bislang 29-
übersetzt. Kelsen befasste sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. So werden seine Schriften und Bücher den universitären Fächern
„Verfassungsrecht“, „Völkerrecht“, „Rechtstheorie“ („Allgemeine Rechtslehre“),
„Politische Theorie“ („Staatslehre“), „Soziologie“ und „Rechtsphilosophie“
(„Gerechtigkeitslehre“) zugeordnet.13 Der Einfluss der Lehre Kelsens war –und ist-
gewaltig. Kaum zu überschätzen. Und das weltweit. Seine Wirk- und Strahlkraft
erstreckt sich von Europa über die USA und –vor allem auch- über Südamerika bis
nach Japan, Korea, China und Australien.14 So lässt sich –zum Beispiel- die
weltweite Rezeption des Werkes „Reine Rechtslehre“ in der –oben angesprochenen-
Schriftenreihe des „Hans Kelsen-Instituts“ sehr gut nachvollziehen.15 Hans Kelsen ist
vor dem Hintergrund seiner Schaffenskraft und seiner Werke immer wieder als
„Jurist des Jahrhunderts“16 bezeichnet worden. Auch der Titel „größter
Rechtsphilosoph des Jahrhunderts“17 ist ihm verliehen worden.
1.2 Reine Rechtslehre
In dem rechtstheoretischen Werk mit dem Titel „Reine Rechtslehre“18 stellt Hans
Kelsen ein revolutionäres Gedankengebäude dar. Die Begriffe „Recht“, „Staat“, und
„Rechts-Staat“, werden einer umfassenden Analyse unterzogen. Der Begriff der
„Gerechtigkeit“ wird in einem Anhang zur „Reinen Rechtslehre“ mit dem Titel „Das
Problem der Gerechtigkeit“19 (und zudem in den Werken „Was ist Gerechtigkeit?“20
und „Die Illusion der Gerechtigkeit“21) behandelt.
Die „Reine Rechtslehre“ umfasst –ohne den Anhang „Das Problem der
Gerechtigkeit“- 354 Seiten und gliedert sich in 8 Hauptkapitel und insgesamt 47
Unterkapitel. Das Werk ist sehr komprimiert und präzise geschrieben. Es ist
bereits –wenn man so möchte- eine „Zusammenfassung“. Nicht eine einzige der
genannten Seiten ist überflüssig. Vor diesem Hintergrund wäre es nun abwegig, das 13 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/arbeiten.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 14 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/werk.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 15 Es sind die Bände 02, 08, 12, 22 und 33 der Schriftenreihe des „Hans Kelsen-Instituts“. 16 Vgl. Winkler/Antoniolli/ Raschauer (Hrsg.), in: Weinberger/Krawietz (Red.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker (1988) 1. 17 Vgl. Hoerster, Drei Standpunkte der Gerechtigkeitsbegründung, in: Siller/Keller (Hrsg.),Rechts-philosophische Kontroversen der Gegenwart (1999) 124. 18 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960). 19 Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, in: Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960). 20 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953). 21 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985).
10
Ziel zu verfolgen, das gesamte Werk und alle seine Inhalte darstellen zu wollen. Das
wäre weder sinnvoll noch möglich und würde jeden vernünftigen Rahmen sprengen.
Vielmehr kann es in der gegenständlichen (Diplom-)Arbeit nur darum gehen, das Gedankengebäude von Hans Kelsen – in einer ersten Annäherung - kurz
vorzustellen. Zentrale Gedanken und Begriffe sollen ausgewählt und in einer
möglichst einfachen, klaren und verständlichen Sprache dargestellt werden.
In methodischer Hinsicht ist anzumerken, dass auf den kommenden Seiten zunächst
ausschließlich Hans Kelsen und seine Rechtstheorie zu Wort kommen werden. In der
Folge sollen ausgewählte Aufsätze über die „Reine Rechtslehre“ vorgestellt werden.
Eine Kritik – und damit eine Darstellung eigener Gedanken über die „Reine
Rechtslehre“ - wird in einem gesonderten Kapitel erfolgen. Es wird keine
Vermischung der Gedanken von Hans Kelsen mit anderen Gedanken geben.
In Bezug auf die Organisation des Textes ist zu sagen, dass die 8 Hauptkapitel und 47 Unterkapitel der „Reinen Rechtslehre“ nicht direkt übernommen werden. Die
zahlreichen Unterkapitel würden sich wegen deren Detailgenauigkeit für eine
Kurzdarstellung ohnehin nicht eignen. Aber auch die 8 Hauptkapitel können eine
Kurzdarstellung nicht sinnvoll organisieren. Ziel ist, eine gut lesbare und auf Kelsen
neugierig machende Systematisierung und Logik zu finden. Dennoch sollen an
dieser Stelle – gewissermaßen als Einstimmung auf die Gedankenwelt von Hans
Kelsen - die Titel der 8 Hauptkapitel angeführt werden:
Hans Kelsen gliedert die „Reine Rechtslehre“ in folgende 8 Hauptkapitel:
01) Recht und Natur
02) Recht und Moral
03) Recht und Wissenschaft
04) Rechtsstatik
05) Rechtsdynamik
06) Recht und Staat
07) Staat und Völkerrecht
08) Die Interpretation
11
1.2.1 Die „Reinheit“ der „Reinen Rechtslehre“ Der erste Satz im Werk von Hans Kelsen heißt: „Die Reine Rechtslehre ist eine
Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nicht einer
speziellen Rechtsordnung“22. Unter dem Begriff des „positiven Rechts“ ist das vom
Menschen –durch Gewohnheit oder Gesetzgebung- geschaffene und in diesem
Sinne „gesetzte Recht“ zu verstehen (lat. ponere = setzen, positum = gesetzt). Die
„Reine Rechtslehre“ will das „positive Recht an sich“ –und nicht eine konkret
vorliegende Rechtsordnung eines bestimmen Landes- erkennen und beschreiben.
Gegenstand der Erkenntnis ist nicht –zum Beispiel- die österreichische oder
deutsche Rechtsordnung. Gegenstand der Erkenntnis ist „das positive Recht an sich“. Das positive Recht „schlechthin“23. Die „Reine Rechtslehre“ will die Frage
beantworten, „was und wie das Recht ist“24. Diese – und nur diese - Frage will sie
beantworten. Gegenstand der Erkenntnis ist – ausschließlich - das Recht. Das
„positive Recht“. Alles andere wird aus dem exakt abgegrenzten und bewusst beschränkten Erkenntnisgegenstand ausgeschieden. Die „Reine Rechtslehre“ will
die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien.25
1.2.2 Natürliches Recht und positives Recht Hans Kelsen bekennt sich an mehreren Stellen in seinem Werk zum sogenannten
„Rechtspositivismus“.26 Die „Reine Rechtslehre“ versteht er als eine
„positivistische Rechtstheorie“.27 Wichtig ist ihm dabei vor allem, sich von jeder Form
einer „Naturrechtslehre“28 abzugrenzen.29 Die Annahme natürlicher, dem
Menschen angeborener Rechte, die jeder positiven Rechtsordnung vorausgehen,
wird –mit Nachdruck- abgelehnt. Ausschließlich das vom Menschen geschaffene und
damit „gesetzte Recht“ wird als Recht anerkannt.30 Nur dieses „gesetzte“, dieses
„positive Recht“ wird als Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis 22 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 23 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 24 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 25 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 26 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80, 112, 118, 134, 208, 209, 215, 223 ff., 226, 320, 329. Zu den verschiedenen Arten des Rechtspositivismus vgl. Detlef Horster, Rechtsphilosophie (2002) 55 ff. 27 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224. 28 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80, 118, 134, 208, 224ff., 226, 320. 29 Zum Thema „Naturrecht versus Rechtspositivismus“ vgl. Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik (2011) 107-230. 30 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 134f.
12
definiert. Die Konsequenzen der „positivistischen Selbstbeschränkung“ sind
weitreichend. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur genannt, dass das vom Menschen
gesetzte, „positive Recht“ jeden beliebigen Inhalt haben kann.31 Oder dass die
Suche nach dem sogenannten „Geltungsgrund“32 des Rechts nicht in einen Bereich
führt und führen kann, der außerhalb des Rechts liegt. Vielmehr wird der Grund der
Geltung des Rechts in der Annahme einer „Grundnorm“33 gefunden. Als eine
„positivistische Theorie“ lehnt es die „Reine Rechtslehre“ vehement ab, den
Geltungsgrund des Rechts in Gott, in der Natur oder in der menschlichen Vernunft zu
suchen und zu finden. In diesem Sinne positioniert sie sich selbst als Widerlegung und Entlarvung jeder Form einer „Naturrechtslehre“.34 Die „Reine Rechtslehre“
bezieht sich nicht auf Normen, die von übermenschlichen, transzendenten Instanzen
ausgehen. Sie schließt jede metaphysische (und damit übernatürliche, jede mögliche
Erfahrung überschreitende) Spekulation aus (gr. metá = danach, hinter, jenseits; gr.
phýsis = Natur). Für die „Reine Rechtslehre“ kommen nur Normen in Betracht, die
durch menschliche Akte gesetzt sind.35
1.2.3 Definitionen des Begriffs „Recht“
„Denn das Recht, das den Gegenstand dieser Erkenntnis bildet, ist eine normative
Ordnung menschlichen Verhaltens, und das heißt, ein System von menschliches
Verhalten regelnden Normen.“36
„Denn wenn wir die Objekte, die bei den verschiedensten Völkern und zu den
verschiedensten Zeiten als Recht bezeichnet werden, miteinander vergleichen, so
ergibt sich zunächst, dass sie alle sich als Ordnungen menschlichen Verhaltens
darstellen.“37
„Daher ist eine Definition des Rechtes, die dieses nicht als Zwangsordnung
bestimmt, abzulehnen.“38
31 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. 32 Zum Begriff der „Geltung“ siehe unten. 33 Zum Begriff der „Grundnorm“ siehe unten. 34 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224f. 35 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 82. 36 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 37 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 32. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 38 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 55. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
13
„Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches
Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer
Rechtsnorm zu sein.“39
Die ausgewählten Zitate ergeben folgendes Bild: Das Recht ist ein „System von
Normen“, die das menschliche Verhalten regeln. Es besteht nicht bloß aus einer
einzigen Norm, sondern aus sehr vielen Normen. Die zahlreichen Normen des
Rechts, die sogenannten „Rechtsnormen“, stellen kein sinnloses Chaos dar.
Vielmehr stehen alle Rechtsnormen in einem ganz bestimmten Zusammenhang. Sie
bilden eine Ordnung. Und diese Ordnung der Normen wird mit dem Begriff der
„Rechtsordnung“ oder, wie Kelsen auch sagt, „Zwangsordnung“40 beschrieben.
Wobei die Normen, aus denen die Rechtsordnung besteht, vor dem Hintergrund der
Ablehnung einer „Naturrechtslehre“ jeden beliebigen Inhalt haben können. Das Recht wird – bewusst - ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Inhalt definiert. Es kann daher – zum Beispiel - auch ein „ungerechtes Recht“ geben. Sehr
wohl aber wird das „Zwangsmoment“ in den Rechtsbegriff aufgenommen.
1.2.4 Der Akt, sein Sinn und die Norm
Wenn das Recht oder die Rechtsordnung als ein „System von Normen“ definiert wird,
so ist zunächst und vor allem der zentrale Begriff der „Norm“ einer Klärung
zuzuführen. Mehrere Gesichtspunkte sind in diesem Zusammenhang von
Bedeutung. Noch vor der Frage nach der Normentstehung ist in einem ersten
gedanklichen Schritt von einer bereits vorhandenen Norm auszugehen. Diese
Vorgehensweise ermöglicht, sich Schritt für Schritt dem Wesen und der Funktion des
intellektuell nur schwer zu fassenden „Phänomens der Norm“ anzunähern: Eine Norm ist nicht Teil der Natur. Sie besitzt keine Seinswirklichkeit. Keine
Naturwirklichkeit. So gesehen ist der Begriff der „Rechtswirklichkeit“ irreführend.41
Das Recht – und damit auch die Norm - darf mit dem Begriff der Wirklichkeit – der
Seinswirklichkeit oder der Naturwirklichkeit - nicht gleichgesetzt oder verwechselt
werden. Die Norm bezieht sich zwar auf die Wirklichkeit. Sie kommt – letztlich - aus
der Wirklichkeit. Und wirkt auch auf diese Wirklichkeit – aus der sie kommt - zurück.
39 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 40 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 34ff. 41 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 111ff.
14
Sie ist aber nicht Teil derselben. Sie ist kein Teil der Wirklichkeit. Eine Norm und mit ihr das Recht gibt es somit – wenn man so möchte - „gar nicht wirklich“. Eine
Norm ist etwas Geistiges. Und ihr Wesen ist ein „Sollen“. Die Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“ ist eine tragende Säule im Gedankengebäude von Hans
Kelsen.42 Aber dazu später mehr. An dieser Stelle soll zunächst die Funktion der
Norm beleuchtet werden:
„Die Norm fungiert als Deutungsschema.“43 Damit ist gemeint: Eine Norm ist eine
gedankliche Kategorie – eine geistige Brille, wenn man so möchte - mit der die
Wirklichkeit gedeutet wird. Eine Norm verleiht der Wirklichkeit eine bestimmte -
rechtliche - Bedeutung. Ein reales, in Raum und Zeit ablaufendes, sinnlich
wahrnehmbares Geschehen – ein Stück Natur, ein Sein - „ist nicht Gegenstand
spezifisch juristischer Erkenntnis und sohin überhaupt nichts Rechtliches“44.
Zwischen bestimmten Akten, die in der äußeren Wirklichkeit gesetzt werden, und der
Frage, ob diesen Akten eine rechtliche Bedeutung zukommt oder nicht, muss immer
klar unterschieden werden. Der Akt an sich, der in der Wirklichkeit gesetzt wird, ist kein rechtliches Phänomen. Er ist und bleibt Natur. Ein Vorgang in der Welt des
Seins. Wenn ihm eine rechtliche Bedeutung zukommen sollte, dann nur, weil er „im Lichte einer Norm“ rechtlich – normativ - gedeutet wird. Weil eine bestimmte
Norm diesem „Akt der Wirklichkeit“ eine bestimmte rechtliche Bedeutung verleiht.
Und diese rechtliche Bedeutung verleiht ihm eine Norm dann, wenn sie sich mit
ihrem Inhalt auf ihn bezieht. Folgende Beispiele45 sollen diesen Gedanken
veranschaulichen: Wenn in einem Saal Menschen zusammenkommen, Reden halten
und ihre Hände heben, dann kann dieser äußere Vorgang rechtlich bedeuten, dass
ein Gesetz beschlossen wird. Diese rechtliche Bedeutung ist aber keinesfalls
zwingend. Sie hängt von der Frage ab, ob es eine Norm gibt, die sich mit ihrem Inhalt
auf den genannten äußeren Vorgang bezieht. Gibt es eine solche Norm, dann
verleiht sie dem genannten äußeren Vorgang – und damit einem sinnlich
wahrnehmbaren Geschehen, einem Sein, einem Stück Natur - eine rechtliche Bedeutung. Wenn ein Kaufmann einem anderen Menschen einen Brief mit einem
bestimmten Inhalt schreibt und in der Folge dieser andere Mensch mit einem
42 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 5ff., 16, 19, 102, 196, 215ff. 43 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 44 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. 45 Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3ff.
15
Gegenbrief antwortet, der exakt denselben Inhalt hat, dann kann dieser äußere Vorgang rechtlich bedeuten, dass ein Vertrag abgeschlossen wird. Die rechtliche
Bedeutung eines Vertragsabschlusses kommt dem genannten äußeren Vorgang
aber nur dann zu, wenn sie ihm von einer Norm verliehen wird. Und diese rechtliche Bedeutung wird ihm dann – und nur dann - verliehen, wenn es eine entsprechende
Norm gibt, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht. Wenn ein Mensch getötet wird, so
hat dieser – furchtbare - äußere Vorgang dann eine rechtliche Bedeutung, wenn
es Normen gibt, die sich auf diesen äußeren Vorgang beziehen. Die Tötung eines
Menschen kann ein Ereignis des Zufalls und damit, wie man sagt, „ein Unfall“ sein. In
diesem Fall gibt es – vielleicht - in einer Rechtsordnung keine Norm, die dieser
zufälligen Tötung eines Menschen eine rechtliche Bedeutung verleihen würde. Die
Tötung eines Menschen kann aber auch bewusst und absichtlich herbeigeführt
werden. In diesem Fall gibt es – sehr wahrscheinlich - in einer Rechtsordnung
Normen, die sich mit ihrem Inhalt auf das genannte äußere Ereignis beziehen. Es
kann eine Norm geben, die den genannten äußeren Vorgang der absichtlichen
Tötung eines Menschen als „Mord“ deutet. Es kann aber auch eine Norm geben, die
exakt denselben äußeren Vorgang nicht als Mord, sondern als „Exekution eines
Todesurteils“ deutet. Der äußere Vorgang, der als sinnlich wahrnehmbares
Geschehen – als ein „Sein“, als ein „Stück Natur “- immer ein und derselbe bleibt,
erhält seine rechtliche Qualität und Bedeutung erst durch einen Denkprozess: Die
Wirklichkeit wird mit dem Recht konfrontiert. Sie wird „mit den Augen des Rechts“
gedeutet. Der Jurist setzt sich „die geistige Brille des Rechts“ auf und betrachtet die Wirklichkeit „durch die Normen hindurch“, die er als objektiv gültig voraussetzt. Das Ergebnis dieses Denkprozesses und geistigen
Deutungsvorgangs ist, dass bestimmten Vorgängen in der Wirklichkeit diese,
anderen Vorgängen jene und wieder anderen Vorgängen in der Wirklichkeit
überhaupt keine rechtliche Bedeutung verliehen wird. Vorgänge in der Wirklichkeit
„haben“ keine rechtliche Bedeutung. Es wird ihnen nur – immer wieder - eine solche
verliehen. Es gibt somit – zum Beispiel - keinen „Mord an sich“. Es gibt nur den
äußeren Vorgang der absichtlichen Tötung eines Menschen. Und dieser Vorgang
wird – als sinnlich wahrnehmbares Geschehen - als Mord gedeutet. Den „Mord“ gibt
es somit – wenn man so möchte - „gar nicht wirklich“. Er ist nur das Ergebnis einer –
normativen - Deutung. Exakt derselbe Vorgang kann – im Lichte einer anderen Norm
- als Exekution eines Todesurteils gedeutet werden. Oder er kann sogar, wenn man
16
zum Beispiel an die Tötung eines Sklaven in einer Sklavenhaltergesellschaft denkt,
rechtlich überhaupt nicht gedeutet werden.46
Die Funktion der Norm besteht in der Deutung äußerer Vorgänge in der
Wirklichkeit. Mit ihrer Hilfe wird das reale Geschehen - das „Sein “- gedeutet. „Die
Norm fungiert als Deutungsschema.“47 Damit ist jedoch noch nichts über das
„Wesen der Norm“ oder die „Normerzeugung“ ausgesagt. Kelsen versteht – sehr
vereinfacht gesagt - unter „Norm“ ein „Sollen“. Und unter einem „Sollen“ den „Sinn eines Willensaktes“. Er versteht daher unter „Norm“ den „Sinn eines Willensaktes“.
Und zwar einen ganz bestimmten Sinn eines ganz bestimmten Willensaktes: Kelsen
versteht unter „Norm“ den objektiven Sinn eines Willensaktes, der intentional
(bewusst, gezielt, zweckgerichtet) auf das Verhalten anderer gerichtet ist. Seine – ein
wenig kompliziert klingenden - Definitionen lauten:
„Mit Norm bezeichnet man: dass etwas sein oder geschehen soll. Das ist der Sinn,
den gewisse Akte haben, die intentional auf das Verhalten anderer gerichtet sind.“48
„Norm ist der Sinn des Aktes, mit dem ein Verhalten geboten oder erlaubt,
insbesondere ermächtigt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Norm als der
spezifische Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas
anderes ist als der Willensakt, dessen Sinn sie ist.“49
„Dann ist das Sollen, als objektives Sollen, eine geltende, den Adressaten bindende
Norm.“50
Aus einem „Sein“ kann ein „Sollen“ nicht abgeleitet werden. Diese Erkenntnis
ist für Kelsen fundamental. Mit der Aussage, dass etwas „ist“ – zum Beispiel, dass
der Baum im Garten schön ist - wird ein „Sein“ beschrieben. Mit der Aussage, dass
etwas „sein soll“ – zum Beispiel, dass sich ein anderer Mensch in bestimmter Weise
verhalten soll - wird ein „Sollen“ beschrieben. Sagt ein Mensch – zum Beispiel ein
Straßenräuber - zu einem anderen Menschen, dass er ihm sein Geld geben soll,
46 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3f. 47 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 48 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 49 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 5. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 50 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 7. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.)
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befiehlt er ihm etwas. Der subjektive Sinn der Aussage des Straßenräubers ist ein
Befehl. Ein Gebieten. Und dieser Befehl - dieses Gebieten - wird seinem Sinn nach
ein „Sollen“ genannt. Nur beiläufig sei erwähnt, dass der Begriff des „juristischen
Sollens“ besonders weit ist und nicht bloß ein „Befehlen“ oder „Gebieten“, sondern
auch ein „Ermächtigen“ und ein „positives Erlauben“ bedeuten kann.
Entscheidend jedoch ist, dass unter einem „Sollen“ der Sinn eines Willensaktes zu
verstehen ist. Und zwar der Sinn eines Willensaktes, der intentional (bewusst,
gezielt, zweckgerichtet) auf das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet ist. Der
Sinn oder die Bedeutung eines ganz bestimmten Willensaktes. Das ist ein „Sollen“.
Für das Verständnis der Rechtstheorie von Hans Kelsen ist es unerlässlich,
gedanklich eine scharfe Trennlinie zu ziehen zwischen einem bestimmten Akt -
einem bestimmten Willensakt - und dem Sinn dieses Aktes: In unserem Beispiel
stellt der Befehl des Straßenräubers den Willensakt dar, um dessen Deutung und
Sinnermittlung es geht: Der subjektive Sinn der Aussage des Straßenräubers ist ein
Befehl und damit ein „Sollen“. Aber ist damit der Befehl des Straßenräubers auch
eine Norm? Antwort: nein! Und zwar deswegen nicht, weil der bloß subjektive Sinn
eines (ganz bestimmten, oben definierten) Willensaktes – das bloß „subjektive
Sollen“ - nicht ausreicht, um von einer Norm sprechen zu können. Nur wenn ein
(ganz bestimmter) Willensakt nicht bloß subjektiv, sondern auch objektiv den Sinn eines „Sollens“ hat, nur wenn neben einem bloß „subjektiven Sollen“ auch ein
„objektives Sollen“ vorliegt, wird und kann von einer Norm gesprochen werden. Die
Definition der Norm lautet daher: Unter „Norm“ ist der objektive Sinn eines Willensaktes zu verstehen, der intentional (bewusst, gezielt, zweckgerichtet) auf
das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet ist. Die entscheidende Frage, die
sich vor dem Hintergrund der genannten Definition der Norm aufdrängt, ist jedoch:
Auf welch eine geheimnisvolle Weise verwandelt sich ein zunächst bloß „subjektives
Sollen“, ein zunächst bloß subjektiver Sinn eines Willensaktes, in ein „objektives
Sollen“, in einen objektiven Sinn eines Willensaktes und damit in eine „Norm“? Die
Antwort lautet: Ein Willensakt, dessen subjektiver Sinn ein Sollen ist (was zum
Beispiel beim Befehl eines Straßenräubers der Fall ist), kann nur dann auch in objektiver Hinsicht ein Sollen und damit eine Norm sein, wenn diesem Willensakt
die Bedeutung einer Norm durch eine – andere - Norm verliehen wird (was zum
Beispiel beim Befehl eines Straßenräubers nicht der Fall ist): Nur eine Norm kann
18
einem Willensakt die Bedeutung einer Norm verleihen! Was – konsequent zu
Ende gedacht - bedeutet, dass die Entstehung einer Norm immer eine bereits
existierende – andere - Norm voraussetzt. Ein Umstand, der schließlich – da es ein
unendliches gedankliches Weiterschreiten von Voraussetzung zu Voraussetzung
nicht geben kann - zur Annahme der sogenannten „Grundnorm“51 führt.52
1.2.5 Grundnorm
Kelsen definiert den für seine Rechtstheorie zentralen Begriff der „Grundnorm“ auf
mehrfache Weise: An mehreren Stellen der „Reinen Rechtslehre“ finden sich sowohl
positive als auch negative Definitionen des Begriffs der „Grundnorm“:
Positive Definitionen des Begriffs der Grundnorm:
„Schließlich ist zu bemerken, dass eine Norm nicht nur den Sinn eines Willensaktes,
sondern – als Sinngehalt - auch der Inhalt eines Denkaktes sein kann. Eine Norm
kann nicht nur gewollt, sie kann auch bloß gedacht sein, ohne gewollt zu sein. Dann
ist sie“ (die Grundnorm)53 „keine gesetzte, keine positive Norm. Das heißt: eine
Norm muss nicht gesetzt, sie kann bloß im Denken vorausgesetzt sein.“54
„Sofern nur durch die Voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den
subjektiven Sinn des verfassunggebenden Tatbestandes und der der Verfassung
gemäß gesetzten Tatbestände als deren objektiven Sinn, das heißt: als objektiv
gültige Rechtsnormen zu deuten, kann die Grundnorm in ihrer Darstellung durch die
Rechtswissenschaft – wenn ein Begriff der Kant´schen Erkenntnistheorie per
analogiam verwendet werden darf - als die transzendental-logische Bedingung
dieser Deutung bezeichnet werden.“55
51 Zum Begriff der Grundnorm siehe unten. 52 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3ff. 53 Anmerkung des Verfassers, H. S. 54 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 9. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 55 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
19
„Die erkenntnistheoretische Antwort der Reinen Rechtslehre lautet: unter der
Bedingung, dass man die Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie
die Verfassung vorschreibt.“56
„In diesem Sinne ist die Grundnorm die Einsetzung des Grundtatbestandes der
Rechtserzeugung und kann in diesem Sinne als Verfassung im rechtslogischen
Sinne zum Unterschied von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne bezeichnet
werden.“57
Negative Definitionen des Begriffs der Grundnorm:
„Die Grundnorm ist nicht in einer positiven Rechtsordnung enthalten, denn sie ist
nicht eine positive, das heißt: gesetzte, sondern eine im juristischen Denken
vorausgesetzte Norm.“58
„Die Grundnorm schreibt dem positiven Recht ebenso wenig einen bestimmten
Inhalt vor, wie die transzendental-logischen Bedingungen der Erfahrung dieser
Erfahrung einen Inhalt vorschreiben.“59
„Die Grundnorm liefert nur den Geltungsgrund, nicht aber auch den Inhalt der
dieses System bildenden Normen.“60
„In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht
transzendenter Wert bejaht.“61
Mit der Einführung der Grundnorm lassen sich zwei fundamentale Fragen
beantworten: Warum gilt eine Norm überhaupt? Was ist ihr Geltungsgrund?
Antwort: Der unmittelbare Geltungsgrund einer bestimmten Norm ist immer eine
andere – höhere - Norm. Aber der mittelbare, der über viele einzelne Normen
vermittelte und damit letzte und höchste Geltungsgrund einer bestimmten Norm ist
56 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 57 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 202. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 58 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 59 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 208. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 60 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 199f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 61 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
20
die „Grundnorm“.62 Doch nicht nur die Frage nach dem Geltungsgrund wird mit der
Einführung der Grundnorm beantwortet. Sie, die Grundnorm, liefert auch eine
Antwort auf die Frage: „Was begründet die Einheit einer Vielheit von Normen,
warum gehört eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Ordnung?“63 Die Antwort
lautet: Alle Normen, die ihren Geltungsgrund aus ein und derselben Grundnorm
ableiten, bilden ein System von Normen. Aus diesem Grund – und nur aus diesem
Grund - gehören sie zu einer bestimmten Ordnung. Zu einer bestimmten
Rechtsordnung. Oder zu einer bestimmten Moralordnung. Bestimmte Normen bilden ein System und gehören zu einer bestimmten Ordnung, weil sie ihren
gemeinsamen Geltungsgrund aus der – gemeinsamen - Grundnorm ableiten.64
Eine bestimmte Grundnorm bezieht sich auf eine bestimmte, konkrete
Rechtsordnung. Sie bezieht sich auf eine tatsächlich vorhandene, „reale“ und damit
auf eine „gesetzte Rechtsordnung“. Dennoch ist sie selbst nicht gesetzt. Die
Grundnorm ist nicht Teil einer positiven Rechtsordnung. Vielmehr wird sie
vorausgesetzt. Im Denken vorausgesetzt. Sie ist eine – wie Kelsen in Anlehnung an
Kant schreibt - „transzendental-logische Voraussetzung“65. Die Grundnorm ist
eine Denkvoraussetzung, um bestimmte Phänomene als Recht deuten zu können.
Sie ist als eine erkenntnistheoretische Antwort zu begreifen. Insbesondere stellt sie
keinen Maßstab für die Beurteilung einer positiven Rechtsordnung dar. Auch soll
sie nicht einer ethisch-politischen Rechtfertigung des Rechts dienen.66 Kelsen
schreibt: „So wie Kant fragt: wie ist eine von aller Metaphysik freie Deutung der
unseren Sinnen gegebenen Tatsachen in den von der Naturwissenschaft
formulierten Naturgesetzen möglich, so fragt die Reine Rechtslehre: wie ist eine nicht
auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des
subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen
beschreibbarer objektiv gültiger Rechtsnormen möglich? Die erkenntnistheoretische
Antwort der Reinen Rechtslehre lautet: unter der Bedingung, dass man die
Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung
vorschreibt, das heißt: wie es dem subjektiven Sinn des verfassungsgebenden
62 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 63 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196. 64 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 65 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. 66 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 226.
