kann / darf man die bibel feministisch...
Post on 18-Sep-2018
218 Views
Preview:
TRANSCRIPT
KANN / DARF MAN DIE BIBEL FEMINISTISCH LESEN?
Erhard S. Gerstenberger
Auf die Themenfrage möchte ich kurz und schmerzlich eine erste Antwort geben,
ohne schon auf Definitions- und Positionsfragen eingegangen zu sein: Ja, es ist
lange schon überfällig und bitter notwendig, daß in unseren Kirchen, an unseren
Hochschulen und Selninaren, in den Gemeinden die Bibel auch feministisch
gelesen wird. Nicht um ein Können und Dürfen geht es also, sondern um das
absolut verbindliche Muß einer solchen Bibellektüre, die aus einer befreienden
und das Selbstbewußtsein von Frauen spiegelnden Perspektive hervorgeht.
Theologisch gesprochen heißt das nichts anderes als: Es ist in unserer heutigen
Situation Gottes Gebot an uns alle, die die Bibel in die Hand nehmen, feministi
sche Lektüre, Deutung, Praxisorientierung der Bibel zu akzeptieren, mit ihr in den
Dialog zu treten, und sie als Teilwahrheit des gesamten, ökumenischen Prozesses
einer biblischen Glaubensfindung ernst zu nehmen. Dasselbe gilt übrigens ebenso
rür Bibelinterpretationen, die aus anderen benachteiligten und zum Schweigen
verurteilten Gruppen innerhalb der Kirchen kommen, z.B. für die Bibellektüre
von Industriearbeiterinnen und -arbeitern, Obdachlosen, Homophilen, und natür
lich der ganzen, weltweiten Geschwisterschaft aller Christinnen und Christen
rund um diesen Erdball. Sie ahnen schon: Ich möchte gegen das Monopol der
berufsmäßigen Ausleger in Theologie und Kirche (in der Regel: Weiße Männer
im Alter zwischen 30 und 65 Jahren, auf Lebenszeit verbeamtet) zu Felde ziehen.
Und weil ich hier noch nicht aufhören darf, möchte ich einige Begründungen
anfügen, die sich speziell auf das Recht der Frauen, das überwiegende Kirchen
volk also, in der Auslegungsarbeit den Ton anzugeben, beziehen.
1. Die ein oder zwei letzten Jahrzehnte, in denen in verschiedenen Ländern eine
feministische Bibelauslegung entstanden ist, sind außerordentlich wichtig rur
Beiträge aus Hermannsburg 89
Erhard S. Gerstenberger
unsere gegenwärtige Bibellektüre und unser ökulllenisches Glaubensleben, aber
sie zählen noch sehr wenig im Vergleich zu den fast drei Jahrtausenden der
Entstehung und Interpretation biblischer Schriften im jüdisch-christlichen Tradi
tionsstrom. Bis auf winzige Ausnahmen waren Frauen an der kirchlich und
kulturell so ungemein wichtigen Verstehens- und Gestaltungsarbeit hinsichtlich
der biblischen Wahrheit unbeteiligt. Den Ton gaben in Exegese und Theologie
ausschließlich die leitenden Männer an; Frauen hatten deren Definitionen und
Erlassen Glauben zu schenken und sie zu befolgen. Weibliche Sthnmen, Erfah
rungen, theologische Konzeptionen, obwohl jeweils privat und mündlich vorhan
den wie Sand am Meer, fehlen also weitgehend der gesamten biblischen Überlie
ferung in den jüdisch-christlichen Gemeinschaften aller Zeiten, sehr zum Schaden
aller Beteiligten, nämlich von Männern, Frauen und Kindern. Ich bin mir bewußt,
daß ich damit ein weiträuluiges und pauschales Urteil abgebe, und daß aus der
langen Geschichte der biblischen Theologie einige Ausnalnnen zu nennen wären,
etwa das Hohelied Salomos, das Buch Rut, Hildegard von Bingen, Theresa von
Avila, Edith Stein. Mir ist auch bewußt, daß Frauen im tatsächlichen Gemeinde
leben hervorragende Rollen gespielt und in der religiösen Kindererziehung viel·
von ihren Glaubenserfahrungen weitergegeben haben. Dennoch bleibt es bei der
traurigen Feststellung: In den offiziellen Lehren der Kirchen und in der gängigen
Praxis von Bibelauslegung sind Frauenstimmen bis heute erschreckend unterre
präsentiert. F alls überhaupt vorhanden, werden sie wenig beachtet, oftmals
diskreditiert, wohl aufgrund des unb'ewußten Vorurteils, daß Frauen in Theologie
und Bibelinterpretation eigentlich nichts zu suchen hätten.
