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VO Geschichte der Philosophie der Neuzeit Von Descartes bis Kant
WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
Mitschrift der Lehrveranstaltung Dietmar Halbedl (0110534) - 1 -
V O R W O R T
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Mitschrift ist ausschließlich für den Zweck bestimmt, die Prüfungsvorbereitung zur
Vorlesung „Geschichte der Philosophie der Neuzeit. Von Descartes bis Kant.“ von Prof. Udo
Thiel – abgehalten im WS 2009/10 an der Grazer Karl-Franzens-Universität - zu erleichtern,
in dem sie den Inhalt der Vorlesung – so gut es geht – mit meinen (eigenen) Worten
wiederzugeben versucht. Es wird weder irgendein Anspruch auf Vollständigkeit noch ein
solcher auf Richtigkeit erhoben.
Ich bitte nichtsdestotrotz die noch zahlreich vorhandenen Flüchtigkeitsfehler als auch
inhaltliche Ungenauigkeiten zu entschuldigen! Schwere inhaltliche bzw. thematische Fehler
sollten sich in Grenzen halten und sind für den Fall ihres Auftretens durch die Redundanz
dieser Mitschrift relativ leicht also solche zu erkennen.1 Leider konnte ich an drei Terminen
die Vorlesung nicht besuchen und habe stattdessen die mir zugekommenen
Vorlesungsmitschriften meiner Kolleginnen und Kollegen verwertet und für meine Mitschrift
adaptiert.2 Ich bitte dies zu entschuldigen! Auf jeden Fall wünsche ich aber viel Spaß mit
diesem Skript und/oder eine erfolgreiche Prüfung!
Dietmar Halbedl
P.S.: Die zahlreichen Einfügungen stammen zumeist aus „Wikipedia. Die freie Enzyklopädie.“
(http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite) und sollten – natürlich nur im Rahmen dieser
Vorlesung als Ergänzung meiner Mitschrift – dem Anspruch einer adäquaten
Informationsquelle genügen. Ausdrücklich möchte ich an dieser Stelle noch darauf
hinweisen, dass diese Mitschrift aufgrund möglicher Urheberrechte ausschließlich nur für
den privaten und nichtkommerziellen Gebrauch als Skriptum für die Prüfungsvorbereitung
bestimmt ist; kurz: Diese Ausarbeitung ist zum ausschließlich privaten Gebrauch für
StudentInnen bestimmt!
1 Kontakt für Wünsche und Verbesserungsvorschläge: halbedld@edu.uni-graz.at. 2 Leider haben nicht alle Zusagen der Übermittlung von Mitschriftsteilen gehalten, weshalb die Ausführungen
von der vierten bis zur einschließlich sechsten Einheit dementsprechend verkürzt ausfallen müssen.
VO Geschichte der Philosophie der Neuzeit Von Descartes bis Kant
WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
Mitschrift der Lehrveranstaltung Dietmar Halbedl (0110534) - 2 -
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
1. EI�FÜHRU�G I. Philosophie der Neuzeit ................................................................................................... 4
II. Schwerpunkt: Erkenntnistheorie & Metaphysik .............................................................. 4
III. Rationalismus & Empirismus (1) ...................................................................................... 5
IV. Kontext (17. Jahrhundert): Skeptizismus ......................................................................... 7
IV.A. Exkurs: Bedeutung der Geschichte der Philosophie ........................................................ 8
V. Rationalismus & Empirismus (2) ...................................................................................... 8
VI. Kontext (18. Jahrhundert): Aufklärung
Bedeutung der Geschichte der Philosophie ..................................................................... 9
VII. René Descartes ............................................................................................................... 11
2. RE�É DESCARTES
I. Allgemeines .................................................................................................................... 13
II. Meditationen über erste Philosophie (1641) ................................................................. 15
III. Methodischer Zweifel .................................................................................................... 16
IV. Descartes´ erste Gewissheit ........................................................................................... 18
IV.A. Descartes´ erste Gewissheit – Fortsetzung .................................................................... 21
V. Das Wesen der Seele – Überblick über die anderen Meditationen .............................. 22
VI. Descartes‘ Leib-Seele-Dualismus ................................................................................... 27
VII. Descartes und der Cartesianismus - Malebranche: Seele, Welt und Gott .................... 30
VII.A. Exkurs und Vertiefung: Descartes‘ Leib-Seele-Dualismus ............................................. 32
