klaras schweigen roman - penguin random house
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Leseprobe Dr Bettina Storks
Klaras Schweigen Roman
raquoBettina Storks fesselt mit ihrer Geschichte den Leser packt ihn und nimmt ihn mitlaquo Waiblinger Zeitung
Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1299 euro
Seiten 400
Erscheinungstermin 08 Maumlrz 2021
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Zum Buch Freiburg im Breisgau 2018 Nach einem Schlaganfall spricht Miriams
hochbetagte Groszligmutter ploumltzlich franzoumlsische Worte ndash eine Sprache die
sie angeblich nie gelernt hat Miriam erkennt schnell dass Klara weit mehr
verbirgt doch alle Nachfragen finden kein Gehoumlr Was genau passierte im
Leben ihrer Groszligmutter Warum verlieszlig sie Freiburg und ging im
Dezember 1949 uumlberstuumlrzt nach Konstanz Miriams Suche nach Antworten
fuumlhrt sie bis in die Bretagne immer auf der Spur eines jahrzehntelang
gehuumlteten Familiengeheimnisses hellip
Autor
Dr Bettina Storks Bettina Storks geboren bei Stuttgart ist
promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin
Sie war viele Jahre als Redakteurin taumltig bevor sie
ihr erstes Buch veroumlffentlichte Die Leidenschaft fuumlr
Familiengeheimnisse und die Faszination fuumlr die
deutsch-franzoumlsische Geschichte vereint Bettina
Storks immer wieder in ihren vielschichtigen
Romanen Die Autorin lebt und arbeitet am
Bodensee
Bettina StorksKLARAS SCHWEIGEN
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Bettina Storks
KLARAS SCHWEIGEN
Roman
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Zum Buch Freiburg im Breisgau 2018 Nach einem Schlaganfall spricht Miriams
hochbetagte Groszligmutter ploumltzlich franzoumlsische Worte ndash eine Sprache die
sie angeblich nie gelernt hat Miriam erkennt schnell dass Klara weit mehr
verbirgt doch alle Nachfragen finden kein Gehoumlr Was genau passierte im
Leben ihrer Groszligmutter Warum verlieszlig sie Freiburg und ging im
Dezember 1949 uumlberstuumlrzt nach Konstanz Miriams Suche nach Antworten
fuumlhrt sie bis in die Bretagne immer auf der Spur eines jahrzehntelang
gehuumlteten Familiengeheimnisses hellip
Autor
Dr Bettina Storks Bettina Storks geboren bei Stuttgart ist
promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin
Sie war viele Jahre als Redakteurin taumltig bevor sie
ihr erstes Buch veroumlffentlichte Die Leidenschaft fuumlr
Familiengeheimnisse und die Faszination fuumlr die
deutsch-franzoumlsische Geschichte vereint Bettina
Storks immer wieder in ihren vielschichtigen
Romanen Die Autorin lebt und arbeitet am
Bodensee
Bettina StorksKLARAS SCHWEIGEN
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Bettina Storks
KLARAS SCHWEIGEN
Roman
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Romanen Die Autorin lebt und arbeitet am
Bodensee
Bettina StorksKLARAS SCHWEIGEN
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Bettina Storks
KLARAS SCHWEIGEN
Roman
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Bettina StorksKLARAS SCHWEIGEN
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Bettina Storks
KLARAS SCHWEIGEN
Roman
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Bettina Storks
KLARAS SCHWEIGEN
Roman
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Was gebeichtet werden kann das kann verziehen werden aber die verborgene Schuld vor niemand eingestanden das ist die schwerste Strafe
THEODOR FONTANE
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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PROLOG
Freiburg 27 November 1944
Dieser Wintertag ist viel zu schoumln fuumlr Krieg Klara blickt zum Himmel Die letzten Sonnenstrahlen strei-
fen die Daumlcher der Haumluser und die Daumlmmerung schluckt das Blau
Uumlber der Stadt kreisen Aufklaumlrungsflieger der Royal Air Force Klara erkennt sie an ihren roten Punkten Das dumpfe schaurige Geraumlusch der Motoren klingt wohlbekannt
Die Mutter greift nach Klaras Hand raquoKomm jetzt endlich Klara Wir muumlssen nach Hauselaquo
Ihr Ziel ist die Kartaumluserstraszlige gerade einmal eine halbe Stunde Fuszligweg ndash bei Alarm eine Ewigkeit
Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte raquoSchneller Klara Was traumlumst du denn wiederlaquo Ihre Mutter
zerrt die Vierzehnjaumlhrige uumlber die Adolf-Hitler-Straszlige in Rich- tung Muumlnsterplatz raquoHoumlchste Zeit dass wir heimkommenlaquo
Klara stolpert uumlber eine Ritze im Kopfsteinpflaster und faumlngt sich im letzten Augenblick ab Eigentlich moumlchte sie lachen weil sie so ungeschickt ist
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Aber in diesen Zeiten lacht man nicht Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schloss-
berg zum SchutzbunkerraquoWenn du dich ein bisschen beeilst schaffen wir es noch
nach Hauselaquo sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang Auf der Houmlhe der Schwabentorbruumlcke uumlber der Dreisam
heulen die Sirenen zum ersten Mal auf Als sie endlich die Kartaumluserstraszlige erreichen ist es bereits stockfinster
Der Vater sitzt in der Kuumlche und raucht Die Vorhaumlnge sind zugezogen Eine flackernde Kerze spendet Licht Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe
Das war ein ganz normaler Alarm denkt Klara raquoWir muumlssen sofort in den Kellerlaquo draumlngt die Mutter holt
die Notfallration aus dem Kuumlchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Maumlntelchen von Klara an Mit zitternden Haumln-den packt sie anschlieszligend eine Kerze und Streichhoumllzer ein
Klara bleibt stehen als seien ihre Fuumlszlige mit dem Boden verwachsen Ein ganz normaler Alarm
Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied fuumlr alle be- reit so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Ein- satz Warme Kleidung haumlngt am Haken Muumltze Schal Hand-schuhe