21
Willensaktes, den Vorschriften des Verfassungsgebers, entspricht.“67 Der Inhalt der
Grundnorm, die keine wirkliche, reale Norm, sondern eine bloße Denkvoraussetzung
ist und die Kelsen an anderer Stelle auch als „Verfassung im rechtslogischen Sinn“68
bezeichnet, lautet: Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung – nun ist die
gesetzte Verfassung, die Verfassung im positiv-rechtlichen Sinn gemeint -
vorschreibt. Wichtig ist zu erkennen, dass in der – bloß im Denken vorgenommenen
- Voraussetzung der Grundnorm „kein dem positiven Recht transzendenter Wert
bejaht“69 wird. „Transzendental“ (die Grundnorm ist eine transzendental-logische
Denkvoraussetzung) darf in diesem Zusammenhang nicht mit „transzendent“
verwechselt werden: „Transzendent“ (lat. transcendere = hinübergehen) beschreibt
eine übersinnliche, übernatürliche, jenseits der Grenze der Erfahrung liegende
Welt.70 Aber genau in dieser „jenseitigen Welt“ ist die Grundnorm nicht zu Hause. Die
Grundnorm – auch wenn sie als bloße Denkvoraussetzung nicht Teil einer positiven
Rechtsordnung sein kann - ist durchaus unserer Welt der Erfahrung „immanent“.
Kelsen beschreibt die Grundnorm als eine „transzendental-logische Denkvoraussetzung“ in Anlehnung an Kant und dessen – wie sie genannt wird -
„Transzendentalphilosophie“: Kant meint in seiner Philosophie mit dem Ausdruck
„transzendental“ die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis.71 Die Grundnorm liefert nur – und das ist sehr wichtig - die Geltung
einer bestimmten Rechtsordnung. Aus ihr kann ein bestimmter Inhalt nicht abgeleitet
werden. Kelsen schreibt: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt
kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen
wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“72
Die Grundnorm ist eine Voraussetzung im Denken, die man vornehmen „muss“.
Genauer: Man muss die Grundnorm – so Kelsen - gedanklich voraussetzen, wenn es
möglich sein soll, den Sinn bestimmter äußerer Vorgänge, insbesondere den Sinn
bestimmter Willensakte, nicht nur in subjektiver Hinsicht – zum Beispiel - als Befehl
und damit als ein subjektives Sollen, sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als
67 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 68 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 202. 69 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 70 Vgl. Reiner Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007) 173 ff. 71 Vgl. Reiner Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007) 173 ff. 72 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
22
ein „objektiv verbindliches Sollen“ und damit als „Norm“ zu deuten.73 Als Norm zu
„erkennen“. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm kann eine Deutung als „ein objektiv verbindliches Sollen“ – und damit als „Norm“ - nicht vorgenommen werden. Und gibt es keine Normen, kann es auch kein System von
Normen und damit keine Rechtsordnung geben. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm ist die Erkenntnis von zusammengehörenden und ein System
darstellenden Rechtsnormen und damit die Erkenntnis einer – positiven -
Rechtsordnung nicht möglich. Wird die Grundnorm nicht vorausgesetzt, können
bestimmte Vorgänge zwischen Menschen nur – zum Beispiel - als
Machtbeziehungen und damit bloß „soziologisch“ und nicht juristisch gedeutet werden.74 So gesehen „muss“ man die Grundnorm nicht voraussetzen. Niemand
kann und soll zu einer bestimmten Deutung gezwungen werden. Die Voraussetzung der Grundnorm ist aber dann zwingend erforderlich, man „muss“ sie also sehr wohl voraussetzen, wenn es möglich sein soll, den Sinn bestimmter Phänomene
zwischen Menschen als Rechtsnormen und diese Rechtsnormen als ein System und
damit als Rechtsordnung zu deuten. Anders gewendet: Will ich das Recht und seine
Ordnung, will ich eine positive Rechtsordnung beschreiben und erkennen, muss ich die Grundnorm – als gedankliche Annahme - voraussetzen. Ohne die
Voraussetzung der Grundnorm ist – so Kelsen - eine Erkenntnis des Rechts und der
Rechtsordnung logisch nicht möglich. Die Grundnorm leistet – ausschließlich -
einen erkenntnistheoretischen Dienst.75 Sie liefert nur den letzten Geltungsgrund. Sie
fungiert nicht als Maßstab. Sie dient nicht der Rechtfertigung oder der Kritik. Sie
besitzt keinen bestimmten Inhalt. Im Gegensatz zu einer „Naturrechtslehre“76 sagt
die Grundnorm in ihrer Rolle als „Verfassung im rechtslogischen Sinne“77 nur, dass
man sich so verhalten soll, wie es die – künftige, positiv gesetzte, historisch erste -
Verfassung vorschreibt.78
73 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6f. 74 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224. 75 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 226. 76 Zum Begriff des „Naturrechts“ siehe oben. 77 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 229. 78 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205.
23
1.2.6 Geltung „Daraus, dass etwas ist, kann nicht folgen, dass etwas sein soll; sowie daraus, dass
etwas sein soll, nicht folgen kann, dass etwas ist.“79 Aus einem Sein kann ein Sollen
nicht abgeleitet werden. Nur aus einem Sollen kann ein Sollen abgeleitet werden. Eine Norm „gilt“, wenn sie ihr Sollen und damit ihre Geltung aus einer anderen –
„höheren“80 - Norm ableiten kann. Der Grund, warum eine Norm gilt, der sogenannte
„Geltungsgrund“, liegt in einer anderen – höheren - Norm. „Aber die Suche nach
dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Suche nach der Ursache einer
Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muss bei einer Norm enden, die als letzte, höchste
vorausgesetzt wird.“81 Und diese letzte, höchste Norm, die vorausgesetzt wird,
bezeichnet Kelsen in seiner Rechtstheorie als „Grundnorm“:
„Mit dem Worte Geltung bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm.“82 Da
eine Norm ein Sollen darstellt, kann ihre Existenzweise nicht mit dem Begriff des
Seins zum Ausdruck gebracht werden. Nur eine natürliche Tatsache kann „sein“.
Nicht eine Norm. Diese kann – da sie ein Sollen und kein Sein zum Inhalt hat - nur
gelten (oder nicht gelten). Aber niemals sein. Wenn gesagt wird, dass eine
bestimmte Norm „gilt“, so bedeutet dies, dass diese Norm – auf ihre spezifische
Weise - existiert. Der Begriff der „Geltung“ muss von dem Begriff der
„Wirksamkeit“ unterschieden werden: Eine wirksame Norm ist eine Norm, die in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit auch tatsächlich angewendet und befolgt wird. Damit
zielt die Frage, ob eine bestimmte Norm wirksam ist, auf das tatsächliche, äußere
Sein. Und nicht auf ein Sollen und daher auch nicht auf das Recht, da dieses ein
System von Sollnormen darstellt. Der Begriff der „Wirksamkeit“ beschreibt die
„Seinstatsache“83 der tatsächlichen Anwendung und Befolgung von Normen. Die
Aussage, dass eine Norm gilt, beschreibt ein völlig anderes Phänomen als die
Aussage, dass eine Norm wirksam ist. Gilt eine Norm, so existiert sie. Als Norm. Sie existiert auf ihre spezifische Weise. Ist eine Norm wirksam, so wird sie
tatsächlich angewendet und befolgt. Sie wird – wie später noch zu zeigen sein wird -
zwangsweise durchgesetzt. Oder sie wird freiwillig befolgt. Doch darf aus dem
79 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196. 80 Zum Stufenbau der Rechtsordnung siehe unten. 81 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 82 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 9. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 83 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10.
24
Umstand, dass die Begriffe der „Geltung“ und der „Wirksamkeit“ sehr verschiedene
Phänomene beschreiben und aus diesem Grunde auch streng voneinander zu
unterscheiden sind, nicht der Schluss gezogen werden, „Geltung“ und „Wirksamkeit“
hätten nichts miteinander zu tun. Vielmehr gibt es einen Zusammenhang zwischen
den beiden wichtigen Begriffen:84 „Eine Rechtsnorm wird als objektiv gültig nur
angesehen, wenn das menschliche Verhalten, das sie regelt, ihr tatsächlich,
wenigstens bis zu einem gewissen Grade, entspricht.“85 „Ein Minimum an
sogenannter Wirksamkeit ist eine Bedingung ihrer Geltung.“86
1.2.7 Der Stufenbau der Rechtsordnung
Das Recht – die Rechtsordnung - besteht aus einem System von Rechtsnormen.
Zwischen den verschiedenen Rechtsnormschichten herrscht das Verhältnis einer
Über- und Unterordnung. Die Rechtsnormen stehen nicht gleichrangig – auf einer
Stufe - nebeneinander. Vielmehr steht auf der obersten Stufe einer positiven
Rechtsordnung die „Verfassung“. Zwar würde die Grundnorm auf einer noch
höheren Stufe und damit „über der Verfassung“ stehen, doch ist dies insofern nicht
der Fall, als die Grundnorm als bloße – erkenntnistheoretischen Zwecken dienende
- Denkvoraussetzung keine „reale Norm“ ist und damit nicht Teil einer positiven
Rechtsordnung sein kann.
Der Begriff „Verfassung“ beschreibt eine Summe von Rechtsnormen, die – in
positivrechtlicher Hinsicht - auf der höchsten Stufe stehen. Die
verfassungsrechtlichen Normen zeichnen sich durch eine besondere Qualität aus.
Mit Blick auf ihren (besonderen) Inhalt wird von „Verfassung im materiellen Sinn“,
mit Blick auf die Form ihrer (erschwerten) Erzeugung von „Verfassung im formellen Sinn“ gesprochen.
Auf der nächsten Stufe im Stufenbau der Rechtsordnung steht das „Gesetz“. Im
Vergleich zur Verfassung kann das „einfache Gesetz“ unter erleichterten
Bedingungen beschlossen, aufgehoben oder abgeändert werden. Auf welch eine
Weise das Gesetz zu beschließen ist, bestimmt die Verfassung. Sie regelt das
Gesetzgebungsverfahren. Auch kann sie – und macht das auch regelmäßig - dem
84 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. 85 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 86 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
25
Gesetz in inhaltlicher Hinsicht Vorgaben machen. Als Beispiele für solche inhaltlichen
Vorgaben seien die sehr bedeutenden Grund- und Freiheitsrechte genannt. Das
Gesetz leitet seine Geltung aus der Verfassung ab. Oder anders gewendet: Die
Verfassung ist der unmittelbare Geltungsgrund des Gesetzes. Das gilt aber nur für
den Fall, dass das Gesetz den Rahmen nicht verlässt, der ihr durch die Verfassung –
sowohl in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren als auch in Bezug auf den
Gesetzesinhalt - vorgegeben ist. Verlässt das Gesetz diesen Rahmen, ist es
verfassungswidrig.
Auf einer weiteren Stufe finden wir die „Verordnung“. Für das Verhältnis zwischen
Gesetz und Verordnung gilt grundsätzlich das, was für das Verhältnis zwischen
Verfassung und Gesetz gilt: Die Verordnung darf den Rahmen nicht verlassen, der
ihr durch das Gesetz – sowohl in Bezug auf das Verfahren als auch in Bezug auf den
Inhalt - vorgegeben ist. Verlässt die Verordnung diesen Rahmen, ist sie gesetzwidrig.
Verfassung, Gesetz und Verordnung beschreiben „generelle Rechtsnormen“.
Damit ist gemeint, dass sich diese Rechtsnormen – aufgrund ihrer Allgemeinheit - an
viele mögliche Adressaten richten. Sie bedürfen noch der Konkretisierung durch
„individuelle Rechtsnormen“, die wir auf einer weiteren Stufe im Stufenbau der
Rechtsordnung finden.
„Individuelle Rechtsnormen“ beziehen sich bereits auf ganz bestimmte
Rechtssubjekte. Zu nennen sind – aus dem Bereich der Rechtsprechung - das
„Gerichtsurteil“ und – aus dem Bereich der Verwaltung - der „Verwaltungsakt“,
insbesondere der „Bescheid“.
Auf der untersten und letzten Stufe schließlich steht die individuelle Rechtsnorm der
„Anordnung der (Zwangs-)Vollstreckung“.87 Die (Zwangs-)Vollstreckung selbst
ist keine – neue - Norm mehr. Sie ist zwar ein Rechtsakt, aber kein
Rechtserzeugungsakt. Sie wendet eine Norm an, ohne selbst eine – neue, niedrigere
- Norm zu erzeugen.88
Ein Rechtsakt ist – grundsätzlich - immer zugleich ein Akt der Rechtserzeugung
und ein Akt der Rechtsanwendung: „Eine Norm, die die Erzeugung einer anderen
Norm bestimmt, wird in der von ihr bestimmten Erzeugung der anderen Norm 87 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 228 ff. 88 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960 240.
26
angewendet.“89 Von der Regel, dass ein rechtserzeugender Akt immer zugleich auch
ein rechtsanwendender Akt ist, gibt es zwei Ausnahmen oder „Grenzfälle“90:
Der Rechtsprozess spielt sich ab zwischen der Voraussetzung der Grundnorm
(=höchste Stufe) einerseits und der Vollstreckung des Zwangsaktes (=niedrigste
Stufe) andererseits. Die Grundnorm bestimmt die Erzeugung der Verfassung, ohne dabei selbst – und das macht sie zu einem „Grenzfall“ - die Anwendung einer
höheren Norm zu sein. Die Vollstreckung des Zwangsaktes stellt die Anwendung
einer bestimmten individuellen Norm dar (und zwar jener individuellen Norm, die den
Zwangsakt anordnet), ohne selbst die Erzeugung einer Norm zu sein.
Von diesen zwei „Grenzfällen“ abgesehen (Voraussetzung der Grundnorm,
Vollstreckung des Zwangsaktes) stellt jeder Rechtsakt zugleich einen Akt der
Rechtserzeugung und einen Akt der Rechtsanwendung dar. In Abgrenzung von
der „Traditionellen Theorie“91 legt Kelsen großen Wert auf die Erkenntnis, dass
Rechtserzeugung und Rechtsanwendung keine gegensätzlichen Begriffe sind. Jeder
Rechtsakt ist die Anwendung einer höheren Norm und zugleich die – durch die
angewendete höhere Norm bestimmte - Erzeugung einer niedrigeren Norm. So
erfolgt die Erzeugung der generellen Normen durch die Gesetzgebung in
Anwendung der – aus höheren Normen bestehenden - Verfassung. Und die
Erzeugung der individuellen Normen durch die Gerichte und die
Verwaltungsbehörden erfolgt in Anwendung der – aus höheren und generellen
Normen bestehen - Gesetze.92
1.2.8 Arten von Rechtsnormen
Eine positive Rechtsordnung besteht aus sehr vielen Rechtsnormen. Diese
Rechtsnormen stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr hängen sie
direkt oder indirekt miteinander zusammen. Sie beziehen sich aufeinander. Die
Rechtsnormen einer Rechtsordnung bilden ein System. Die Rechtsordnung ist eine
Ordnung. Kein Chaos. Es gibt bedingende und bedingte Normen. Wie oben gezeigt,
ist ein Stufenbau verschiedener Schichten von Rechtsnormen erkennbar. Um
eine Rechtsordnung erkennen und beschreiben zu können, ist es sehr hilfreich und
89 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. 90 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 91 Unter dem Begriff der „Traditionelle Theorie“ versteht Kelsen alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 92 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240.
27
letztlich unerlässlich, bestimmte Rechtsnormen zu Gruppen zusammenzufassen
und Kategorisierungen vorzunehmen. Wobei alle Rechtsnormen ausschließlich – und
zwar unabhängig davon, in welch einer Gruppe sie sich wiederfinden -
Rechtsnormen sind und Rechtsnormen bleiben. Es sind letztlich bloß - mehr oder
weniger zweckmäßige - Gesichtspunkte, unter denen bestimmte Rechtsnormen zu
Gruppen zusammengefasst und bestimmte Rechtsnormkategorien gebildet werden.
Wobei sich die auf diese Weise gebildeten Gruppen und Kategorien auf die
vielfältigste Weise überschneiden können. Nur Gruppen und Kategorien, die auf ein
und demselben Gesichtspunkt beruhen, schließen einander aus. Unter dem
Gesichtspunkt der Über- und Unterordnung ergibt sich der bereits erörterte
„Stufenbau der Rechtsordnung“. Es werden – zum Beispiel - „Verfassungsnormen“
von „einfachen Gesetzesnormen“ unterschieden. Oder einfache Gesetzesnormen
von „Verordnungsnormen“. Unter dem Gesichtspunkt des Adressatenkreises und
somit der Frage, an wen sich bestimmte Rechtsnormen richten, ergibt sich die
Unterscheidung zwischen „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“. Es wird –
zum Beispiel - den generellen Gesetzesnormen das „individuelle Gerichtsurteil“ oder
der „individuelle Verwaltungsakt“ gegenübergestellt.93
1.2.9 Formelles und Materielles Recht
Von besonderer Bedeutung und für die Erkenntnis des Rechts sehr hilfreich ist die
Unterscheidung zwischen dem „materiellen“ und dem „formellen Recht“: Vereinfacht
könnte man sagen: Das „materielle Recht“ kümmert sich um das „Was“. Um den Inhalt. Das „formelle Recht“ um das „Wer“ und das „Wie“. Um die Organisation und das Verfahren.94 Bloß materielles Recht anzuwenden wäre nicht möglich. Wird
materielles Recht angewendet, wird – logisch zwingend - gleichzeitig auch formelles
Recht angewendet. „Materielles Recht und formelles Recht sind untrennbar
miteinander verbunden. Nur in ihrer organischen Verbindung bilden sie das seine
eigene Erzeugung und Anwendung regelende Recht.“95 Es muss immer klar sein,
„wer“ das materielle Recht „wie“ anzuwenden hat. Klar ist dies nur dann, wenn die
Rechtsordnung nicht nur das materielle Recht festgelegt, sondern gleichzeitig auch
bestimmt hat, „wer“ – welch ein Organ - dieses materielle Recht „wie“ – nach welch
93 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 228 ff. 94 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 236 f. 95 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 237. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
28
einem Verfahren - anzuwenden hat. Kelsen schreibt: „Diese rechtsanwendenden
Organe müssen von der Rechtsordnung bestimmt werden, das heißt: es muss
bestimmt werden, unter welchen Bedingungen ein bestimmter Mensch als Gericht
oder Verwaltungsbehörde fungiert. Es muss aber auch das Verfahren bestimmt
werden, in dem seine Funktion, das ist die Anwendung genereller Normen,
auszuüben ist.“96
1.2.10 Selbstständige und unselbstständige Rechtsnormen
Kelsen unterscheidet in seiner Rechtstheorie zwischen selbstständigen und
unselbstständigen Rechtsnormen. Eine „selbstständige Rechtsnorm“ ist eine
Rechtsnorm, die einen Zwangsakt statuiert. Das kann eine generelle oder auch
eine individuelle Rechtsnorm sein. Fehlt die Statuierung eines Zwangsaktes, wird
von einer „unselbstständigen Rechtsnorm“ gesprochen. Eine „selbstständige
Rechtsnorm“ lässt sich mit dem Rechtssatz97 beschreiben, dass unter bestimmten Bedingungen ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden soll. So bestimmt –
zum Beispiel - die selbstständige Rechtsnorm des § 127 StGB (Diebstahl)98, dass
unter bestimmten Bedingungen gegen den Dieb eine bestimmte Strafe verhängt
(=ein bestimmter Zwangsakt gesetzt) werden soll. Selbstständige Rechtsnormen
werden von Kelsen auch – wegen des Zwangsaktes, den sie statuieren - als
Zwangsnormen bezeichnet. Und die Rechtsordnung als Ganzes wird – unter
anderem - als „Zwangsordnung“99 definiert.
Zu beachten ist, dass nicht alle und letztlich sogar die Mehrzahl der Normen keine
Zwangsnormen und damit keine selbstständigen Rechtsnormen sind. Die – auf den
ersten Blick überraschende - Definition der Rechtsordnung als Zwangsordnung findet
ihre Erklärung darin, dass alle Normen, die selbst keine Zwangsakte statuieren (und
daher unselbstständige Rechtsnormen sind), nur in Verbindung mit einer selbstständigen Rechtsnorm Sinn machen. Eine selbstständige Rechtsnorm
besteht aus einer Bedingung und einem Zwangsakt (der bei Erfüllung der Bedingung
96 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 236. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 97 Zum Begriff des „Rechtssatzes“ siehe unten. 98 § 127 StGB lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen mit dem Vorsatz wegnimmt, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.“ 99 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 34 ff., 39, 45ff., 52 ff., 59, 64 f., 114 ff., 150, 244.
29
gesetzt werden soll). Eine unselbstständige Rechtsnorm (der die Statuierung eines
Zwangsaktes fehlt) ist nun dahingehend zu verstehen, dass sie – letztlich - nur einen
„legistischen Baustein“ darstellt und mit einer selbstständigen Rechtsnorm eine
Einheit bildet. Unselbstständige Rechtsnormen können als „bloße Bedingungen“
verstanden werden: Soll ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden, so müssen
zunächst die Bedingungen erfüllt sein, die in einer bestimmten selbstständigen
Rechtsnorm angeführt sind. Daneben müssen aber auch all jene Bedingungen erfüllt
sein, die sich in den zahlreichen unselbstständigen Rechtsnormen finden. Vor
diesem gedanklichen Hintergrund stellen nicht nur „derogierende Normen“100,
„überflüssige Verdoppelungen“ (derselbe Gedanke wird in einer Norm positiv und in
einer anderen negativ formuliert), „Begriffsdefinitionen“ (=Legaldefinitionen) und
„authentische Interpretationen“ unselbstständige Rechtsnormen dar, sondern vor
allem auch alle „Ermächtigungsnormen“ und alle „Erlaubnisnormen“ und damit fast
alle Verfassungsnormen, das Organisationsrecht und das Verfahrensrecht.101
1.2.11 Die Struktur der Rechtsnorm als Zwangsnorm
Von Besonderheiten wie den „unselbstständigen Rechtsnormen“102 abgesehen lässt
sich sagen: Eine Rechtsnorm ist eine Zwangsnorm. Dies bedeutet: Unter einer
bestimmten Bedingung soll ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden. Genauer:
Unter einer von der Rechtsordnung bestimmten Bedingung soll ein von der
Rechtsordnung bestimmter Zwangsakt gesetzt werden. Eine Rechtsnorm als
Zwangsnorm lässt sich daher unterteilen in eine Bedingung und in den Zwangsakt, der bei Erfüllung der Bedingung als Reaktion gesetzt werden soll. Folgende
Begriffspaare haben sich in diesem Zusammenhang herausgebildet, wobei jedoch zu
beachten ist, dass Umfang und Inhalt der einzelnen Begriffe voneinander abweichen:
Bedingung und Folge. Tatbestand und Rechtsfolge. Unrecht und Unrechtsfolge. Delikt und Sanktion.
100 Eine „derogierende Norm“ hebt die Geltung einer anderen Norm völlig auf. 101 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 55 ff. 102 Zum Begriff der „unselbstständigen Rechtsnorm“ siehe oben.
30
Um begriffliche Verwirrungen zu vermeiden, müssen – noch vor einer genauen
Begriffsbestimmung - Oberbegriffe und deren Untergliederungen voneinander
unterschieden werden: Die beiden Begriffspaare „Tatbestand und Rechtsfolge“ und
„Bedingung und Zwangsakt“ können als – grundsätzlich gleichberechtigte -
Oberbegriffe festgelegt werden. Dem Begriffspaar „Bedingung und Zwangsakt“ ist
aber der Vorzug zu geben, weil mit diesen beiden Begriffen die Struktur der
Rechtsnorm als Zwangsnorm deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Der Begriff des
„Unrechts“ (und auch der gleichbedeutende Begriff des „Delikts“) ist eine
Untergliederung des Begriffs der „Bedingung“. Der Begriff der „Unrechtsfolge“ (und
auch der gleichbedeutende Begriff der „Sanktion“) ist eine Untergliederung des
Begriffs des „Zwangsaktes“.103
„Zwangsakte sind Akte, die auch gegen den Willen der davon Betroffenen und, im
Falle von Widerstand, unter Anwendung von physischer Gewalt zu vollstrecken
sind.“104 Es gibt zwei Arten von Zwangsakten: Zwangsakte, die als allgemeine
Zwangsakte keine Sanktionen sind. Und Zwangsakte, die als besondere Zwangsakte „Sanktionen“ sind. Der Begriff der Sanktion wird seinerseits unterteilt
in „Strafe“ und „Exekution“. Besteht der Zwangsakt – zum Beispiel - in der
zwangsweisen Internierung von Individuen, die mit einer gemeingefährlichen
Krankheit behaftet sind, so besitzt dieser Zwangsakt nicht den Charakter einer
Sanktion. Entscheidend für die begriffliche Unterscheidung ist, dass der Zwangsakt in
diesem Fall nicht gegen ein bestimmtes Verhalten gerichtet ist. Besteht hingegen
der Zwangsakt in einer Strafe (Geldstrafe, Freiheitsstrafe) oder in einer
Zwangsvollstreckung in ein Vermögen (=Exekution), so wird dieser Zwangsakt als
„Sanktion“ bezeichnet. Mit dem „Begriff der Sanktion“ soll zum Ausdruck gebracht
werden, dass der Zwangsakt der Strafe oder der Exekution eine bestimmte Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten darstellt.105
In rechtstechnischer Hinsicht erfüllt die „Sanktion“ eine sehr wichtige Funktion: Das
von der Rechtsordnung angestrebte Verhalten der Menschen (zum Beispiel das
Verhalten, keinen Diebstahl und keinen Mord zu begehen), wird nicht wie in den
„Zehn Geboten“ unmittelbar und direkt angeordnet, sondern indirekt: Die (moderne)
103 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114 ff. 104 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 105 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114 ff.
31
Rechtsordnung gebietet oder verbietet ein bestimmtes Verhalten, indem sie an das gegenteilige Verhalten eine Sanktion knüpft. Die (moderne) Rechtsordnung will
das angestrebte Verhalten der Menschen indirekt – auf umgekehrtem Wege,
sozusagen - herbeiführen. Sie sagt nicht: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht töten.
Sondern sie sagt: Wenn Du einen Diebstahl oder einen Mord begehst, dann soll ein
bestimmter Zwangsakt gegen dich gesetzt werden.106
1.2.12 Recht und Un-Recht
„Wie alles, so kann auch das Un-Recht juristisch nur als Recht begriffen
werden.“107
„Die Kette des Rechts fesselt auch den das Recht brechenden Menschen.“108
Der Begriff des „Unrechts“, der exakt dasselbe meint wie die Begriffe „Delikt“ oder
„verbotenes Verhalten“, ist irreführend: Der genannte Begriff bringt – und nichts
anderes gilt für die Begriffe „Rechts-Widrigkeit“, „Rechts-Bruch“ und „Rechts-
Verletzung“ - eine „Negation des Rechts“ zum Ausdruck.109 Das Un-Recht oder das,
was damit bezeichnet wird (das Delikt, das verbotene Verhalten), ist aber nicht
„etwas, das außerhalb des Rechts und gegen dieses steht“110, etwas, „das die
Existenz des Rechts bedroht, unterbricht oder gar aufhebt.“111 Das „Un-Recht“, das
ein Verhalten beschreibt, bei dessen Vorliegen ein bestimmter Zwangsakt gesetzt
werden soll, ist eine Bedingung des Rechts. Nicht seine Negation. Ein bestimmtes
Verhalten wird als „Unrecht“ oder als „Delikt“ bezeichnet, weil es mit einem
bestimmten Zwangsakt verknüpft ist. Und nicht umgekehrt, wie die „Traditionelle
Theorie“112 annimmt. Es ist ein Denkfehler zu sagen, dass ein bestimmtes Verhalten
deswegen mit einem Zwangsakt (mit einer Unrechtsfolge) verknüpft wird, weil es ein
Unrecht ist. Vielmehr wird ein bestimmtes Verhalten – von der Rechtsordnung, auf
indirekte Weise - deswegen zu einem „Unrecht“ erklärt, weil es mit einem
106 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 56. 107 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 108 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. 109 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 110 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 111 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 112 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionelle Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“.
32
Zwangsakt (einer Unrechtsfolge) verknüpft ist. Der Gedanke, dass ein
bestimmtes Verhalten „an sich“ ein Unrecht darstellt (und das deswegen, weil es ein
Unrecht darstellt, mit einer Unrechtsfolge verknüpft werden muss), beruht auf „naturrechtlicher Anschauung“113. Der genannte – naturrechtliche - Gedanke setzt
voraus, „dass die Qualität des Unrechts, der negative Wert, gewissen Tatbeständen
immanent ist und Bestrafung seitens des positiven Rechts fordert“114.