3. JOH� LOCKE I. Die Philosophie John Lockes .......................................................................................... 34
II. Lockes Essay concerning Human Understanding ........................................................... 35
III. Lockes Kritik des Innatismus (Essay 1) ........................................................................... 37
IV. Lockes Alternative: Erfahrung als Ursprung der Ideen .................................................. 39
V. Sensation und Reflexion: Einfache & komplexe Ideen .................................................. 40
VI. Locke über primäre & sekundäre Qualitäten ................................................................. 41
VII. Substanzbegriff............................................................................................................... 42
VIII. Reale vs. nominale Essenzen .......................................................................................... 43
IX. Locke: Grenzen der Erkenntnis ...................................................................................... 44
X. Subjekt & Person ............................................................................................................ 47
XI. Exkurs aus Wikipedia zur Erkenntnistheorie John Lockes ............................................. 49
4. DAVID HUME I. Einführung ...................................................................................................................... 52
II. Exkurs aus Wikipedia zur Erkenntnistheorie David Humes ........................................... 54
III. Hume über Kausalität ..................................................................................................... 59
IV. Hume über persönliche Identität ................................................................................... 65
V. Hume: Identität/Skeptizismus ....................................................................................... 68
VO Geschichte der Philosophie der Neuzeit Von Descartes bis Kant
WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
Mitschrift der Lehrveranstaltung Dietmar Halbedl (0110534) - 3 -
5. IMMA�UEL KA�T I. Kant. Kritik der reinen Vernunft ..................................................................................... 73
II. Kant. Kritik der reinen Vernunft – Struktur .................................................................... 77
II.A. Exkurs aus Wikipedia zur Transzendentalen Ästhetik Immanuel Kants ........................ 84
II.B. Exkurs aus Wikipedia zur Transzendentalen Logik Immanuel Kants ............................. 88
III. Kants Transzendentaler Idealismus ............................................................................... 90
IV. Exkurs aus Wikipedia zur Philosophie und Epistemologie Immanuel Kants ................. 93
VO Geschichte der Philosophie der Neuzeit Von Descartes bis Kant
WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
Mitschrift der Lehrveranstaltung Dietmar Halbedl (0110534) - 4 -
1. Einheit (20.10.2009) Prof. Dr. Udo Thiel Allgemeine Einführung: Charakteristika der Philosophie der frühen Neuzeit. Rationalismus, Empirismus. Aufklärung. René Descartes, Meditationen über Erste Philosophie (1641). Descartes und der Skeptizismus.
I. PHILOSOPHIE DER NEUZEIT
Prof. Udo Thiel setzt in dieser Vorlesung keine Vorkenntnisse voraus. Die Vorlesung trägt den
Titel „Philosophie der Neuzeit“ – aber was heißt das, was ist damit gemeint und warum teilt
man überhaupt die Philosophie in solche Epochen ein? Wollen wir nicht viel lieber
Philosophie betreiben, anstatt uns mit diesen alten Dingen zu befassen? Nun ja; es ist
allgemein gebräuchlich, dass wir zwischen verschiedenen Epochen unterscheiden. Diese
gebräuchliche, aber nicht unproblematische Einteilung (z.B. wo fängt das Mittelalter an und
wo hört es auf?) wollen wir uns ein wenig ansehen. Descartes gilt als Begründer der
neuzeitlichen Philosophie; früher wurde er sogar als deren Vater bezeichnet. Wir enden in
unserer Vorlesung mit Immanuel Kant, da es innerhalb der neuzeitlichen Philosophie zu
einem Übergang zur frühen Neuzeit kam. Für diese Einteilungen gibt es natürlich (nicht
unumstrittene) Gründe. Wir sprechen von der Philosophie der frühen Neuzeit und verstehen
darunter die europäische Philosophie von Descartes bis Kant (Mitte 17. Jahrhundert bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts). 1781 erschien Kants wichtigstes Werk „Kritik der reinen
Vernunft“; soweit ist diese Kategorisierung rein äußerlich an traditionelle Darstellungen
angelehnt. Aus welchen Gründen sprechen wir von dieser Philosophie der frühen Neuzeit –
was zeichnet sie aus? Gibt es Gründe dafür, Kant als ihren Begründer zu bezeichnen? Die
Gründe, die man dafür anführen kann, finden sich im folgenden Punkt 2.