Sie kennt diesen Ablauf auswendig doch in diesem Moment da Klara ihren Schal zubindet kommt die Angst Sie setzt sich in ihrer Kehle fest umklammert ihr Herz
raquoKlaralaquo mahnt die Mutter raquoKomm endlichlaquoDer Vater oumlffnet die Wohnungstuumlr und humpelt mit dem
Gepaumlck voran zur Kellertreppe Ein stabiler Keller mit Eisen-traumlgern
Lotte streckt Klara ihre kleinen Haumlnde entgegen und schaut sie mit groszligen Augen an
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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raquoHuckepacklaquo sagt sie und macht einen Kussmund Klara buumlckt sich und nimmt das Kind auf den Ruumlcken Als
sie die Wohnungstuumlr hinter sich zuzieht schwillt das Ge-raumlusch der sich naumlhernden Flieger an Klara spuumlrt das Brum-men am ganzen Koumlrper staumlrker als je zuvor
Es sind mehr Flieger als sonst Viel mehrVor der Eingangstuumlr bleibt sie stehen und haumllt den Atem
an Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht
so grell dass es blendet LeuchtraketenDie Baumluche der schweren Flugzeuge scheinen die Daumlcher
der Haumluser zu beruumlhren so tief fliegen sie Der ganze Himmel ist beleuchtet raquoVom Himmel fallen Christbaumlumelaquo sagt Lotte und zeigt
mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel das drau-szligen zu sehen ist
Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus raquoGuck nurlaquo sagt Lotte raquoDer Weihnachtsmannlaquo raquoNicht hinsehenlaquo befiehlt Klara und druumlckt ihre kleine
Schwester dicht an sich Sie zwingt sich ihren Blick vom gluumlhenden Himmel abzu-
wenden und laumluft die Stufen hinunter zu den anderen raquoDu tust mir wehlaquo jammert Lotte und beginnt zu weinenAlle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf
ihren Plaumltzen eingefunden Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her
Klaras Blick geht uumlber die Koumlpfe der Schutzsuchenden Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt aufeinander zu achten Jeder zaumlhlt ob alle da sind
Aber heute kann Klara nicht zaumlhlen Sie hat die Zahlen ver-gessen
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Die Sirenen heulen zum Hauptalarm gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber So unertraumlglich laut das Trom-melfell will ihr platzen
Die Erde bebt Klara druumlckt ihre flachen Haumlnde gegen die Ohren und kauert
sich neben ihre Mutter Als die Bomben fallen sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern die bei jeder Erschuumltterung im Kerzenlicht aufflackern
Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz die Beine angezogen das Kinn auf die Knie ge-stuumltzt Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her
Ihre Lippen zittern Das muss das Ende sein raquoHeilige Maria bitte fuumlr uns Suumlnderlaquo dringt das monotone
Fluumlstern der Mutter an Klaras Ohr Laumlngst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel
sondern bemuumlht den Schutz der heiligen Mutter Gottes raquoDiesmal machen sie uns kaputtlaquo presst der Vater hervorraquoDas ist das Juumlngste Gerichtlaquo stammelt eine andere FrauKlara wird diese Nacht fuumlr immer in Erinnerung behalten
Die Nacht in der sie vergessen hat wie man zaumlhlt Irgendwann nachdem es ruhig geworden ist gehen sie ge-
meinsam nach oben Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch Ihre Straszlige hat nicht einmal einen Steinschlag abbe-kommen Aber ihre Heimatstadt so wie sie Freiburg kann-ten ist ausgeloumlscht
Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals raquoMaria Mutter Got-tes im Himmel ich danke Dirlaquo
Ohne nachzudenken laumluft Klara Richtung Innenstadt raquoBleib hierlaquo ruft die Mutter hinter ihr her Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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In der Ferne sieht sie brennende Straszligen Der scharfe Rauch- geruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Husten-reiz
Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet Feuer Rauch-schwaden Heulende Sirenen Und Stimmen Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen Einige bleiben unver-mittelt stehen und weinen
raquoSie sind alle totlaquo schluchzt eine Frau mit einem Buumlndel auf dem Arm
Es ist ein Saumlugling Klara wagt nicht hinzusehen ob er lebt
Aus den heruntergerissenen Gebaumludefassaden haumlngen die Fetzen einstiger Traumlger Nur das Freiburger Muumlnster steht wie ein Waumlchter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz umge-ben von brennenden Haumlusern Dass das Gebaumlude noch da ist troumlstet Klara fuumlr einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden
Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an laumluft zu ihrem Kindheitsort hinauf als koumlnne sie nur so all den schreckli-chen Bildern entfliehen
Auf halber Houmlhe blickt sie hinab auf die immer noch bren-nende Altstadt Die Sirenen der Loumlschfahrzeuge hallen zu ihr herauf
Sie weiszlig nicht wie lange sie dort verharrt aber sie bleibt einfach stehen houmlrt menschliche Laute neben und hinter sich Weinen Schreie Wimmern All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme denn sie bleibt stumm
Dann ploumltzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straszlige das sich bewegt
Sie stutzt reibt sich die Augen wartet bis das Bild in ihrem Kopf ankommt
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Ihr ist als schwirrten kleine Gluumlhwuumlrmchen uumlber dem Boden Oder sind es Engel in Nachthemden
Kinder denkt Klara und spricht laut aus raquoKinderlaquoIhre eigene Stimme klingt fremd und kalt Es muumlssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden
Waisenhaus sein
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSie spricht wiederlaquo Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spuumlrte wie ihr
Herz schneller schlug Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster sah auf das gegenuumlberliegende dunkelrote Back-steingebaumlude der ehemaligen Universitaumltsbibliothek und at-mete tief durch
Was fuumlr eine wunderbare Nachricht Eine die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Groszligmutter fuumlr einen Moment verdraumlngte In der Biblio- thek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universi-taumlt schien es mucksmaumluschenstill zu sein
raquoWirklichlaquo fluumlsterte Miriam unglaumlubig Schraumlg hinter ihr raschelte jemand mit Papier raquoJalaquo sagte Miriams Groszligtante Lotte raquoDie Stationsleitung
hat angerufen Sie konnten dich nicht erreichen Klara spricht wiederlaquo
Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Aumlrzte Miriam erklaumlrt man muumlsste Geduld haben und ob
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen wuumlrde sei ungewiss
raquoWas sagt sielaquo fragte Miriam leise und sah sich um In der Praumlsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten
Maumlrztag nur einige Studierende eingefunden Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen
vor ihr lagen drei aufgeschlagene Buumlcher mit Post-its ein No-tizbuch ein Fuumlllfederhalter Wann immer es ging lieszlig sie den Laptop im Buumlro und schrieb von Hand
Fontane Die Berliner Romane Effi Briest Eine literaturge-schichtliche Abhandlung uumlber die Standesunterschiede im ausgehenden 19 Jahrhundert und der fragwuumlrdige Versuch ihn durch amouroumlse Abenteuer zu uumlberwinden Nahezu aus-schlieszliglich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenz-uumlberschreitung und die Schoumlpfer jener Werke Maumlnner
raquoIst sie bei klarem Verstandlaquo fluumlsterte Miriam weiter klappte ihre Buumlcher zu klemmte sie zusammen mit den anderen Un-terlagen unter den Arm und stand auf
raquoWarum sprichst du denn so leise Ich verstehe dich kaumlaquo houmlrte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Groszligtante
raquoIch bin an der Unilaquo fluumlsterte Miriam waumlhrend sie an den meterhohen Buumlcherregalen vorbeiging
Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase Im Flur empfing sie die Geraumluschkulisse eines aus dem
Winterschlaf erwachenden Universitaumltsbetriebs In zwei Wo-chen war Semesterbeginn Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel Schritten und Zurufen der Studieren- den Miriam nahm ihren Rucksack verstaute ihr Arbeitsma-terial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe
raquoIch war in der Bibliothek Tante Lotte ein Seminar vorbe-
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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reiten Was genau hat sie denn gesagt Ist sie bei klarem Ver-standlaquo
raquoDas weiszlig ich nicht Das Wichtigste ist dass es Hoffnung gibt Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit fuumlr ein Ge-spraumlch mit dir Er wird dir sicher mehr erklaumlren koumlnnen Gibst du mir Bescheid nachdem du dort warstlaquo
Miriam sah auf die Uhr ndash kurz nach drei Ihre Schritte hall-ten auf den breiten Steintreppen die sich durch die Mitte des Betonbaus wo das Deutsche Seminar lag zogen Drau-szligen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad
Uumlber ihr ein strahlend blauer Himmel raquoJa gerne Tante Lotte Ich mache mich direkt auf den Weg
und melde mich spaumlter bei dirlaquoSie schluumlpfte in die Traumlger ihres Rucksacks oumlffnete das
Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg vorbei am Kollegiengebaumlude I dem aumlltesten Gebaumlude der Philosophi-schen Fakultaumlt an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibel-spruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte ndash ein schlich-ter Satz an den Miriam stets geglaubt hatte
Schraumlg gegenuumlber beschien die Mittagssonne das glaumlserne futuristische Gebaumlude der neuen Universitaumlt
Mehr als sechs Wochen war Miriams Groszligmutter kein Wort uumlber die Lippen gekommen Ende Januar mitten in einem Telefonat mit Miriam war es passiert Ploumltzlich hatte Klara gelallt anschlieszligend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Houmlrer aufgelegt Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen Klaras Schwester Lotte die im selben Haus lebte war fuumlr ein paar Tage im Schwarzwald
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Miriam hatte blitzschnell reagiert den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Groszligmutter einge-troffen Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung uumlber sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert
raquoBei einem Schlaganfall zaumlhlt jede Minutelaquo war die Erklauml-rung der Notaumlrztin gewesen und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen wie das Rettungsteam ihre Groszligmutter fuumlr den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte
Dem vorausschauenden Handeln jener Aumlrztin war es zu verdanken dass Klara sich verhaumlltnismaumlszligig schnell erholte Die einseitigen Laumlhmungen der linken Koumlrperhaumllfte hatten sich zuumlgig verbessert Schon bald so hieszlig es wuumlrde Klara wieder gehen koumlnnen Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas auszligerhalb der Stadt erfolgt
Seitdem war kein Tag vergangen an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Groszligmutter besucht hatte Dort war sie so oft wie moumlglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur beglei-tet Schon bald konnte ihre Groszligmutter wieder gehen Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhaumlngnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort
Und so wurde die Angst ihre Groszligmutter endguumlltig zu ver-lieren Miriams staumlndiger Begleiter Aber weit vor Miriams Aumlngsten stand der Wunsch Klara moumlge die letzten Jahre in Wuumlrde und Selbstbestimmung verbringen Dazu musste sie sich ausdruumlcken koumlnnen brauchte ihre Sprache
Miriam hatte ein besonders enges Verhaumlltnis zu ihrer Groszlig-mutter seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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zwei Jahren verloren hatte Miriam besaszlig keinerlei Erinne-rungen an ihre Eltern Alles was sie uumlber sie wusste speiste sich aus Erzaumlhlungen und Fotos
Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Groszligmutter Es war kurz vor vier
Klara lag in ihrem Bett den Blick zur Decke gerichtet Das grau gewellte Haar war zuruumlckgekaumlmmt Erneut bemerkte Miriam wie duumlnn und zerbrechlich sie in den letzten Wo-chen geworden war
Langsam ging Miriam zum Krankenbett waumlhrend sie einen Blumenstrauszlig in die Houmlhe hielt
raquoHallo Omi Wie geht es dir denn heutelaquo Miriam kuumlsste ihre Groszligmutter auf die Wange und nahm
ihre HandAuf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Laumlcheln das
sofort wieder verschwand raquoIch habe dir Tulpen mitgebracht Schau nurlaquoKlara laumlchelte und schloss seufzend die Augen raquoIch bringe dir den Fruumlhling Omi deine Lieblingsblumen
in drei Farben Sind sie nicht wunderschoumlnlaquo fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Groszligmutter raquoSie sagen du sprichst wieder Das ist wunderbar Jetzt geht es aufwaumlrts Du wirst schon sehenlaquo
Es war als spraumlche sie sich selbst Mut zu Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis Klara die Augen wie-
der oumlffnete Miriam versuchte den Blick ihrer Groszligmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen ndash aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Auf-ruhr
Hatte sich das Pflegepersonal getaumluscht
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam ob ihre Groszligmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte ob sie einfach genug hatte Sie die ein Leben lang beweglich gewesen war geistig und koumlrperlich Sie die gerne gespro-chen und Geschichten erzaumlhlt hatte Sie die Miriams Vor-liebe fuumlr Romane schon in fruumlhen Jahren mit Buchgeschen-ken und Empfehlungen gefoumlrdert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstuumltzt hatte
Dieselbe Frau schwieg nun schon so langeMiriam lieszlig Klaras Hand los stand auf nahm eine Blumen-
vase vom Regal ging damit zum Waschbecken und fuumlllte die Vase
Sie warf einen Blick in den Spiegel der uumlber dem Wasch-becken hing und beobachtete ihre Groszligmutter wie sie aus-druckslos dalag
raquoMan hat mir gesagt du haumlttest gesprochen Omilaquo Miriam bemuumlhte sich um einen belanglosen Ton raquoSag was Omi Auch fluchen ist erlaubtlaquo sagte sie aufmunternd in ihr Spie-gelbild waumlhrend das Wasser in die Vase plaumltscherte raquoMoumlch-test du wiederholen was du heute gesagt hastlaquo
Sie zwinkerte ihrer Groszligmutter zu dann drehte sie den Hahn zu loumlste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase
Ploumltzlich houmlrte sie undefinierbare Laute hinter sich Abrupt drehte sie sich um
Klara laumlchelte wieder Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zu-
ruumlck an das Bett ihrer Groszligmutter Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand
raquoMoumlchtest du das noch einmal sagenlaquoKlara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg Dann
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke Immer wieder im gleichmaumlszligigen Takt als uumlbe sie eine Tonfolge auf dem Klavier
Klara hatte nie ein Instrument gespieltPloumltzlich hielt sie inne und ihre Lippen bildeten Laute
unzusammenhaumlngendes Kauderwelsch Leise ganz leise kamen Toumlne aus ihrem Mund
Miriam lauschte und bemuumlhte sich die Silben zusammen-zusetzen
War es das was die Aumlrzte Aphasie nannten Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammen-hanglos Silben aneinander
Klaras Mimik verriet Unruhe als ginge in ihrem Inneren et-was Gewaltiges vor Das Tippen mit den Fingerspitzen houmlrte auf um dann von Neuem zu beginnen Dann noch einmal eine Wortmelodie Sie klang fremd und doch vertraut
Erst verzoumlgert begriff Miriam Das war kein Deutsch Ihre Groszligmutter sprach Franzoumlsisch Franzoumlsische Worte mit einem ausgepraumlgt suumlddeutschen Akzent
raquoSag es noch einmal Omilaquo bat MiriamraquoQuatre-vingt-dix-neuf Merci bien Au revoir Pa-laquoNeunundneunzig Danke Auf Wiedersehen Die Aussprache klang dialektgefaumlrbt Ihre Groszligmutter hatte
ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe Die Silbe die nach Pa folgte hatte sie ver-schluckt
Klaras Gesicht hellte sich auf als sie erneut ansetzteraquoQuatre-vingt-dix-neuflaquo Miriam nickte ihrer Groszligmutter aufmunternd zu waumlh-
rend sie sich insgeheim die Frage stellte woher sie in der Lage war diese Worte zu formen Die houmlheren zweistelligen
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raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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franzoumlsischen Zahlen bildeten eine Welt fuumlr sich Miriam wusste dass es lange dauerte bis man die Kombinationen flieszligend beherrschte
raquoWenn du muumlhelos ohne nachzudenken die zweistelli- gen Zahlen auf Franzoumlsisch kannst bist du in der Fremdspra-che angekommenlaquo behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer Claude musste es wissen er war Franzose
Das Problem war nur dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben
raquoIch wusste bis heute uumlberhaupt nicht dass du Franzoumlsisch sprichstlaquo sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerken-nung und Befremdung raquoWo hast du das gelernt Omi Hier in Freiburg Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs be-sucht Oder kommt es von Konstanz wo du als junge Frau gelebt hast Erinnerst du dich an den Bodensee Moumlchtest du mir davon erzaumlhlenlaquo
Miriam biss sich auf die Lippen Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal
Ruckartig griff Klara hinuumlber zu ihrem Nachtschraumlnkchen oumlffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand Schlieszliglich fischte sie eine lange Kette heraus an der eine Ta-schenuhr hing
Verbluumlfft sah Miriam zu wie ihre Groszligmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte Unwillkuumlrlich strei-chelte Miriam die Wange ihrer Groszligmutter
raquoEs wird alles gut Omi Beruhige dich bitte Ich habe viel zu viele Fragen gestellt Alles wird gutlaquo
Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand Woher kam diese
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
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Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Uhr Als Miriam ihrer Groszligmutter Kleidung und Nacht- waumlsche fuumlr die Rehaklinik zusammengesucht hatte war keine Taschenuhr im Gepaumlck gewesen
Eine Uhr Zeit Welche Bedeutung besaszlig das Phaumlnomen Zeit mit knapp neunzig Jahren
Wie viel davon wuumlrde Klara noch bleiben Langsam oumlffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunder-
schoumlne antike Stuumlck Hatte es einst ihrem Groszligvater gehoumlrt Nein Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen Vor-sichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben
Le temps est un bien preacutecieux raquoDie Zeit ist kostbarlaquo sagte Miriam leise und schluckte ihre
Traumlnen hinunter raquoWas fuumlr eine wunderschoumlne UhrlaquoKlara mochte schweigen aber sie hatte angefangen zu
kommunizieren Vor Miriams innerem Auge warf der Zeit-messer zusammen mit den franzoumlsischen Wortfetzen viele Fragen auf
Was wollte ihre Groszligmutter ihr mitteilenAber heute wuumlrde Miriam keine Fragen mehr stellen Sie wuumlrden es langsam angehen genau wie mit Klaras ers-
ten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrich-tung Einen nach dem anderen
Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen Miriam begriff instinktiv dass ihre Groszligmutter jetzt nichts mehr sagen konnte selbst wenn sie gewollt haumltte
Lange saszlig Miriam einfach nur da lauschte Klaras regelmauml-szligigem Atem waumlhrend sie die juumlngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht das sich zunehmend entspannte Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
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zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem was ihre Groszligmutter gerade gestammelt hatte und der Uhr
Zahlen Die Silbe raquoPalaquo die verloren im Raum stand Eine Taschenuhr mit einer Gravur in franzoumlsischer Sprache
Vom Flur aus houmlrte man gedaumlmpft Stimmen das Oumlffnen und Schlieszligen von Tuumlren Vermutlich wurde gleich Abend- essen serviert
Miriam warf einen Blick auf ihr Handy kurz vor fuumlnf Houmlchste Zeit den Arzt aufzusuchen
Ein leises Schnarchen war zu houmlren Ihre Groszligmutter war eingeschlafen
Leise stand Miriam auf schob den Stuhl zuruumlck und kuumlsste sie auf die Stirn
raquoIch komme morgen wieder Wie jeden Taglaquo fluumlsterte sie raquoDann sehen wir weiterlaquo
Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zuruumlck in die Schub-lade nahm ihren Rucksack und ging zur Tuumlr
raquoPas-callaquo klang es ploumltzlich deutlich hinter Miriams Ruuml-cken mit der Betonung auf der zweiten Silbe so wie im Fran-zoumlsischen
Miriam hielt inne drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht das ein Laumlcheln zeigte
Ihr Atem ging regelmaumlszligig raquoPascallaquo
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MIRIAM
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Freiburg Maumlrz 2018
raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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raquoSchwer zu sagen was genau im Kopf einer Schlaganfallpa-tientin vorgehtlaquo sagte der behandelnde Arzt nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte raquoDrei Wochen ist Ihre Groszligmutter jetzt bei unslaquo
Er saszlig hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab Miriam hatte ihm gegenuumlber Platz genommen
raquoSie spricht Franzoumlsisch aus heiterem Himmel sagen Sielaquo raquoSie muss es irgendwann gelernt habenlaquo sagte Miriam
achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor als sei sie nicht genuumlgend informiert uumlber das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson
Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl raquoWenn die Patienten ins Leben zuruumlckkehren passieren
die seltsamsten Dinge Ich erinnere mich an eine aumlltere Frau die ploumltzlich Ungarisch sprach und es stellte sich heraus dass sie fruumlher ein ungarisches Kindermaumldchen hatte Es kommt darauf an welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft ge-zogen wurden Wir wissen dass das menschliche Gehirn in
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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der Lage ist den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren Sie muumlssen Geduld haben Frau Schilling Genau wie mit den Laumlhmungenlaquo Wieder sah er in die Akte und blaumltterte darin raquoLinksseitige Extremitaumltenlaquo murmelte er raquoHier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung Sechs Wochen nach dem Schlaganfall Zeit und Geduld sind die Zauberwortelaquo