Ein bestimmtes Verhalten ist aber nicht „an sich“ ein Unrecht, sondern es ist dann –
und nur dann - als ein Unrecht anzusehen, wenn es mit einem Zwangsakt verknüpft
ist. Es ist die – durch die positive Rechtsordnung vorgenommene - Verknüpfung mit einem Zwangsakt, die ein bestimmtes Verhalten – auf indirekte Weise - zu einem
„Un-Recht“ erklärt. Der Begriff des „Unrechts“ beschreibt daher – nicht anders als der
Begriff des „Delikts“ - jenes verbotene Verhalten, das, wenn es gesetzt wird, einen
Zwangsakt auslösen soll. Das „Un-Recht“ ist – so wie der gleichbedeutende Begriff
des „Delikts“ - eine Bedingung des Rechts. Es ist daher – wenn der Gedanke
konsequent zu Ende gedacht wird - auch „Recht“. Das „Un-Recht“ ist –auch- Recht. Es ist ein bestimmter Teil des Rechts. Das „Un-Recht“ ist der
„Bedingungsteil“. Es ist nicht etwas, das außerhalb des Rechts oder gegen dieses
steht. So gesehen kann es ein „Un-Recht“ oder eine „Rechts-Widrigkeit“ –
verstanden als Negation des Rechts - gar nicht geben.115
Kelsen schreibt unter Bezugnahme auf die Theologie und das Problem der
sogenannten „Theodizee“116:
„Da alles, was ist, von Gott gewollt begriffen werden muss, entsteht die Frage: wie
kann das Böse als von dem guten Gott gewollt begriffen werden? Die Antwort einer
konsequent monotheistischen Theologie ist: Indem das Böse als eine notwendige
Bedingung zur Verwirklichung des Guten gedeutet wird.“117
113 Zur Abgrenzung des Rechtspositivismus von jeder Form einer „Naturrechtslehre“ siehe oben. 114 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 115 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 116 ff. 116 Zum philosophischen Problem der sogenannten „Theodizee“ vgl. insbesondere Felix Heidenreich, Theorien der Gerechtigkeit (2011) 41 ff. 117 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
33
1.2.13 Recht und Staat
„Der Staat ist eine relativ zentralisierte Rechtsordnung.“118
„Das Staatsvolk ist der personale Geltungsbereich der staatlichen
Rechtsordnung.“119
„Das sogenannte Staatsgebiet kann nur als der räumliche Geltungsbereich einer
staatlichen Rechtsordnung definiert werden.“120
„Die sogenannte Staatsgewalt ist die Geltung einer effektiven staatlichen
Rechtsordnung.“121
„Der Staat ist eine Rechtsordnung.“ Es gibt eine „Identität von Staat und Recht“122. Kaum eine Erkenntnis von Hans Kelsen ist wirkungsmächtiger. Der Staat
hat keine Rechtsordnung. Er ist eine Rechtsordnung. Er ist die Rechtsordnung
selbst. Der Staat und seine Rechtsordnung sind ein und dasselbe. Das bedeutet
aber nicht, dass auch jede Rechtsordnung ein Staat wäre. Nur eine Rechtsordnung,
die arbeitsteilig funktioniert und über zentrale Organe verfügt, ist ein Staat.
„Weder die vorstaatliche Rechtsordnung der primitiven Gesellschaft noch die über-
(oder zwischen-) staatliche Völkerrechtsordnung stellen einen Staat dar.“123
Der traditionelle „Dualismus von Staat und Recht“124 – den die „Reine Rechtslehre“
auflösen will - „leistet eine ideologische Funktion von außerordentlicher, gar nicht zu
überschätzender Bedeutung125. Der Staat wird als eine vom Recht verschiedene
„Person“ gedacht. Man stellt sich ein „meta-rechtliches Wesen“126 vor. Einen
„machtvollen Makroanthropos“127, der bereits vor dem Recht existiert und als etwas
Wesensverschiedenes von diesem unabhängig ist. „Der Staat muss als eine vom
118 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 119 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 291. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 120 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 291. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 121 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 292. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 122 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 123 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. 124 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. 125 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. 126 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 127 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288.
34
Recht verschiedene Person vorgestellt werden, damit das Recht den – dieses Recht
erzeugenden und sich ihm unterwerfenden - Staat rechtfertigen könne.“128 Die
„Traditionelle Theorie“129 versucht den Staat zu legitimieren und zu rechtfertigen,
indem sie ihn zum „Rechtsstaat“130 erklärt. Sie spricht in diesem Zusammenhang von
einer sogenannten – von Kelsen abgelehnten - „Selbstverpflichtung des Staates“:
Der Staat wird zunächst als eine soziale Realität gedacht, die bereits vor dem Recht – und damit unabhängig vom Recht - existiert. In der Folge erzeugt er das
Recht, um sich in weiterer Folge diesem von ihm selbst erzeugten (positiven) Recht –
freiwillig - zu unterwerfen. „Ein Vorgang, in dem ein dem Recht in seiner Existenz
vorangehender Staat das Recht schafft und sich dann dem Recht unterwirft, findet
nicht statt und kann nicht stattfinden.“131 Der Staat existiert nur in Staatsakten. Unter
„Staatsakten“ sind von Menschen gesetzte Akte zu verstehen, die dem Staat – der
„juristischen Person des Staates“132 - zugeschrieben werden. Und eine solche
„Zuschreibung“133 ist ohne – bereits vorhandene - Rechtsnormen nicht möglich. Der Staat ist eine – und zwar seine eigene - Rechtsordnung. Der Begriff der
„juristischen Person des Staates“ stellt in diesem Zusammenhang nichts anderes als
die Personifikation dieser Rechtsordnung dar. Unter dem Begriff der
„Zuschreibung“ ist – wie unten näher dargestellt - eine Hilfskonstruktion der Erkenntnis zu verstehen, eine bloße Gedankenoperation, die möglich, aber
keinesfalls notwendig ist. „Zuschreibung“ ist letztlich immer eine Fiktion, „da es in
Wahrheit nie der Staat als juristische Person, sondern ein ganz bestimmter Mensch
ist“134, der handelt und Akte setzt. Entscheidend ist, dass die Akte, die ein
bestimmter Mensch setzt und die dem Staat als juristischer Person zugeschrieben
werden, nicht irgendwelche zufälligen und willkürlichen, sondern von der Rechtsordnung bestimmte Akte sind. Der Begriff der „Zuschreibung“ bringt nur die
Beziehung der gesetzten Akte zu der Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck, von
der sie bestimmt sind.135 „Was als Gegenstand der Erkenntnis existiert, ist nur das
128 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 129 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 130 Zum Begriff des „Rechtsstaates“ siehe unten. 131 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 132 Zum Begriff der „juristischen Person“ siehe unten. 133 Zum Begriff der „Zuschreibung“ siehe unten. 134 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 306. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 135 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288 ff.
35
Recht.“136 Wenn die „Traditionelle Theorie“137 dennoch meint, am Dualismus von
Staat und Recht festhalten zu müssen, so macht sie dies aus ideologischen
Gründen: Sie will den Staat – als „Rechts-Staat“138 - rechtfertigen und legitimieren.
Von – in Wahrheit nicht zu übersehenden - Widersprüchen lässt sie sich dabei nicht
beirren, da „Widersprüche für ideologische Theorien, denen sie notwendig anhaften,
kein ernstliches Hindernis bedeuten.“139
Der Staat ist eine relativ zentralisierte Zwangsordnung und damit eine
Rechtsordnung. Der „Staat als juristische Person“ ist die Personifikation dieser
Rechtsordnung. Jede – wissenschaftliche - Erkenntnis strebt nach der Einheit ihres
Gegenstandes. Der Begriff der „Person“ stellt zunächst bloß einen Einheitsausdruck
dar. Eine Verdoppelung des Erkenntnisgegenstandes und damit ein – zu überwindender - Dualismus von Staat und Recht entsteht, wenn eine bloße
Gedankenoperation, eine Hilfskonstruktion der Erkenntnis, „hypostasiert“ wird. Der
rechtswissenschaftliche Dualismus von Staat und Recht lässt sich vergleichen mit
dem theologischen Dualismus von Gott und Welt: „So wie die Theologie die
Transzendenz Gottes gegenüber der Welt und doch zugleich seine Immanenz in
der Welt, so behauptet die dualistische Staats- und Rechtslehre die Transzendenz
des Staates gegenüber dem Recht, seine meta-rechtliche Existenz und doch
zugleich seine Immanenz im Recht.“140 Der Weg zu einer „echten Naturwissenschaft“
wird durch den „Pantheismus“ frei gemacht (griech. pan = alles, griech. theós = Gott).
Gott wird mit der Welt – mit der Ordnung der Natur - identifiziert. In diesem Sinne
setzt eine „echte Rechtswissenschaft“ die Identifikation des Staates mit dem Recht voraus.141
136 Kelsen, Reine Rechtlsehre2 (1960) 314. 137 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 138 Zum Begriff des „Rechtsstaats“ siehe unten. 139 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 140 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 319. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 141 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 319 f.
36
1.2.14 Staat und Rechts-Staat
„Ist der Staat als eine Rechtsordnung erkannt, ist jeder Staat ein Rechts-Staat.“142
Der Begriff des „Rechts-Staates“ stellt – jedenfalls in seinem grundsätzlichen und
weiteren Sinn - einen „Pleonasmus“ dar. Jeder Staat ist ein Rechts-Staat, da jeder
Staat eine – arbeitsteilig funktionierende, über gemeinsame Organe verfügende -
Rechtsordnung darstellt. Der Begriff des Rechtsstaates wird aber auch – in einem
engeren Sinn - zur Bezeichnung eines bestimmten Staatstypus verwendet.143
„Rechtsstaat in diesem spezifischen Sinne ist eine relativ zentralisierte
Rechtsordnung, der zufolge Rechtsprechung und Verwaltung durch Gesetze, das ist
generelle Normen gebunden sind, die…… …gewisse Freiheitsrechte der Bürger,
insbesondere Glaubens- und Gewissensfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung
gewährleistet sind.“144
Wenn jeder Staat ein Rechtsstaat – in einem weiteren Sinne - ist, dann enthüllt sich
der Versuch, den Staat als „Rechts-Staat“ legitimieren zu wollen, als völlig
untauglich. Auch eine relativ zentralisierte Zwangsordnung, die autokratischen
Charakter hat und keine Rechtssicherheit bietet, ist eine Rechtsordnung und daher
ein (autokratischer) Staat. Ein politisches Werturteil ist mit dieser Aussage nicht verbunden.“145
1.2.15 Die physische und juristische Person
Die „Traditionelle Theorie“146 versteht unter einer „Person“ ein Rechtssubjekt, das
Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Der physischen oder natürlichen Person
stellt sie eine juristische oder künstliche Person gegenüber. Die „Reine Rechtslehre“,
die sich als eine möglichst exakte und von jedem ethisch-politischen Werturteil
befreite Strukturanalyse des positiven Rechts versteht,147 kommt zu grundlegend
anderen Ergebnissen: Die physische Person und die juristische Person sind –
jedenfalls unter den entscheidenden Gesichtspunkten - ein und dasselbe. Auch die 142 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 143 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314 f. 144 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 145 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 320. 146 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 147 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 195.
37
physische Person ist eine künstliche und damit eine juristische Person. Und: Beide
Personen stellen weder soziale Realitäten dar noch sind sie Schöpfungen des
Rechts. Es handelt sich sowohl bei der physischen als auch bei der juristischen
Person um eine Konstruktion der Rechtswissenschaft.148
Der Sachverhalt, den die „Traditionelle Theorie“149 vor Augen hat, wenn sie sagt, sie
würde bestimmten Menschen oder anderen – künstlichen - Wesenheiten
Rechtspersönlichkeit – die Qualität, Person zu sein - verleihen, besteht
ausschließlich darin, dass die Rechtsordnung bestimmten Menschen Pflichten
auferlegt und Rechte einräumt. Sie macht das Verhalten von bestimmten – durch die
Rechtsordnung bestimmten - Menschen zum Inhalt von Pflichten und Rechten.
Person zu sein oder Rechtspersönlichkeit zu haben bedeutet, Rechtspflichten und
subjektive Rechte zu haben.150 „Die Person als Träger von Rechtspflichten und
subjektiven Rechten ist nicht etwas von den Rechtspflichten und subjektiven
Rechten Verschiedenes, als deren Träger die Person dargestellt wird.“151
Wenn die „Traditionelle Theorie“152 sagt, die physische oder juristische Person sei
der „Träger“ von Rechtspflichten und subjektiven Rechten, so ist dieses Bild
irreführend. Eine positive Rechtsordnung kennt keinen „Träger“ und es gibt auch
keine rechtlichen Objekte, die „getragen“ werden würden. Eine physische oder
juristische Person „trägt“ keine Rechtspflichten oder subjektiven Rechte. Vielmehr ist
sie mit ihnen identisch. Die physische oder juristische Person stellt – ausschließlich -
einen Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten dar. Der Begriff der
Person soll bloß die Einheit dieser Rechtspflichten und subjektiven Rechte figürlich zum Ausdruck bringen.153
148 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 178 ff. 149 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 150 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177 ff. 151 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 152 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 153 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177 ff.
38
1.2.16 Das subjektive Recht Es ist der hohe Anspruch der „Reinen Rechtslehre“, das „Wesen des subjektiven Rechts“154 zu ergründen. Zu diesem Zweck unterzieht sie die Deutung dieses –
fundamentalen - Begriffes durch die „Traditionelle Theorie“155 einer besonders
tiefgreifenden Analyse. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zeigen ein
überraschendes Bild: Das subjektive Recht wird – ebenso wie die „Rechtspflicht“156 -
als Rechtsnorm erkannt und damit auf das „objektive Recht“157 zurückgeführt. Es
kommt zu einer „Aufhebung des Dualismus von Recht im objektiven und Recht im subjektiven Sinn“158. Die Begriffsbestimmung der „Traditionellen Theorie“, die
von einem „Rechtssubjekt als dem Träger des subjektiven Rechts“ spricht, wird als
ideologisch motiviert entlarvt. Die „Reine Rechtslehre“ schafft den Begriff des
subjektiven Rechts nicht ab. Sie verleiht ihm jedoch neue Bedeutungen. Zudem
wird das subjektive Recht nicht selten – und zwar vor allem in jenen Fällen, die für
die „Traditionelle Theorie“ eine große Bedeutung haben - als „bloßes Reflexrecht“159 erkannt.160 Im Einzelnen:
1.2.17 Objektives Recht und subjektives Recht Der Begriff des „objektiven Rechts“ bezeichnet die Rechtsordnung in ihrer
Gesamtheit. Es ist die Summe aller geltenden Rechtsnormen gemeint. Das System
von Normen, das die Rechtsordnung darstellt. Demgegenüber ist das „subjektive
Recht“ – wie auch das logische Gegenstück, die „Rechtspflicht“ - einem bestimmten
Subjekt zugeordnet. Der Begriff des subjektiven Rechts lässt sich – in einem ersten Schritt - als „Berechtigung“ definieren. Für die „Traditionelle Theorie“161
steht das subjektive Recht oder die Berechtigung – ganz im Gegensatz zur „Reinen
Rechtslehre“ - im Vordergrund. Sie rückt das „Recht“ an die erste Stelle und spricht
von „Rechten und Pflichten“ und nicht – wie das im Bereich der Moral üblich ist - von
154 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 155 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 156 Zum Begriff der „Rechtspflicht“ siehe sogleich. 157 Zum Begriff des „objektiven Rechts“ siehe sogleich. 158 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 194. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 159 Zum Begriff des „bloßen Reflexrechtes“ siehe sogleich. 160 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 ff. 161 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“.
39
„Pflichten und Rechten“. Es ist kein Zufall, dass in der deutschen und französischen Rechtssprache mit „Recht“ und „droit“ ein und dasselbe Wort sowohl für die (subjektive) Berechtigung als auch für das (objektive) Recht, für die Rechtsordnung als Ganzes, verwendet wird. Deswegen wird auch, wenn eine
Berechtigung gemeint ist, von einem „subjektiven Recht“ gesprochen, um
Verwechslungen mit der Rechtsordnung – dem „objektiven Recht“ - auszuschließen.
Die englische Rechtssprache kennt diese terminologischen Probleme nicht: Ist eine
Berechtigung gemeint, steht das Wort „right“ zur Verfügung. Soll hingegen die
Rechtsordnung – das objektive Recht - bezeichnet werden, wird das Wort „law“
verwendet.162 Die Begriffsbildung der „Traditionellen Theorie“ ist ideologisch
motiviert.163
1.2.18 Subjektives Recht und Rechtspflicht
Für die „Reine Rechtslehre“ steht – im Gegensatz zur „Traditionellen Theorie“, die
aus ideologischen Gründen das „subjektive Recht“ in den Vordergrund rückt - der Begriff der Rechtspflicht im Vordergrund. Zunächst ist entscheidend, dass es ein
„subjektives Recht“ und eine „subjektive Pflicht“ nicht gibt und auch nicht geben
kann, wenn damit – wie das sehr häufig der Fall ist - etwas zum objektiven Recht
Gegensätzliches oder Wesensverschiedenes gemeint ist. Sowohl das subjektive
Recht als auch die Rechtspflicht sind Verhaltensbeschreibungen, die sich als Inhalte von Rechtsnormen wiederfinden. Die „Reine Rechtslehre“ liefert die Erkenntnis,
dass der Begriff der „Rechtspflicht“ – und dasselbe gilt für das „subjektive Recht“ -
nichts anderes meint und darstellt als der Begriff der „Rechtsnorm“. Es geht immer
um einen Inhalt, der aus einem menschlichen Verhalten besteht. Zwischen den
Begriffen der „Rechtspflicht“ und der „Rechtsnorm“ besteht eine Identität.164
Kelsen schreibt: „Man pflegt zwar Rechtsnorm und Rechtspflicht zu differenzier
……aber die Rechtspflicht zu einem bestimmten Verhalten ist nicht ein von der
dieses Verhalten gebietenden Rechtsnorm verschiedener Sachverhalt; sie ist diese
Rechtsnorm selbst.“165
162 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 f. 163 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 175 f. 164 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 ff. 165 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
40
Die Rechtsordnung ist sowohl als eine Gesellschaftsordnung als auch als eine
Zwangsordnung zu verstehen. Als eine Gesellschaftsordnung insofern, als es im
Recht immer um ein Verhalten eines Menschen geht, „das – unmittelbar oder
mittelbar - einem anderen Individuum gegenüber stattzufinden hat“166. Und als eine
Zwangsordnung, weil das rechtlich gebotene (und gesellschaftlich erwünschte)
Verhalten dadurch herbeigeführt wird, dass an das gegenteilige Verhalten ein
Zwangsakt als Sanktion geknüpft wird.
Die Rechtsordnung regelt das Verhalten von Menschen, indem sie an ein bestimmtes
Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft. Das Verhalten, an das ein
Zwangsakt als Sanktion geknüpft ist, ist – aus diesem Grunde - verboten. Geboten ist
das gegenteilige Verhalten. Erfüllt ein bestimmter Mensch die ihm von einer
Rechtsnorm auferlegte Pflicht, befolgt er die Rechtsnorm. Erfüllt er sie nicht, verletzt er die Rechtsnorm. Wird eine Rechtsnorm verletzt, liegt eine Pflichtverletzung vor. In
diesem Fall soll von einem anderen Menschen – einem sogenannten „Organ“167 - der
Zwangsakt als Sanktion gesetzt – und damit, wie man sagt, die Rechtsnorm
„angewendet“ - werden. „Sowohl die Befolgung der Rechtsnorm als auch ihre
Anwendung stellen ein der Rechtsnorm entsprechendes Verhalten dar.“168 Die
Frage der „Wirksamkeit“169 einer Rechtsordnung ist eine Frage der Befolgung und
Anwendung ihrer Rechtsnormen.170
So wie die „Traditionelle Theorie“ in Bezug auf das „subjektive Recht“ von einem
„Rechtssubjekt“ oder einem „Träger“ spricht, so verwendet sie auch in Bezug auf die
Rechtspflicht den Begriff des Rechtssubjektes. Genaugenommen müsste sie aber in
diesem Fall von einem „Pflicht-Subjekt“ sprechen. Entscheidend jedoch ist, dass die
„Traditionelle Theorie“ unter einem Rechtssubjekt – oder einem „Pflicht-Subjekt“ -
den Träger der von der Rechtsordnung statuierten Rechte und Pflichten versteht.
„Als Subjekt oder Träger der Pflicht wird normalerweise das Individuum bezeichnet,
dessen Verhalten den Inhalt der Pflicht bildet. Aber dieses Individuum ist nicht
166 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120. 167 Zum Begriff des „Organs“ siehe unten. 168 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 169 Zum Begriff der „Wirksamkeit“ siehe oben. Die „Wirksamkeit“ darf mit dem Begriff der „Geltung“ nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden. Sie stellt – nur - eine Bedingung der „Geltung“ dar. 170 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 ff.
41
etwas, das die Pflicht als einen von ihm verschiedenen Gegenstand trägt.“171 Geht
es um das Verständnis des Begriffs der Rechtspflicht, muss die Vorstellung
überwunden werden, ein bestimmtes Individuum würde eine bestimmte Pflicht
„tragen“. Eine Rechtspflicht ist ein bestimmtes Verhalten. Im Vordergrund steht das
Verhalten. Dieses Verhalten wird – von der Rechtsordnung - einem bestimmten
Individuum zugeordnet.
Das Individuum, dem ein bestimmtes Verhalten zugeordnet wird, ist nur das
personale Element dieses Verhaltens. Das Verhalten selbst, ohne Bezug zu einem
bestimmten Individuum, stellt das materiale Element dar. Das personale und das
materiale Element eines bestimmten Verhaltens sind miteinander untrennbar verbunden und stellen den Inhalt einer Rechtspflicht dar.172
1.2.19 Spielarten des subjektiven Rechts
Die „Reine Rechtslehre“ versteht unter dem Begriff des subjektiven Rechts – und
nichts anderes gilt für den Begriff der Rechtspflicht - den Inhalt einer Rechtsnorm.
Dies bedeutet, dass sie letztlich in einem subjektiven Recht – auch in einem
subjektiven Recht - das objektive Recht sieht. Die „Reine Rechtslehre“ lehnt die
subjektivistische und advokatorische Einstellung zum Recht ab. Es geht ihr nicht um
das Parteiinteresse und die Frage, was dem Einzelnen nützt oder schadet. Die Haltung der „Reinen Rechtslehre“ ist eine objektivistisch-universalistische.173
Doch auch wenn die „Reine Rechtslehre“ im subjektiven Recht – letztlich - das objektive Recht erkennt, sieht sie keinen Grund, diesen (rechtswissenschaftlichen)
Begriff abzuschaffen. Das wäre auch gar nicht möglich, da er eine lange Tradition
besitzt und vielfach verwendet wird. Es ist nicht entscheidend, welche Begriffe
Verwendung finden. Entscheidend ist, was bestimmte Begriffe – in einem bestimmten Zusammenhang - beschreiben und zum Ausdruck bringen wollen. Rechtswissenschaftliche Begriffe beschreiben das Recht. Sie stellen den Inhalt von
Rechtsnormen dar. Der Begriff des subjektiven Rechts stellt jedoch insofern eine
besondere Herausforderung dar, als „mit diesem Worte mehrere voneinander sehr
171 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 172 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. 173 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 195.
42
verschiedene Sachverhalte bezeichnet werden“174. Im Folgenden werden daher
mögliche Inhalte des Begriffs des subjektiven Rechts – und damit seine
verschiedenen Arten - kurz dargestellt:
1.2.19.1 Rechtlich negativ erlaubt, weil nicht verboten Die Aussage, ein bestimmter Mensch habe das Recht, sich in einer bestimmten
Weise zu verhalten, kann die Bedeutung haben, dass das in Frage stehende
Verhalten rechtlich nicht verboten ist. Das Verhalten ist – bloß - nicht verboten. Die
Rechtsordnung erlaubt ein bestimmtes Verhalten, indem sie es nicht – nur nicht -
verbietet. Sie setzt keinen positiven Akt. Sie schweigt. Die Rechtsordnung erlaubt
das in Frage stehende Verhalten in einem bloß negativen Sinne. Ein bestimmter
Mensch kann eine bestimmte Handlung vornehmen oder auch unterlassen. Dies
deswegen, weil sie nicht verboten ist. Bloß nicht verboten ist. Weil sie in einem
negativen Sinne erlaubt ist.175
1.2.19.2 Rechtlich positiv erlaubt, weil behördlich zugestanden
Die Aussage, ein bestimmter Mensch habe das Recht, sich in einer bestimmten
Weise zu verhalten, kann die Bedeutung haben, dass ein bestimmter Mensch eine bestimmte Tätigkeit – ausnahmsweise - verrichten darf, obwohl diese –
grundsätzlich - verboten ist. Ein bestimmter Mensch, das berechtigte Individuum, darf
die – grundsätzlich - verbotene Tätigkeit nur auf der Grundlage einer ausdrücklich erteilten behördlichen Erlaubnis verrichten. Die behördliche Erlaubnis, die auch als
„Konzession“ oder als „Lizenz“ bezeichnet wird, besteht in einem positiven (Genehmigungs-)Akt der Behörde und darf nicht mit der bloß negativen Tatsache
eines Nichtverbotenseins gleichgesetzt werden. Als Beispiele für ein subjektives
Recht, das in einer positiven behördlichen Erlaubnis besteht, können der Betrieb
eines Unternehmens oder auch der Verkauf alkoholischer Getränke oder von
Medikamenten angeführt werden.176
174 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 175 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. 176 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 142 f.
43
1.2.19.3 Das subjektive Recht als bloßes Reflexrecht
Mit der Aussage, ein bestimmter Mensch habe ein subjektives Recht, einen
Anspruch, kann gemeint sein, dass ein bestimmter anderer Mensch verpflichtet ist, sich diesem Menschen gegenüber in einer bestimmten Weise zu verhalten. Hat –
zum Beispiel - ein bestimmter Mensch das subjektive Recht auf Erfüllung einer
Forderung, so bedeutet dies, dass ein bestimmter anderer Mensch verpflichtet ist,
die Forderung zu erfüllen. Oder ist – zum Beispiel - ein bestimmter Mensch
Eigentümer einer Sache, so bedeutet dies, dass alle anderen Menschen verpflichtet
sind, das Eigentumsrecht zu achten. Sie dürfen den Eigentümer in der Ausübung
seines Eigentumsrechtes – in seinem „Rechtsgenuss“ - nicht stören. Insbesondere
haben sie den Gebrauch, den Konsum oder auch die Zerstörung der Sache durch
den Eigentümer zu dulden. Dem subjektiven Recht des berechtigten Individuums
steht die Rechtspflicht des verpflichteten Individuums gegenüber. Zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet zu sein bedeutet,177 dass bei einem
gegenteiligen Verhalten der Zwangsakt als Sanktion gesetzt werden soll.178 Im
Beispiel des Forderungsrechts spricht die „Traditionelle Theorie“179 von einem
„relativen Recht“, im Beispiel des Eigentumsrechts von einem „absoluten Recht“.
Diese Begriffsbildung ist aber insofern nicht sehr glücklich, als „ja auch die
sogenannten absoluten Rechte nur relativ sind, weil sie nur in der Relation der
Vielen zu dem Einen bestehen“180.
Dem Verhalten des verpflichteten Individuums steht das – korrespondierende - Verhalten des berechtigten Individuums gegenüber. Der Inhalt der Pflicht bestimmt – auch - das Verhalten des berechtigten Individuums. „Das heißt: das dem
verpflichteten Verhalten korrespondierende Verhalten des Individuums, dem
gegenüber die Pflicht besteht, ist in dem Verhalten schon mitbestimmt, das den
Inhalt der Pflicht bildet.“181 Es gibt eine wechselseitige Entsprechung von „Pflicht“
und „Recht“. Die von der „Traditionellen Theorie“ getätigte Annahme, dass das
subjektive Recht des berechtigten Individuums etwas von der Rechtspflicht des
177 Zum Begriff der „Rechtspflicht“ siehe oben. 178 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 ff. 179 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 180 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 137. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 181 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 132. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
44
verpflichteten Individuums Verschiedenes wäre, ist als falsch abzulehnen. Vielmehr
besteht eine Identität zwischen dem subjektiven Recht (in dem hier erörterten
Sinne) und der Rechtspflicht. „Bezeichnet man die Beziehung eines Individuums,
dem gegenüber ein anderes Individuum zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet
ist, zu diesem anderen Individuum als Recht, ist dieses Recht nur ein Reflex dieser
Pflicht.“182 Das subjektive Recht – in dem hier erörterten Sinne - ist damit als bloßer
Reflex einer Pflicht – als Reflexrecht - erkannt. Der Begriff des Reflexrechtes ist als
– rechtswissenschaftlicher - Hilfsbegriff zu verstehen, der die Darstellung des rechtlichen Sachverhalts erleichtern mag.183
Ist ein bestimmter Mensch nicht einem anderen Menschen gegenüber, sondern –
zum Beispiel - Tieren, Pflanzen oder leblosen Gegenständen gegenüber zu einem
bestimmter Verhalten verpflichtet, so nimmt die „Traditionelle Theorie“ keine
subjektiven Rechte oder Reflexrechte dieser Tiere, Pflanzen oder leblosen Gegenstände an. Aber das Argument, „die so geschützten Tiere, Pflanzen, leblosen
Gegenstände seien nicht Subjekte von Reflexrechten, weil diese Objekte keine
Personen seien, trifft nicht zu.“184 Die Meinung der „Traditionellen Theorie“, dass das
subjektive Recht etwas von der Rechtspflicht Verschiedenes – ein selbstständiger
Gegenstand der Rechtserkenntnis - wäre, beruht auf der von der „Reinen
Rechtslehre“ abgelehnten und bekämpften „Naturrechtslehre“.185
6.2.19.4 Das subjektive Recht als rechtlich geschütztes Interesse Die „Traditionelle Theorie“186 definiert das subjektive Recht als „rechtlich geschütztes
Interesse“ (=Interessentheorie). Diese Definition ist abzulehnen, weil sie einen – nicht zutreffenden - Dualismus zum Ausdruck bringt: Dem Recht in einem
objektiven Sinn wird das Recht in einem subjektiven Sinn gegenübergestellt. Eine
Gegenüberstellung, die einen unlösbaren Widerspruch in sich schließt.187 Der
Widerspruch eines Dualismus von Recht im objektiven und Recht im subjektiven Sinn lässt sich auch nicht durch das Eingeständnis einer Beziehung 182 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 132 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 183 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 133 f. 184 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 133 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 185 Zu den Begriffen „Naturrechtslehre“ und „Rechtspositivismus“ siehe oben. 186 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 187 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 137.