II. SCHWERPUNKT: ERKENNTNISTHEORIE & METAPHYSIK
Der wichtigste Grund Descartes diese Rolle zukommen zu lassen ist der, dass Descartes
anscheinend der Erste war, der den Schwerpunkt seiner philosophischen Untersuchungen
auf Fragen der Erkenntnis legte; also Fragen nach der Möglichkeit der Quellen menschlicher
Erkenntnis. Dies sind Fragen, die wir heute als Erkenntnistheorie (bzw. engl. Epistemology
oder zu Deutsch Epistemologie) bezeichnen würden. Diese Ausdrücke benützte Descartes
selbst natürlich nicht; er hat sich aber tatsächlich mit Fragen beschäftigt, die wir heute der
Erkenntnistheorie zuordnen würden. Die Philosophie der frühen Neuzeit ist überhaupt durch
Fragen der Erkenntnistheorie gekennzeichnet – von Descartes bis Kant. Nun könnte man
sagen, dies sei ein Blödsinn. Es hat sich ja auch schon Platon mit Fragen der Erkenntnis
beschäftigt. In der Tat; natürlich gab es solche Philosophen schon vor Descartes. Aber der
entscheidende Unterschied dabei ist der, dass für Descartes (bzw. seine Philosophie) die
Frage nach der Erkenntnis(-möglichkeit) grundlegend ist; dies ist die erste Frage, wenn wir
Philosophie betreiben. In der mittelalterlichen Scholastik hingegen dominierte die Lehre
über die Natur bzw. das Wesen der Realität. Es wurde oft angenommen, dass es keine
besonderen oder prinzipiellen Schwierigkeiten bereitet, das Wesen der Realität zu erkennen,
welches man sodann in verschiedene Arten von Entitäten aufteilen kann. Die Frage danach,
ob Erkenntnis überhaupt möglich ist, wurde in dieser radikalen Form (wie sie von Descartes
gestellt worden ist) von den frühen Philosophen nicht behandelt. Wie kam es dazu, dass
Descartes überhaupt Fragen über die Möglichkeit von Erkenntnis gestellt hat? Tatsache ist,
dass das Vertrauen in die Fähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens im
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17. Jahrhundert nicht mehr aufrecht gehalten werden konnte. Aus diesem Grund behandelt
Descartes Fragen wie „Ist Erkenntnis überhaupt möglich und wenn ja, müssen wir weitere
Fragen stellen?“; es ging ihm um korrekte Methoden des Erkenntniserwerbs bzw. korrekte
Quellen der Erkenntnis. Genau deshalb spielte für Descartes die Metaphysik trotzdem eine
große Rolle. Er stellte Fragen nach Erkenntnis und baute darauf seine Metaphysik (z.B. über
die Seele und die Existenz Gottes) auf. Erkenntnisfragen stehen bei den Philosophen des
17. Jahrhundert am Anfang, obwohl sie des Weiteren natürlich auch metaphysische
Probleme behandelten (wenn auch zumeist sehr kritisch). Den Schwerpunkt dieser
Vorlesung bilden die Erkenntnistheorie als auch die Metaphysik. Die Philosophie der Neuzeit
beschäftigte sich vorweg mit der Erkenntnisfrage und entwickelte im Anschluss daran
metaphysische Themen. In den Lehrbüchern dieser Zeit wird zwischen zwei Strömungen
unterschieden; zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus. Das sind die beiden
Denkströmungen, die sich in der frühen Neuzeit bekämpfen. [Exkurs aus Wikipedia: Die
Metaphysik (lateinisch bedeutet meta „danach, hinter, jenseits“ und physis „Natur, natürliche Beschaffenheit“)
ist eine Grunddisziplin der Philosophie. Metaphysische Systementwürfe behandeln in ihren klassischen Formen
die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie: die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen,
Ursachen oder „ersten Gründe“, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie von Sinn
und Zweck der gesamten Wirklichkeit bzw. allen Seins. Konkret bedeutet dies, dass die klassische Metaphysik
„letzte Fragen“ verhandelt, beispielsweise: Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und
dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott und wenn ja, was können wir über
ihn wissen? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, verfügt er über einen freien Willen? Gegenstand der
Metaphysik sind dabei, so der klassische Erklärungsanspruch, nicht durch empirische Einzeluntersuchungen
zugängliche, sondern diesen zugrundeliegende Bereiche der Wirklichkeit. Der Anspruch, überhaupt
Erkenntnisse außerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung zu formulieren, wurde vielfach auch kritisiert -
Ansätze einer allgemeinen Metaphysikkritik begleiten die metaphysischen Systemversuche von Anfang an, sind
insbesondere aber im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt und oftmals als ein Kennzeichen moderner
Weltanschauung verstanden worden. Andererseits hat man Fragen nach einem letzten Sinn und einem
systematisch beschreibbaren „großen Ganzen“ als auf natürliche Weise im Menschen angelegt, als ein
„unhintertreibliches Bedürfnis“ verstanden (Kant), ja den Menschen sogar als ein „metaphysiktreibendes
Lebewesen“ bezeichnet (Schopenhauer). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden, klassischer analytisch-
empiristischer und kontinentaler Metaphysikkritik zum Trotz, wieder komplexe systematische Debatten zu
metaphysischen Problemen von Seiten meist analytisch geschulter Philosophen geführt.]
III. RATIONALISMUS & EMPIRISMUS (1)
Was ist Rationalismus? Rationalismus hat offensichtlich etwas mit „ratio“ zu tun; das heißt
mit Vernunft. Die Position eines rationalistischen Philosophen, welcher sich mit
Erkenntnisproblemen oder der Metaphysik beschäftigt, ist die, dass nicht jede Erkenntnis der
Realität von der Erfahrung abhängig ist. Eine bestimmte Alltagsbedeutung, die sich auf diese
philosophische Bedeutung bezieht ist diejenige, dass man meint, die Gründe bestimmter
Überzeugungen meiner Person sind rational. Dieses philosophische Verständnis sowie das
Alltagsverständnis von „ratio“ und „rational“ haben durchaus etwas miteinander zu tun. Wir
meinen mit rational die Vernunft; wir beziehen uns dabei auf die Gründe unserer
Überzeugung.