Er sah Miriam freundlich an Geduld Zeit Wie viel davon wuumlrde ihrer Groszligmutter noch
bleiben raquoIch habe das Gefuumlhl dass sie leidet Sie moumlchte mir etwas
mitteilen und kann es nicht Als waumlre die Software in ihrem Kopf vorhanden aber sie beherrscht das Programm nicht Sie kaumlmpft um Artikulation Ob es auch um ihre Erinnerungen geht kann ich nicht beurteilenlaquo
Der Arzt houmlrte auf zu wippen raquoOder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Pro-
gramm Noch nichtlaquoraquoDas klingt optimistischlaquo bestaumltigte Miriam laumlchelnd raquoIhr Bild mit der Software gefaumlllt mir Sind Sie vom FachlaquoMiriam lachte raquoNein Ich unterrichte Literatur und durch
das Schweigen meiner Groszligmutter wurde mir noch mehr be-wusst welche Bedeutung Sprache hat wenn man sie ver-liertlaquo
Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand uumlber die geschlossene Akte raquoNur Mut Zuversicht ist das taumlgliche Brot meines Jobs Wollen Sie meinen Rat houmlrenlaquo
Miriam nickte stumm raquoStimulieren Sie das Gedaumlchtnis Ihrer Groszligmutter mit
Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit Suchen Sie nach
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Dingen die ihr etwas bedeutet haben Ich mache einen Ver-merk fuumlr den Logopaumlden Lassen Sie Ihre Groszligmutter reden Gehen Sie auf den Sprachschatz ein den sie Ihnen anbietet Sie sprechen Franzoumlsischlaquo
Miriam nickte raquoJalaquoraquoNa bittelaquo Er warf die Arme in die Houmlhe und lieszlig sie auf den Tisch fal-
len Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten raquoVielleicht braucht Ihre Groszligmutter nur einen Reiz und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache Suchen Sie nicht nach Antworten sondern geben Sie ihr die Moumlglichkeit diese selbst zu finden Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufenlaquo
Er machte Anzeichen sich zu erheben Miriam tat es ihm gleich bedankte sich und verabschie-
dete sich mit einem Handschlag Auf der Fahrt zuruumlck nach Freiburg ging es leicht bergab
und das Rad rollte von alleine Miriam blies ein kuumlhler Wind ins Gesicht Immer wieder gingen ihr die juumlngsten Ereignisse durch den Kopf Klaras Ringen um Sprache ihr verzweifelter Gesichtsausdruck dann die Bestimmtheit mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte Ihr gluumlckliches Laumlcheln vor dem Einschlafen nachdem sie einen Namen genannt hatte Die Empfehlungen des Arztes
Aus lebhaften Erzaumlhlungen ihrer Groszligmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges uumlber Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt wo sie geheiratet hatte dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zuruumlckgekehrt Beide Staumldte waren nach dem Krieg in die franzoumlsische Besatzungs-zone gefallen
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Ruumlhrten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit War die Uhr ein Symbol fuumlr die Zeit die ihr noch blieb Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe
Offensichtlich wusste Miriam nicht alles Letztendlich konnte niemand sagen was in ihrer Groszlig-
mutter vorging Miriam hatte das Gefuumlhl dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief
Was hatte der Arzt vorgeschlagen Visuelle Reize Davon gab es genug in Klaras Wohnung Fotoalben Ein Schreib-tischfach mit Korrespondenz Briefe die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartaumluserstraszlige Sie wohnte unterm Dach in einem Haus das die Familie seit Jahrzehnten besaszlig Klara und de-ren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erben-gemeinschaft um die Immobilie gegruumlndet Eines Tages wuumlrde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehoumlren
Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebaumlude mit den ho-hen Fenstern und seinen Erkern sehr Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus das den Krieg unbeschadet uumlberstanden hatte wie alle Haumluser hier in der Straszlige Die meisten Mieter lebten schon lange hier Nur Miriam war erst vor einem knap-pen Jahr eingezogen
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhoumlhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen Idyllisch lagen dar-unter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Drei-sam der Fluss der sich durch Freiburg zog Es war ein groszliges Gluumlck so zentral zu wohnen fuumlnf Fahrradminuten von Miri-ams Arbeitsplatz der Universitaumlt in der Innenstadt entfernt
In ihrer Wohnung angekommen versuchte Miriam ihre
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
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Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Groszligtante zu erreichen aber Lotte ging nicht ans Telefon Sie hinterlieszlig eine Sprachnachricht
raquoIch binrsquos Tante Lotte Es gibt gute Nachrichten Ich bin zu Hause erreichbar Magst du mich zuruumlckrufen wenn du da bistlaquo
Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit dem Proseminar Grenzen sprengen ndash auf wessen Kosten Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20 Jahrhundert
Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr fuumlr das Wintersemester die Leitung uumlberlassen und Miriam stellte die Hausarbeits-themen zusammen vervollstaumlndigte die Literaturliste Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte entdeckte sie dass sich dreiszligig Studierende fuumlr ihr Seminar angemeldet hat-ten Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und ange-fragt ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen wuumlrde
Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 20182019 Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nach-gereicht