Wie ist es zu dieser tragischen Ausblendung des weiblichen Geschlechts in der
theologischen Theoriebildung und den großen Orientierungsdebatten der jüdisch
christlichen Religionsgeschichte gekommen? Ein wesentlicher Grund liegt in der
Herausbildung fester Geschlechterrollen im Verlauf der Jahrtausende andauern
den Menschheitsgeschichte, besonders der vom Alten Vorderen Orient her ge
prägten menschlichen Sozialgeschichte. Französische F eministinnen wi~ Simone
de Beauvoir und Elisabeth Badinter haben m.E. am besten erkannt, . daß ge-
. schlechtsspezifische Arbeitsteilungen wesentlich für das Machtgefälle zwischen
Mann und Frau in unseren Gesellschaften verantwortlich sind. Den Männern
kommen seit Wildbeutertagen vor allem die Außenarbeiten und der Schutz seiner
Familiengruppe zu, während den Frauen der Innenbereich mit Kinderaufzucht
90
Kann / darf man die Bibel feministisch lesen?
und Hausversorgung übertragen hlieb. Die Aufteilung der Verantwortungsberei
che, die geschlechtspolare Teamarbeit verschaffte den Menschengruppen große
Vorteile im Überlebenskampf. Arbeitsteilung Init dem Ziel des Zusammenwir
kens aller potenzierte die eigene Kraft. Mit der unterschiedlichen Bewertung von
Außendienst aber, der Kontakte mit anderen Gruppen, also "Politik", "Rechts
praxis" und "offizielle Religionsausübung" einschloß, und Haus-und Kinderfür
sorge entstand die Ungleichheit der Geschlechter. In der Bibel begegnen wir
zwiespältigen Zeugnissen, einerseits von der Gleichwertigkeit von Frau und
Mann (z.B. "er schuf sie als Mann und als Frau", 1. Mose 1,27; "ehre Vater und
Mutter", 2. Mose 20,12; "eure Sölme und Töchter sollen weissagen, Joel 3,1
usw.), andererseits beginnt eine aus männlichem Unverständnis geborene Diskri
minierung des Weiblichen, die sich über die Jahrhunderte hin zu steigern scheint
(z.B. Frau als anfällig für Ungehorsam, 1. Mose 3; Symbol des Unreinen, Sach
5,7-8; Objekt männlicher Manipulation und Gewaltanwendung, Ri 19,22-30; Hes
16; schuld an Ursünde und Gottferne, darum unfähig zu Theologie und Gemein
deleitung 2 Thn 2,11-15). Weil der letztgenannte Abschnitt so unheimlich in der
Kirchengeschichte nachgewirkt hat, sei er zitiert:
"Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich
nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie sich über den Mann erhebe, sondern
sie sei stille. Denn Adam ist am ersten gemacht, danach Eva. Und Adam
ward nicht verführt; das Weib aber ward verfuhrt und ist der Übertretung
verfallen. Sie wird aber selig werden dadurch, daß sie Kinder zur Welt
bringt, wenn sie bleiben im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung
samt der Zucht."
Männer nahmen also seit jeher die öffentlichen Funktionen einschließlich der
Religionspraxis (Opferdarbringung an Heiligtümern! Vgl. Elkana und Hanna in
1 Sam 1 - 2) wahr. Die Familienfrauen hatten m.E. einmal den Hauskult versorgt,
man beachte, wie Rahel (1. Mose 31,19.34-35) und Michal (1 Sam 19,13) die
kleinen Figuren der "Haus götter" (Teraphirn), die bei archäologischen Ausgra
bungen zu hunderten in antiken israelitischen Wohnhäusern gefunden worden
sind, behandeln. Mit der Kultzentralisation aber und der immer schärfer ausge
prägten Alleinverehrung Jahwes verloren die Frauen ihre religiöse Mündigkeit
und durften nur mehr als Gäste an den Kultveranstaltungen der Männer teilneh-
91
Erhard S. Gersten berget'
men (Sitzordnung in Synagogen und· Kirchen!). Diese wiederum wurden die
Alleinverantwortlichen für das Gottesdienstgeschehen der jüdischen Gemeinde.