Wenn man nun zum Empirismus übergeht, dann haben wir darin den Ausdruck „emperia“
(bedeutet „Erfahrung“) enthalten. Ein Empirist ist jemand der behauptet, dass jegliche
Erkenntnis der Realität letztendlich von der Erfahrung abgeleitet ist (so behauptet ein
radikaler Empirist, dass nichts im Verstande ist, was nicht vorher in den Sinnen war). Ein
Rationalist hingegen behauptet, dass es Erkenntnis bestimmter Gegenstände ganz
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unabhängig von der Erfahrung gibt. Der Rationalist meint, dass es apriorische Erkenntnis –
also erfahrungsunabhängige Erkenntnis - gibt. So meint auch Descartes, dass wir das Wesen
der Seele ohne Erfahrung erkennen können. So glaubt er, dass die Seele eine unsterbliche,
unsichtbare und unteilbare Substanz sei und dass man die Existenz Gottes apriorisch
beweisen kann. Andererseits ist es aber nicht so, dass Rationalisten wie Descartes meinen,
dass die Erfahrung überhaupt nicht für unsere Erkenntnis wichtig wäre. Descartes war
ebenso naturwissenschaftlich und mathematisch interessiert. Er glaubte, dass es bestimmte
Wahrheiten inhaltlicher – und nicht nur logischer – Art gibt, für deren Rechtfertigung wir uns
nicht auf die Erfahrung berufen müssen. Descartes meint, dass uns die sinnliche Erfahrung
oft täuscht und daher keine Grundlage verlässlicher Erkenntnis ist. Die Empiristen im
Gegensatz dazu meinen, dass jegliche Erfahrung der Realität letztendlich aus der Erfahrung
selbst abgeleitet sein muss. Das heißt nicht, dass sie behaupten, dass die Vernunft
überhaupt keine Rolle spielt (denn ich muss Erfahrung mit Vernunft kombinieren, um eine
Erkenntnis gewinnen zu können); aber: die Betonung liegt hier auf der Seite der Erfahrung.
Ein Empirist wie Locke gibt durchaus zu, dass es auch apriorische Wahrheiten gibt (z.B.
logische oder analytische Aussagen). Analytische Sätze erklären nur das, was im Subjekt
schon enthalten ist, und fügen dem Ganzen nichts hinzu (z.B. wenn ich sage „ein Junggeselle
ist nicht verheiratet“ oder „dein Dreieck hat drei Ecken“). Dann gibt es synthetische Aussagen, welche inhaltlich dem Begriff etwas hinzufügen. Der Empirist behauptet, dass alle
erfahrungsunabhängigen Wahrheiten analytisch sind. Descartes hingegen meint, dass es
auch apriorische Wahrheiten gibt, welche einen Inhalt haben, die synthetisch sind und somit
etwas über die Realität aussagen. Für erfahrungsabhängige Wahrheiten verwendet man den
Termini „a posteriori“ (= von der Erfahrung abhängig), für erfahrungsunabhängige
Wahrheiten hingegen „a priori“. Die hier dargestellten Termini sind für die Philosophie Kants
allesamt zentral. Das hier Dargestellte beschreibt somit grob gesprochen den Gegensatz
zwischen Rationalismus und Empirismus; natürlich sind beide Denkströmungen weitaus
komplexer. Randnotiz: Der Empirismus herrschte hauptsächlich auf den britischen Inseln vor
(obwohl es auch den deutschen Empirismus gab). [Exkurs aus Wikipedia: Der Empirismus (griechisch
von der Empirie bzw. lateinisch der Erfahrung folgend (empiricus)) ist eine erkenntnistheoretische Richtung in
der Philosophie, die alle Erkenntnisse aus der Sinneserfahrung, der Beobachtung oder dem Experiment ableitet
(und von keinerlei Vorwissen ausgeht). Der Empirismus steht im Gegensatz zum Rationalismus, der die
Vernunft als für den Erkenntnisprozess wesentlich hervorhebt, und zum Nativismus, der auch angeborene
Ideen und Begriffe zulässt. Der Empirismus hingegen legt seinen Schwerpunkt auf die Erfahrung und sinnliche
Wahrnehmung. Unabhängig von seinem philosophischen Wahrheitsgehalt hat der Empirismus als Grundlage
wissenschaftlicher Arbeit eine große Bedeutung bis in die Gegenwart.]
René Descartes (1596-1650) fragt nach dem Fundament der menschlichen Erkenntnis.
Die Betonung erkenntnistheoretischer Fragen kennzeichnet die frühneuzeitliche
Philosophie von Descartes bis Kant.
Descartes’ Methodischer Zweifel: „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt,
... dass ich ... einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten
Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich jemals für etwas Unerschütterliches und
Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte. ... Ich werde …, da bei
untergrabenen Fundamenten alles darauf Gebaute von selbst zusammenstürzt, den
Angriff sogleich auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine früheren
Meinungen stützten” (Descartes, Meditationen über Erste Philosophie, Hrsg. L. Gäbe,
Hamburg 1959, S. 31).