45
zwischen diesen beiden „Rechtsbereichen“ auflösen. Zum Beispiel dadurch, dass
gesagt wird, dass das Recht im subjektiven Sinne – das subjektive Recht - ein
Interesse sei, das vom objektiven Recht beschützt werde.188
1.2.19.5 Das subjektive Recht als Rechtsmacht
Die „Traditionelle Theorie“ definiert zwar das subjektive Recht einerseits als „rechtlich
geschütztes Interesse“189 (=Interessentheorie). Andererseits – und gleichzeitig -
definiert sie es aber auch als „Willensmacht“ (=Willenstheorie). Das Geheimnis
dieser beiden Definitionen oder Theorien ist, dass jeweils unterschiedliche
Gegenstände beschrieben werden. Die – widersprüchliche - Definition des
subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse“ bezieht sich auf ein Recht,
das als bloßes Reflexrecht mit der Rechtspflicht identisch ist. Zu denken ist –
zum Beispiel - an das subjektive Recht des Gläubigers, das keinen anderen Inhalt
hat als die Rechtspflicht des Schuldners. In diesem Fall besteht eine Identität zwischen dem subjektiven Recht und der Rechtspflicht. Ganz anders gelagert ist
jedoch jener rechtliche Sachverhalt, auf den sich die „Willenstheorie“ bezieht:
Ist die Durchsetzung einer Rechtspflicht – zum Beispiel eines Schuldners - von der Erhebung einer „Klage“ abhängig, so bedeutet dies, dass die
Rechtsverwirklichung an eine Bedingung geknüpft ist. Das rechtsanwendende
Organ kann eine bestimmte generelle Rechtsnorm nur anwenden (und damit die
entsprechende individuelle Rechtsnorm nur setzen), wenn das berechtigte
Individuum eine Klage erhebt und auf diese Weise das (Gerichts-)Verfahren in
Bewegung setzt. Dies wiederum bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, dass die
Verwirklichung des objektiven Rechts in die Hände einer bestimmten –
berechtigten - Person gelegt ist. Die Rechtsordnung verleiht – der berechtigten
Person - eine echte Rechtsmacht. Eine Rechtsmacht, die darin besteht, die
Nichterfüllung einer Pflicht durch Klage geltend zu machen. Das „subjektive
Recht“ des Gläubigers auf Erfüllung der Pflicht durch den Schuldner ist ein bloßes Reflexrecht. Sein Inhalt ist mit dem Inhalt der Rechtspflicht identisch. Hingegen ist
das subjektive Recht des Gläubigers, die Nichterfüllung der schuldnerischen Pflicht
188 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 138 f. 189 Zu der –von der „Reinen Rechtslehre vehement abgelehnten- Definition des subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse“ siehe oben.
46
durch Klage geltend zu machen, nicht mit der Rechtspflicht des Schuldners
identisch. Das damit angesprochene subjektive Recht stellt einen anderen rechtlichen Sachverhalt dar. Der Begriff des Reflexrechtes vermag diesen
Sachverhalt nicht erschöpfend zu beschreiben. Wird einer bestimmten – berechtigten
- Person das Recht oder die Rechtsmacht verliehen, die Nichterfüllung einer Pflicht durch Klage geltend zu machen, macht es Sinn, den Begriff des
„subjektiven Rechts“ zu verwenden. Die „Reine Rechtslehre“ spricht in diesem
Zusammenhang – um begriffliche Verwirrungen zu vermeiden - von einem
„subjektiven Recht im technischen Sinne“.190 „Denn das wesentliche Moment ist
die dem letzteren von der Rechtsordnung verliehene Rechtsmacht, die
Nichterfüllung der Pflicht des ersteren durch Klage geltend zu machen.“191
Das subjektive Recht – verstanden als Rechtsmacht - steht dem objektiven Recht
nicht als etwas von ihm Unabhängiges gegenüber. Diesbezügliche Annahmen der
„Traditionellen Theorie“ sind als falsch abzulehnen. Vielmehr ist das subjektive Recht – so wie die Rechtspflicht - eine Rechtsnorm192. Es ist eine besondere
Rechtsnorm – eine ermächtigende Rechtsnorm - mit einem besonderen Inhalt:
Einem bestimmten Menschen – dem berechtigten Individuum - wird eine spezifische Rechtsmacht verliehen. Es wird ihm die Rechtsmacht verliehen, die Nichterfüllung
einer Pflicht durch Klage geltend zu machen. Die Rechtsmacht, ein (Gerichts-) Verfahren in Bewegung zu setzen und eine (Gerichts-)Entscheidung zu
erzwingen.193
Auch ist die Meinung der „Traditionellen Theorie“ verfehlt, die Statuierung von
subjektiven Rechten, von subjektiven Rechten im technischen Sinne, wäre – so
wie die Statuierung von Rechtspflichten - eine wesentliche Funktion des objektiven
Rechts. Vielmehr ist die Statuierung von subjektiven Rechten und damit die Verleihung einer Rechtsmacht nur eine mögliche, keine in inhaltlicher Hinsicht
notwendige Gestaltung des objektiven Rechts. Subjektive Rechte stellen (nur) eine bestimmte Technik dar, deren sich das Recht bedienen kann, aber nicht bedienen
muss. Es ist zweifellos kein Zufall, dass in kapitalistischen Rechtsordnungen
190 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 139 ff. 191 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 139 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 192 Zum Begriff und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 193 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 140 f.
47
regelmäßig subjektive Rechte zu finden sind. Die Erklärung liegt darin, dass eine
kapitalistische Rechtsordnung die Institution des Privateigentums garantieren und
ganz allgemein das Individualinteresse besonders berücksichtigen will.194
1.2.19.6 Das subjektive Recht als ein politisches Recht
Ein politisches Recht wird von der „Traditionellen Theorie“ definiert als die Befugnis, an der Bildung des Staatswillens teilzunehmen. Die „Reine Rechtslehre“ macht in
ihren vielfältigen Untersuchungen deutlich, dass mit dem Ausdruck „Staatswille“
letztlich nichts anders als die – auf diese Weise personifizierte - Rechtsordnung
gemeint ist und gemeint sein kann. Der Staatswille ist die Rechtsordnung. Für die
Definition des politischen Rechts bedeutet dies, dass es als Befugnis verstanden
werden kann, an der Erzeugung der Rechtsordnung mitzuwirken. Diese
Mitwirkung kann unmittelbar und direkt, aber auch mittelbar und indirekt erfolgen.
Eine Rechtsordnung besteht aus sehr vielen – sehr unterschiedlichen - Normen und
Normarten. Unter anderem besteht sie aus generellen und individuellen Normen.195
Der Begriff des politischen Rechts wird grundsätzlich – in einem engeren Sinn, wenn
man so möchte - nur dann verwendet, wenn einem bestimmten Menschen die
Rechtsmacht verliehen ist, an der Erzeugung von generellen Rechtsnormen
mitzuwirken. Ist einem Menschen bloß die Rechtsmacht verliehen, an der Erzeugung einer individuellen Rechtsnorm mitzuwirken (zu denken ist an die
Rechtsmacht der Einbringung einer Klage),196 wird nicht von einem politischen Recht
gesprochen. Dieser – letztlich nicht konsequente - Sprachgebrauch ändert aber
nichts daran, dass auch die Mitwirkung an der Erzeugung einer individuellen Rechtsnorm (zum Beispiel die Mitwirkung an der Erzeugung eines Gerichtsurteils)
insofern eine Teilnahme an der Bildung des Staatswillens ist, als dieser
Staatswille - und damit die Rechtsordnung - nicht nur aus generellen, sondern vor
allem auch aus individuellen Rechtsnormen besteht. In diesem – weiteren - Sinn ist
auch das subjektive Privatrecht oder das Recht, eine Klage einzubringen, ein
politisches Recht.197
194 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 141. 195 Zu der begrifflichen Unterscheidung zwischen „generellen“ und „individuellen Normen“ siehe oben. 196 Zu der Definition des „subjektiven Rechts“ als Rechtsmacht, die Nichterfüllung einer Pflicht geltend zu machen (zum Beispiel durch Einbringung einer Klage), siehe oben. 197 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 f.
48
Die Beteiligung der Normunterworfenen an der Gesetzgebung – an der Erzeugung
von generellen Rechtsnormen - ist ein wesentliches Merkmal der demokratischen Staatsform. Demgegenüber kennt eine autokratische Staatsform eine solche
Beteiligung nicht. Hat der Einzelne das Recht, an einer gesetzgebenden
Versammlung des Volkes teilzunehmen, um in dieser Versammlung Reden zu halten
und über Gesetzesvorschläge abzustimmen, wird von einer direkten oder
unmittelbaren Demokratie gesprochen. Im antiken Stadtstaat hat es zu bestimmten
Zeiten eine – auf Männer und Freie eingeschränkte - direkte oder unmittelbare
Demokratie gegeben. Im heutigen (Flächen-)Staat sprechen wir hingegen von einer
indirekten oder mittelbaren Demokratie. Damit ist gemeint, dass der Prozess der staatlichen Willensbildung (die Erzeugung von generellen Rechtsnormen) in zwei
Stadien zerfällt: Zunächst wählen die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft – die
Rechtsunterworfenen - eine gesetzgebende Körperschaft. Sie wählen ein Parlament. In der Folge werden die Gesetze (die generellen Rechtsnormen) von den
Mitgliedern des Parlaments diskutiert und beschlossen.198
Zu den politischen Rechten werden auch die im Verfassungsrang stehenden
sogenannten „Grundrechte“ gezählt. Sie zielen fast immer auf die Verwirklichung
eines größtmöglichen Maßes an „Gleichheit“ und „Freiheit“. Einschränkend muss
angemerkt werden, dass die Begriffe „Gleichheit“ und „Freiheit“ in ihrer Allgemeinheit
– zunächst - bloße Leerformeln darstellen, die der – rechtlichen - Konkretisierung
bedürfen. Wichtige Grundrechte sind der Gleichheitssatz, die Unverletzlichkeit des
Eigentums, die Persönliche Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die
Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Kunstfreiheit oder die Wissenschaftsfreiheit.
Die „Reine Rechtslehre“ analysiert Natur und Wesen der Grundrechte und kommt
zu – überraschenden - Ergebnissen: Sie liefert die Erkenntnis, dass die verfassungsrechtliche Garantie eines Grundrechtes an sich noch kein
subjektives Recht verleiht. Ein Grundrecht ist weder ein bloßes Reflexrecht noch ein subjektives Privatrecht im technischen Sinn. Es gibt keine Rechtspflicht eines
bestimmten Menschen (zum Beispiel eines Schuldners), mit dem ein Grundrecht
identisch wäre. Auch stellt ein Grundrecht kein Recht dar, mit dem die Nichterfüllung
einer Rechtspflicht durch Klage geltend gemacht werden könnte.199
198 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143. 199 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff.
49
Unter einem Grundrecht ist eine verfassungsrechtliche Norm zu verstehen, die
den Inhalt von künftig zu erlassenden Gesetzen in (bloß) negativer Hinsicht festlegt und beschränkt. Gleichzeitig mit dieser materiellen Verfassungsnorm (dem
Grundrecht) wird eine formelle Verfassungsnorm geschaffen, die ein Verfahren zur Vernichtung eines grundrechtswidrigen Gesetzes vorsieht. Wird ein Grundrecht
durch einen individuellen Rechtsakt verletzt, zum Beispiel durch einen
Verwaltungsakt oder durch eine Gerichtsentscheidung, so stellt diese
Verfassungsverletzung insofern keine Besonderheit dar, als ein individueller Rechtsakt auch bereits dann aufgehoben und vernichtet werden kann, wenn er
ohne jede gesetzliche Grundlage gesetzt worden ist.200
Die „Reine Rechtslehre“ analysiert das Grundrecht der Gleichheit – den sogenannten
„Gleichheitssatz“ - und kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Begriff der Gleichheit
entweder eine „Gleichheit im Gesetz“ oder eine „Gleichheit vor dem Gesetz“ gemeint ist:
Ist eine „Gleichheit im Gesetz“ gemeint, so versteht es sich zunächst von selbst, dass
eine Verfassung nicht vorschreiben kann, der Gesetzgeber müsse in den von ihm zu
erlassenden Gesetzen alle Menschen in jeder Hinsicht völlig gleich behandeln.201
„Eine solche Gleichheit kann nicht gemeint sein, da es absurd wäre, ohne
irgendwelche Unterschiede ……………. allen Individuen die gleichen Pflichten aufzuerlegen und die gleichen Rechte zu verleihen.“202 Verlangt die Verfassung
vom Gesetzgeber eine „Gleichheit im Gesetz“, so bedeutet dies, dass
Unterscheidungen sehr wohl gemacht werden dürfen und auch gemacht werden
müssen, dass aber ganz bestimmte Unterscheidungen – in bestimmten
Zusammenhängen - nicht erlaubt sind. Die Verfassung listet einen Katalog von verbotenen Kriterien der Unterscheidung auf. Sie legt – zum Beispiel - fest, dass
auf Grund der Hautfarbe, der Rasse, des Geschlechtes, des Alters, des Vermögens,
der Religion, der Weltanschauung oder der Parteizugehörigkeit – in bestimmten
Zusammenhängen - keine Unterscheidungen gemacht werden dürfen.203
Enthält die Verfassung demgegenüber bloß eine allgemein gehaltene Formel, die
allen Individuen eine umfassende Gleichheit verspricht, erklärt sie somit nicht
200 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff. 201 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 145 f. 202 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 146. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 203 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff.
50
bestimmte Unterscheidungen für unzulässig und listet sie auch keinen Katalog von
verbotenen Kriterien der Unterscheidung auf, „bedeutet diese verfassungsmäßig
garantierte Gleichheit kaum etwas anderes als Gleichheit vor dem Gesetz.“204
Wird von der Verfassung ein Grundrecht gewährt und gleichzeitig bestimmt, dass
dieses „Grundrecht“ nur insoweit als garantiert gilt, als es nicht durch Gesetze
eingeschränkt wird, liegt kein subjektives politisches Recht vor. Vielmehr weist die
„Reine Rechtslehre“ nach, dass es sich in diesem Falle um eine bloße Scheingarantie handelt.205
Ein echtes politisches subjektives Recht stellt ein Grundrecht nur dann dar,
„wenn die Rechtsordnung den Individuen, die durch ein verfassungswidriges Gesetz
betroffen sind, die Rechtsmacht verleiht, durch Antrag das Verfahren zu initiieren,
das zur Aufhebung des verfassungswidrigen Gesetzes führt.“206 Das subjektive
politische Recht stellt die Rechtsmacht dar, an der Erzeugung von Rechtsnormen mitzuwirken. Die erzeugten Normen können – ausschließlich - den Sinn haben,
andere Normen aufzuheben. Im Vergleich mit dem subjektiven Privatrecht im technischen Sinn fällt eine Gemeinsamkeit und ein Unterschied auf: In beiden
Fällen wird bestimmten, berechtigten Personen von der Rechtsordnung eine Rechtsmacht verliehen. Diese Rechtsmacht besteht – in beiden Fällen - darin, an der Erzeugung von Rechtsnormen mitzuwirken. Das subjektive politische Recht
dient jedoch – im Gegensatz zum subjektiven Privatrecht im technischen Sinn - nicht
der Geltendmachung der Nichterfüllung einer Rechtspflicht.207
1.2.20 Stellvertretung und Organschaft
Die „Reine Rechtslehre“ legt dar, dass die Begriffe der (gesetzlichen)
„Stellvertretung“ und der „Organschaft“ eine innere Verwandtschaft aufweisen: Beide
Begriffe beruhen auf einer „Zuschreibung“. Dies bedeutet: Sie stellen eine Fiktion,
eine bloße Gedankenoperation dar. Der Stellvertreter und das Organ – und nicht der
Handlungsunfähige und die Gemeinschaft - legen das rechtlich relevante Verhalten an den Tag.208 „Die vielfach erörterte Frage nach dem Unterschied
204 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 146. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 205 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 147. 206 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 148. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 207 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 148. 208 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 166.
51
zwischen Organschaft und Stellvertretung ist eine Frage der Zuschreibung.“209 Die
Fiktion der Zuschreibung, die eine Gedankenoperation der Rechtswissenschaft und keine Schöpfung des Rechts ist, führt dazu, dass der Handlungsunfähige als
handlungsfähig und die Gemeinschaft als handelnde Person angesehen werden.
Tatsächlich und in Wahrheit wird jedoch die von der Rechtsordnung bestimmte
Funktion vom Stellvertreter (und nicht vom Vertretenen) und vom Organ (und nicht
von der Gemeinschaft) geleistet. „Zuschreibung“ ist nicht verboten. Wichtig ist nur,
sich dessen bewusst zu sein, dass es sich dabei um eine gedankliche Operation –
und damit um eine Fiktion - handelt. Jeder rechtliche Sachverhalt, der in Form einer
– immer fiktiven - Zuschreibung dargestellt wird, lässt sich auch anders – ohne
Zuschreibung - darstellen.210
1.2.21 Rechtsnorm und Rechtssatz
Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht, das – unter anderem - als ein
„System von Normen“ definiert wird.211 Die Rechtswissenschaft richtet ihre
Erkenntnis auf „Rechtsnormen“212. Das menschliche Verhalten als solches ist kein
Gegenstand der Rechtswissenschaft. Es ist dann – und nur dann - von Bedeutung,
wenn es als Inhalt von Rechtsnormen in Erscheinung tritt. Die Aufgabe von
Rechtsnormen besteht darin, menschliches Verhalten zu regeln. Dieses wird – durch
die Struktur der Rechtsnorm - als Bedingung oder als Folge bestimmt. Die
Rechtswissenschaft beschäftigt sich sehr wohl – und das sogar in einem besonders
starken Maße - mit menschlichem Verhalten. Doch handelt es sich dabei
ausschließlich um ein Verhalten, das von Rechtsnormen bestimmt ist. Nur die
Rechtsnormen und deren Inhalt stellen den Erkenntnisgegenstand der
Rechtswissenschaft dar. Verlässt die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand,
indem sie ihn überschreitet und sie Aussagen jenseits des Rechts trifft, verlässt sie
sich selbst und verliert sie ihren Charakter als Wissenschaft.213
Die Rechtswissenschaft erkennt und beschreibt das Recht. Die Sätze, mit denen die
Rechtswissenschaft das Recht – und damit die Rechtsnormen - beschreibt, werden
209 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 193. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 210 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 166 ff. 211 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 212 Zum Begriff und zu der Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 213 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 72 ff.
52
als „Rechtssätze“ bezeichnet. Anders gewendet: Die von einer Rechtsautorität
geschaffenen Rechtsnormen werden von der Rechtswissenschaft und deren
Rechtssätzen beschrieben. Rechtssätze stellen eine Beschreibung, Rechtsnormen
eine Vorschreibung dar. Rechtssätze sind hypothetische Urteile über eine
bestimmte Rechtsordnung und deren Rechtsnormen. Sie sagen aus, dass unter
bestimmten Bedingungen bestimmte Folgen eintreten sollen. Diese Urteile können –
als Aussagen über einen Gegenstand - wahr oder falsch sein. Rechtsnormen
hingegen können nur gelten214 oder nicht gelten. Sie können nicht wahr oder falsch
sein.215
Die Funktion der Rechtswissenschaft besteht in der Erkenntnis und der
Beschreibung des Rechts. Die Rechtswissenschaft besitzt Erkenntnisfunktion. Die
Funktion der Rechtsautorität besteht in der Schaffung und Erzeugung des Rechts.
Die Rechtsautorität besitzt Willensfunktion. Es ist für die „Reine Rechtslehre“ von
großer Bedeutung, dass zwischen „Recht“ und „Rechtswissenschaft“ streng unterschieden wird. Sie lehnt eine Vermengung dieser beiden Begriffe als
unzulässig ab. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen der „Rechtswissenschaft“ und
dem „Recht“ als ihrem Gegenstand besteht darin, dass auch die beschreibenden
wissenschaftlichen Sätze der Rechtswissenschaft – die „Rechtssätze“ - Sollsätze
sind. Die Rechtssätze sind deswegen Sollsätze, weil sie Sollnormen beschreiben.
So wäre es – zum Beispiel - falsch zu sagen, dass nach einer bestimmten
Rechtsnorm ein Mensch, der einen Diebstahl begeht, mit Gefängnis bestraft wird. Es
ist nicht klar, ob der Diebstahl tatsächlich aufgeklärt wird und der Dieb daher bestraft
werden kann. Richtig ist es zu sagen, dass nach einer bestimmten Rechtsnorm ein
Mensch, der einen Diebstahl begeht, mit Gefängnis bestraft werden soll. Eine
Aussage, die davon spricht, dass etwas sein wird, besitzt einen völlig anderen
Inhalt als eine Aussage, die davon spricht, dass etwas sein soll.216 Auch ein
Rechtssatz ist – so wie die Rechtsnorm - ein Sollsatz. Zu beachten ist jedoch, dass
das Sollen des Rechtssatzes nicht wie das Sollen der Rechtsnorm einen
vorschreibenden, sondern bloß einen beschreibenden Sinn hat.217
214 Zum Begriff der „Geltung“ siehe oben. 215 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 73 ff. 216 Zu der – zwingend notwendigen - Unterscheidung zwischen einem „Sein“ und einem „Sollen“ siehe oben. 217 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75 ff.
53
Der Sprachgebrauch identifiziert – wogegen sich die „Reine Rechtslehre“ heftig
wendet - das Recht mit der sie beschreibenden Rechtswissenschaft. Dasselbe
geschieht mit den Begriffen „Moral“218 und „Ethik“: Die Moral als normative Ordnung
wird mit der sie beschreibenden Wissenschaft – der „Ethik“ - gleichgesetzt. Derartige
Identifizierungen und Vermengungen sind als unzulässig abzulehnen. „Der Ethiker ist
nicht die moralische Autorität, die die Normen setzt, die er in Sollsätzen
beschreibt.“219 Denkbar ist nur, dass er sich eine solche Autorität anmaßt. Macht er
dies, nimmt er sich das Recht heraus, die moralischen Vorschriften, die er bloß erkennen und beschreiben soll, selbst zu setzen, so „überschreitet er seine
Kompetenz als Repräsentant einer Wissenschaft und setzt sich der Frage aus, was
ihn zur Setzung von Moralnormen ermächtigt; eine Frage, auf die er kaum eine
hinreichende Antwort zu geben vermag.“220
Aufgabe der Rechtsautorität ist es, das Recht zu schaffen. Es zu erzeugen. Das
Recht stellt ein System von Normen dar. Die Rechtsautorität hat die Normen zu
erzeugen, die ein System und damit eine Ordnung – die Rechtsordnung - bilden.
Normen zu erzeugen bedeutet, bestimmte – intentional auf das Verhalten eines
anderen gerichtete - Willensakte zu setzen, deren subjektiver und objektiver Sinn ein Sollen und damit eine Norm ist. Unter dem „rechtlichen Sollen“ wird vor allem ein
Gebieten, aber auch ein Ermächtigen und ein positives Erlauben verstanden.221 Die
Rechtswissenschaft hat demgegenüber nicht – so wie die Rechtsautorität - das
Recht zu schaffen. Es zu erzeugen. Die Rechtswissenschaft hat das Recht zu erkennen und zu beschreiben. Gleichzeitig bleibt jedoch „richtig, dass, im Sinne
der Kantschen Erkenntnistheorie, die Rechtswissenschaft als Erkenntnis des Rechts,
so wie alle Erkenntnis, konstitutiven Charakter hat und daher ihren Gegenstand
insofern erzeugt, als sie ihn als ein sinnvolles Ganzes begreift.“222
Die von Kelsen unter Bezugnahme auf Kant223 angesprochene „Erzeugung des
Wissenschaftsgegenstandes durch die Wissenschaft“ besitzt – ausschließlich -
erkenntnistheoretischen Charakter. Diese Form der „Erzeugung“ darf nicht mit dem –
218 Zum Begriff der „Moral“ und zur Abgrenzung des „Rechts“ von der „Moral“ siehe unten. 219 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 220 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 221 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4 ff. 222 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 74. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 223 Immanuel Kant: *1724 Königsberg, †1804 Königsberg. Deutscher Philosoph.
54
vertrauten und üblichen - Begriff der Erzeugung verwechselt werden, der eine
tatsächliche Hervorbringung meint. Es wäre ein schwerer gedanklicher Fehler,
eine erkenntnistheoretische „Erzeugung“ mit einer tatsächlichen Erzeugung – zum
Beispiel von Gegenständen durch menschliche Arbeit oder von Rechtsnormen durch
die Rechtsautorität - zu verwechseln.224
1.2.22 Kausalität und Zurechnung Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur. Gegenstand der
Rechtswissenschaft ist das Recht. Unter dem Begriff „Natur“ wird ein System von
Elementen verstanden, die miteinander als Ursache und Wirkung verknüpft sind.
Das Ordnungsprinzip, das natürliche Elemente miteinander als Ursache und
Wirkung verknüpft, wird als „Kausalität“ bezeichnet. Die sogenannten
„Naturgesetze“, mit denen die Naturwissenschaft ihren Gegenstand – die Natur -
beschreibt, stellen Anwendungen des Ordnungsprinzips der Kausalität dar.225
Das Recht ist keine Natur. Es ist eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens.
Das Recht stellt ein System von Normen dar, die das gegenseitige Verhalten der
Menschen regeln.226 Die Naturwissenschaft erkennt und beschreibt ihren
Gegenstand – die Natur - nach dem Prinzip der Kausalität. Für die Beschreibung des Rechts durch die Rechtswissenschaft ist jedoch das Ordnungsprinzip der
Kausalität nicht geeignet. Es würde zu falschen Aussagen führen. Die
Rechtswissenschaft findet ihr Prinzip, mit dem sie den Gegenstand des Rechts
beschreiben kann, im Begriff der „Zurechnung“: Das Ordnungsprinzip der Zurechnung, mit dem die Rechtswissenschaft – in ihren Rechtssätzen227 - das
Recht beschreibt, ist – aber nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt - dem Prinzip
der Kausalität analog. „Die Analogie besteht darin, dass das in Rede stehende
Prinzip in den Rechtssätzen eine ganz ähnliche Funktion hat wie das
Kausalitätsprinzip in den Naturgesetzen, mit denen die Naturwissenschaft ihren
Gegenstand beschreibt.“228 Das Prinzip der Zurechnung ist dem Kausalitätsprinzip
insofern ähnlich, als im Rechtssatz nicht anders als im Naturgesetz zwei Elemente
224 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 74 ff. 225 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 78 f. 226 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 227 Zum Begriff des „Rechtssatzes“ siehe oben. 228 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
55
miteinander verknüpft werden. „Aber die Verknüpfung, die im Rechtssatz zum
Ausdruck kommt, hat eine völlig andere Bedeutung als jene, die das Naturgesetz
beschreibt: die Kausalität.“229
Die Gemeinsamkeit zwischen Kausalität und Zurechnung liegt darin, dass beide
Begriffe eine Verknüpfung von Elementen zum Ausdruck bringen. Die Bedeutung
der Verknüpfung der Elemente im Rechtssatz ist jedoch verschieden von der
Bedeutung der Verknüpfung der Elemente im Naturgesetz. Im Rechtssatz wird ein
Element nicht als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. „Im Rechtssatz wird
nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, dass, wenn A ist, B ist, sondern, dass, wenn A
ist, B sein soll, auch wenn B vielleicht tatsächlich nicht ist.“230 Verknüpft wird im
Recht – zum Beispiel - das Verbrechen mit der Strafe, das Zivildelikt mit der
Zwangsvollstreckung, die ansteckende Krankheit mit der Internierung des Kranken.
Dabei wird nicht – definitiv nicht - ein Element als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. Es findet keine naturwissenschaftliche oder kausale
Verknüpfung statt. Vielmehr kommt das Prinzip der Zurechnung zur Anwendung. Der
Rechtssatz allgemein formuliert lautet:
Unter bestimmten – von der Rechtsordnung bestimmten - Bedingungen soll ein
Zwangsakt als Folge – ein von der Rechtsordnung bestimmter Zwangsakt - gesetzt
werden.231
1.2.23 Recht und Moral
Das Recht wird als ein System von Normen definiert und damit von der Natur
abgegrenzt. Neben den Rechtsnormen gibt es auch andere Normen, die das gegenseitige Verhalten der Menschen regeln. Es sind Normen, die unter dem
Begriff der „Moral“ zusammengefasst werden. Rechtsnormen und Moralnormen sind
soziale Normen. Im Vordergrund steht die Regelung des Verhaltens der Menschen
anderen Menschen gegenüber. Das Verhalten eines Menschen sich selbst
gegenüber ist von nachrangiger Bedeutung. Unter „Normen“232 sind „Sinngehalte“
229 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 230 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 231 Zur Definition und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 232 Zum Begriff und zur Struktur der „Norm“ siehe oben.
56
zu verstehen. Rechtsnormen stellen den Sinn der das Recht setzenden,
Moralnormen den Sinn der die Moral setzenden Akte dar. Die Wissenschaft vom
Recht wird als Rechtswissenschaft, die Wissenschaft von der Moral als Ethik
bezeichnet.233 Die „Reine Rechtslehre“ legt vor dem Hintergrund ihres Strebens nach methodischer Klarheit auf bestimmte Unterscheidungen sehr großen Wert:
Zunächst ist wichtig, dass wissenschaftliche Gegenstände – wie die Natur, das
Recht, die Moral - nicht mit den sie erkennenden und beschreibenden
Wissenschaften – wie der Naturwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Ethik -
verwechselt werden. Mindestens ebenso wichtig ist die Abgrenzung der
Wissenschaftsgegenstände untereinander. Die Trennung des Rechts von der Moral ist der „Reinen Rechtslehre“ ein besonderes Anliegen. Die
Rechtswissenschaft und die Ethik sind keine Tatsachenwissenschaften und keine
Kausalwissenschaften. Sie sind Norm-Wissenschaften, weil sie Soll-Normen als Sinngehalte und keine Seinstatsachen zum Gegenstand haben. Gleichzeitig können
sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Ethik als empirische Wissenschaften
bezeichnet werden.234
Das Recht und die Moral – oder die Rechtsnormen und die Moralnormen - weisen
sehr viele Gemeinsamkeiten auf. Dennoch – oder gerade deswegen - ist eine
Abgrenzung des Rechts von der Moral unerlässlich. Das gilt auch für das Verhältnis
zwischen Recht und „Gerechtigkeit“235. Der Begriff der Gerechtigkeit stellt im
Verhältnis zur Moral einen Unterbegriff dar. Die Gerechtigkeit ist ein besonderer
Anwendungsfall der Moral. Gerechtigkeit ist – wenn man so möchte - Moral im
engeren Sinn.236 „Insofern Gerechtigkeit eine Forderung der Moral ist, ist in dem
Verhältnis von Moral und Recht das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht
inbegriffen.“237
Das Kriterium der – zwingend notwendigen - Unterscheidung zwischen Recht und
Moral kann ausschließlich in der Antwort auf die Frage erkannt werden, wie, auf welch eine Art und Weise den Menschen ein Verhalten vorgeschrieben, geboten
233 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 ff. 234 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 f. 235 Zum Begriff der „Gerechtigkeit“ siehe unten. 236 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 ff. 237 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
57
und verboten wird. Die Antwort auf die Frage, was geregelt, vorgeschrieben, geboten
und verboten wird, kann hingegen kein taugliches Abgrenzungskriterium sein. In
beiden sozialen Ordnungen, im Recht und in der Moral, sind alle nur denkbaren Regelungsinhalte zu finden. Auch ist die Meinung der „Traditionellen Theorie“ nicht
richtig, dass das Recht ein äußeres und die Moral (bloß) ein inneres Verhalten
vorschreiben würde. So kann – zum Beispiel - Selbstmord nicht nur von einer
Moralordnung, sondern auch von einer Rechtsordnung verboten sein.