Und wie sollte es anders sein: Wenn eine Gruppe der Gemeinde vom Kult- und
Theologiebetrieb ausgeschlossen wird, können die Übrigen ihre Aufgabe, von
Gott zu reden und ihm. zu dienen nur in ihrer eigenen Weise, aus ihrer eigenen
Erfahrungs-, und Gedankenwelt erfüllen. Es ist eine demokratische Grundein
sicht: Keine Gruppe kann eine andere vollgültig vertreten. Man war sich zum Teil
schon in jener Zeit der Gefahr bewußt, in eine einseitige, rein männlich geprägte
Theologie zu verfallen. 5. Mose 4,16 verbietet ausdrücklich, sich von Gott "ir
gendein Bildnis" zu machen, "das gleich sei einem Mann oder einer Frau" oder
irgendeiner anderen Kreatur. Aber was helfen derartig gutgemeinte Warnungen,
wenn der männliche Theologe in seiner männlichen Definiertheit nur als Mann
denken und reden kann, die weibliche Theologin nur als Frau? Ich meine nicht
nur die biologischen Unterschiede, sondern vor allem auch die verschiedenen
Rollenmuster, in denen Männer und Frauen in einer geschlechtsspezifischen Welt
seit Urzeiten lebten. Männer redeten damals wie heute von Gott ganz selbstver
stän9lich als von einem männlichen Wesen. Sie benutzten das maskuline gram
lnatische Geschlecht und es beschleicht sie ein seltsames Gefühl, wenn sie Gott
als "Freundin", "Geistin" oder "Brotbäckerin" tituliert hören. Für Männer war es
von ihren Funktionen als Beschützer der Familie und Kämpfer ums Recht und
Überleben selbstverständlich, die Welt in einem Freund-Feind-Verhältnis zu
erleben. Mit die~er Schablone gestalteten sie das Leben, während Frauen von
ihren sozialen Rollen her eher auf Mitteilung, Ausgleich, Partizipation bedacht
sein mußten, wenn sie mit Kindern und Gesinde fertigwerden wollten.
Manche Forscher vermuten, daß die "Vermännlichung" des Gottesbildes erst mit
dem Exil eingetreten ist. Vor dieser Zeit hatte es in Israel auch mindestens eine
. weibliche Gottheit oder ein weibliches Gottessymbol gegeben, Aschera, Partnerin
oder Attribut Jahwes, wie Inschriftenfunde aus dem 8. Jahrhundert v. ehr. bele
gen (vgl. Gerstenberger, Jahwe; Schroer; Keel und Uehlinger). Aber seit dem
Exil konzentriert sich das ganze Glaubensleben der entstehenden jüdischen
Gemeinde auf den einzigen, ausschließlichen Gott der urzeitlichen Väter und
Mütter. Fremdkulte jeder Art, auch Haus- und Frauenkulte werden strikt verboten
(5. Mose 5,-10; 13,7-11; 18,9-13 usw). Es bleibt die Jahweverehrung als einzig
möglicher Gottesdienst, und der wird ausschließlich von den rur den öffentlichen
92
Kann / darf man die Bibel feministisch lesen?
Raum zuständigen Männern gestaltet, von Priestern, Leviten, Schreibern, Tora
kundigen, Gemeindeleitern. Wie kann es da verwundern, daß die Gottesvorstel
lungen und Gottesaussagen überwiegend den männlichen Lebensbereichen
entstammen. J ahwe erscheint als König, Hirte, Richter, Krieger, Löser, Löwe, Schreckensglanz, Weiser, Vater, Jäger, Schriftgelehrter, Prediger, Handwerker,
Erzeuger, Ehemann, Bräutigam, vor allem als weisungsberechtigter "Herr" und
"Eigentümer" usw. und, wie schon bemerkt, ganz selten in weiblichen Funktio
nen. Wahr ist dennoch, daß einige weibliche Anteile in den dominant männlichen
Gottesvorstellungen erhalten geblieben sind. Der Gott Israels "tröstet, wie einen'
seine Mutter tröstet" (Jes 66,13). Er hat die - weibliche - Weisheitsgestalt zur
Partnerin und Gespielin (Spr 8,22-31; weitere Beispiele unten), eine Stellung, die
auch das Volk oder die Getneinde Israels einnehmen kann (Jes 62,4f; Jer 2,2).
Vielleicht steht hinter dieser Aufnahme des Weiblichen in die göttliche Sphäre
(vergleichbar ist die Stellung Marias in der katholischen Kirche) das unterbe
wußte Verlangen, die einseitige Vermännlichung zu überwinden und ein ganz
heitliches Bild Gottes zu gewinnen. Wie dem auch sei, weibliche Züge im Got
tesbild Israels haben auf lange Sicht die Entmündigung der Frau' in Bezug auf die
öffentliche Religionsausübung nicht verhindern können. Ihre Stellung im häusli
chen Bereich, z.'B. bei den Erziehungsaufgaben an den Kindern, wurde davon
nicht direkt berührt. Die Kommunikation zwischen Gott und Gemeinde geschieht
in den biblischen Überlieferungen normalerweise durch männliche Mittler (Älte
ste; Priester; Propheten); d.h. durch die Männerhierarchie, in Ausnahmesituatio
nen auch durch Frauen (Debora, Ri 4 - 5; Hulda, 2 Kön 22,14-20; Maria, Luk
1,26-56).