Der Rationalismus behauptet, dass die menschliche Vernunft Aspekte der Realität erkennen könne, ohne dabei der Erfahrung zu bedürfen (Wesen der Seele, Existenz
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Gottes). Der Empirismus dagegen behauptet, dass alle menschliche Erkenntnis letztlich
auf Erfahrung zurückzuführen sei.
Die bekanntesten Rationalisten sind René Descartes (1596-1650), John Locke (1632-
1704) sowie Benedict de Spinoza (1632-1677), hingegen die bekanntesten Empiristen
George Berkeley (1685-1753), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und David Hume
(1711-1776).
IV. KONTEXT (17. JAHRHUNDERT): SKEPTIZISMUS
Man kann dies nun so hinnehmen und meinen, es gibt diese beiden Schulen (also
Rationalismus und Empirismus) sowie die zwei dazugehörigen Dreierbanden (Descartes,
Spinoza und Leibnitz bzw. Locke, Berkeley und Hume); aber es stellt sich die Frage, warum
das so ist? Wieso bildeten sich diese Schwerpunkte heraus und wieso kam es überhaupt erst
zu solch einer starken Betonung der Erkenntnisfrage? Wieso entwickelten sich Rationalismus
und Empirismus zu den Hauptströmungen dieser Zeit? Rationalismus und Empirismus
stellten unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage dar; die wichtige Frage nach der
Möglichkeit, Quelle und dem Ausmaß menschlicher Erkenntnis. Wieso setzt sich jemand in
der Mitte des 17. Jahrhunderts hin und schreibt wie Descartes die „Meditationen der Philosophie“? Descartes war finanziell unabhängig und hätte ja auch etwas Nützlicheres als
Philosophie machen können – warum auch nicht? Philosophie entsteht nun aber nicht im
leeren Raum aus purer Langeweile (obwohl es individuell natürlich so sein kann). Es geht
darum, wodurch bestimmte philosophische Theorien entstehen. Auch geht es um die Frage,
wieso sie in diesem Kontext (zu dieser Epoche, in diesen Ländern usw.) entstehen. Kurz
formuliert kann man hier auch sagen, dass man hier auf die Genese philosophischer
Theorien schaut.
Hier gibt es allerdings unterschiedliche Antworten. Eine davon wirkt laut Prof. Thiel aber
sehr plausibel und geht zurück auf den amerikanischen Gelehrten Richard H. Popkin, welcher
das Buch „The History of Scepticism from Savonarola to Bayle“ geschrieben hat. Seine These
besagt, dass sich etwa um 1600 die Philosophie – als auch andere Disziplinen und die
Intellektuellen insgesamt – in einer Krise des Skeptizismus befanden. Der Skeptizismus ist
eine Position, die sich auch auf die Erkenntnisfrage bezieht; eine sehr radikale Version des
Skeptizismus ist diejenige, nach der es keine Aussagen gibt, die wirklich gewiss sind das
bedeutet, dass alles angezweifelt werden kann und es keine Gewissheit gibt. Der
Skeptizismus war eine Einstellung, die zu dieser Zeit in der Tat in Mode war; ein sehr
berühmter skeptischer Philosoph dieser Zeit war Michel de Montaigne.
Jetzt muss man weiter fragen, wieso sich neuzeitliche Philosophen mit der Philosophie
beschäftigten. Wieso war der Skeptizismus überhaupt so in Mode zu dieser Zeit? Das hat mit
der Tatsache zu tun, dass die frühe Neuzeit - vor allem in den Naturwissenschaften - eine
Zeit des Umbruchs war. Die Naturwissenschaften hatten das ganze bisher überlieferte
Weltbild radikal verändert; so war es nicht mehr gültig, dass die Erde - ebenso wie die
Menschheit - das Zentrum des Universums ist; das war für das damalige Weltbild sehr
bedeutend. Viele Philosophen (auch Descartes und Locke) standen den neuen und
experimentellen Naturwissenschaften durchaus positiv gegenüber; sie begrüßten diese
empirischen Naturwissenschaften. Und obgleich viele Philosophen diesen Entwicklungen
positiv gegenüberstanden, waren sie sich nicht sicher, ob es für diese neuen
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Naturwissenschaften eine philosophische Rechtfertigung geben kann. Die alte scholastische
Buchgelehrsamkeit konnte eine sollte Rechtfertigung aufgrund der Unvereinbarkeit mit den
neuen Erkenntnissen nicht begründen. Man kam dann zum Ergebnis, dass für uns Menschen
begründetes Wissen nicht möglich sei. Descartes ist einer – aber auch der Wichtigste – der
sich hier den Skeptizismus vorgenommen hat. Seiner Meinung nach müssten wir versuchen,
ein absolutes Wissen der Menschheit zu schaffen. Wir können den Zustand des Skeptizismus
so nicht hinnehmen; es gilt zu zeigen, dass es ein Fundament der Erkenntnis gibt, sodass
dieses allen skeptischen Attacken standhalten kann. Descartes suchte also nach einem
absoluten Fundament der Erkenntnis; dazu will er die Prinzipien untersuchen, auf die sie sich
seine früheren Überzeugungen stützten. Dieses Fundament will er den skeptischen Angriffen
aussetzen. Hält das Fundament nicht stand, muss er sich ein neues suchen. Das ist ein Ansatz
einer Erklärung, wieso sie sich die Philosophen dieser Zeit mit solchen Fragen beschäftigten.