Die berühmte Unterscheidung von Kant zwischen „Legalität“ und „Moralität“,
die in der „Reinen Rechtslehre“ ausführlich erörtert wird238, beruht auf dem
Gedanken, dass das Recht eine Regelung äußeren Verhaltens und die Moral eine
Regelung inneren Verhaltens – des Motivs eines Verhaltens - wäre. Die „Reine
Rechtslehre“ lehnt den Gedanken von Kant ab. Auch unterstützt sie nicht die
Unterscheidung von Kant zwischen einer Handlung, die „aus Pflicht“ und einer
Handlung, die (bloß) „aus Neigung“ gesetzt wird. Unter einer Handlung aus Pflicht versteht Kant eine Handlung, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz erfolgt. Eine
Handlung (bloß) aus Neigung definiert er als eine Handlung, die deswegen gesetzt
wird, weil der Handelnde bei Vornahme seiner Handlung ein inneres Vergnügen
empfindet. Die „Reine Rechtslehre“ weist in Auseinandersetzung mit Kant darauf hin,
dass eine Handlung aus Pflicht insofern auch eine Handlung aus Neigung sein
kann, als es durchaus ein „inneres Vergnügen“ bereiten kann, in Übereinstimmung
mit dem Gesetz zu handeln. Die Frage nach dem Motiv erkennt die „Reine
Rechtslehre“ als eine psychologische Frage.239 Damit ist nachgewiesen, dass die
Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Handlung ein inneres Vergnügen bereitet
oder nicht, kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen Recht und Moral
darstellen kann. Aber auch in Bezug auf ihre Erzeugung lassen sich Rechtsnormen
und Moralnormen nicht deutlich voneinander unterscheiden. „So wie die Normen des
Rechts werden auch die Normen der Moral durch Gewohnheit und bewusste
Satzung (etwa seitens eines Propheten oder Religionsstifters wie Jesus) erzeugt.“240
Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Recht und Moral findet sich nicht in
der Antwort auf die Frage, was den Menschen in inhaltlicher Hinsicht durch eine
238 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 63 f. 239 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 63 f. 240 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
58
soziale Ordnung vorgeschrieben wird. Das Kriterium der Unterscheidung zwischen
Recht und Moral findet sich nicht in einem Was. Es findet sich in einem Wie. Es
findet sich in der Antwort auf die Frage, wie, auf welch eine Art und Weise den
Menschen das vorgeschrieben wird, was ihnen – in inhaltlicher Hinsicht -
vorgeschrieben wird. Die Unterscheidung zwischen Recht und Moral ist eine Frage
nach den Mitteln der Durchsetzung der Normen.241
Eine klare und verlässliche – und dringend gebotene - Trennung einer positiven
Rechtsordnung von einer positiven Moralordnung ist nur möglich, wenn die
Wissenschaft „das Recht als Zwangsordnung, das heißt als eine normative
Ordnung begreift, die …. einen gesellschaftlich organisierten Zwangsakt knüpft,
während die Moral eine gesellschaftliche Ordnung ist, die keine solchen Sanktionen
statuiert;“242
Das Recht und die Moral stellen verschiedene Arten von Normensystemen dar.
Die Gerechtigkeit ist als Teil der Moral zu verstehen. Sie stellt im Verhältnis zur
Moral einen Unterbegriff dar. Beide Normensysteme bestehen insofern aus sozialen Normen, als sie das Verhalten von Menschen gegenüber anderen Menschen
regeln. Die in der Rechtswissenschaft und Rechtstheorie heftig umstrittene Frage
nach dem Verhältnis von Recht und Moral – und damit gleichzeitig auch die Frage
nach Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit - beantwortet die „Reine Rechtslehre“
sehr eindeutig: Sie bekennt sich zur sogenannten „Trennungsthese“, die besagt,
dass das Recht von der Moral möglichst scharf abzugrenzen ist. Die „Reine
Rechtslehre“ legt sehr großen Wert darauf, dass das Recht ohne Bezugnahme auf die Moral definiert wird. In die Definition des Rechtsbegriffs243 darf kein Element
eines moralischen Inhalts aufgenommen werden. Der Grund für die aus der Sicht der
„Reinen Rechtslehre“ zwingend notwendige Trennung des Rechts von der Moral liegt darin, dass es eine absolute Moral, die zu allen Zeiten und an allen Orten
gelten würde, nicht gibt.244 Vielmehr gibt es nur eine relative Moral. Es gibt nur –
wenn man so möchte - viele verschiedene Moralen. Es gibt „nicht nur eine einzige
Moral, die Moral, sondern viele, von einander höchst verschiedene und vielfach
einander widersprechende Moralsysteme.“245 Gibt es aber viele verschiedene
241 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64. 242 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 243 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 244 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff. 245 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
59
Moralsysteme und damit keine absolute, sondern bloß eine relative Moral, kann es
auch keinen absoluten Maßstab für die Bewertung einer positiven Rechtsordnung
geben. Damit ist die von der „Traditionellen Theorie“ vertretene Auffassung widerlegt,
„dass das Recht seinem Wesen nach moralisch sein müsse, dass eine
unmoralische gesellschaftliche Ordnung nicht Recht sei“246. Die Bestimmung des
Rechtsbegriffs unter Bezugnahme auf die Moral würde eine absolute Moral voraussetzen. Da es aber keine absolute, sondern bloß eine relative Moral gibt, ist
eine Aufnahme eines Elements der Moral in den Rechtsbegriff nicht möglich. Die
Behauptung der „Traditionellen Theorie“, dass das Recht seinem Wesen nach
moralisch sein müsse, ist als nicht konsequent zu Ende gedacht – und damit als
falsch - abzulehnen.247
Es ist eine gesellschaftliche und geschichtliche Wahrheit (die wegen ihrer
Offensichtlichkeit keines Beweises bedarf), dass „zu verschiedenen Zeiten, bei
verschiedenen Völkern und selbst bei demselben Volke innerhalb verschiedener
Stände, Klassen und Professionen sehr verschiedene und einander
widersprechende Moralsysteme gelten“248. Vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass es sehr viele und nicht selten einander widersprechende Moralsysteme gibt,
behauptet die „Traditionelle Theorie“249, dass die Moralnormen der verschiedenen
Moralsysteme „etwas enthalten müssen, das allen möglichen Moral- als
Gerechtigkeits-Systemen gemeinsam ist“250. Es wird argumentiert, dass es so etwas
wie ein „moralisches Minimum“ geben müsse und dass das Recht, wenn es als
Recht gelten und nicht als Nicht-Recht disqualifiziert werden wolle, auch diese
Minimalforderung der Moral erfüllen müsse. Nicht selten wird das Friedensideal als „moralisches Minimum“ und damit als eine – allen positiven Moralordnungen
gemeinsame - absolute Moral behauptet. Doch auch der Versuch der „Traditionellen
Theorie“, in den verschiedenen Moralsystemen einen als „moralisches Minimum“
bezeichneten gemeinsamen Inhalt zu finden, muss als gescheitert angesehen
werden.251
246 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 71. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 247 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff. 248 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 249 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 250 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 251 Vgl. Kelsen Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff.
60
„Angesichts der außerordentlichen Verschiedenheit dessen, was die Menschen
tatsächlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten für gut und böse,
gerecht und ungerecht halten, lässt sich aber kein den Inhalten der verschiedenen
Moralordnungen gemeinsames Element feststellen.“252 Insbesondere stellt das
Friedensideal keinen Inhalt dar, der allen Moralsystemen gemeinsam wäre. Es gibt
zahlreiche Moralsysteme, die sich für den Frieden und gegen den Krieg und die
Gewalt aussprechen. Doch gilt das nicht für alle Moralsysteme. Und exakt darauf
kommt es bei der Frage an, ob es eine absolute oder doch nur eine relative Moral gibt. Das Friedensideal stellt keine absolute – sondern nur eine relative - Moralnorm
dar. Es sind durchaus Moralnormen aufzufinden, die im Krieg einen sittlichen Wert erkennen, „weil er die Betätigung von Tugenden, die Verwirklichung von Idealen
ermöglicht, die höher stehen als die Werte des Friedens“253.
Die „Reine Rechtslehre“ verweist – als Beispiel - auf den berühmten Ausspruch von
Heraklit254, dass „der Krieg von allem der Vater und von allem der König“ sei. Die
Ethik von Heraklit stellt eine Art Naturrechtslehre dar: „Daraus, dass die Wirklichkeit
der Natur Krieg und Streit als ein allgemeines Phänomen aufweist, folgt, dass Krieg
und Streit gerecht sind.“255
Die Forderung nach einer Trennung des Rechts von der Moral – und damit auch
die Forderung nach einer Trennung des Rechts von der Gerechtigkeit - bedeutet
„nicht etwa, dass Recht mit Moral, Recht mit Gerechtigkeit nichts zu tun habe“256.
Vielmehr erkennt die „Reine Rechtslehre“ ausdrücklich an, dass eine positive
Rechtsordnung „den moralischen Anschauungen einer bestimmten, insbesondere
der herrschenden Gruppe oder Schichte innerhalb der ihr unterworfenen
Bevölkerung entsprechen kann und tatsächlich auch in der Regel entspricht,
zugleich aber den moralischen Anschauungen einer anderen Gruppe oder
Schichte widerspricht;“257
252 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 253 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 67. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 254 Heraklit: *550 v. Chr. Ephesos, †480 v. Chr. Ephesos. Griechischer Philosoph. 255 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66.(Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 256 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 68. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 257 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
61
Die „Reine Rechtslehre“ liefert die Erkenntnis, dass es keine absolute, sondern nur eine relative Moral gibt. Es ist aber – selbstverständlich - möglich, eine bestimmte
Rechtsordnung unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten. Es ist möglich zu
sagen, eine bestimmte Rechtsordnung – oder auch nur eine bestimmte Rechtsnorm -
sei moralisch. Oder zu sagen, sie sei unmoralisch. Eine moralische Bewertung einer
positiven Rechtsordnung ist möglich. Wichtig ist nur zu erkennen, dass für eine
solche Bewertung kein absoluter Maßstab zur Verfügung steht. Es steht nur ein
relativer Maßstab zur Verfügung.258 „Jedes Moralsystem kann als ein solcher
Maßstab dienen.“259
Eine bestimmte Rechtsordnung kann moralisch bewertet werden. Als Maßstab dafür
kann jede auffindbare – immer bloß relativ gültige und relativ verbindliche -
Moralordnung dienen. Doch ist es nicht die Aufgabe der Rechtswissenschaft, eine
derartige moralische Bewertung vorzunehmen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den
Wissenschaftsgegenstand – das positive Recht - zu erkennen und zu beschreiben.260
Die Funktion der Rechtswissenschaft ist „in keinem Sinne eine Wertung oder
Bewertung, sondern eine wertfreie Beschreibung ihres Gegenstandes.“261
258 Vgl. Kelsen Reine Rechtslehre2 (1960) 68 f. 259 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 69. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 260 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 69 f. 261 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
62
1.3 Wichtige Aufsätze über die „Reine Rechtslehre“
1.3.1 Rudolf Thinel, Wien:
„Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre“262
Am Beginn seiner Abhandlung über das Begriffspaar „Recht und Staat“ macht
Thienel deutlich, dass mit dem Begriff „Staat“ sehr Verschiedenes gemeint sein kann:
Es kann die gesamte Gesellschaft gemeint sein. Es können bestimmte Teile der
Gesellschaft gemeint sein. Es kann sogar nur – wenn vom „Staat Österreich“ oder
vom „Staat Italien“ gesprochen wird - eine bestimmte Landfläche gemeint sein.
Denkbar ist auch, dass mit dem Begriff „Staat“ jene „Staatsorgane“ bezeichnet
werden sollen, mit denen wir als Staatsbürger zu tun haben.263
In der Folge stellt Thienel den von der traditionellen Staats- und Rechtslehre
vertretenen Dualismus von Staat und Recht dar: Traditionell wird einem als „Staat“
bezeichneten sozialen Gebilde das „Recht“ als ein normatives Gebilde
gegenübergestellt. Der „Staat“ steht – als soziales Phänomen - hinter dem Recht. Er,
der „Staat“, wird als soziale Macht gedacht, die das „Recht“ mit Zwangsgewalt
durchsetzt. Üblich ist auch das Bild, dass eine bestimmte Rechtsordnung von einem
bestimmten Staat als faktische Macht „getragen“ wird.264
Die „Reine Rechtslehre“ lehnt den traditionellen Dualismus von „Staat und Recht“
vehement ab. Sie erkennt den Staat als normative Ordnungseinheit und damit als
Norm. Staat und Rechtsordnung sind ein und dasselbe. Ist die Identität von „Staat
und Recht“ erkannt, stellt sich die Frage nach einem wechselseitigen Verhältnis nicht
mehr.265
Die wissenschaftsgeschichtliche Frage, warum die traditionelle Staats- und
Rechtslehre einen Dualismus von Staat und Recht behauptet, lässt sich wie folgt
beantworten: Das menschliche Denken besitzt die Tendenz, abstrakte Gebilde zu
262 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992). 263 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 71. 264 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 72. 265 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 75 f.
63
personifizieren. Der Staat als Summe von Rechtsnormen wird als Einheit erfasst. In
weiterer Folge neigt das menschliche Denken dazu, die Personifikation eines
abstrakten Gebildes zu „hypostasieren“: Die unter einem Begriff
zusammengefassten Einzelgegenstände (die einzelnen Rechtsnormen) werden als
eigener, selbstständiger Gegenstand begriffen und einem Einzelgegenstand (einer
einzelnen Rechtsnorm) gegenübergestellt. Auf diese Weise wird der Gegenstand der Betrachtung verdoppelt.266
Für den traditionellen Dualismus von Staat und Recht gibt es aber auch einen
ideologischen Grund: Werden Staat und Recht einander als zwei verschiedene
Phänomene gegenübergestellt, ist es möglich, bestimmte Handlungen auch im Falle
ihrer Rechtswidrigkeit zu Staatsakten zu erklären. Auf diese Weise findet auch ein
rechtswidriger Akt – als Staatsakt - seine Rechtfertigung. Für ein ideologisches
Denken ist es – ganz im Gegensatz zu einem rechtswissenschaftlichen Denken -
problemlos möglich, von einem Staatshandeln selbst dann noch zu sprechen, wenn
es sich bei den zu deutenden Akten um ermächtigungslose Akte handelt und die
Grenzen rechtlicher Bindung längst überschritten sind.267
Staat und Recht sind identisch. Der Staat ist ein normatives Phänomen. Er ist kein –
wie die traditionelle Staats- und Rechtslehre meint - „soziales Gebilde“. Er ist auch
kein „reales Faktum“. Der Staat ist ausschließlich eine Rechtsordnung. Er besteht
aus Normen. Beschrieben werden diese Normen von der „normativen
Rechtswissenschaft“. Die Soziologie hingegen kann keine Normen beschreiben. Als
„erklärende Sozialwissenschaft“ ist es ihre Aufgabe, menschliche Handlungen – und
damit Fakten - zu beschreiben und zu erklären. Der Gegenstand der Soziologie
unterscheidet sich fundamental vom Gegenstand der (normativen)
Rechtswissenschaft. Auch Methoden und Zielsetzungen der beiden Wissenschaften
unterscheiden sich grundlegend.268
Es ist wichtig zu verstehen, dass eine „staatliche Handlung“ nicht sinnlich
wahrgenommen werden kann. Die „Staatsqualität“ einer Handlung ist immer das
Ergebnis eines – vorangehenden - Deutungsvorgangs: Bestimmte menschliche
266 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 75 f. 267 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 76. 268 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 77 f.
64
Handlungen, deren Realität als menschliche Handlungen unbestritten ist,
„verwandeln“ sich nur dadurch in Staatshandlungen, dass sie auf Grund einer
effektiven normativen Ordnung als „staatlich“ gedeutet werden.269
Das Problem des Staates ist ein Problem der Zurechnung. Der Staat ist nicht sinnlich
wahrnehmbar. Sichtbar und greifbar sind nur menschliche Handlungen. Zu
„staatlichen Handlungen“ werden (manche) menschliche Handlungen nur insofern,
als sie dem Phänomen „Staat“ – anhand einer Rechtsordnung - zugerechnet werden.
Der Staat ist immer nur die Personifikation einer Rechtsordnung. Wird ein
bestimmtes menschliches Verhalten dem „Staat“ zugerechnet, setzt dies eine
geltende Rechtsordnung voraus. Ohne eine Rechtsordnung – ohne ein juristisches
Kriterium - ist eine Zurechnung nicht möglich.270
Es ist ein folgenschwerer Fehler der traditionellen Staats- und Rechtslehre, das
abstrakte Gebilde „Staat“ zu hypostasieren und damit als ein „übermenschliches
Gebilde“ zu begreifen. Wird von „Rechten“ und „Pflichten“ gesprochen, so muss klar
sein, dass nur Menschen Rechte und Pflichten haben können. Der „Staat“, der eine
Rechtsordnung ist, kann keine Rechte und Pflichten haben: Staatliche Handlungen
sind immer menschliche Handlungen. Es existiert kein „übernatürliches Wesen
Staat“. Der Ausdruck, dass der Staat „Träger von Rechten und Pflichten“ sei, ist
daher missverständlich. Es gibt nur Menschen mit bestimmten Rechten und
Pflichten. Manche Menschen sind – und das ist ihre besondere Stellung - zur
Ausübung der Organfunktionen ermächtigt.271
Die traditionelle Staats- und Rechtslehre begreift den Staat als ein „soziales Gebilde“,
das – so nimmt sie an - aus den Elementen „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und
„Staatsgewalt“ bestehe. Eine Auffassung, die als verfehlt bezeichnet werden muss,
weil der „Staat“ – ausschließlich - eine Rechtsordnung darstellt:272
Das „Staatsgebiet“ ist nicht – wie die traditionelle Staats- und Rechtslehre meint -
eine geographische Einheit. Es kann nicht durch sinnliche Wahrnehmung geklärt
269 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 78. 270 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 78 f. 271 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 79 f. 272 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 81.
65
werden, ob ein bestimmtes Stück Land zu einem Staat gehört oder nicht. Vielmehr
lässt sich erst nach einer juristischen Betrachtung – einer Deutung anhand einer Rechtsordnung - sagen, wie weit ein bestimmtes Staatsgebiet reicht. Das
sogenannte „Staatsgebiet“ ist nichts anderes als der räumliche Geltungsbereich
einer staatlichen Rechtsordnung.273
Das „Staatsvolk“ ist – ebenso wie das „Staatsgebiet - nicht sinnlich wahrnehmbar.
Nur einzelne Menschen und Gruppen von Menschen können sinnlich
wahrgenommen werden. Die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Mensch zu
einem bestimmten „Staatsvolk“ gehört, setzt eine Deutung anhand einer Rechtsordnung voraus: Ob ein bestimmter Mensch – zum Beispiel - Österreicher
ist, ergibt sich nicht aus körperlichen oder geistigen Eigenschaften dieses Menschen.
Vielmehr entscheidet die österreichische Rechtsordnung, ob ein bestimmter Mensch
dem österreichischen „Staatsvolk“ angehört oder eben nicht angehört. Das
sogenannte „Staatsvolk“ ist damit nichts anderes als der persönliche Geltungsbereich einer staatlichen Rechtsordnung.274
Schließlich nimmt die traditionelle Staats- und Rechtslehre die „Staatsgewalt“ als
drittes und letztes Element des Staates an. Die „Staatsgewalt“ wird ihrerseits
untergliedert in die Unterformen „Legislative“, „Exekutive“ und „Judikative“. Die
traditionelle Vorstellung, dass die sogenannte „Staatsgewalt“ eine reale Macht sei,
die dem Staatsvolk gegenüber ausgeübt werde, ist verfehlt. Vielmehr ist die
„Staatsgewalt“ nichts anderes als die normative Geltung einer staatlichen Rechtsordnung. Zwang soll von den Organen dann – und nur dann - ausgeübt
werden, wenn die Rechtsordnung die Ausübung von Zwang gebietet. Die traditionelle
Auffassung, die „Gewalt des Staates“ bestünde in den faktischen
Zwangsmaßnahmen, die gegenüber den Rechtsunterworfenen gesetzt würden,
verkennt das wahre Wesen der „Staatsgewalt“. Sie, die sogenannte „Staatsgewalt“,
ist keine faktische Gewalt. Vielmehr stellt sie – ausschließlich - die Geltung einer staatlichen Rechtsordnung dar.275
273 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 81. 274 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 83. 275 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 85 f.
66
1.3.2 Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Wien:
„Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen“276 Kucsko-Stadlmayer zeigt, dass der Begriff der „Rechtsnorm“ für das Theoriegebäude
der „Reinen Rechtslehre“ ein Zentralbegriff ist. Kelsen definiere, so Kucsko-
Stadlmayer, den Begriff des Rechts als „Ordnung menschlichen Verhaltens“.
Gegenstand des Rechts sei das „menschliche Verhalten“. Wobei das Recht
menschliches Verhalten nur insoweit regeln würde, als es sich auf andere Menschen
beziehe. Damit stelle das Recht eine Gesellschaftsordnung dar.277
Eine Rechtsordnung stellt eine besondere Form einer Gesellschaftsordnung dar. Sie
ist eine Zwangsordnung: Damit ist gemeint, dass ein bestimmtes (sozial
erwünschtes) Verhalten insofern „geboten“ ist, als an das entgegengesetzte (sozial
unerwünschte) Verhalten ein Zwangsakt geknüpft wird. Das Zwangselement ist für
das Recht von sehr großer Bedeutung. Zu beachten ist, dass es bei der rechtlichen
Zwangsandrohung – im Gegensatz zur Drohung eines Straßenräubers - nicht um die
Aussage geht, dass Zwang ausgeübt werden wird. Vielmehr ist gemeint, dass – bei
Vorliegen der Voraussetzungen - Zwang ausgeübt werden soll. Das Recht beschreibt
kein Sein. Es beschreibt ein Sollen. Genauer: Das Recht stellt ein Sollen dar. Eine
strikte Unterscheidung zwischen einem „Sein“ und einem „Sollen“ ist in diesem
Zusammenhang unverzichtbar.278
Die „Reine Rechtslehre“ definiert das Recht als ein System von Rechtsnormen.
Rechtsnormen stellen ein Sollen dar. Doch ist nicht jedes Sollen ein „rechtliches
Sollen“: Der Befehl des Straßenräubers, den Beraubten niederzuschlagen, stellt
auch ein „Sollen“ dar. Bei diesem „räuberischen Sollen“ handelt es sich jedoch
insofern um kein „rechtliches Sollen“, als es nicht Teil einer Rechtsordnung ist. Das
„räuberische Sollen“ beruht auf keiner rechtlichen Ermächtigung. Es lässt sich nicht
auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zurückführen, der den einzelnen
Rechtsnormen ihre Geltung verleiht und sie zu einer Einheit – einer einheitlichen
276 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992). 277 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 21. 278 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 22 f.
67
Rechtsordnung - verbindet. Der gemeinsame Geltungsgrund aller Rechtnormen einer
Rechtsordnung wird von der „Reinen Rechtslehre“ als „Grundnorm“ bezeichnet.279
Die „Reine Rechtslehre“ unterscheidet, so Kucsko-Stadlmayer, 4 Arten von Rechtsnormen: Die „Zwangsnorm“ (die auch als „Verhaltensnorm“ oder als
„Gebotsnorm“ oder als „Verbotsnorm“ bezeichnet wird). Die „Ermächtigungsnorm“
(die sich ihrerseits in „Erzeugungsnorm“ und „Vollzugsnorm“ unterscheiden lässt).
Die „erlaubende Norm“ (gemeint ist die „positiv erlaubende Norm“). Und die
„derogierende Norm“. Die zentrale und herausragende Gestalt der Rechtsnorm ist
die „Zwangsnorm“. Alle anderen Normtypen sind auf die „Zwangsnorm“ bezogen und
insofern Teile einer „normativen Zwangsordnung“.280
Der spezifische Charakter der Zwangsnorm besteht in der Unentbehrlichkeit des
Zwangselements: Wer einen Diebstahl oder einen Mord begeht, soll bestraft werden.
Das sozialschädliche (sanktionsauslösende) Verhalten stellt eine Bedingung für den
Zwangsakt dar. Das rechtliche Gebot, nicht zu stehlen oder nicht zu morden, ist nach
dem Konzept der „Reinen Rechtslehre“ noch keine Norm. Einem bloßen
Verhaltensgebot fehlt das für die Rechtsnorm wesentliche Zwangselement. Der
primäre Adressat der Norm ist das sanktionsverhängende Organ. Und nicht der
Einzelne. Dieser ist bloß sekundärer oder indirekter Adressat. Der Inhalt der
Zwangsnorm lautet: Wenn der Einzelne ein normwidriges Verhalten setzt, dann soll
ein bestimmter Zwangsakt gegen ihn – durch das zuständige Organ - gesetzt
werden. Die Rechtsnorm als Zwangsnorm, die definitionsgemäß eine Sanktion
enthält, wird auch als „primäre Norm“ bezeichnet. Wohingegen unter dem Ausdruck
der „sekundären Norm“ das Gebotensein des sozial erwünschten
(sanktionsvermeidenden) Verhaltens zu verstehen ist. Das Gebotensein eines
bestimmten Verhaltens ist – bei dieser Betrachtung - bloß indirekte Folge des Inhalts
einer Zwangsnorm.281
279 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23. 280 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23 ff. 281 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23 ff.
68
In einer Rechtsordnung sind jedoch nicht alle Normen als Zwangsnormen formuliert.
Nicht jede Norm gebietet ein bestimmtes Verhalten des Normunterworfenen unter
Sanktionsdrohung. Vielmehr gibt es zum Beispiel (auch) Normen, die zur Erlassung
von Gesetzen ermächtigen. Oder Normen, die ein bestimmtes rechtliches Verfahren
näher regeln. Oder Normen, die organisationsrechtliche Bestimmungen treffen. Wie
aber, so ist nun zu fragen, lässt sich der Rechtsnormbegriff der „Reinen Rechtslehre“
mit einer Normart vereinbaren, die kein Zwangselement enthält? Die „Reine
Rechtslehre“ löst dieses Problem dadurch, dass sie zwischen allen Normen und
Normarten einer Rechtsordnung einen Zusammenhang herstellt. Normen ohne ein
Zwangselement gelten als „unselbstständige Normen“ und werden auf Normen mit
einem Zwangselement – auf „Zwangsnormen“ und damit auf „selbstständige
Normen“ - zurückgeführt. Eine Norm ohne eine Zwangsandrohung ist nach dem
Konzept der „Reinen Rechtslehre“ keine selbstständige Rechtsnorm.282
„Ermächtigungsnormen“ werden in die Unterformen „Erzeugungsnormen“ und
„Vollzugsnormen“ zerlegt. Sie gelten als „unselbstständige Normen“, da sie kein
Zwangselement enthalten. Dies bedeutet: Das gesamte Verfassungsrecht, das
Organisationsrecht und das Verfahrensrecht sind in die Formulierung der
Zwangsnorm miteinzubeziehen. Alle Normen und Normarten finden ihre Auflösung in
der Definition der Zwangsnorm. Die „Reine Rechtslehre“ begründet diese, wie sie
sagt, „dynamische Normformulierung“ mit dem Umstand, dass für die Verhängung der Sanktion einer Zwangsnorm nicht nur der Verstoß gegen diese Norm, sondern
auch die Geltung dieser Norm eine Voraussetzung darstellt. Dies wiederum
bedeutet im Endergebnis: Alle Regeln über die Erzeugung und Anwendung von
Zwangsnormen (und damit alle „Ermächtigungsnormen“) stellen Bedingungen der Geltung von Zwangsnormen dar und sind mit ihnen untrennbar verbunden.283
Die zentrale Normkategorie im Konzept der „Reinen Rechtslehre“ ist die
„Zwangsnorm“: Wenn eine in der Norm genannte Bedingung erfüllt ist, dann soll
der in der Norm genannte Zwangsakt gesetzt werden. Eine „Ermächtigungsnorm“
mit ihren beiden Unterformen der „Erzeugungsnorm“ und der „Vollzugsnorm“ gilt als
282 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 27 ff. 283 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 28 ff.