Die einseitig männlichen Weisen, die Bibel zu schreiben, zu lesen, zu interpretie
ren und theologische Leitbilder zu entwerfen, hatten schlimme Folgen fur die
ganze Folgegeschichte. Ich will nicht sagen, daß weibliche Antei1~ aus der bibli
schen Tradition vollständig verschwunden wären (s. oben). Nein, da gibt es noch
viel Verborgenes zu entdecken. Ich will auch nicht behaupten,. die damaligen
männlichen Gemeindeleiter hätten besser feministisch denken und ihre Theologie
inklusiv formulieren sollen. Das konnten sie gar nicht. Die männliche Bibelinter
pretation ergibt sich notwendig und folgerichtig aus der Rollenverteilung in der
Gesellschaft, nach der eben ausschließlich Männer .fur Gottesdienst und Lehre
93
Erh~rd S. Gersten berger
von Gott zuständig waren. Aber der bewußte Ausschluß von Frauen aus den
theologisch relevanten Bereichen des Gemeindelebens war ein schwerer Fehler.
Er beschränkte z.B. das Gottesbild und die sozialethischen Grundentscheidungen
im wesentlichen auf die von Männerhimen erfaßbare Welt. Gott wurde fast
ausschließlich nach maskulinen Schablonen stilisiert, und nur ganz ausnahmswei
se zur Hebamme, Mutter, Gebärerin erklärt. Als Entschuldigung sagt man heute
oft, die N achbarreligionen der antiken Israeliten hätten der Sexualität und den
Göttinnen so viel Raum gegeben, daß es Israel um der Abgrenzung nach außen
willen gar nicht lTIöglich war, weibliches Wesen offiziell in sein theologisches
Denken aufzunehmen. Ich halte das für ein Scheinargument. Die alttestamentli
chen Zeugnisse enthalten so viel religiöses Übemahmegut aus der Umwelt, daß
die Ausgrenzung des Weiblichen und der Sexualität in Theologie und Ethik nur
durch die Eigeninteressen der religiös dominanten Männerwelt erklärt werden
kann. Und warum hätten Anspielungen auf das männliche Geschlecht Gottes
weniger anstößig sein sollen?
Die patriarchale Theologie der biblischen Überlieferungen ist natürlich nicht -
immer in gleicher Intensität gepredigt worden. Es hat Phasen in der christlichen
Theologie- und Kirchengeschichte gegeben, in denen Frauen sich besser artikulie
ren konnten als in anderen, denken wir an die Mystikerinnen des Mittelalters und
die europäische literarische Welt in der romantischen Periode. Und die praktische
Verantwortung für die religiöse Kindererziehung verschaffte den Frauen einen
gewissen Einfluß im mündlichen, familiären Überlieferungsbereich. Insgesamt
läßt sich aber sagen, daß sich die Ausgrenzung von Sexualität und Weiblichkeit
in der Theologie. seit Beginn des Industriezeitalters in Europa, besonders in
Deutschland, gegenüber antiken Patriarchatsmodellen noch erheblich verschärft
hat. Während in herkömmlichen Bauernwirtschaften die Frau ganz natürlich ihren
eigenen Verantwortungsbereich behielt, wurde die Frau in der Welt der Industrie
arbeit zur billigen Arbeitskraft und zur urunündigen Gehilfin des Mannes, sowie
zu seinem Sexualobjekt degradiert. Ich bin noch in einer Zeit aufgewachsen, in
der der Mann vor dem Gesetz Haushaltsvorstand war und die die Familien betref
fenden Dinge autoritär entscheiden konnte. In einer Zeit auch, als die ersten
Theologiestudentinnen noch keine Gemeindepfarrämter übernehmen durften,
sondern als ewige "Vikarinnen" - wenn überhaupt - in Sonderstellen unterkamen.
Und bis heute kenne ich auch bei scharfem Nachdenken höchsten$ ein theologi-
94
Kann / darf man die Bibel feministisch lesen?
sches Lehrbuch, das von einer Frau verfaßt ist und Anerkennung als theologische
Grundlagenliteratur gefunden hat. Positiv, als ein ermutigendes Zeichen langsa
men Wandels, ist nur zu vermerken, daß es in fast allen Landeskirchen einen
gewissen Prozentsatz an amtierenden Pfarrerinnen gibt, daß in vielen Kirchenlei -
tungen Pröpstinnen und Oberkirchenrätinnen sitzen, und daß immerhin jetzt
schon in Deutschland zwei Bischöfinnen im Amt sind.