Andererseits ist es offensichtlich, dass man diese Fragen nach der Erkenntnis immer stellen
kann; so werden heute diese Fragen anders – aber auch in anderen Kontexten – gestellt.
Skeptizismus: Michel de Montaigne (1533-1592) - Essais (1580). Rationalisten wie
Descartes und Empiristen wie Locke suchen Antworten auf folgende Fragen –
Antworten, die immun gegen die Attacken des Skeptizismus sein sollten:
(1) Was sind unsere Erkenntnisquellen?
(2) Was kann unseren Überzeugungen Gewissheit verleihen?
(3) Worin besteht die korrekte Methode des Erkenntniserwerbs?
IV.A. EXKURS: BEDEUTUNG DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
Beachte: Alles was wir hier in dieser Vorlesung behandeln, ist trotzdem auch heute noch
Grundlage philosophischer Diskussionen. Im 17. Jahrhundert waren die meisten Philosophen
religiöse Katholiken; sie versuchten den religiösen Glauben mit den Naturwissenschaften zu
vereinen. Heute passiert Philosophie nicht auf der Grundlage religiöser Annahmen. Hier
sehen wir nach Prof. Thiel zum ersten Mal, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der
Philosophie bzw. der Philosophie der Neuzeit durchaus auch heute noch Relevanz besitzt.
Philosophie kann nie völlig ihre eigene Geschichte abschütteln und bezieht sich immer
wieder auf die eigene Geschichte. Wenn man z.B. einen Aufsatz über die Identität der
Person schreiben will, fängt man auch heute noch zumeist mit Locke an.
V. RATIONALISMUS & EMPIRISMUS (2)
Jetzt kommen wir noch einmal zum Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalismus.
Bislang scheint es so zu sein, dass es genau diese beiden bestimmbaren Gruppen von
Philosophen gibt (also Empiristen und Rationalisten), die sich mit ihren Argumenten
philosophisch bekämpfen. Diese Einteilung ist aber nicht so einfach wie es scheinen mag;
erstens muss man dazu sagen, dass sich weder Descartes als Rationalist bezeichnet hat, noch
Locke sich als Empirist. Das sind Bezeichnungen, die spätere Philosophiehistoriker auf diese
Zeit angewandt haben, um die Komplexität dieser 200 bis 250 Jahre Philosophie
darzustellen. Man muss bei dieser Unterscheidung vorsichtig sein, wenn man sie
unhinterfragt anwendet. Es ist laut Prof. Thiel erstaunlich, wie lange sich dieses Bild der
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Philosophie der Neuzeit gehalten hat – denn; so eine klare Unterscheidung zwischen
Empiristen und Rationalisten hat es überhaupt nicht gegeben. So war Descartes durchaus
auch an den Naturwissenschaften interessiert und musste dadurch der Erfahrung eine
gewichtige Rolle zusprechen. Aber auch die Philosophie Lockes hat rationalistische
Merkmale. Seine Philosophie sagt einerseits, dass Erkenntnis der Realität, der Außenwelt
oder des eigenen Ichs auf Erfahrung gründen muss; geht es aber um die Gültigkeit
moralischer Prinzipien, so können diese von der Vernunft bewiesen werden (eine Berufung
auf die Erfahrung ist in diesem Zusammenhang weder erforderlich noch nützlich). Diese
moralischen Prinzipien sind und gelten nach Locke unabhängig von dem was in der Welt
passiert; auch ist die Einteilung in Empiristen und Rationalisten nicht unproblematisch. Sie ist
vor allem etwas schematisch und wurde zum Zweck einer besseren Verständlichkeit der
Philosophie der Neuzeit aufgestellt; aber auch aus dem Grunde, dass man seine eigene
philosophische Position besser in den Vordergrund stellen konnte. Diese Unterscheidung ist
also ein Konstrukt; dies sollte man sich an dieser Stelle immer im Hinterkopf behalten.
VI. KONTEXT (18. JAHRHUNDERT): AUFKLÄRUNG BEDEUTUNG DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
Bislang haben wir hauptsächlich über das 17. Jahrhundert gesprochen; so werden wir zwei
Philosophen des 18. Jahrhunderts – nämlich Kant und Hume - auch noch besprechen. Was
kann man nun zur Philosophie im 18. Jahrhundert sagen? Hier gab es im Vergleich zum
17. Jahrhundert einige Veränderungen. Rationalisten und Empiristen haben durchaus
gemeinsame Annahmen, selbst wenn man diese klassische Unterscheidung beibehalten will.