69
unselbstständige Norm. Sie entfaltet ihren normativen Sinn nur in Verbindung mit der
Zwangsnorm. Neben der Zwangsnorm und der Ermächtigungsnorm kennt die „Reine
Rechtslehre“ noch die beiden Normarten der „erlaubenden Norm“ und der
„derogierenden Norm“.284
Mit dem Begriff des „Erlaubt-Seins“ können zwei verschiedene rechtliche
Erscheinungen gemeint sein: Eine negative Erlaubnis meint, dass ein bestimmtes
Verhalten jedem Menschen freisteht, weil es ungeregelt ist. Es existiert keine
entsprechende Norm. Eine positive Erlaubnis meint, dass ein bestimmtes Verhalten
ausdrücklich – im Sinne einer Ausnahme - freigestellt wird, obwohl eine bestimmte
Verbotsnorm besteht. Rechtstechnisch gesehen wird bei einer positiven Erlaubnis
der Anwendungsbereich einer Norm eingeschränkt. Die „positiv erlaubende Norm“
als eigene Normkategorie zu begreifen, ist denkbar, aber nicht zwingend und auch
nicht wirklich nötig: Es handelt sich – in Wahrheit - um eine einzige Norm mit einem
eingeschränkten Anwendungsbereich.285
Unter dem Begriff der „Derogation“ wird eine Abänderung oder Aufhebung einer
alten Norm durch eine neue Norm verstanden. Von einer „materiellen Derogation“
wird gesprochen, wenn eine alte Norm abgeändert oder aufgehoben und gleichzeitig
eine neue Norm – mit einem anderen Inhalt - geschaffen wird. Von einer „formellen Derogation“ wird gesprochen, wenn eine alte Norm abgeändert oder aufgehoben
wird, ohne dass gleichzeitig eine neue Norm mit einem anderen Inhalt geschaffen
wird. Genauer: Eine „formell derogierende Norm“ ist eine Norm, deren Inhalt sich
ausschließlich in der Abänderung oder Aufhebung einer alten Norm erschöpft. Im
Gegensatz zu einer „positiv erlaubenden Norm“ lässt sich eine „formell derogierende
Norm“ nicht in den Begriff der Zwangsnorm integrieren. Es ist daher in diesem Fall –
ausnahmsweise - von einer eigenen, selbstständigen Normkategorie auszugehen.286
284 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 28 ff. 285 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 31 f. 286 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 33 f.
70
Rechtsnorm und Rechtssatz
Für die „Reine Rechtslehre“ ist die Unterscheidung der Begriffe „Rechtsnorm“ und
„Rechtssatz“ von sehr großer Bedeutung: Rechtsnormen sind Sollensanordnungen.
Sie sind von der Rechtsautorität gesetzt, von den Rechtsunterworfenen zu befolgen
und von den Rechtsorganen anzuwenden. Es handelt sich um Vorschreibungen.
Rechtssätze hingegen sind Aussagen der Rechtswissenschaft über den Inhalt von
Rechtsnormen. Es handelt sich um bloße (wissenschaftliche) Beschreibungen. Und
eben nicht – wie bei den Rechtsnormen - um verbindliche Vorschreibungen. Ein
weiterer wichtiger Unterschied zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen besteht
darin, dass Rechtsnormen als Sollensanordnungen nicht wahr oder falsch sein können. Rechtsnormen können nur gelten oder nicht gelten. Wohingegen
Rechtssätze als wissenschaftliche Aussagen über den Inhalt von Rechtsnormen sehr
wohl wahr oder falsch sein können:
Geben Rechtssätze den Inhalt von geltenden Rechtsnormen richtig wieder, sind sie
wahr. Gegen sie diesen Inhalt nicht, unvollständig oder sinnentstellt wieder, sind sie
falsch. Abschließend sei darauf hingewesen, dass die „Reine Rechtslehre“ unter dem
Begriff der Rechtsnorm den „Sinn eines Willensaktes“ versteht. Sie hat dabei aber
nicht irgendeinen beliebigen, sondern einen ganz bestimmten Willensakt vor Augen:
Die „Reine Rechtslehre“ versteht unter dem Begriff der Rechtsnorm den „Sinn eines
Willensaktes, der intentional auf das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet
ist“. Demgegenüber versteht die „Reine Rechtslehre“ unter einem Rechtssatz, der
eine Rechtsnorm bloß (wissenschaftlich) beschreibt, den „Sinn eines Denkaktes“.287
287 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 34 ff.
71
1.3.3 Heinz Mayer, Wien:
„Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus“288 Mayer zeigt, dass eine Strukturanalyse des Rechts sowohl unter dem Gesichtspunkt
des Inhalts als auch unter dem Gesichtspunkt der Form vorgenommen werden kann:
Stellt man die Frage, ob die einzelnen Rechtsvorschriften mit ihren verschiedenen
Inhalten in einem inhaltlichen Verhältnis zueinander stehen, fragt man nach dem Inhalt des Rechts. Stellt man hingegen die Frage, ob die einzelnen Rechtsformen
zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen, fragt man nach der Form des
Rechts.289
Ein Vergleich der Rechtsvorschriften sowohl unter dem Gesichtspunkt des Inhalts als
auch unter dem Gesichtspunkt der Form lässt verschiedene „Stufungen des Rechts“ erkennen. Wir können Vorschriften „höherer Stufe“ von Vorschriften
„niedrigerer Stufe“ unterscheiden. An dieser Stelle ist jedoch eine Warnung
auszusprechen: Der stufenförmige Aufbau einer bestimmten Rechtsordnung muss
immer aus dieser Rechtsordnung selbst abgeleitet werden. Die „Theorie des
rechtlichen Stufenbaus“ ist eine Strukturtheorie. Als solche ist sie bloß ein
Instrument zur Deutung des positiven Rechts. Die Stufenbautheorie ist ein
Instrument zur Erfassung der Struktur einer Rechtsordnung. Sie soll helfen, eine
bestimmte Rechtsordnung zu erkennen und zu beschreiben. Die Stufenbautheorie
kann inhaltliche und formelle Beziehungen von Rechtsvorschriften zueinander
sichtbar machen.290
Der Gesichtspunkt des Inhalts des Rechts
In einer positiven Rechtsordnung finden sich Vorschriften, die die Erzeugung anderer
Vorschriften regeln. Es gibt Normen des materiellen Rechts und Normen des
formellen Rechts, die bestimmten, wie – zum Beispiel - ein richterliches Urteil
auszusehen hat. Die Normen des materiellen und formellen Rechts, die das
richterliche Urteil bestimmen, werden als „Rechtserzeugungsregeln“ bezeichnet.
288 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 37 ff. 289 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 38 f. 290 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 38 f.
72
Diese „Rechtserzeugungsregeln“ können nun im Vergleich mit dem auf deren
Grundlage erzeugten Recht – zum Beispiel einem richterlichen Urteil - als „höher“
oder als „auf einer höheren Stufe stehend“ gedeutet werden. Wir sehen: Es gibt
„erzeugendes Recht“ (=materielle und formelle Rechtserzeugungsregeln) und
„erzeugtes Recht“. Wir können auch sagen: Es gibt „bedingendes Recht“ und
„bedingtes Recht“. Das „erzeugende oder bedingende Recht“ steht auf einer höheren
Stufe als das „erzeugte oder bedingte Recht“. Die Theoretiker der „Reinen
Rechtslehre“ sprechen folgerichtig vom „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“. Ebenso Verwendung findet der Ausdruck „Stufenbau des
Erzeugungszusammenhanges“. Der „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit ist
als ein theoretisches Instrument zu verstehen: Es soll der Vergleich von
bedingendem (erzeugendem) und bedingtem (erzeugtem) Recht in nachvollziehbarer
und damit objektiver Weise ermöglicht werden.291
Der Gesichtspunkt der Form des Rechts
In einer positiven Rechtsordnung finden sich Vorschriften, die andere Vorschriften
aufheben oder abändern können. Man sagt: Eine bestimmte Vorschrift kann einer
anderen Vorschrift „derogieren“. Ob eine bestimmte Vorschrift einer anderen
Vorschrift derogieren kann oder nicht, entscheidet die positive Rechtsordnung: Kann
eine Vorschrift einer anderen derogieren, besitzt sie im Vergleich mit dieser Vorschrift
eine „höhere derogatorische Kraft“. Wichtig ist zu verstehen, dass die
„derogatorische Kraft“ eine von der Rechtsordnung verliehene und damit eine
„rechtliche Kraft“ ist. Sie darf nicht mit einer physikalischen Kraft verwechselt werden.
Eine absolute derogatorische Kraft gibt es nicht. Vielmehr ist die derogatorische Kraft
einer bestimmten Vorschrift nur eine relative. Ihre Ermittlung setzt einen Vergleich
voraus: Werden zwei Vorschriften einander gegenübergestellt und kann eine
Vorschrift der anderen derogieren, so besitzt diese Vorschrift der anderen gegenüber
eine höhere derogatorische Kraft.292
Die Betrachtung einer bestimmten Rechtsordnung zeigt, dass es nicht nur eine
einzige rechtliche Form gibt. Vielmehr weisen die Vorschriften einer bestimmten
291 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 40 f. 292 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 42 f.
73
Rechtsordnung viele verschiedene rechtliche Formen auf. Betrachtet man die
einzelnen Rechtsformen genauer, fällt auf, dass unterschiedliche rechtliche Formen
auf eine unterschiedliche Weise zu erzeugen sind. In der Form einer rechtlichen
Vorschrift spiegelt sich somit deren rechtliche Erzeugungsweise wider: Es gibt
Vorschriften, die auf eine relativ einfache Weise zu erzeugen sind. Und es gibt
Vorschriften, die im Vergleich mit anderen Vorschriften schwieriger zu erzeugen sind.
In Bezug auf die oben erörterte Frage nach der derogatorischen Kraft kann das nur
bedeuten: Eine Vorschrift, die „schwierigerer“ zu erzeugen ist (und damit eine
„höhere“ Form aufweist) kann nicht durch eine Vorschrift abgeändert oder
aufgehoben werden, die „einfacher“ zu erzeugen ist (und damit eine „niedrigere
Form“ aufweist). Zwischen der Schwierigkeit der Erzeugungsweise einer Vorschrift,
ihrer Form und der (relativen) derogatorischen Kraft gibt es somit einen
Zusammenhang: Je „schwieriger“ die Erzeugung der Form einer Vorschrift, desto
höher deren (relative) derogatorische Kraft.293 Für den soeben dargestellten
„Stufenbau nach der derogatorischen Kraft“ gilt dasselbe wie für den oben
dargestellten „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“: Der Stufenbau nach der
derogatorischen Kraft ist – so wie jeder Stufenbau - bloß ein theoretisches Instrument zur Erfassung einer Rechtsordnung.294
Die beiden „Stufenbautheorien“ (nach der rechtlichen Bedingtheit einerseits, nach
der derogatorischen Kraft andererseits) gliedern die Rechtsordnung unter
verschiedenen Gesichtspunkten: Der „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“
blickt auf den Rechtsinhalt. Der „Stufenbau nach der derogatorischen Kraft“ blickt
auf die Rechtsform. Es ist daher durchaus denkbar, dass zwei Vorschriften, die in
einem Stufenbau im Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen, im anderen
Stufenbau im Verhältnis der Gleichordnung stehen. Auch eine völlige Umkehrung
des Rangverhältnisses ist denkbar. Denn: Wie bereits mehrmals betont, handelt es
sich bei beiden Stufenbaumodellen um stukturtheoretische Modelle, die der
Erkenntnis dienen sollen. Eine Modelltheorie darf niemals mit der positivrechtlichen
Ausgestaltung einer bestimmten, konkreten Rechtsordnung verwechselt werden.295
293 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 43 f. 294 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 42. 295 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 44 f.
74
1.4 Kritik der „Reinen Rechtslehre“ Beispielhaft sollen bestimmte, für das Theoriegebäude der „Reinen Rechtslehre“
besonders wichtige Themen und Themenkreise einer gesonderten Überprüfung
unterzogen werden:
1.4.1 Geltung und Wirksamkeit296
Der Begriff der Geltung beschreibt die spezifische Existenzweise des Rechts. Von
Wirksamkeit wird gesprochen, wenn das Recht tatsächlich befolgt oder angewendet
wird. Kelsen gibt zu, dass das Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit eines
der schwierigsten Probleme einer positivistischen Rechtstheorie ist.297 Eine
Identifikation der Geltung des Rechts mit seiner Wirksamkeit (=realistische
Rechtstheorie) lehnt Kelsen ab. Auch das andere Extrem, die Behauptung, dass
zwischen Geltung und Wirksamkeit überhaupt keine Beziehung bestehen würde
(=idealistische Rechtstheorie), lehnt er ab. Seine Lösung: Es gibt einen
Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit. Und dieser Zusammenhang
besteht darin, dass die Wirksamkeit eine Bedingung der Geltung ist. Sie ist aber
nicht die Geltung selbst.298 Kelsen: „Eine Rechtsordnung wird als gültig angesehen,
wenn ihre Normen im Großen und Ganzen wirksam sind, das heißt tatsächlich
befolgt und angewendet werden.“299 Dies bedeutet:
Eine Rechtsordnung als Ganzes – und dasselbe gilt auch für eine einzelne
Rechtsnorm - verliert ihre Geltung, wenn sie dauernd nicht befolgt und dauernd
nicht angewendet wird. Wird sie nur hin und wieder nicht befolgt und hin und wieder
nicht angewendet, behält sie ihre Geltung.300 Die Kritik zielt nun auf die Frage: Wann
ist eine Rechtsordnung – oder eine einzelne Rechtsnorm - „im Großen und Ganzen“ wirksam? Was soll das heißen: Im Großen und Ganzen? An welch eine
Prozentzahl habe ich dabei zu denken? An 10%? An 25%? An 51%? Wer legt den
Maßstab fest? Wie soll eine Wirksamkeit „im Großen und Ganzen“ überprüft werden?
Es ist offensichtlich, dass der schwammige und absolut unbestimmte Ausdruck „im
296 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215 ff. 297 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215. 298 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 220. 299 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 219. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 300 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 216 f.
75
Großen und Ganzen“ unbefriedigend ist. Er ist aus der geistigen Not geboren, in der
sich Kelsen wiederfindet, weil er einerseits eine Identifikation der Geltung des Rechts
mit seiner Wirksamkeit ablehnen, er aber gleichzeitig eine Beziehung zwischen Geltung und Wirksamkeit behaupten und herstellen will. Die Frage, ab wann von
einer Wirksamkeit „im Großen und Ganzen“ gesprochen werden kann, ist deswegen
von überragender Bedeutung, weil Kelsen seinen Gedanken nicht nur auf die
Rechtsordnung als Ganzes, sondern vor allem auch auf einzelne Rechtsnormen
bezieht:301 Dies bedeutet: Ich könnte nun als Rechtsunterworfener behaupten, diese
oder jene Rechtnorm habe „längst ihre Geltung verloren“, sie existiere also nicht
mehr als Norm und sei für mich nicht mehr verbindlich, weil sie „bereits eine zu lange
Zeit nicht mehr befolgt und auch nicht mehr angewendet“ werde. Die Frage jedoch,
ob eine Rechtsordnung als Ganzes – oder eine einzelne Rechtsnorm - gilt oder nicht
gilt, bedarf der Rechtssicherheit wegen einer klaren und eindeutigen Antwort. In der
entscheidenden Frage der Geltung darf es keine Unsicherheiten geben.
Kelsen definiert den Begriff der Wirksamkeit als die „tatsächliche Befolgung und
Anwendung“ des Rechts.302 Überraschend ist, dass Kelsen in die
Begriffsbestimmung der Wirksamkeit sowohl das Element der Befolgung als auch
das Element der Anwendung aufnimmt. Denn: Rechtsbefolgung und
Rechtsanwendung sind zwei völlig unterschiedliche Elemente. Zunächst sagt Kelsen,
dass Rechtsanwendung – fast immer - zugleich auch Rechtserzeugung ist. „Eine
Norm, die die Erzeugung einer anderen Norm bestimmt, wird in der von ihr
bestimmten Erzeugung der anderen Norm angewendet.“303 In weiterer Folge sagt
Kelsen, dass zwischen Rechtsbefolgung einerseits und Rechtsanwendung (und
Rechtserzeugung) andererseits unterschieden werden müsse.304 Kelsen bestimmt
die Rechtsbefolgung als ein Verhalten, „an dessen Gegenteil der Zwangsakt der
Sanktion geknüpft ist. Es ist vor allem das die Sanktion vermeidende Verhalten, die
Erfüllung der durch die Sanktion konstituierten Rechtspflicht.“305 Dies bedeutet:
Die Rechtsbefolgung stellt im Vergleich mit der Rechtsanwendung (und der
Rechtserzeugung) ein völlig eigenständiges rechtliches Phänomen dar. Dies
301 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 220. 302 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215 ff. 303 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 304 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. 305 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
76
scheint auch Kelsen so zu sehen. Immerhin bezeichnet er die Rechtsanwendung und
die Rechtserzeugung – nicht aber die Rechtsbefolgung - als „Rechtsfunktionen in
einem engeren, spezifischen Sinn“.306 Der Begriff der Rechtsbefolgung wird
definiert als die Übereinstimmung des Verhaltens der Menschen mit der
Rechtsordnung. Über die Gründe – die sogenannten Motive - des Verhaltens der
Menschen ist damit aber nichts ausgesagt. Eine Ansicht, die auch Kelsen teilt.307 Es
gibt nur eine Übereinstimmung von Verhaltensweisen mit einer Rechtsordnung.
Diese Übereinstimmung kann viele – auch zufällige - Gründe haben. Denkbar ist,
dass sich die Menschen an einer moralischen Norm orientieren, die sich gleichzeitig
auch in der Rechtsordnung wiederfindet. Ebenso ist denkbar, dass die Menschen
bloß bestimmten seelischen Vorlieben folgen, die – zufällig - auch rechtlich
vorgeschrieben werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist daher zu
sagen, dass der – sehr wichtige - Begriff der Wirksamkeit in das Element der
Rechtsbefolgung nicht aufgenommen werden sollte. Auch ist die Nennung der –
höchst unterschiedlichen - Begriffe der Rechtsanwendung und der Rechtsbefolgung
in einem Atemzug – so, als ob sie etwas Ähnliches zum Ausdruck bringen würden -
nicht sehr glücklich. Unter Wirksamkeit ist (ausschließlich) Rechtsanwendung zu verstehen. Eine Rechtsordnung ist wirksam, wenn sie auch angewendet – oder, wie
man sagt, „durchgesetzt“ - wird. Eine Rechtsnorm schreibt vor, dass unter
bestimmten Bedingungen ein bestimmter Zwangsakt als Folge gesetzt werden
soll.308 Es ist nun eine Frage der Wirksamkeit, ob dieser Zwangsakt, der gesetzt werden soll, auch tatsächlich gesetzt wird. Genauer: Es ist eine Frage der
Wirksamkeit, wie oft – und wie oft bedauerlicherweise nicht - der Zwangsakt, der gesetzt werden soll, auch tatsächlich gesetzt wird. Eine Rechtsordnung ist umso
wirksamer, je häufiger die zuständigen Rechtsorgane den Zwangsakt, der gesetzt
werden soll, auch tatsächlich setzen. Oder umgekehrt formuliert: Eine
Rechtsordnung ist umso unwirksamer, je häufiger die zuständigen Rechtsorgane
(leider) ein für jede Rechtsordnung absolut bedrohliches Verhalten an den Tag legen
und den Zwangsakt, der von ihnen gesetzt werden soll, einfach nicht und nicht – aus welchen Gründen auch immer - setzen.
306 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. 307 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 27 f. 308 Zum Begriff und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben.
77
1.4.2 Die Theorie der Grundnorm309
Die Theorie der Grundnorm stellt eine sehr wichtige Säule im Gedankensystem von
Hans Kelsen dar. Was genau unter dem Begriff der Grundnorm zu verstehen ist, ist
bereits oben – in aller Ausführlichkeit – dargestellt worden. An dieser Stelle sei nur in
Erinnerung gerufen, dass die Grundnorm keine gesetzte Norm und auch nicht
Bestandteil einer positiven Rechtsordnung, sondern nur eine „gedachte Norm“ ist.
Sie sei eine, wie Kelsen sagt, „transzendental-logische Denkvoraussetzung“. Die
Grundnorm beantwortet – in den Augen von Kelsen - zwei Fragen: Die Frage nach dem Geltungsgrund. Und die Frage nach der Einheit einer Vielheit von Normen.
Unter der Frage nach dem Geltungsgrund ist die Frage zu verstehen, warum eine
bestimmte Norm gilt. Es ist die Frage nach dem Grund, warum ich mich einer
bestimmten Norm entsprechend verhalten soll. Die Frage nach der Einheit einer
Vielheit von Normen ist die Frage, warum eine bestimmte Norm zu einer bestimmten
Ordnung gehört. Beide Fragen, so Kelsen, werden mit der Einführung der
Grundnorm beantwortet. Eine Norm gilt, weil sie – zunächst - ihren Geltungsgrund in
einer anderen – höheren - Norm findet. Aber da die Suche nach dem Geltungsgrund,
so Kelsen, nicht ins Endlose gehen könne, müsse eine letzte, höchste Norm – die Grundnorm - in einem Denkakt vorausgesetzt werden.310 Die Grundnorm stellt die
letzte, höchste gemeinsame Quelle aller Normen einer Rechtsordnung dar. Sie ist es,
die unendlich viele einzelne Rechtsnormen zu einer Einheit, zu einem System
zusammenführt.
Für Kelsen ist wichtig, dass die Grundnorm nur den – letzten, obersten -
Geltungsgrund für alle Normen einer Rechtsordnung liefert. Sie gibt aber keinen
bestimmten Inhalt vor.311 „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“312 Die
berühmte Aussage von Kelsen, dass jeder beliebige Inhalt Recht sein kann, führt
zwangsläufig zu der Frage nach dem Inhalt der „vorausgesetzten, bloß gedachten
Grundnorm“. Die Antwort von Kelsen lautet: Die Grundnorm hat den Inhalt, dass man
sich so verhalten solle, wie die – historisch erste - Verfassung vorschreibt.313
Die Grundnorm bezieht sich somit – und das ist Kelsen wichtig - unmittelbar auf eine
309 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196 ff. 310 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 311 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 199 f. 312 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 313 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204 f.
78
bestimmte – historisch erste - Verfassung und mittelbar auf eine bestimmte
Rechtsordnung. Als (bloß gedachte) Norm schreibt sie vor, dass man sich so verhalten solle, wie die Verfassung vorschreibt. Der historisch erste
Verfassungsgeber stellt für Kelsen die höchste Rechtsautorität dar. Sie, die höchste
Rechtsautorität, bestimmte den Inhalt der Verfassung und der Rechtsordnung. Die Grundnorm liefert nur die Geltung. Die Begründung der Geltung. Die Grundnorm
liefert die Begründung der Geltung für jeden beliebigen Inhalt der von der
Rechtsautorität in Zukunft zu schaffenden Rechtsordnung.
Kelsen sieht sich „intellektuell genötigt“, eine oberste Norm – die Grundnorm -
anzunehmen. Sie „muss“ angenommen werden, sagt er, wenn es möglich sein soll,
bestimmte Willensakte nicht nur in subjektiver Hinsicht als ein Sollen (zum Beispiel
als Befehl), sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als ein Sollen und damit
als Norm zu deuten.314 Die Notwendigkeit der Annahme einer Grundnorm ergibt sich
für ihn aus seinem Verständnis des Begriffs der „Norm“: Eine Norm ist für Kelsen der
Sinn eines Willensaktes. Und: Eine Norm ist für ihn ein Deutungsschema.315 Dies
bedeutet: Ein bestimmter Willensakt kann nur dann als Norm gedeutet werden, wenn
es bereits eine Norm gibt, die diese Deutung zulässt. Und da – wie Kelsen sagt - die
Suche nach einem Geltungsgrund – und damit die Suche nach einem
Deutungsschema - nicht ins Endlose gehen könne, müsse eine letzte, oberste
Norm – die Grundnorm - gedanklich vorausgesetzt werden.316
Kritik von Mahlmann317 an der Grundnorm
Mahlmann übt Kritik an der Konzeption einer Grundnorm: Kelsen würde, so
Mahlmann, in der Grundnorm die Voraussetzung der Normativität der Rechtsordnung
erblicken. Kelsen halte die Grundnorm für eine zwingende Annahme, weil sonst die
Normativität der Rechtsordnung keinen Grund habe. Die Gegebenheit der
Normativität werde dabei (von Kelsen, wie Mahlmann meint) stillschweigend
vorausgesetzt. Das Problem sieht Mahlmann nun darin, dass die vorausgesetzte
Normativität ihrerseits in Frage stehen würde. Man könne nicht, so Mahlmann, die
314 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6 ff. 315 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3 ff. 316 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197 f. 317 Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 146 f.
79
Normativität einer Rechtsordnung aus einer Grundnorm ableiten, die postuliert
werde, weil die Rechtsordnung normativ sei. In diesem Fall würde man sich in einen
Zirkelschluss verstricken. Es wäre nicht überzeugend, eine Normativität
vorauszusetzen, um anschließend diese Normativität mit der Annahme einer
Grundnorm zu rechtfertigen.318
Die Kritik von Mahlmann an der Theorie der Grundnorm ist nicht überzeugend:
Kelsen setzt keine Normativität stillschweigend voraus, um aus dieser
vorausgesetzten Normativität eine Begründung der Normativität und damit der
Geltung der Rechtsordnung – was in der Tat einen Zirkelschluss darstellen würde -
abzuleiten. Die Grundnorm ist – wie oben ausführlich dargestellt – keine positiv-
rechtliche Norm. Sie ist eine „gedachte Norm“. Eine gedankliche Annahme. Die
Grundnorm ist, wie Kelsen sagt, eine „transzendental-logische Denkvoraussetzung“.
Es ist nicht richtig, wenn Mahlmann sagt, Kelsen würde stillschweigend von einer
vorausgesetzten Normativität ausgehen. Vielmehr stellt Kelsen die –
erkenntnistheoretische – Frage, unter welch einer Voraussetzung es möglich ist,
bestimmte Willensakte als ein „objektives Sollen“ (und damit als „Norm“) zu deuten:
Die Antwort von Kelsen lautet: Unter der (gedanklichen) Annahme einer Grundnorm.
Die Grundnorm ist eine Voraussetzung im Denken, die man vornehmen „muss“.
Genauer: Man muss die Grundnorm – so Kelsen - gedanklich voraussetzen, wenn es
möglich sein soll, den Sinn bestimmter äußerer Vorgänge, insbesondere den Sinn
bestimmter Willensakte, nicht nur in subjektiver Hinsicht – zum Beispiel - als Befehl
und damit als ein subjektives Sollen, sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als
ein „objektiv verbindliches Sollen“ und damit als „Norm“ zu deuten.319 Als Norm zu
„erkennen“. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm kann eine Deutung als „ein objektiv verbindliches Sollen“ – und damit als „Norm“ - nicht vorgenommen werden. Das – und nur das – ist die Erkenntnis von Kelsen.
Mahlmann ist nicht zuzustimmen, wenn er meint, Kelsen würde eine Normativität der
Rechtsordnung stillschweigend voraussetzen.
318 Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 147. 319 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6f.
80
1.4.3 Das Recht und sein Inhalt320
Das Recht kann jeden beliebigen Inhalt haben.321 Viele tatsächliche oder
vermeintliche Kelsen-Gegner322 sind in Anbetracht dieser Aussage empört. Eine
künstliche Erregung, die zwar menschlich zu verstehen, intellektuell aber nur schwer
nachzuvollziehen ist. Kelsen sagt auf der ersten Seite der „Reinen Rechtslehre“ in
einer unmissverständlichen Klarheit über seine Rechtstheorie: „Als Theorie will sie
ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht die Frage zu
beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder
gemacht werden soll.“323 Kelsen sagt somit nicht, wie offensichtlich – bewusst -
missverstanden wird, dass das Recht jeden beliebigen Inhalt haben soll. Er sagt
auch nicht, dass er es toll und großartig findet, dass sich in den verschiedensten
Rechtsordnungen – der Gegenwart und der Geschichte - alle möglichen und
unmöglichen Inhalte wiederfinden. Er sagt nicht, dass er will, dass das so ist. Er sagt
nur, dass es – vielleicht leider - so ist. Eine Aussage von Kelsen, die ernsthaft nicht
bestritten werden kann. Es ist eine in die Augen springende – vielleicht bittere -
Wahrheit, dass sich in den verschiedensten Rechtsordnungen zu den
verschiedensten Zeiten an den verschiedensten Orten alle möglichen und unmöglichen Inhalte finden. Diese Wahrheit ist in einem Ausmaß offensichtlich und
eindeutig, sodass es für sie keines Beleges oder Beweises bedarf. Manche Inhalte
mögen aus unserer heutigen Sicht furchtbar, grausam, unmoralisch oder
verbrecherisch erscheinen. Dennoch gibt es diese rechtlichen Inhalte. Es gibt alle Inhalte. Aber nur deswegen, weil einem bestimmte Inhalte nicht gefallen, zu sagen,
sie wären nicht vorhanden, diese Inhalte, sie wären kein geltendes Recht, nicht
Bestandteil einer Rechtsordnung, ist – so verständlich diese Reaktion aus
menschlicher Sicht auch sein mag – nicht wissenschaftlich.324
Der Begriff des Rechts kann und darf nicht unter Bezugnahme auf einen bestimmten
Inhalt definiert werden. Die Trennung des Rechts von der Moral ist eine zwingende
begriffslogische Notwendigkeit. Es ist Kelsen zuzustimmen, dass es ein schwerer
gedanklicher Fehler wäre, in die Begriffsbestimmung des Rechts ein inhaltliches,
320 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1 ff. 321 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. 322 Vgl. Detlef Horster, Rechtsphilosophie (2002) 55 ff.; Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik (2011) 150 ff. 323 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 324 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 31 ff.