2. Zum Glück für uns alle entwickelte die Elnanzipationsbewegung der Frauen
auch einen theologisch-biblischen Zweig. Es kam nur in geringem Maß zu radi
kalen Ausstiegsbewegungen von enttäuschten Frauen aus den Kirchen. In den
USA, den Niederlanden und au~h in Deutschland entdeckten einige Bibelleserin
nen, daß die traditionelle Lektüre der Heiligen Schrift durch Männeraugen nicht
die volle Wirklichkeit des Lebens und Gottes ausdrücken könne. Wie schon öfter
betont: Diese Entdeckung ist überhaupt nicht prinzipiell ehrenrührig für Männer.
Sie können ja nicht anders als die Schrift aus ihrem eigenen, durch traditionelle
Rollenvorgaben beschränkten Gesichtswinkel lesen. Auch Frauen können nicht
aus den ihnen seit Jahrtausenden zugewiesenen Aufgabenfeldern, Vorstellungs
und Wertmustern und Denknischen heraus. Aber die Entdeckung dieser jeweili
gen kulturell-kontextualen Begrenztheit ist so schwierig. Jeder, der die Bibel liest
oder einen Gedanken über Gott und die Welt denkt, nimmt eigentümlicherweise
an, dieser sein Erkenntnishorizont sei der einzig richtige und allgemein verbindli
che. In kindlicher Einfalt bewegen wir uns ständig auf der Schiene der ausschlie
ßenden Wahrheiten: Was ich sehe, erkenne, denke, glaube, das müssen selbstver
ständlich die anderen um mich herum auch so sehen, erkennen, denken und
glauben. Die männliche Bibelinterpretation wurde seit einigen tausend Jahren
darum als die einzig richtige ausgegeben (genau wie in anderen Zusammenhän
gen die jeweils europäische, deutsche, weiße, amerikanische, bürgerliche, obrig
keitshörige Auslegung). Richtig soll sie sein, weil sie von der angemaßten Auto
rität der Cheftheologen her sanktioniert wird. Auf der anderen Seite haben Frauen
immer schon ihre eigenen theologischen Erkenntnisse gewonnen, doch wurden
sie nie oder äußerst selten "kanonisiert'" d.h. als wertvolles Glaubensgut weiter
gegeben. Katechismen, Lehrmeinungen, dogmatische Handbücher wurden von
den leitenden Männem verfaßt. Und nun kommen seit einigen Jahrzehnten
95
Erhard S. Gerstenberger
Bibelleserinnen und sagen: "Mit Verlaub, wir lesen den Text, den ihr uns erklären
wollt, Init anderen Augen und mit einem anderen Resultat." Kann denn das
angehen? Männliches Selbstverständnis und männliche Weltdeutung geraten
ins Wanken.
Ich gebe ein paar kleine Beispiele für augenöffnende Abweichungen von männli
cher Bibellektüre und komme dann mehr zum Grundsätzlichen. - Der große
Alttestalnentler Gerhard von Rad hat in seinem Genesiskommentar bemerkt, was
schon Generationen von männlichen Interpreten vor ihm als eiserne Tatsache
angesehen hatten, daß nämlich in den "Erzvätergeschichten" die Verheißungen
von Land und Nachkommenschaft meistens an den Falnilienchef gerichtet sind,
und daß darum die Frauen dieser Patriarchen eigentlich nur Statistenrollen inne
hätten, folglich in unserer Exegese ignoriert werden könnten. Aus Frauensicht
sehen die Dinge wesentlich anders aus. Die Gemahlinnen der Erzpatriarchen
Abraham, Isaak und Jakob sind den Erzählungen des 1. Mosebuehes z~folge in
der Regel sehr eigenständige Figuren, die oft genug das Verheißungsgeschehen
aktiv mit bestimmen und ihren Eheherren gegenüber wichtige Positionen einneh
men. Irmtraud Fischer kommt zu dem Schluß, daß schon für die alten Erzähler,
und natürlich rür heutige selbstbewußte Leserinnen die Erzmütter ganz entschei
dend zur Heilsgeschichte beigetragen haben. Die Verheißungen Gottes stehen
hmner aufbeiden Elternteilen. Jahwe agiert mit Frauen und Männern gleicherma
ßen. Darum ist schon die modeme Benennung "Erzvätergeschichten" schief, sie
zeigt das heute noch andauernde, männliche Vorurteil, Frauen seien im öffentli
chen, kirchlichen Leben unbedeutend. Also schlägt sie vor, künftig von Erzel
terngeschichten zu sprechen und die Frauensicht zu respektieren. Offensichtli~~
entsteht schon aus einer derart simplen, doppelten Wahrnehmung der biblischen
Texte die Herausforderung, in unserer Theologie eine integrierende Schau der
Dinge zu versuchen.