Ebenso sind die verfolgten Ziele sehr ähnlich. Sowohl Descartes und Locke haben sich zum
Ziel gesetzt, ein sicheres Fundament der Erkenntnis herzustellen. Historiker sprechen in
Bezug auf das 18. Jahrhundert von einer Bewegung, die man Aufklärung nennt (engl.
Enlightenment). Dieser Ausdruck enthalt die Metapher des Lichts (diese war nicht neu);
jenes Bild wurde von den Philosophen dieser Zeit wieder aufgenommen und angewandt. In
diesem Zusammenhang steht Licht für Vernunft. Wenn Descartes (in seinen Texten) vom
„natürlichen Licht“ spricht, meint er damit das menschliche Vernunftvermögen. Das Zeitalter
der Aufklärung gilt als Zeitalter der Vernunft (diese Ära der Aufklärung beginnt mit Locke
und endet mit Kant und ein paar seiner Nachfolger). Hier wird „Vernunft“ sehr allgemein in
dem Sinne verwendet, dass man sich von den kirchlichen und den traditionellen politischen
Autoritäten absetzt. In dieser Zeit haben sich die Intellektuellen von unhinterfragten und
religiösen Glaubensätzen abgewandt. Jetzt wurde die Bedeutung der kritischen Vernunft
betont; man wollte politische als auch religiöse Toleranz. Ganz wichtig für die Aufklärung ist
der Glaube an den kontinuierlichen Fortschritt (der Menschheit). Bemerkenswert am
Phänomen der Aufklärung ist, dass sie eine (gesamt-)europäische Bewegung war. So lässt sie
sich nicht auf Frankreich oder Deutschland beschränken, wenngleich sie auch nicht in allen
Ländern gleichermaßen stattgefunden hat � es gab Zentren der Aufklärung. So hatte
Dänemark zu dieser Zeit viel zur Aufklärung beigetragen, obwohl sie im 18. Jahrhundert
philosophisch bei weitem nicht so überragend waren. Es gab aber auch konservative
Philosophen, die gegen die Aufklärung waren und zurück zu den alten Autoritäten wollten.
Die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhundert war hier wegweisend. In die
Deklaration der Bürgerrechte wurden viele philosophische Gedanken mit eingebunden.
David Hume war ein schottischer Aufklärer. Die Ideale der Aufklärung waren auf
philosophischer Reflexion gegründet. Diese Ideale (vor allem die kritische Vernunft und der
VO Geschichte der Philosophie der Neuzeit Von Descartes bis Kant
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Fortschrittsglaube) wurden im 19. Jahrhundert von vielen kritisiert. Wie gesagt wurde vor
allem aber auch der Glaube in den kontinuierlichen Fortschritt der Menschheit als - unter
anderem - zu naiv kritisiert. So kritisiert Nietzsche im ersten Kapitel seines Werks „Jenseits
von Gut und Böse“ die Philosophie der Aufklärung. Diese Ideale haben aber das Denken
(nicht nur das philosophische (!!)) des 20. Jahrhunderts bestimmt und bestimmen das
Denken auch noch heute; diese Ideale werden unter dem Begriff der „Moderne“
zusammengefasst. Es gab im 20 Jahrhundert - aber auch heute noch - Kritik an der Moderne
und der philosophischen Aufklärung; diese Kritik würde man unter dem Begriff der
„Postmoderne“ zusammenfassen. Vor allem in der französischen Philosophie sagte man
„Das Subjekt ist tot“. Damit ist gemeint, dass der Gedanke eines selbstbestimmten und
autonomen Subjekts nicht länger aufrecht gehalten werden kann (man schließt sich hier also
Nietzsche an). Wir sind beeinflusst von unserer Umgebung und unseren Trieben; wir
Menschen sind eine Wirkung verschiedener Kräfte (insbesondere bestimmter
Machtverhältnisse). Wenn wir diese Kritik an den Idealen der Aufklärung verstehen wollen,
müssen wir uns mit diesen Theorien vertraut machen. [Exkurs aus Wikipedia: Der Begriff der
Moderne in der Geschichte Europas, Amerikas und Australiens bezeichnet einen Umbruch in allen
Lebensbereichen gegenüber der Tradition. In der „Querelle des Anciens et des Modernes“ (1687; eine
geistesgeschichtliche Debatte (Literaturstreit) in Frankreich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Es
ging dabei um die Frage, inwiefern die Antike noch das Vorbild für die zeitgenössische Literatur und Kunst sein
könne) war „Moderne“ noch ein Gegenbegriff zu „Antike“. Erst im 19. Jahrhundert wurde es üblich, mit dem
Wort Moderne die Gegenwart von der Vergangenheit allgemein abzugrenzen. Ein Beginn der Moderne kann je
nach Blickwinkel sehr verschieden angesetzt werden: Geistesgeschichtlich mit der Renaissance etwa ab dem
15. Jahrhundert, ökonomisch mit der Industrialisierung des mittleren 18. Jahrhunderts, politisch mit der
Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhundert (politische Moderne) und dem Nationalismus des frühen
19. Jahrhunderts, in der Literatur- und der Kunstgeschichte als ästhetische Moderne ab dem beginnenden, als
Stil ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Ein Ende der Moderne wird heute etwa im mittleren bis späten
20. Jahrhundert angesetzt. Als stilkundlichen Begriff verwendet man dann den Ausdruck „Klassische Moderne“
für ein abgeschlossenes Zeitalter, als Kategorisierung für die Gegenwart etabliert sich in einigen Fachgebieten –
nicht unumstritten – der Begriff der Postmoderne. Der Begriff Postmoderne (von lat. post = hinter, nach) dient
zur Bezeichnung des Zustands der abendländischen Gesellschaft, Kultur und Kunst „nach“ der Moderne.