81
moralisches Element aufzunehmen. Daran kann auch ein grundsätzliches
Verständnis für die Sehnsucht des Menschen nach einem „richtigen, gerechten Recht“ nichts ändern.325
Kelsen will sich in der „Reinen Rechtslehre“ der – großen, mächtigen - Frage
widmen, was und wie das Recht ist. Er will das Recht verstehen. Er maßt sich nicht
an zu sagen, wie das Recht sein und gemacht werden soll.326 Die Beschränkung des Erkenntnisgegenstandes auf das positive Recht und die Weigerung, Aussagen
über bestimmte – vielleicht gewünschte - Inhalte des Rechts zu machen, ist ein Akt der Bescheidenheit. Kelsen wählt als Wissenschaftler und Denker sehr bewusst
einen klaren, verlässlichen, bescheidenen Weg. Die Anmaßung, dem Recht seine
Inhalte vorgeben zu wollen, findet sich nicht auf diesem Weg. Es ist die Aufgabe der
Politik, in einer Demokratie ist es die Aufgabe eines gewählten Parlaments, die
Inhalte der Rechtsordnung festzulegen. Es ist und kann nicht die Aufgabe der
Rechtswissenschaft oder einer Rechtstheorie sein zu sagen, wie das Recht sein oder
gemacht werden soll.327
Wenn Kelsen bereits auf der ersten Seite der „Reinen Rechtslehre“ sagt, dass er die
Aufgabe einer Rechtstheorie ausschließlich darin sieht, das Wesen des Rechts zu erforschen und zu erkennen (und er gleichzeitig sagt, dass es eben nicht die
Aufgabe einer Rechtstheorie ist, den Gesetzgeber zu spielen und Rechtsinhalte
festzulegen)328, so heißt das aber nicht im Umkehrschluss, dass er, Kelsen, ein
unpolitischer Mensch wäre, keine Werte hätte und es ihm gleichgültig wäre, in welch
einem Staat und in welch einer Gesellschaft er leben würde. Denn das absolute
Gegenteil ist der Fall: Wer wissen möchte, wie er, Kelsen, wenn er denn der -
alleinige - Gesetzgeber wäre, das Recht gestalten, mit welchen Inhalten er die
Gesetze einer bestimmten Rechtsordnung füllen würde, muss nur seine anderen
Schriften – vor allem seine Schriften über das Thema „Gerechtigkeit“ - lesen. In
seinem Buch „Was ist Gerechtigkeit?“329 gibt Kelsen sehr genau darüber Auskunft,
welche Werte in ihm wohnen und von welch einem Staat und welch einer
Gesellschaft er träumt.
325 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 68 ff. 326 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 327 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 328 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 329 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit 2 (1975). Zum Begriff der „Gerechtigkeit“ siehe unten.
82
1.4.4 Identität von Recht und Staat330
Kelsen sagt, dass das Recht und der Staat in Wahrheit ein und dasselbe seien. Es
existiere, so Kelsen, eine Identität von Recht und Staat. Der traditionelle Dualismus
von Recht und Staat erfülle bloß eine ideologische Funktion und sei daher
aufzulösen.331 Kelsen: „Der Staat ist eine relativ zentralisierte
Rechtsordnung.“332
Kelsen erklärt und begründet in der „Reinen Rechtslehre“ sehr genau,333 warum
seiner Meinung nach die Begriffe des Rechts und des Staates bloß einen einzigen Gegenstand beschreiben und aus diesem Grund zu identifizieren sind. Diese
Erkenntnis von Kelsen, dass eine Identität von Recht und Staat besteht, oder, anders
gewendet, dass der – ideologischen Zwecken dienende - traditionelle Dualismus von Recht und Staat aufzulösen ist, diese seine Erkenntnis ist eine besonders
weitrechende. Und das aus folgendem Grund:
In der Wissenschaft im Allgemeinen und in der Rechtswissenschaft im Besondern
herrscht die – auf dem Boden der intellektuellen Eitelkeit gewachsene - Meinung
vor, dass ein Gewinn von Erkenntnis dadurch zu erzielen sei, dass immer neue
Begriffe und immer neue Differenzierungen eingeführt werden. Kelsen legt
überzeugend dar, dass diese Meinung auf einem falschen Verständnis von
Wissenschaft beruht. Nur wenn es unbedingt erforderlich ist und der zu erkennende und zu beschreibende Gegenstand nach einer Differenzierung zwingend verlangt,
darf ein neuer Begriff eingeführt und eine Differenzierung vorgenommen werden.
Differenzierungen sind – immer wieder - notwendig. Keine Frage. Das Denken lebt
von Differenzierungen. Auch Kelsen nimmt viele – notwendige - Differenzierungen
vor. Man denke nur – zum Beispiel - an die notwendige Differenzierung zwischen
Recht und Moral. Es ist nicht so, dass Kelsen nicht differenzieren würde. Das
Gegenteil ist der Fall. In der „Reinen Rechtslehre“ finden sich unzählige
Differenzierungen. Nur: Kelsen hat erkannt, dass es nicht nur notwendige
Differenzierungen gibt, sondern dass es auch umgekehrt unnötige und überflüssige Differenzierungen gibt. Notwendig ist eine Differenzierung, wenn sie
330 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289 ff. 331 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288 ff. 332 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 333 Die zentralen Gedanken von Hans Kelsen über die „Identität von Recht und Staat“ werden oben ausführlich dargestellt.
83
vom Erkenntnisgegenstand – zwingend - verlangt wird. Unnötig und überflüssig ist
eine Differenzierung, wenn sie vorgenommen wird, obwohl für sie im
Erkenntnisgegenstand keine Entsprechung und damit auch keine Rechtfertigung zu
finden ist. Von diesem Gedanken ist es nur ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass
unnötige, überflüssige Differenzierungen die menschliche Erkenntnis nicht nur
nicht befördern, sondern sogar verhindern und verunmöglichen. Wird ein bestimmter
Erkenntnisgegenstand durch unnötige, überflüssige – und damit falsche und nicht zu
rechtfertigende - Differenzierungen verhüllt und entstellt, kann er in der Folge auch nicht erkennt werden. Dies wiederum – konsequent zu Ende gedacht - bedeutet: Ist
bereits – von wem und warum auch immer - eine unnötige, überflüssige
Differenzierung vorgenommen worden, ist sie – soll der verhüllte und entstellte
Gegenstand wirklich erkannt werden - rückgängig zu machen und aufzuheben.
Diese Erkenntnis von Kelsen ist gewaltig und von sehr großer Tragweite. Sie besagt:
Um einen bestimmten Gegenstand – so zum Beispiel den Gegenstand, der mit
„Recht“ oder mit „Staat“ bezeichnet wird - erkennen zu können, kann es notwendig
sein, bereits vorgenommene Differenzierungen – so sie denn unnötig, überflüssig
und damit falsch sind - wieder rückgängig zu machen und aufzuheben. Denn:
Werden notwendige, unerlässliche Differenzierungen nicht vorgenommen, ist die
Erkenntnis und Beschreibung eines bestimmten Gegenstandes nicht möglich. Das ist
wahr und auch allgemein anerkannt. Mindestens ebenso wahr aber ist, dass
unnötige, überflüssige Differenzierungen einen Erkenntnisgegenstand verhüllen, entstellen und auf diese Weise seine Erkenntnis verhindern und
unmöglich machen.
84
1.4.5 Die Wissenschaft und ihr Gegenstand334
Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Hans Kelsen besteht darin, dass die
erkennende und beschreibende Wissenschaft bei bestimmten Gegenständen – soll
dieser Gegenstand erkannt werden können - keine weiteren Differenzierungen vornehmen darf. Mehr noch: Es ist sogar denkbar, dass die erkennende und
beschreibende Wissenschaft nicht nur keine weiteren Differenzierungen vornehmen
darf, sondern umgekehrt eine Identifizierung stattzufinden hat. Dies bedeutet:
Bereits getätigte, aber unnötige, überflüssige und damit falsche Differenzierungen
sind – in einem gedanklichen Akt der Identifizierung - wieder rückgängig zu machen
und aufzuheben.335
Erkenntnis ist nur möglich, wenn gebotene, notwendige Differenzierungen
vorgenommen, unnötige, überflüssige und damit falsche Differenzierungen aber
unterlassen werden. Auch wenn Kelsen immer wieder die Notwendigkeit einer Identifizierung erkennt, so weiß er sehr wohl um die große Bedeutung einer
gebotenen, notwendigen Differenzierung: Kelsen zeigt in der „Reinen Rechtslehre“,
dass zwischen einer – erkennenden und beschreibenden - Wissenschaft und dem
Gegenstand dieser Wissenschaft sehr klar zu unterscheiden ist. Zusätzlich zeigt
er, dass die einzelnen Wissenschaftsgegenstände ihrerseits gegeneinander scharf
abzugrenzen sind:
Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur. Gegenstand der Ethik ist die
Moral. Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht. Diese Sätze scheinen
Selbstverständlichkeiten zu sein. Doch sie sind es nicht, wie die regelmäßige
Vermischung und Verwechslung einer bestimmten Wissenschaft mit ihrem
Gegenstand beweist. Kelsen zeigt in der „Reinen Rechtslehre“, dass – soll eine
wahrhaftige Erkenntnis möglich werden - eine präzise Definition eines Wissenschaftsgegenstandes und seine Abgrenzung gegenüber anderen
wissenschaftlichen Gegenständen von überragender Bedeutung ist:
334 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 72 ff. 335 In diesem Zusammenhang darf auf die Aufhebung des – falschen - Dualismus von Recht und Staat verweisen werden.
85
Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht. Das bedeutet: Gegenstand der
Rechtswissenschaft sind - da das Recht ein System von Rechtsnormen darstellt -
Rechtsnormen. Dies wiederum bedeutet: Menschliches Verhalten ist grundsätzlich kein Gegenstand der Rechtswissenschaft. Es ist nur insofern ein
Gegenstand der Rechtswissenschaft, als es Inhalt von Rechtsnormen ist. Zu
zeigen, dass das menschliche Verhalten nur als Inhalt einer Rechtsnorm Gegenstand
der Rechtswissenschaft sein kann, stellt eine für die „Reine Rechtslehre“ typische
begriffliche Herausarbeitung und Präzisierung dar. Weiteres Beispiel:
Das Recht besteht aus Rechtsnormen. Rechtsnormen stellen Sollsätze dar. Dies
bedeutet: Die Rechtswissenschaft erkennt und beschreibt – als ihren Gegenstand -
Rechtsnormen und damit Sollsätze. Kelsen zeigt nun, dass es sehr wichtig ist zu
unterscheiden zwischen den wissenschaftlichen Sätzen, den sogenannten
„Rechtssätzen“, die bloß erkennen und beschreiben, einerseits und den
Rechtsnormen, die als Wissenschaftsgegenstand erkannt und beschrieben werden
sollen, andererseits. Die wissenschaftlichen Rechtssätze können das Recht nur
beschreiben. Da sie von keiner Rechtsautorität geschaffen worden sind, können sie
nicht – wie die Rechtsnormen - ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Die
Differenzierung zwischen beschreibenden Rechtssätzen und vorschreibenden
Rechtsnormen ist von großer Bedeutung. Sie ist ein schönes Beispiel für eine
gebotene, notwendige Differenzierung.
86
2. Der Begriff der Gerechtigkeit
Der Begriff der Gerechtigkeit enthält – wird der „Begriff an sich“ als ein leeres Gedankengefäß betrachtet - das, was in ihn hineingelegt wird. Es wird zu zeigen
sein, was genau Hans Kelsen in den „Begriff der Gerechtigkeit“ hineinlegt. Mit welch
einem geistigen Inhalt er diesen zentralen Begriff füllt. Im Anschluss an eine kurze
Vorstellung der Gerechtigkeitsüberlegungen von Hans Kelsen sollen einige
Gedanken von Horst Dreier über Hans Kelsen und die Gerechtigkeit dargestellt
werden. Schließlich wird es eine Zusammenfassung geben. Erwähnt sei an dieser
Stelle nur, dass der Begriff der Gerechtigkeit nicht nur in der Philosophie, sondern
vor allem auch in der Religion und in der Politik eine herausragende Rolle spielt.
Über kaum einen Begriff ist mehr geschrieben und sind heftigere intellektuelle
Auseinandersetzungen geführt worden als über den „Begriff der Gerechtigkeit“. Viele
Philosophen, Theoretiker und Denker haben sich zum Thema „Gerechtigkeit“
geäußert.336 Einen hervorragenden geistesgeschichtlichen Überblick bietet „Elisabeth
Holzleithner“ mit ihrem Buch „Gerechtigkeit“.337 Beispielhaft seien zwei wichtige
Autoren aus der jüngeren Vergangenheit herausgehoben: „John Rawls“ mit seinem
Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“338 und „Michael Walzer“ mit seinem Werk
„Sphären der Gerechtigkeit“339. In meiner Arbeit sollen die Gedanken von Hans
Kelsen zur Darstellung gebracht werden.
336 Vgl. Christoph Horn und Nico Scarano, Philosophie der Gerechtigkeit (2002). 337 Vgl. Elisabeth Holzleithner, Gerechtigkeit (2009). 338 John Rawls: *1921 Baltimore, †2002 Lexington. Geistesgeschichtlich wird der amerikanische Philosoph „John Rawls“ dem Lager des „Politischen Liberalismus“ zugeordnet. In seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, das 1998 in der 10. Auflage erschienen ist, lässt Rawls die -auf Hobbes, Locke und Rousseau zurückgehende- Vertragstheorie wieder aufleben: In einem vorstaatlichen Zustand, der ein Gedankenexperiment ist, vereinbaren freie und gleiche Menschen – hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ - grundlegende Prinzipien des Zusammenlebens: Daraus gehen zwei Gerechtigkeitsgrundsätze hervor: Jeder soll über das gleiche Recht auf größtmögliche Freiheit verfügen. Und: Soziale Ungleichheiten – die notwendig sind - sollen den Benachteiligten den größtmöglichen Vorteil bringen. (Vgl. Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 160 ff, Gerhard Luf, Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Teil III, Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtsethik, 2002.) 339 Michael Walzer: *1935 New York. Der amerikanische Sozialphilosoph “Michael Walzer” wird dem sogenannten „Kommunitarismus“ zugeordnet, der eine liberalismuskritische Position vertritt. Sein Werk „Sphären der Gerechtigkeit“ gilt als Gegenentwurf zum Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls. Walzer wendet sich gegen eine abstrakt-konstruktivistische Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) und bekennt sich zu einer geschichtlich-kulturellen Konkretheit von Gerechtigkeitsvorstellungen. Für Walzer stehen Verteilungsprobleme im Vordergrund. Er betont die gesellschaftliche Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter. (Vgl. Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 174 ff, Gerhard Luf, Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Teil III, Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtsethik, 2002.)
87
2.1 Hans Kelsen und die Gerechtigkeit
Hans Kelsen hat zum Thema „Gerechtigkeit“ drei Werke verfasst: Ein Buch aus dem
Jahre 1953 mit dem Titel „Was ist Gerechtigkeit?“, einen Anhang zur „Reinen
Rechtslehre“ aus dem Jahre 1960 mit dem Titel „Das Problem der Gerechtigkeit“ und
das 1985 vom Hans Kelsen-Institut aus dem Nachlass veröffentlichte Buch mit dem
Titel „Die Illusion der Gerechtigkeit“ und dem Untertitel „Eine kritische Untersuchung
der Sozialphilosophie Platons“.
Bei der nun folgenden Darstellung der Gedanken von Hans Kelsen über den Begriff
der „Gerechtigkeit“ werde ich mich – ausschließlich - auf den Anhang zur „Reinen
Rechtslehre“ mit dem Titel „Das Problem der Gerechtigkeit“ und auf das eingangs
erwähnte Buch „Was ist Gerechtigkeit?“ beziehen. Das zuletzt genannte Werk mit
dem Titel „Die Illusion der Gerechtigkeit“ eignet sich für eine – erste, einführende -
Darstellung der Gedankenwelt Kelsens zum Thema „Gerechtigkeit“ nicht. Es
stellt eine – wie zum Teil bereits aus dem Untertitel hervorgeht - sehr umfangreiche
und überaus detailgenaue Analyse der Philosophie von Platon dar. Hans Kelsen hat
sich während seines ganzen Gelehrtenlebens immer wieder sehr intensiv mit der
Philosophie Platons befasst.340 Er anerkennt Platon als „die bedeutendste
intellektuelle Persönlichkeit, die es unternommen hat, zu erkennen, was
Gerechtigkeit ist“341.
Auf der letzten Seite in seinem ersten Buch über das Thema „Gerechtigkeit“ schreibt
Hans Kelsen:
„Ich habe diese Abhandlung mit der Frage begonnen: Was ist Gerechtigkeit? Nun,
an ihrem Ende, bin ich mir wohl bewusst, diese Frage nicht beantwortet zu haben.
Meine Entschuldigung ist, dass ich in dieser Hinsicht in bester Gesellschaft bin. Es
wäre mehr als anmaßend, meine Leser glauben zu machen, mir könnte gelingen,
was die größten Denker verfehlt haben. Und in der Tat, ich weiß nicht und kann
nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne
Traum der Menschheit. Ich muss mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen
und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist.“342
340 Vgl. Kurt Ringhofer und Robert Walter im Vorwort, in: Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 341 Kurt Ringhofer und Robert Walter im Vorwort, in: Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 342 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 43. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
88
Den Wunsch nach Gerechtigkeit begreift Kelsen als elementar und als im Herzen des
Menschen tief verwurzelt.343 Über die in seinen Augen gewaltige, ewige Frage der
Menschheit: „Was ist Gerechtigkeit?“ – die wohl nicht zufällig auch als Titel für sein
Buch dient - schreibt er:
„Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel
kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere
Frage haben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant - so tief gegrübelt. Und
doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je.“344
Zunächst bezeichnet der Begriff der Gerechtigkeit eine positive Eigenschaft – eine
Tugend - eines Menschen. Eine Tugend ist eine moralische Qualität. Die
Gerechtigkeit liegt damit innerhalb des Bereichs der Moral. Für Kelsen stellt der
Begriff der Gerechtigkeit im Verhältnis zur Moral einen Unterbegriff dar. Unter Moral sind soziale Normen zu verstehen, die das Verhalten von Menschen gegenüber
anderen Menschen regeln.345
Kelsen definiert den Begriff der Gerechtigkeit als eine Norm, die eine bestimmte
Behandlung eines Menschen durch einen anderen Menschen vorschreibt. In der
Folge unterteilt er die Gerechtigkeitsnormen in zwei Typen: Er unterscheidet
zwischen einem „metaphysischen Typus“ und einem „rationalen Typus“ von
Gerechtigkeitsnormen. In einem nicht immer einheitlichen Sprachgebrauch werden
die Gerechtigkeitsnormen auch als Gerechtigkeitsformeln, Gerechtigkeitsprinzipien,
Gerechtigkeitsideale und sogar als Gerechtigkeitstheorien bezeichnet.346
343 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 5. 344 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 345 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 357 ff. 346 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365.
89
2.1.1 Die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen
Die metaphysischen (religiös-metaphysischen) Gerechtigkeitsnormen zeichnen sich
dadurch aus, dass sie von einer transzendenten, jenseits jeder möglichen Erfahrung
existierenden Instanz ausgehen. Sie sind aber nicht nur in Bezug auf ihre Herkunft,
sondern auch in Bezug auf ihren Inhalt metaphysisch: Die metaphysischen
Gerechtigkeitsnormen können von der menschlichen Vernunft nicht begriffen
werden. Man muss an ihren Inhalt glauben. Auch an die Instanz, von der sie
ausgehen, muss man glauben. Weder der Norminhalt noch die Schöpfungsinstanz
sind einer rationalen Erkenntnis zugänglich. Das metaphysische Gerechtigkeitsideal
ist absolut. Die Möglichkeit von anderen Gerechtigkeitsnormen oder einer anderen
Instanz, von der sie ausgehen könnten, wird grundsätzlich ausgeschlossen.347
2.1.1.1 Die Gerechtigkeit nach Platon348
Für Kelsen ist Platon der klassische Vertreter von metaphysischen
Gerechtigkeitsnormen. „Gerechtigkeit ist das Zentralproblem seiner gesamten
Philosophie. Und zur Lösung dieses Problems entwickelt er seine berühmte
Ideenlehre. Die Ideen sind transzendente Wesenheiten, die in einer anderen als der
unseren Sinnen wahrnehmbaren Welt existieren und daher dem in der Sinnlichkeit
befangenen Menschen unzugänglich sind.“349
Die Hauptidee bei Platon ist – so Kelsen - die Idee des absolut Guten, der alle
anderen Ideen untergeordnet sind. Bei Platon fällt die Frage nach der Gerechtigkeit
mit der Frage nach dem (absolut) Guten zusammen. Eine Definition des absolut
Guten –oder der Gerechtigkeit- gibt Platon in seinen Dialogen nicht. Die Idee des
absolut Guten liegt nach Platon – so Kelsen - jenseits jeder rationalen Erkenntnis.350
„In einem seiner Briefe – dem siebenten -, wo er Rechenschaft gibt über die
innersten Motive und letzten Ziele seiner Philosophie, erklärt er dass es überhaupt
keine begriffliche Erkenntnis, sondern nur eine Art Schau des absolut Guten
347 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365 f. 348 Platon: *427 v. Chr. Athen, †347 v. Chr. Athen. Platon gilt neben Aristoteles als der bedeutendste Philosoph der griechischen Antike. Er ist der Begründer der Ideenlehre. Berühmtes Werk: „Politeia“ (Der Staat). 349 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 398. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 350 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 398 ff.
90
geben könne, und dass diese Schau sich im Wege eines mystischen Erlebnisses
vollziehe, das nur wenigen und nur durch göttliche Gnade zuteil werde; dass es aber
unmöglich sei, den Gegenstand dieser mystischen Schau, und das heißt das
absolut Gute, in Worten menschlicher Sprache zu beschreiben.“351
2.1.1.2 Die Gerechtigkeit nach Jesus352
Kelsen sieht auch in dem Religionsstifter „Jesus von Nazareth“ einen Vertreter
von metaphysischen Gerechtigkeitsnormen. Nach Platon sollen die Menschen so
behandelt werden, wie es einer – der rationalen Erkenntnis nicht zugänglichen -
transzendenten Idee des absolut Guten entspricht. Jesus verkündet – so Kelsen -
das Prinzip der Liebe als die neue, die wahre Gerechtigkeit. Doch ist die Liebe, von
der Jesus spricht, nicht die Liebe, die wir als Menschen kennen. Es ist eine Liebe, die
– so wie das absolut Gute nach Platon - einer rationalen Erkenntnis nicht zugänglich ist. Sie ist ein Geheimnis, diese Liebe, die eine neue, wahre
Gerechtigkeit sein soll.353
„Diese Gerechtigkeit liegt jenseits jeder in einer gesellschaftlichen Realität
möglichen Ordnung; und die Liebe, die diese Gerechtigkeit ist, kann nicht das
menschliche Gefühl sein, das wir Liebe nennen. Nicht nur darum, weil es gegen des
Menschen Natur ist, seinen Feind zu lieben, sondern auch darum, weil Jesus die
menschliche Liebe, die den Mann mit dem Weib, die Eltern mit ihren Kindern
verbindet, nachdrücklich ablehnt.“354
Kelsen belegt seine Aussagen und Schlussfolgerungen mit – umfangreichen - Zitaten
aus der Bibel. Er ist der Meinung, dass die Lehre von Jesus in den Evangelien sehr
widerspruchsvoll dargestellt wird. So ist für ihn –zum Beispiel- das Prinzip der Nächstenliebe kaum mit dem Prinzip der Vergeltung – und beide Prinzipien findet
er in den Evangelien - vereinbar.355
351 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 399. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 352 Jesus von Nazareth: *4 v. Chr. Nazareth, †31 n. Chr. Jerusalem. 353 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 400 f. 354 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 400. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 355 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anahng: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 387.
91
2.1.2 Die rationalen Gerechtigkeitsnormen Für die rationalen (wissenschaftlich-rationalen) Gerechtigkeitsnormen ist nicht
entscheidend, ob sie auch – so wie die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen - von
einer transzendenten Instanz ausgehen, oder doch – und das ist der Regelfall - der immanenten Welt der Wirklichkeit entstammen. So wird – zum Beispiel - die
Gerechtigkeitsnorm der Vergeltung – obwohl dem rationalen Typus zugehörig - nicht
selten als Wille der Gottheit und damit als von einer transzendenten Instanz
ausgehend dargestellt. Das charakteristische Merkmal der rationalen
Gerechtigkeitsnormen ist, dass sie die Frage nach der Gerechtigkeit mit den Mitteln der menschlichen Vernunft beantworten wollen. Sie versuchen, eine präzise
Definition des Begriffs der Gerechtigkeit zu geben. Es soll rational nachvollziehbar
werden, warum ein bestimmtes Verhalten als „gerecht“ und ein anderes als
„ungerecht“ bewertet wird. Die Gerechtigkeitsurteile erscheinen nicht länger als von
einer – unerkennbaren - Macht oder Gottheit ausgesprochen.356
2.1.2.1 Die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine)
Kelsen zeigt, dass die Formel „Jedem das Seine“ inhaltslos und völlig leer ist. Es
wird keine Antwort gegeben auf die Frage, was ein Mensch als „das Seine“
betrachten darf. Die Formel ist damit unanwendbar. Oder anders gewendet: Die
Formel ist nur unter der Voraussetzung anwendbar, dass bereits vorher festgelegt
worden ist, was für einen bestimmten Menschen „das Seine“ ist. Diese Festlegung
kann nur durch eine Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts getroffen
werden.357 Damit läuft die Formel „Jedem das Seine“ auf die sinnlose Aussage
hinaus, „dass jedem zugeteilt werden soll, was ihm zugeteilt werden soll.“358
Die Formel kann nur angewendet werden, wenn – bereits vorher - eine normative
Ordnung existiert, die sagt, was für einen Menschen „das Seine“ – und damit das ihm
Gebührende, das für ihn Gerechte - ist.
356 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 23. 357 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 366 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 23 f. 358 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 366. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
92
2.1.2.2 Die Goldene Regel
Die Goldene Regel in einem subjektiven Sinn:
Die Goldene Regel lautet: „Was Du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder positiv formuliert: „Man soll andere so behandeln, wie
man selbst gerne behandelt werden möchte.“ Wird die Goldene Regel wörtlich – in
einem subjektiven Sinn - verstanden, führt sie zu absurden Ergebnissen. Sie ist in
Wahrheit unanwendbar. Eine moralische oder rechtliche Gesellschaftsordnung ist auf
der Grundlage eines subjektiven Kriteriums nicht möglich. So wäre – zum Beispiel
- die Bestrafung eines Straftäters ausgeschlossen, da niemand gerne bestraft
werden möchte. Dann ist überhaupt nicht klar, ob ein anderer Mensch tatsächlich so
behandelt werden möchte, wie ich in seiner Situation gerne behandelt werden würde.
Schließlich dürfte jemand, dem es nichts ausmacht belogen und getäuscht zu
werden (weil er meint, er wäre klug genug, Lügen und Täuschungen zu
durchschauen), nach der Goldenen Regel andere Menschen belügen und
täuschen.359
Die Goldene Regel in einem objektiven Sinn:
Wird die Goldene Regel in einem wörtlichen und subjektiven Sinn verstanden, kann
sie nicht als Grundnorm einer Gesellschaftsordnung dienen. Eine Norm mit dem
Inhalt, man solle andere Menschen so behandeln, wie man von ihnen selbst gerne
behandelt werden möchte, ergibt für das gesellschaftliche Leben keinen Sinn. Sie ist
unanwendbar und führt zu absurden Ergebnissen. Daher wird versucht, der
Goldenen Regel einen objektiven Inhalt beizulegen. „Die Goldene Regel muss dahin
verstanden werden, dass sie ein objektives Kriterium aufstellt. Ihre Bedeutung
muss sein: Verhalte dich gegenüber anderen so wie diese sich dir gegenüber
verhalten sollen; und zwar einer objektiven Ordnung gemäß verhalten sollen.“360 Nun
stellt sich aber die Frage, wie sich die anderen Menschen mir gegenüber verhalten
sollen. Es stellt sich die Frage nach dem Inhalt der objektiven Ordnung. Aber auf
diese entscheidende Frage gibt die Goldene Regel „ebenso wenig eine Antwort
359 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 367 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 29 ff. 360 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 30. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
93
wie die Formel des suum cuique auf die Frage, was jedem das Seine ist.“361 Die
Goldene Regel setzt – so wie die Formel des suum cuique - eine normative Ordnung
stillschweigend voraus. Dies führt zu der absurden Konsequenz, dass letztlich jede beliebige soziale Ordnung – jede geltende Rechtsordnung und auch jede geltende
Moralordnung - der Goldenen Regel entspricht. So wie die Formel des „suum cuique“
ist daher auch die Gerechtigkeitsnorm der Goldenen Regel sinnlos und leer, weil
sie vorgibt, eine Regel, eine Norm aufzustellen, die sie aber in Wahrheit bereits voraussetzt und voraussetzen muss.362
2.1.2.3 Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant
Das Adjektiv „kategorisch“ bedeutet „ausdrücklich, eindeutig, keinen Widerspruch
duldend, nicht an Bedingungen geknüpft“ (spätlateinisch „categoricus“ = zur Aussage
gehörend). Für Kant stellt der der sogenannte „Kategorische Imperativ“ – ein
zentraler und berühmter Begriff seiner Philosophie - einen Gegenbegriff zum bloß
hypothetischen Imperativ dar. Der Kategorische Imperativ findet seine Anwendung
ausschließlich im Bereich der Moral.363 „Er lautet in der geläufigsten seiner
verschiedenen Formulierungen: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.364 Dieser
Imperativ ist nicht eigentlich als eine Gerechtigkeitsnorm, sondern als ein
allgemeines und oberstes Prinzip der Moral gedacht, in dem das Prinzip der
Gerechtigkeit inbegriffen ist.“365
Kelsen ist der Meinung, dass die Goldene Regel – in ihrem objektiven Sinn - Kant zu
seinem Kategorischen Imperativ veranlasst hat.366 Jedenfalls sieht er eine nahe
Verwandtschaft zwischen diesen beiden Gerechtigkeitsnormen oder
Gerechtigkeitsprinzipen. In seinen beiden Werken über die Gerechtigkeit gelingt es
Kelsen nachzuweisen, dass auch der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant 361 Kelsen, , Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 368. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 362 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 367 ff. 363 Zum Begriff des „Kategorischen Imperativs“ vgl. Kaufmann / Hassemer / Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (2004) 184 ff. 364 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, Seite 421. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausgabe. 365 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 368. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 366 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 32.