Weiter: In Hos 11,3-4 war iminer schon aufgefallen, daß Jahwe an seinem Sohn·
Ephraim bildhaft gesprochen Aufgaben übernimmt, wie es sonst eine Mutter tut:
"Ich lehrte Ephraim gehen und nahm ihn auf meine Arme; aber sie merkten's
nicht wie ich ihnen half. Ich ließ sie ein menschliches Joch ziehen und in Seilen
der Liebe gehen lind half ihnen das Joch auf ihrem Nacken tragen und gab ihnen
Nahrung." So die revidierte Lutherübersetzung von 1964. Frau Schüngel
Straumann, die Kasseler Alttestamentlerin, hat von dem Gedanken her, daß es fiir
96
Kann / darf man die Bibel feministisch lesen?
einen altorientalischen Ehemann recht ungewöhnlich gewesen sein muß, ein
Kleinkind, das noch nicht gehen konnte, zu versorgen - das war offenbar strikte
Aufgabe der Frau -, den hebräischen Text genauer angesehen. Indem sie zwei
Wörter «(gI, v. 3 == "säugen", anstatt "gehen lehren" und )ul, v. 4 == "Säugling",
anstatt "Joch") anders versteht bekolnmt sie in den beiden Versen ein einheitli
ches Gottesbild, nätnlich das der stillenden Mutter (keinem männlichen Exegeten
ist diese Deutungsmöglichkeit m.W. in mehr als 2000 Jahren Interpretationsge
schichte auch nur von feme eingefallen): "Dabei war ich es doch, der Efraim
gestillt hat, indern ich ihn auf meine Arme nahm. Sie jedoch begriffen nicht, daß
ich sie pflegte. Mit menschlichen Seilen zog ich sie, mit Stricken der Liebe. Und
ich war für sie wie solche, die einen Säugling an ihren Busen heben, und ich
neigte mich zu ihm, um ihm zu essen zu geben." (H. Schüngel-Straumann, Gott
als Mutter, S. 120). Es erscheint plötzlich eine metaphorische Rede von Gott, die
schon im hebräischen Text halb unter männlichen Textverbesserungen verschüttet
war, die aber einmal in IsraellTIöglich gewesen sein muß.
Kurz angedeutet sei ein letztes Einzelbeispiel: Die Vorstellungen von Schöpfung
aus männlicher und weiblicher Sicht. Um die zutiefst unvorstellbare Weltentste
hung annähernd zu begreifen, stehen Männern aus ihrer Lebenserfahrung haupt
sächlich handwerkliche Modelle (das Töpfern; Zimmern; Mauem etc), Befruch
tung durch Wasser oder Samenflüssigkeit (vgl. Ps 65,10-14) und ein Befehlssze
nario ("er sprach und es geschah", vgl. Ps 33,9) zur Verfügung. Alle Möglich
keiten setzen den Menschen als (männlichen) Gestalter der Welt voraus, ein
intelligentes, starkes Subjekt, das sich einer andersartigen, fremden Materie
bemächtigt und sie formt. 'Prauen haben ein geschlechtsspezifisches Verständnis
modell, zu dem Männer einfach keinen Zugang haben, so sehr sie auch manchmal
mit ihren Partnerinnen leiden und sich freuen: die Erfahrung von Empfängnis,
Schwangerschaft und Geburt. Sollte in der Bibel dieser weibliche Zugang zum
Schöpfungsglauben überhaupt nie vorhanden gewesen s'ein? Ps 90,2 jedenfalls
benutzt ganz eindeutig die Gebär-Terminologie für die Schöpfung, nur wird sie
in unseren Übersetzungen meist sorgfältig neutralisiert: Die Revidierte Luther
übersetzung verwendet das unanstößige Standardvokabular: "Ehe denn die Berge
wurden, und die Erde und die Welt geschaffen wurden ... ". Im Hebräischen, aber
heißt es: "Bevor die Berge geboren (yld, Pual) wurden, und die Erde und der
97
Erhard S. Gerstenberger
Weltkreis in Wehen kamen" (xiI, Pile1; vgl. 5. Mose 32,18: von der Zeugung
Israels durch Jahwe; Hiob 38,8ff: von der Geburt des Meeres aus dem Erden
schoß; Ps 139,15: von der Erschaffung des Menschen in der Tiefe der Erde; 1.
Mose 1,11f.24: die Erde "bringt hervor" Pflanzen und Tiere usw.). Feministische
Exegetinnen weisen mit Recht darauf hin, daß die Gebärvorstellungen im Zu-
. sammenhang des Schöpfungsglaubens legitim sind - warum sollten sie auch
ausgeschlossen sein? -, daß sie weiblicher Erfahrung entsprechen und nicht
einfach zugunsten männlicher Erkenntnisweisen zurückgestellt werden dürfen -
wie im Laufe der christlichen Traditionen immer wieder hartnäckig und mit
fadenscheinigen Begründungen geschehen.