Miriam uumlberflog das Deckblatt raquoDie Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht ver-
trieben werden koumlnnenlaquo Jean Paul und der Begriff der FreiheitMit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Doku-
ment Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken Sie stand auf ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon
von der Ladestation raquoIch war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladenlaquo
sagte ihre Groszligtante Lotte raquoWas gibtrsquos Neues Wie geht es meiner Schwesterlaquo
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschlieszligenden Gespraumlch mit dem be-handelnden Arzt
raquoFranzoumlsischlaquo murmelte Lotte raquoSie spricht Franzoumlsisch Das ist ja seltsamlaquo
raquoIch dachte du haumlttest vielleicht naumlhere Informationenlaquo sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus
Die Straszligenlaternen gingen an Lotte raumlusperte sich raquoNaumlhere Informationen ndash wie das
klingt Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Maumld-chen in einem franzoumlsischen Lebensmittelladen gearbei- tet Daran erinnere ich mich dunkel Vielleicht kommt es daherlaquo
Miriam horchte auf raquoDas muss es seinlaquoWenn Miriams Groszligmutter in einem Eacuteconomat ndash so hieszligen
die franzoumlsischen Lebensmittellaumlden der Besatzungszonen ndash gearbeitet hatte wuumlrde das die Zahlen die sie jetzt von sich gab erklaumlren Sicher hatte sie Preise oder Geldbetraumlge auf Franzoumlsisch beherrschen muumlssen
raquoUnd sagt dir der Name Pascal etwas Tante LottelaquoMiriam sprach ihn Franzoumlsisch aus ndash genauso wie Klara es
zum Abschied getan hatte Im Badischen wuumlrde die erste Silbe betont werden
Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die franzoumlsische Besatzungszeit zuruumlck Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt und noch heute gab es unzaumlhlige soge-nannte Franzosenbauten Ein ganzer Stadtteil das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen stammte zum groumlszligten Teil aus jener Zeit Aber auch Konstanz wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Groszligvater
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
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aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
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Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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geheiratet hatte war Teil der franzoumlsischen Besatzungszone gewesen
Miriam wartete und je laumlnger die Pause dauerte desto sicherer war sie die richtige Frage gestellt zu haben
raquoPascallaquo kam es nach einer Ewigkeit zuruumlckraquoJa Pascal Das hat sie am Schluss gesagt im SchlaflaquoLotte seufzteraquoSag schon Tante Lotte wenn du etwas weiszligt War er ihre
JugendliebelaquoraquoDer Franzoselaquo sagte Miriams Groszligtante knapp raquoEr hieszlig
bei uns zu Hause immer nur der FranzoselaquoraquoNicht gerade charmantlaquo sagte Miriam raquoAlso ndash eine Ro-
manzelaquoraquoJa Zum Leidwesen unseres VaterslaquoUnglaumlubig schuumlttelte Miriam den Kopf Sie selbst war jah-
relang mit einem Franzosen zusammen gewesen Niemand in der Familie waumlre jemals auf die Idee gekommen ihn als den Franzosen zu bezeichnen Damals wie heute hieszlig er fuumlr alle schlichtweg Claude
raquoMeine Groszligmutter hatte als junges Maumldchen eine Romanze mit einem Franzosen Was war denn so schlimm daranlaquo fragte Miriam eine Spur zu forsch
raquoDass es nicht erwuumlnscht war und zwar vonseiten der Franzosen Miriam Fraternisierung nannten sie das Es waren andere Zeiten als heutelaquo
Fraternisierungsverbot ndash in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen wie oberflaumlchlich sie uumlber die deutsch-franzoumlsische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste
raquoEin gutes Verhaumlltnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwuumlnschtlaquo
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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raquoJa Es hat sehr lange gedauert bis sich das normalisierte Verbruumlderung war strikt verbotenlaquo
Warum houmlrte Miriam das erste Mal von solchen Restrik- tionen Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der For-schung Miriams Steckenpferd Verschaumlmt gestand sie sich diese eklatante Wissensluumlcke ein
Miriam houmlrte Lottes Atem am anderen Ende der LeitungraquoIm Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genom-
men Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldetlaquo sagte ihre Groszligtante mit Nachdruck
raquoEr hat keine Verbindung meiner Groszligmutter geduldetlaquo protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzaumlhlungen
Lotte schwieg raquoWie hieszlig dieser ominoumlse Pascal mit Nachnamenlaquo fragte
MiriamraquoWarum ist das denn so wichtiglaquoraquoWeil sie daruumlber sprechen will und es nicht kannlaquo sagte
Miriam mit Nachdruck raquoIhr fehlen die WortelaquoUnd ich leihe ihr meine Stimme dachte sie und rieb sich
die Schlaumlfe Sie trat vom Fenster weg und lieszlig sich unter der Dachschraumlge aufs Sofa fallen Uumlber ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln ndash ein Geburtstags-geschenk ihrer Groszligmutter
raquoEigentlich war es ganz harmlos Klara ist mit ihm ausge-gangen Es gab Tanzcafeacutes Spaziergaumlnge an der Dreisam ndash was weiszlig ich denn Was junge Maumldchen mit achtzehn so tunlaquo
raquoHat dieser Pascal einen Nachnamen Tante Lottelaquo wie-derholte Miriam ihre Frage starrte zur Decke und bewegte die Zehen
raquoEr ist niemals gefallen nicht bei uns zu Hauselaquo