94
– nicht anders als die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine) oder die
Goldene Regel - eine nichtssagende, inhaltsleere Formel darstellt. Der
Kategorische Imperativ gibt keine Antwort auf die Frage, wie ich handeln soll, um
sittlich gut zu handeln. Vielmehr setzt er eine bestimmte Gesellschaftsordnung –
eine bestimmte Rechtsordnung oder eine bestimmte Moralordnung - bereits voraus.
Die von Kant vorgenommenen Ableitungen aus dem Kategorischen Imperativ
beruhen nach Kelsen auf Trugschlüssen. Die Beispiele, die Kant in seinem Werk
anführt, überzeugen ihn nicht. Jedes einzelne von Kant angeführte Beispiel wird von
Kelsen ganz genau analysiert und systematisch widerlegt. Das Ergebnis der Analyse
ist: Wenn Kant von einem „Nicht-Wollen-Können“ spricht, meint er in Wahrheit ein
„Nicht-Wollen-Sollen“. Dies bedeutet: Kant setzt – nach Kelsen - ein bestimmtes
inhaltliches Sollen und damit eine bestimmte Rechtsordnung oder eine bestimmte
Moralordnung – stillschweigend und unbewusst - bereits voraus.367
Die Beispiele, die Kant anführt, beziehen sich auf bestimmte „Maximen“ (worunter
Regeln zu verstehen sind, nach denen ein Mensch handeln will und sich vornimmt zu
handeln), von denen er, Kant, meint, dass man nicht wollen könne, dass diese
Maximen zu einem „allgemeinen Gesetz“ – einer generellen Norm - werden. Kant
begründet seine Meinung damit, dass bestimmte Maximen – würden sie zu einem
allgemeinen Gesetz erhoben - sich, wie Kant meint, selbst widersprechen würden.
Kelsen weist jedoch nach, dass sich keine Maxime deswegen selbst widerspricht,
weil sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben wird. Zudem zeigt er, dass man sehr
wohl von jeder Maxime – und mag diese auch noch so schädlich sein - wollen könne, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, dass man dies nur – wenn man
eine entsprechende Gesellschaftsordnung voraussetzt - nicht wollen solle.368
Folgende Beispiele, die Kant in seinem Werk369anführt, werden von Kelsen einer
genauen Analyse unterzogen und widerlegt:
Beispiel 01: Kant meint, man könne von der Maxime, das Leben durch Selbstmord zu
beenden, nicht wollen, dass sie ein allgemeines Naturgesetz werde. Kelsen weist
nach, dass Kant ein Moralgesetz stillschweigend voraussetzt, das Selbstmord unter
367 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 368 ff. 368 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 369 ff. 369 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, ab Seite 421. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausage.
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allen Umständen verbietet.370 „Dass ein Mensch tatsächlich wollen kann, dass die
Maxime, ein unerträgliches Leben selbst zu beenden, ein allgemeines Gesetz werde,
kann ernstlich nicht bezweifelt werden.“371
Beispiel 02: Kant meint, man könne von der Maxime, ein Versprechen zu geben in
der Absicht, es nicht zu halten, nicht wollen, dass es ein allgemeines Gesetz
werde.372 Kelsen entgegnet: „Aber warum sollte ein schlechter Mensch nicht einen
solchen Zustand wollen können?“373 Kant setzt – so Kelsen - eine Norm
stillschweigend voraus, die besagt, dass gegebene Versprechen gehalten werden
sollen.
Beispiel 03: Kant meint, man könne von der Maxime, Geld zu borgen, obgleich man
weiß, es nicht zurückzahlen zu können, nicht wollen, dass es ein allgemeines
Naturgesetz werde.374 Kelsen entgegnet: „Dies zu wollen ist sicherlich möglich;
nur soll man es nicht wollen.“375
Beispiel 04: Kant meint, man könne von der Maxime, „lieber dem Vergnügen
nachzugehen, als sich um Erweiterung und Verbesserung seiner Naturanlagen zu
bemühen,“376 nicht wollen, dass es ein allgemeines Gesetz werde.377 Kelsen
entgegnet: „Dass ein Mensch, der lieber dem Vergnügen lebt als seine Fähigkeiten
auszubilden, wollen kann, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz werde, ist
sehr wahrscheinlich.“378
Beispiel 05: Kant meint, man könne von der Maxime, nur zu seinem eigenen
Wohlbefinden, nicht aber zum Wohlbefinden anderer beizutragen, nicht wollen, dass
370 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 369 f. 371 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 370. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 372 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 370 f. 373 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 370. 374 Vgl. Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. 375 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 376 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, Seite 423. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausgabe. 377 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. 378 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
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es ein allgemeines Gesetz werde.379 Kelsen entgegnet: „Es liegt auf der Hand, dass
ein Egoist ein allgemeines Gesetz des Egoismus wollen und dabei
konsequenterweise auf den Beistand anderer verzichten, daher ohne Widerspruch
wollen kann, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz werde.“380
Die Beispiele, die Kant anführt und mit denen er seinen Kategorischen Imperativ
darzustellen versucht, bringen – nach Kelsen - ausschließlich die traditionelle Moral und das positive Recht seiner Zeit zum Vorschein. Das, was Kant vorgibt, aus dem
Kategorischen Imperativ abzuleiten, wird nicht abgeleitet, sondern – stillschweigend
und unbewusst - bereits vorausgesetzt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als -
so Kelsen - der Kategorische Imperativ eine leere Formel darstellt.381 Jede Vorschrift
jeder moralischen und politischen Gesellschaftsordnung ist – so Kelsen - mit dem
Kategorischen Imperativ vereinbar, da dieser „nichts anderes sagt, als dass der
Mensch in Einklang mit generellen Normen handeln soll.“382
2.1.2.4 Tue das Gute, meide das Böse
Die Gerechtigkeitsnorm „Tue das Gute, meide das Böse“ setzt – so wie der
Kategorische Imperativ Kants, die Goldene Regel oder die Formel „Jedem das
Seine“ - eine bereits bestehende Ordnung der Moral oder des Rechts bereits voraus.
In einem subjektiven Sinn kann sie auf keinen Fall verstanden werden. Ihr Inhalt
kann nicht sein, dass man einen bestimmten Menschen so behandeln soll, wie dieser
behandelt zu werden wünscht. Soll jemand „gut“ behandelt werden, kann dies nur
bedeuten, dass er entsprechend einer als „gut“ – und damit als „gerecht“ -
vorausgesetzten Norm behandelt werden soll. Dies zeigt, dass die Formel „Tue das
Gute, meide das Böse“ in inhaltlicher Hinsicht völlig leer ist. Sie setzt eine bestimmte normative Ordnung bereits voraus. Ohne die Voraussetzung einer –
bereits vorher - geltenden Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts ist sie
überhaupt nicht anwendbar.383
379 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 372. 380 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 372. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 381 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 32 f. 382 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 33. 383 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 374.
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2.1.2.5 Die Lehre der „Mesotes“
Die Lehre der „Mesotes“ (griech. = „die Mitte“) geht auf Aristoteles384 zurück. Die Idee
ist, dass sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel falsch sei und nur die Mitte – die
„goldene Mitte“ - der Maßstab für das richtige Verhalten sein könne. Die Ethik385 von
Aristoteles zielt – nach Kelsen - auf ein System von Tugenden ab. Unter dem
Begriff der Tugend ist eine positive und erstrebenswerte Charaktereigenschaft zu
verstehen. Die Gerechtigkeit stellt im aristotelischen System die Haupttugend dar.
Der Gegenbegriff zur Tugend ist der Begriff des Lasters. Die Tugend soll nun die
Mitte zwischen zwei Extremen – zwischen zwei Lastern - sein.386 „So ist z. B. die
Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen dem Laster der Feigheit (einem Zuwenig
an Mut) und dem Laster der Tollkühnheit (einem Zuviel an Mut). Das ist die
berühmte Lehre der Mesotes.“387
Die Meinung von Aristoteles, der Moralphilosoph könne alle Tugenden auf eine
ähnliche Weise bestimmen wie ein Geometer jenen Punkt bestimmt, der eine
vorgegebene Linie halbiert und als Mittelpunkt von beiden Endpunkten gleich weit
entfernt ist, überzeugt Kelsen nicht. Er, Kelsen, argumentiert, dass „ein Geometer
eine Linie in zwei gleiche Teile nur unter der Voraussetzung teilen kann, dass die
beiden Endpunkte schon vorher gegeben sind.“388 Kelsen weist nach, dass
Aristoteles in seiner Lehre die Existenz der verschiedenen Laster stillschweigend
voraussetzt. Für Aristoteles liegt – nach Kelsen - ein Laster vor, wenn die traditionelle Moral seiner Zeit sagt, dass ein Laster vorliegt.389 „Das bedeutet, dass
die Ethik der Mesotes-Doktrin nur vorgibt, ihr Problem zu lösen, das Problem: Was
ist böse, also ein Laster, und folglich, was ist gut oder eine Tugend?“390
Kelsen zeigt, dass die Mesotes-Formel eine gegebene Gesellschaftsordnung als gültig voraussetzt. Dies bedeutet, dass das als „gut und gerecht“ bezeichnet wird,
was eine gegebene, stillschweigend vorausgesetzte Gesellschaftsordnung als „gut
384 Aristoteles: *384 v. Chr. Stagira, †322 v. Chr. Chalkis. 385 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129 b. Kelsen zitiert nach diesem Werk von Aristoteles. 386 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. 387 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 388 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 389 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 374 ff. 390 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
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und gerecht“ bezeichnet. Die Mesotes-Formel läuft damit letztlich – nicht anders als
die bisher dargestellten Formeln und Normen der Gerechtigkeit - auf eine
Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung der Moral und des
Rechts hinaus. „Die entscheidende Frage: Was ist Unrecht, ist mit der Mesotes-
Formel nicht beantwortet.“391
2.1.2.6 Das Prinzip der Vergeltung
Kelsen sieht in jeder positiven Rechtsordnung eine Verwirklichung des Prinzips
der Vergeltung. Die spezifische Technik des positiven Rechts macht das sichtbar: An
einen vom Recht bestimmten Tatbestand – den Unrechtstatbestand - wird eine vom
Recht bestimmte Folge – die Unrechtsfolge - geknüpft.392 Die Wurzel des
Vergeltungsprinzips ist – unter psychologischen Gesichtpunkten - im Racheinstinkt der Menschen zu erkennen. Es fordert Strafe für Schuld oder Unrecht und Lohn für Verdienst. Das sogenannte „Talionsprinzip“ (Auge um Auge, Zahn um Zahn) stellt
das Vergeltungsprinzip in seiner rohesten Form dar.393
Nach Kelsen ist das Prinzip der Vergeltung sinnlos, weil die Antwort auf die Frage,
was gut und was böse ist, als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Eine bestimmte
gesellschaftliche Ordnung der Moral oder des Rechts legt – vorher - fest, was als gut
und was als böse zu gelten hat.
2.1.2.7 Jedem nach seiner Leistung
Die Gerechtigkeitsnorm „Jedem nach seiner Leistung“ – auch kurz „Leistungsprinzip“
genannt - ist dem Vergeltungsprinzip verwandt. Es wird eine Beziehung zwischen
einer Aktion und einer Reaktion hergestellt. Die Aktion ist regelmäßig eine
Arbeitsleistung. Sie kann aber auch – bei einem weiteren Verständnis der
Gerechtigkeitsnorm - die Lieferung einer Ware sein. Die Reaktion besteht bei der
Arbeitsleistung in der Entlohnung, bei der Lieferung einer Ware im Preis. Für Kelsen
kann es eine „gerechte Entlohnung“ (einen „gerechten Preis“) nicht geben.394
391 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 36. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 392 Zur Definition und zur Struktur des Begriffs der „Rechtsnorm“ siehe oben. 393 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 376 ff. 394 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 380 ff.
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Kelsen zeigt, dass nicht die Aktion die Reaktion, sondern die Reaktion die Aktion bestimmt. Es ist nicht der Wert der Arbeitsleistung, der die Entlohnung bestimmt. Es
ist auch nicht der Wert der Ware, der den Preis bestimmt. Es ist umgekehrt: „Der
Wert der Arbeitsleistung wird durch die Entlohnung, der Wert der Ware durch den
Preis bestimmt, den die Arbeitsleistung oder die Ware tatsächlich erzielt.“395
In seiner weiteren Analyse gelingt es Kelsen darzulegen, dass auch das
Gerechtigkeitsprinzip der Leistung letztlich leer bleibt. Es bietet nur unter einem
einzigen Gesichtspunkt eine nachvollziehbare Verhältnismäßigkeit: Jemand, der 3
Stunden arbeitet, wird für 3 Stunden, jemand, der 7 Stunden arbeitet, für 7 Stunden
und jemand, der 35 Stunden arbeitet, wird für 35 Stunden bezahlt. Die
entscheidende Frage jedoch, wie viel jemand für 1 Stunde bekommen soll, bleibt unbeantwortet. Es ist letztlich das Wirtschaftssystem, das die Frage nach der
Grundlage der Entlohnung beantwortet. Es gibt weder einen objektiven Wert einer
Arbeitsleistung noch einen objektiven Wert einer Ware.396 Vielmehr kann das
Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Entlohnung (und das Verhältnis zwischen
Ware und Preis) „in jeder beliebigen Weise bestimmt werden und wird –wie
bemerkt- im Rahmen einer freien Wirtschaft durch Angebot und Nachfrage, im
Rahmen einer geplanten Wirtschaft durch autoritäre Reglementierung
bestimmt.“397
2.1.2.8 Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen
Die kommunistische Gerechtigkeitsnorm „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen“ geht auf „Karl Marx“398 zurück. Karl Marx meint, so
Kelsen, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung ein ungleiches – und damit
auch ein ungerechtes - Recht darstelle, weil dieses Recht die Ungleichheiten
unberücksichtigt lasse, die zwischen den Menschen in Bezug auf ihre
Arbeitsfähigkeit bestehen. Wahre Gleichheit und damit wahre Gerechtigkeit könne
nach Marx – so Kelse n- nur in der kommunistischen Wirtschaft der Zukunft
395 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 381. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 396 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 380 ff. 397 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 381. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 398 Karl Marx: *1818 Trier, †1883 London. Karl Marx ist ein deutscher Philosoph, Historiker und Journalist.
100
verwirklicht werden, wo der Grundsatz gelten werde: „Jeder nach seinen Fähigkeiten,
jedem nach seinen Bedürfnissen.“399
Die Kritik von Karl Marx an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verlange, so
Kelsen, dass bei der Entlohnung der Arbeit gewisse Ungleichheiten – und zwar die
Ungleichheit der Fähigkeiten und die Ungleichheit der Bedürfnisse -
berücksichtigt werden. Das für die kapitalistische Wirtschaftsordnung maßgebliche
Leistungsprinzip werde abgelehnt.400
Jeder nach seinen Fähigkeiten:
Jeder einzelne Mensch soll (nur) das seiner Natur Gemäße, das seinen Fähigkeiten
Entsprechende leisten. Doch: Wer bestimmt die Fähigkeiten jedes einzelnen
Menschen? Jeder einzelne Mensch selbst? Ein subjektives Kriterium kann wohl
kaum gemeint sein. Und: Wer legt die Art und das Ausmaß der Leistung fest, die
jedem einzelnen Menschen – seinen Fähigkeiten entsprechend - abzuverlangen ist?
Und: Was hat zu geschehen, wenn ein bestimmter Mensch nicht leistet, was er -
seinen Fähigkeiten entsprechend - leisten soll?401 „Man kann wohl nicht ernstlich
bezweifeln, dass diese Fragen von den hiezu berufenen Organen der Gemeinschaft,
nach generellen Normen der Gemeinschaftsordnung entschieden werden
müssen.“402
Jedem nach seinen Bedürfnissen:
Auch der zweite Teil des kommunistischen Gerechtigkeitsprinzips „Jedem nach
seinen Bedürfnissen“ kann nur unter Anwendung eines objektiven Kriteriums
funktionieren. Denn anzunehmen, eine Gesellschaftsordnung könne alle subjektiv
geäußerten Bedürfnisse aller Menschen befriedigen, wäre eine utopische Illusion.
Keine Gesellschaftsordnung kann alle Bedürfnisse aller Menschen befriedigen, die
diese subjektiv empfinden. Das bedeutet, dass eine Gesellschaftsordnung – vorher -
jene Bedürfnisse auszuwählen und zu bestimmen hat, die ihr der Befriedigung
399 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 382 ff. 400 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anahng: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 383 ff. 401 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 384 ff. 402 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 384. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
101
würdig erscheinen.403 „Da eine kommunistische Gesellschaftsordnung in erster Linie
eine Wirtschaftsordnung ist, kommen vor allem wirtschaftliche Bedürfnisse, wie das
Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Behausung usw. in Betracht.“404
Über den Inhalt der Gesellschaftsordnung, die in einer fernen Zukunft errichtet
werden oder von selbst entstehen soll, sagt das kommunistische
Gerechtigkeitsprinzip nichts aus. Niemand kann voraussehen, welche Antworten auf
die entscheidenden Fragen die angekündigte Gesellschaftsordnung der Zukunft geben wird.405
2.1.2.9 Das Prinzip der Freiheit
Das Gerechtigkeitsprinzip der Freiheit hat insofern eine herausragende Bedeutung,
als in vielen Moralsystemen die individuelle Freiheit als höchster Wert gilt. Kelsen
stellt der ursprünglichen Idee der Freiheit – der individuellen Freiheit - eine neue,
gewandelte, aus einem geschichtlichen Entwicklungsprozess hervorgegangene
soziale Freiheit gegenüber.406 Kelsen zeigt, dass die ursprüngliche Idee der Freiheit
– die individuelle Freiheit - einer Umwandlung bedarf, wenn sie in gesellschaftlichen
Zusammenhängen eine Rolle spielen soll. Die Freiheit von jeder normativen
Ordnung muss in eine Freiheit unter einer bestimmten normativen Ordnung
umgewandelt werden. Aus einer – asozialen oder antisozialen - individuellen Freiheit
muss eine (neue) soziale Freiheit werden.407
Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, die der individualistischen Naturrechtslehre
zugeschrieben wird, beruht auf der Freiheitsidee der Selbstbestimmung: Wenn es
eine normative Ordnung geben muss (und somit die Freiheit der Ungebundenheit
nicht möglich ist), darf diese Ordnung nur mit Zustimmung der ihr Unterworfenen
errichtet werden. Die erstmalige Errichtung einer Gesellschaftsordnung entsteht – so
das Gedankenexperiment - durch Vertrag. Durch den sogenannten
„Gesellschaftsvertrag“ binden und verpflichten sich die Menschen selbst. Wichtig ist,
dass sich das Gerechtigkeitsprinzip der Selbstbestimmung nicht auf den Inhalt,
403 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 385 f. 404 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 385. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 405 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 28 f. 406 Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 388 f. 407 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 388 f.
102
sondern ausschließlich auf die Form der Erzeugung einer Gesellschaftsordnung
bezieht. Ist ein – bloß gedanklich angenommener - Gesellschaftsvertrag
abgeschlossen und ist damit eine Gesellschaftsordnung errichtet, kann diese
Ordnung in Zukunft durch das Mehrheitsprinzip abgeändert werden. Das Prinzip
der Selbstbestimmung wird durch das Mehrheitsprinzip abgeschwächt.408 Die
ursprüngliche Idee der Freiheit – die individuelle Freiheit - bedarf der Umwandlung
in eine soziale Freiheit, um als Prinzip der Gerechtigkeit gesellschaftliche
Wirksamkeit entfalten zu können.
2.1.2.10 Das Prinzip der Gleichheit
Das Prinzip der Gleichheit ist eines der wichtigsten Gerechtigkeitsprinzipien. Es wird
nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Kelsen weist in seiner – sehr
umfangreichen und genauen - Analyse nach, dass es nicht möglich ist, den Begriff
der Gerechtigkeit mit dem der Gleichheit zu erklären oder zu beschreiben:
Das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit kommt in der Norm zum Ausdruck, dass
alle Menschen gleich behandelt werden sollen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die
Menschen und auch die äußeren Umstände nicht gleich, sondern vielmehr ungleich
sind. Es wäre auch absurd, das Gegenteil zu behaupten. Die Ungleichheit der
Menschen und auch der äußeren Umstände ist offenkundig.409 Die Forderung, alle
Menschen gleich zu behandeln, kann daher nur bedeuten, „dass die tatsächlich
vorhandenen und nicht zu leugnenden Ungleichheiten für die Behandlung der
Menschen irrelevant seien.“410
Eine Gerechtigkeitsnorm, die verlangt, dass alle Menschen gleich oder alle
Menschen ungleich behandelt werden sollen, ist bloß formaler Natur. Sie sagt noch
nichts darüber aus, was der Inhalt dieser absolut gleichen oder absolut ungleichen
Behandlung sein soll. Sie setzt – um überhaupt angewendet werden zu können -
eine materielle Norm (der Moral oder des Rechts) voraus, die den Inhalt der
Behandlung der Menschen bestimmt.411
408 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 389 f. 409 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 390 ff. 410 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 390. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 411 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 391 ff.
103
Alle vorhandenen Ungleichheiten zu berücksichtigen, ist nicht möglich. Keine einzige
der tatsächlich vorhandenen Ungleichheiten zu berücksichtigen – und damit die
Menschen und die äußeren Umstände wirklich gleich zu behandeln - würde zu
absurden Konsequenzen führen.412 „Es ist nicht möglich, bei jeder Art der
Behandlung alle Ungleichheiten unberücksichtigt zu lassen. Gewisse
Ungleichheiten müssen in Rechnung gezogen werden.“413 Diese Einsicht führt zu
einer Neuformulierung des Gerechtigkeitsprinzips der Gleichheit. Es wird gesagt: Nur Gleiche sollen gleich, Ungleiche aber ungleich behandelt werden. Dieses
neuformulierte Gerechtigkeitsprinzip ist jedoch nicht länger – so Kelsen - ein solches
der Gleichheit. Denn: „Dieser Grundsatz fordert, dass Ungleichheiten in Bezug auf
gewisse Qualitäten berücksichtigt, Ungleichheiten in Bezug auf die anderen
Qualitäten nicht berücksichtigt werden sollen.“414
Kelsen zeigt, dass die Forderung, Gleiche gleich, Ungleiche aber ungleich zu
behandeln, letztlich eine inhaltsleere Formel darstellt. Sie ist nur die logische
Konsequenz des generellen Charakters jeder Norm. Jede generelle Rechtsnorm
schreibt vor, dass unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Folge (eine
bestimmte Behandlung der Menschen) eintreten soll.415 „Die Gleichheit, die darin
besteht, dass Gleiche gleich behandelt werden sollen, ist somit eine Forderung
der Logik, nicht der Gerechtigkeit.“416
Die Formel, dass Gleiche gleich, Ungleiche aber ungleich behandelt werden sollen,
setzt – nicht anders als alle anderen, bereits erörterten Formeln, Normen und
Prinzipien der Gerechtigkeit - eine bestimmte Gesellschaftsordnung der Moral oder
des Rechts bereits voraus. Als bloß allgemeine Formel lässt sie die entscheidenden
Fragen unbeantwortet. „Das heißt aber, dass die entscheidende Frage: was ist
gleich, durch das sogenannte Prinzip der Gleichheit nicht beantwortet wird.“417
412 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 391 ff. 413 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 391. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 414 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 392. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 415 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 393 ff. 416 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 394. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 417 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 26. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
104
2.2 Horst Dreier, Hannover:
„Trennung von Recht und Gerechtigkeit“418 Dreier legt dar, dass nach dem Konzept der „Reinen Rechtslehre“ die Annahme der
Gerechtigkeit als ein Kriterium der materialen Richtigkeit des Rechts mit dem
Konstruktionsprinzip der Grundnorm entfällt: Wird das Recht als „Deutungsschema“ gebraucht, lässt sich der subjektiv intendierte Sinn der Akte
einer wirksamen Zwangsordnung auch als ihr objektiver Sinn interpretieren. Für
Kelsen stelle, so Dreier, die Idee absoluter Gerechtigkeit ein irrationales Ideal dar.
Dies bedeute aber nicht, dass Kelsen die Bedeutung der Gerechtigkeit, oder
genauer, die Bedeutung der höchst unterschiedlichen und einander auch
widersprechenden Gerechtigkeitsvorstellungen als Fixpunkte für das
gesellschaftliche Zusammenleben verkennen oder für unerheblich halten würde.419
Für den Relativisten Kelsen ist die Frage, was im Einzelfall als „gerecht“ zu gelten
habe, nicht mit letzter Verbindlichkeit zu entscheiden. Die berühmten
Gerechtigkeitskriterien der Philosophiegeschichte (suum cuique, Mesotes-
Formel, Goldene Regel, Kategorischer Imperativ etc.) stellen Scheinweisheiten dar:
Die Gerechtigkeitskriterien lassen beliebige Inhalte zu. Die Entscheidung über die
Feststellung des jeweils Gerechten ist immer bereits vorausgesetzt und damit kein
Ergebnis einer regelgeleiteten Prüfung.420
Der Trennung von Recht und Gerechtigkeit kommt eine ideologiekritische
Funktion zu: Es entspricht dem Wesen des positiven Rechts, dass es durch
menschliche Tat erzeugt wird. Es kann daher nie absolute, sondern stets nur relative und damit anfechtbare Geltung beanspruchen. Menschliche Regeln und
Vorschriften sind immer unvollkommen und dürfen bereits aus diesem Grund mit der
Idee einer „absoluten Gerechtigkeit“ nicht identifiziert werden. Eine Gleichsetzung
418 Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 160 ff. 419 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 160 f. 420 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 161 f.
105
von Recht und Gerechtigkeit würde eine Rechtsordnung als unangreifbar
darstellen.421
Nur bei einer strikten Trennung von Recht und Gerechtigkeit ist es möglich, dass
eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung zum Kriterium und Maßstab der
inhaltlichen Beurteilung einer positiven Rechtsordnung werden kann. Denn: Wäre
das Recht mit der Gerechtigkeit identisch, könnte es auch nicht an der Gerechtigkeit
–an einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung- gemessen werden.422
Die Gerechtigkeitsidee ist eine metarechtliche Leitvorstellung. Sie meint eine gute,
richtige – und damit eine gerechte - gesellschaftliche Ordnung. Eine positivistische
Rechtslehre – und eine solche stellt die „Reine Rechtslehre“ dar - lehnt jedoch ein
vorpositives Bezugszentrum des Rechts konsequent ab. Als Gegenstand der
wissenschaftlichen Erkenntnis akzeptiert sie ausschließlich das positive Recht. Jede
vorgängige Wertbestimmung muss aus dem – in diesem Sinne - „reinen“
Wissenschaftsgegenstand ausgeschieden werden. Auch die Bewahrung des
Friedenszustandes ist keine dem Recht wesentliche Funktion. Für eine positivistische
Rechtslehre – und damit für die „Reine Rechtslehre“ - gibt es keine dem Recht
zwingend vorgegebenen Inhalte. Das (positive) Recht kann jeden beliebigen Inhalt haben. Diesen Inhalt zu erkennen und zu beschrieben, das – und nur das - ist
die Aufgabe einer (positivistischen) Rechtswissenschaft.423
421 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 162 f. 422 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 163 f. 423 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 164 ff.
106
2.3 Zusammenfassung
Eine absolute Gerechtigkeit – und eine solche behaupten die metaphysischen
Gerechtigkeitsnormen - gibt es für Kelsen nicht. Er sieht in ihr ein „irrationales Ideal“. Für Kelsen gibt es nur eine relative Gerechtigkeit. Die von ihm analysierten
Normen, Formeln und Prinzipien der Gerechtigkeit stellen in seinen Augen
inhaltslose Hülsen dar. Sie geben auf die entscheidenden Fragen nach der
Gerechtigkeit keine Antwort. Regelmäßig setzen sie eine bestimmte
Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts bereits voraus. Die Geschichte
der menschlichen Erkenntnis zeigt, so Kelsen, dass auf rationalem Wege eine
absolut gültige Norm gerechten Verhaltens nicht gefunden werden kann. Die
menschliche Vernunft kann nur relative Werte – und damit auch nur eine relative
Gerechtigkeit - begreifen.424 Dies bedeutet, „dass das Urteil, mit dem etwas für
gerecht gehalten wird, niemals mit dem Anspruch auftreten kann, die Möglichkeit
eines gegenteiligen Werturteils auszuschließen.“425
Kelsen bekennt sich zu einer relativistischen Wertlehre und damit zum moralischen
Prinzip der Toleranz. Er fordert, religiöse und politische Anschauungen anderer
Menschen wohlwollend zu verstehen. Und zwar vor allem dann, wenn man sie nicht
teilt. Es versteht sich für ihn von selbst, dass es eine absolute Toleranz nicht geben kann. Toleranz kann es nur im Rahmen einer positiven Rechtsordnung
geben. Jede Gewaltanwendung unter den Menschen muss verboten, die friedliche
Äußerung der Meinungen hingegen garantiert sein.426 „Die höchsten sittlichen Ideale
sind kompromittiert worden durch die Intoleranz jener, die für sie eingetreten sind.“427
Auf die Frage, ob eine Demokratie tolerant bleiben kann, wenn sie sich gegen
antidemokratische Umtriebe verteidigen muss, antwortet Kelsen in geradezu
prophetischer Weise, wenn man (wir schreiben das Jahr 2015) an aktuelle
politische Ereignisse denkt:
424 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40 ff. 425 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 426 Vgl. Kelsen, was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40 ff. 427 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 41.
107
„Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer
Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich
Demokratie von Autokratie.“428
Kelsen führt in der Folge aus, dass es nur dann Sinn macht, jede Form der
Autokratie abzulehnen und stolz auf die Demokratie zu sein, wenn der Unterschied zwischen Autokratie und Demokratie nicht aus dem Blick gerät. Kelsen sagt zwar,
dass jede demokratische Regierung das Recht hat, sich gegen gewalttätige
Umsturzversuche – mit (verhältnismäßiger) Gewalt – zu wehren.429 Er sagt aber
auch:
„Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, dass sie sich selbst
aufgibt.“430
428 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 429 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. 430 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)
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