Wenn also feststeht, daß Frauen, die in einer von der Würde und Selbstbestim
mungjedes einzelnen Menschen überzeugten Welt ihren gleichberechtigten Platz
in der Gesellschaft einnelunen, auch typisch weibliche Gottes- und Welterfahrun
gen entdecken, dann muß die bisher ausschließlich von Männem vertretene
offizielle Theologie von ihrem hohen Roß des Alleinvertretungsanspruches
herunter und sich auf weibliche Bibelauslegung und theologische Visionen
einlassen - ich denke, zu ihrem eigenen Besten. Denn auch wenn in der feministi
schen Theologie längst nicht alles überzeugen kann, wenn auch manche ihrer
Einsichten sich nicht mit den herrschenden Ansichten vereinbaren lassen, insge
samt ist sie doch eine wunderbare Bereicherung des theologischen Denkens
überhaupt. Sie befreit von der traditionellen theologischen Erstarrung, macht neue
Sichtweisen möglich. Von den feministisch-theologischen Entwürfen, die ich
näher kenne, beeindruckt Inich am meisten das, was Sally McFague von der
Vanderbilt University in bisher zwei Büchern veröffentlicht hat: "Models of God"
und "The Body of God". Von der weiblichen Erfahrung von Mutterschaft her
denkt sie sich das Verhältnis Gottes zur Welt als ein "organisches". Gott und
Mensch und die Schöpfung und die Menschheit sind nicht einfach dialektisch
einan4er entgegengesetzte Größen, sondern Gott setzt die Welt aus sich heraus,
aus seinem eigenen Sein, so wie die Mutter ihr Kind aus sich herauspreßt. Die
Welt als integrales Gebilde gewinnt dann ein eigenes Profil, so wie ja auch das
Kind zu einer autonomen Person wird. Aber trotz aller Emanzipationen bleibt die
Welt sozusagen "Fleisch von Seinem Fleisch". "Kann auch eine Frau ihr Kind
vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leihes? Und ob sie
seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen." (Jes 49,15). Von dieser
98'
Kann / darf man die Bibel feministisch lesen?
die weibliche Körpererfahrung metaphorisch nutzenden Gottes- und Weltvor
stellung gewinnen das Drama von Sünde und Erlösung und die notwendige
Weltverantwortung (ökologische Theologie!) ganz andere Konturen und Inhalte
als das z.B. in der männlich inspirierten Wort-Theologie möglich ist.
3. Wir müssen uns natürlich fragen, was denn das Ergebnis unserer kurzen
Erkundung feministischer Bibelinterpretation sein kann. Ich nenne einige Haupt
punkte, die der Diskussion dienen sollen:
3.1 Femini~tische Theologien (aber auch die Theologien anderer Menschen,
besonders von ausgegrenzten Randgruppen und unterdrückten Völkern) machen
uns darauf aufmerksam, daß die Zeit der männlichen, bürgerlichen, weißen,
westlichen usw. Richtlinienkompetenzen in Sachen Bibellektüre und theologi
scher Systembildung endgültig vorbei sind. Wir haben uns daran zu gewöhnen,
daß Christinnen und Christen nicht unisono ein herrschendes, orthodoxes Be
kenntnis hersagen wollen und können, sondern daß sie vielstimmig, je von ihrem
eigenen Standort und Erkenntnisstand die großen Taten Gottes rühmen. Theolo
gische Erkenntnisse müssen verschieden sein, die Kriterien für Echtheit und
Wahrheit christlicher Glaubensaussagen müssen immer wieder neu gefunden
werden. Gott kann "aus diesen Steinen da" sich Kinder erwecken (Matt 3,9).
3.2 Alle partikularen Theologien dieser Welt tragen etwas an sich vom Glanz der
Ewigkeit und der Transzendenz Gottes, die uns an sich in unseren kontextuell
begrenzten Verhältnissen unrealisierbar sind. Die geschichtliche und soziale
Bedingtheit alles unseres Denkens, Handeins und Redens zwingt uns, aufeinander
zu hören und in einem ständigen ökumenischen Gespräch nach den rur uns selbst
und für die Menschheit richtigen Vorstellungen von Gott und der Welt zu suchen.
Keine christliche Gruppierung, und keine R.eligion überhaupt, darf einen Allein
anspruch auf die Wahrheit behaupten. Auch feministische Bibelinterpretation
kann nicht einfach die herkötnmlichen Sichtweisen ersetzen. Vielmehr müssen
alle verantwortlichen Bibelleserinnen und Bibelleser in einmütiger Unterschied
lichkeit einander die eigene Erkenntnis belassen und nach gemeinsamen Hand
lungsgrundlagen suchen.