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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raquoUnd wie ging es mit dem amouroumlsen Abenteuer weiterlaquoLotte schnaubte Miriam konnte spuumlren wie unangenehm ihrer Groszligtante
das Gespraumlch war aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend ihrem Heranwachsen ihrem verschwie-genen Leben
raquoGar nicht Dunkel kann ich mich daran erinnern dass der Franzose ploumltzlich verschwunden warlaquo sagte Lotte schlieszliglich gequaumllt raquoDas liegt alles wie im Nebel Klara war todungluumlck-lich Der erste Liebeskummer ist der schlimmste Aber die Jugend kann vergessen Am Ende hat sich fuumlr deine Groszlig-mutter in Konstanz alles zum Guten gewendetlaquo
Freiburg Der erste Liebeskummer Konstanz War die Chro- nologie eines Lebens so einfach
raquoWenigstens hat euer Vater sie gehen lassenlaquo sagte Miriam raquoEr war ein Tyrannlaquo
raquoEr war vor allem ein gebrochener Menschlaquo sagte Lotte leise raquoGlaubst du dass es fuumlr mich ein Zuckerschlecken war als junges Maumldchen ploumltzlich ohne meine groszlige Schwester da- zustehen Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen aber ich musste bleiben Ich habe alles abbekommen Schlieszliglich bin ich auch werlaquo
Sie verstummteMiriam fand dass sich Flucht sehr dramatisch anhoumlrte
aber Lottes Lieblingssatz Schlieszliglich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt
raquoDas hatte ich nicht bedacht Tante Lotte Verzeihung Es muss schlimm fuumlr dich gewesen sein allein zuruumlckzubleibenlaquo
Lotte seufzte Es entstand eine laumlngere Pause raquoEs tut mir leid Tante Lotte wenn ich so hartnaumlckig bin
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aber erst jetzt faumlllt mir diese Luumlcke in Groszligmutters Lebensge-schichte auf Was geschah danachlaquo
raquoNach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der groszlige Patriarch aufgespielt Und ich durfte so gut wie nichts Sogar von der Schule hat er mich abgeholt dass ja nichts passiertlaquo
Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
zu Hause los war Erst der Franzose und dann ein Protestant Vater war auszliger sichlaquo
Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
Sie uumlberlegte worin der Grund liegen koumlnnte dass ihre ganze Familie uumlber Jahrzehnte niemals den Franzosen the-matisiert hatte Nicht einmal ihre Groszligmutter
raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
raquoWie meinst du daslaquoraquoIch bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebens-
jahr bei meiner Groszligmutter Mein Groszligvater ist tot Es gibt keine Eltern die ich fragen koumlnnte Ich bin also auf die Erin-nerungen von dir und Omi angewiesen Sie kann im Mo-ment nicht sprechen Warum houmlre ich diese Geschichte zum allerersten Mallaquo
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In diesem Moment da sie es aussprach hatte Miriam ein vages Gefuumlhl Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ih-rer Vergangenheit war kein Zufall Weder ihre ploumltzlichen franzoumlsischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzi-gen Zeugin der Familiengeschichte Beides hing irgendwie zusammen Es schien einen tieferen Grund fuumlr das jahre-lange Schweigen zu geben Aber welchen
raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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Moralische Verfehlung Innerlich schuumlttelte sich MiriamraquoDamit die juumlngere Schwester nicht auch noch mit einem
Franzosen herumturteltlaquoLotte lachte gequaumllt raquoGenau Du ahnst nicht was damals
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Miriam kannte die Geschichte Mit dem Protestanten war ihr Groszligvater gemeint Friedrich Mayer hatte seine Zustim-mung zur Heirat verweigert selbst nachdem die damals noch nicht volljaumlhrige Klara schwanger wurde
raquoNennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestan-ten Groszligpapalaquo korrigierte Miriam und kam sich dabei vor als stuumlnde sie vor ihren Studierenden
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raquoWarum wurde die Romanze zugedecktlaquo fragte sie mehr sich selbst
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raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
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Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
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raquoWarum habt ihr nie daruumlber gesprochenlaquo raquoWeil es ein leichtes Gewitter war verglichen mit dem Erd-
beben das spaumlter durch die Verbindung mit deinem Groszlig- vater uumlber unsere Familie hereinbrachlaquo sagte Tante Lotte ge-reizt raquoDagegen war der Franzose eine Kleinigkeit Es war nicht wichtiglaquo
Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war
Miriams Gefuumlhl sagte ihr das Gegenteil raquoIch finde es schon wichtiglaquo sagte Miriam mit klarer Stimme
raquoDeine Schwester ist dabei ins Leben zuruumlckzukehren und sie versucht verzweifelt sich zurechtzufinden Das Erste was ihr einfaumlllt sind franzoumlsische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebtenlaquo
raquoMeine Schwester ist alt sehr alt Moumlchtest du ihr fuumlr das bisschen Zeit das noch vor ihr liegt einen solchen Aufruhr zumuten Die Erinnerungen koumlnnten ihr den Rest gebenlaquo
Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrie-ben werden koumlnnen
Miriam biss sich auf die Lippe Lottes Einwand war berech-tigt die unterschwellige Drohung nicht zu uumlberhoumlren
Wer geriet in Aufruhr Bildete das familiaumlre Schweigen ein Indiz fuumlr die Brisanz des Geheimnisses In diesem Moment wuumlnschte sie mehr denn je ihr Groszligvater moumlge noch leben
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