3.3 Die heute geforderte ökumenische Befreiungstheologie wird andererseits
nicht alles und jedes, was als christliche Erkenntnis vertreten wird, so stehenlas-
99
Erhard S. Gersten berger
sen wie es daherkommt. Vielmelu· ist das ökumenische Gespräch auf der Grund
lage gegenseitiger Anerkennung und geschwisterlicher Wertschätzung auch ein
kontinuierliches Ringen um die bessere oder angemessenere Theologie und Ethik
für unsere heutige, dem Untergang nahe Welt. Nichts wäre schlimmer, als die
Ausrufung einer allgemeinen Unverbindlichkeit aller Lehren und Anschauungen.
Die für uns heute verbindliche Wahrheit kann aber nur in einem ökumenischen
Gespräch, das auf die gemeinsame Gegenwart bezogen ist, gefunden werden. Wir
bauen alle gemeinsam an einem weltweiten Mosaik, das uns einmal die Konturen
des Angesichts Gottes zeigen soll. In unserer kontextuellen Beschränktheit haben
wir ganz unvollkommene Ahnungen, wie diese's Bildnis aussehen soll. Dennoch
bauen wir an diesem Mosaik, immer im Rundblick auf die anderen, die ihre
eigene, ebenfalls undeutliche Vision darstellen wollen. So wächst gemeinsam in
der Zeit das Bewußtsein für den Einen, die Eine, das Eine, welche uns in Christus
miteinander verbinden.
3.4 Die feministische Bibelinterpretation und die daraus resultierende biblische
Theologie ist ein ganz wesentlicher Beitrag zu dem ökumenischen Gottesbild, an
dem wir gemeinsam arbeiten. Traditionell männliche Theologie ist hoffnungslos
überholt, weil sie von der Vorrangstellung des Mannes aus entwickelt worden ist.
Daß der größere Teil der christlichen Gemeinden in aller Welt, nämlich die
Frauen, bis vor wenigen Jahren einfach von der theologischen Theoriebildung
ausgeschlossen war, bleibt ein Schandfleck auf der männlich dOlninierten Kir
chengemeinschaft. Die Verarmung und Erstarrung der christlichen Kirchentümer
ist bis heute mit Händen zu greifen. Wir wünschen uns hoffentlich alle, daß die
bisher Ausgeschlossenen, vor allem die schweigende Mehrheit der Frauen, immer
kräftiger und nachhaltiger in den traditionellen Gemeinden, Seminaren, F akultä
ten und wo immer sonst Theologie getrieben wird, zu Wort kommen.
100
Kann / darf Inan die Bibel feministisch lesen?
BIBLIOGRAPHIE
Elisabeth Badinter, Ich bin Du, München: Becksche Verlagsbuchhandlung, 2.
Aufl. 1988; - Angela Bauer, Gender in the Book of Jeremiah, Frankfurt: Peter
Lang, 1999; - Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Hamburg: Rowohlt,
1951; - Athalya Brenner, Carole Fontaine, Wisdom and Psalms, Sheffield:
Academic Press, 1998; - Irmtraud Fischer, Die Erzeltem Israels, BZA W 222,
Berlin: de Gruyter Verlag, 1994; - dieselbe, Gottestreiterinnen, Stuttgart: Kohl
hammer, 1995; - Erhard S. Gerstenberger, Jahwe - ein patriarchaler Gott?
Stuttgart: Kohlhammer, 1988; derselbe, Das dritte Buch Mose, Leviticus, ATD
6, Göttingen: Vandenhoeck 1993; - Hedwig Jahnow u.a., Feministische Herme
neutik und Erstes Testament, Stuttgart: Kohlhammer 1994; - Othmar Keel und
Christoph Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg: Herder,
3. Aufl. 1995; - Sallie McFague, Models of God, Philadelphia: Fortress Press,
1987; - dieselbe, The Body of God, Minneapolis: Augsburg Fortress, 1993; -
Carol Meyers, Discovering Eve, Oxford: University Press, 1988; Heidi Rosen
stock und Hanne Köhler (Hg.innen), Du Gott, Freundin der Menschen, Stutt
gart: Kreuz Verlag 1991; - Luise Schottroff, Silvia Schroer, Marie-Theres
Wacker, Feministische Exegese, Darmstadt: Wissenschaftliche· Buchgeseell
schaft, 1995; - Luise Schottroff, Marie-Theres Wacker, Kompendium Femini
stische Bibelauslegung, Gütersloh: ehr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus, 2. Aufl.
1999; Silvia Schroer, In Israel gab es Bilder, OBO 74, Fribourg und Göttingen:
Universitätsverlag und Vandenhoeck, 1987; - Helen Schüngel-Straumann, Die
Frau am Anfang, Münster: LIT-Verlag, 2. Aufl. 1997. - dieselbe, Gott als Mutter
in Hosea 11, Theologische Quartalsschrift 166, 1986, 119 - 134.
101
top related