Vertreter der Postmoderne kritisieren das Innovationsstreben der Moderne als lediglich habituell3 und
automatisiert. Sie bescheinigen der Moderne ein illegitimes Vorherrschen eines totalitären Prinzips, das auf
gesellschaftlicher Ebene Züge von Despotismus4 in sich trage. Maßgebliche Ansätze der Moderne seien
eindimensional und gescheitert. Dem wird die Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander
bestehender Perspektiven gegenübergestellt. Die Diskussion über die zeitliche und inhaltliche Bestimmung
dessen, was genau postmodern sei, wird etwa seit Anfang der 1980er Jahre geführt. Postmodernes Denken will
nicht als bloße Zeitdiagnose verstanden werden, sondern als kritische Denkbewegung, die sich gegen
Grundannahmen der Moderne wendet und Alternativen aufzeigt.]
Stichworte zur europäischen Aufklärung (18. Jahrhundert):
(*) Autonomie des menschlichen Subjekts
(*) Kritische Vernunft
(*) Ablehnung traditioneller Autoritäten (Kirche)
(*) Fortschrittsglaube – Optimismus
Gegen Ende des 18. Jahrhundert versucht Immanuel Kant (1724-1804) eine Synthese
von Rationalismus und Empirismus zu entwickeln.
3 Bedeutet normal „gewohnheitsmäßig“ bzw. „ständig“; in diesem Zusammenhang zur Gewohnheit bzw. zum Charakter gehörend. In der Psychologie ein Ausdruck für verhaltenseigen; Dudenredaktion (Hrsg), Duden V. Das Fremdwörterbuch8 (2005) 385.
4 Griechisch-neulateinisch für ein System der Gewaltherrschaft; Dudenredaktion (Hrsg), Duden V. Das Fremdwörterbuch8 (2005) 222.
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VII. DESCARTES Wir haben bereits einige allgemeine Kennzeichen des Rationalismus erwähnt, die natürlich
auch auf Descartes selbst zutreffen; so die Ablehnung der These, dass die sinnliche
Wahrnehmung absolute Autorität haben kann oder dass es der Vernunft prinzipiell möglich
ist, Erkenntnis von der Welt in bestimmten Aspekten zu erreichen; beachte auch das
mathematische Modell der Erkenntnis bei Descartes. Die Philosophie müsse nach Descartes
wie die Mathematik demonstrativ sein; sie müsse aufgrund bestimmter Anfangsannahmen
bzw. Axiome beweisbar sein. Ein Kennzeichen der Philosophie Descartes ist dasjenige, dass
es bestimmte Ideen und Erkenntnisse gibt, die wir überhaupt nicht erwerben müssen,
sondern die uns angeboren sind (Lehre von den angeborenen Ideen bzw. Prinzipien). Es gibt
also Erkenntnis, die überhaupt nicht erworben werden muss. Diese These hat nicht nur
Descartes vertreten, sondern fand man in anderer Form schon bei Platon.
Ein weiterer Punkt bezüglich der Aufklärung ist der, dass bei Descartes der Begriff des Ichs
oder des menschlichen Subjekts im Zentrum der philosophischen Überlegungen steht.
Anders formuliert: Bei diesen erkenntnistheoretischen Reflexionen steht das menschliche
Subjekt im Vordergrund. Der Begriff des „Ichs“ ist in der Philosophie der Neuzeit zentral
geworden und mittlerweile ein Kennzeichen dieser. Anmerkung: Diese Vorlesung soll nach
Prof. Thiel einen Überblick über die Philosophie der Neuzeit geben, und will andererseits
aber auch ganz detailliert bestimmte Argumente und Texte analysieren.
Noch einmal Exkurs aus Wikipedia: Der Skeptizismus (altgriechisch von schauen bzw.
spähen) ist eine philosophische Richtung, die den Zweifel zum Prinzip des Denkens erhebt
und die darüber hinaus jede Möglichkeit einer Erkenntnis von Wirklichkeit und Wahrheit in
Frage stellt. Mit dem Wort Skepsis bezeichnet man jeden kritischen Zweifel, ein Bedenken,
auch ein Misstrauen oder Zurückhaltung. Man unterscheidet absoluten und partiellen
Skeptizismus. Der Zweifel als Methode, zum Beispiel das „De omnibus dubitandum“
(lateinisch für „An allem ist zu zweifeln“) des Descartes, stellt nur die Rechtmäßigkeit von
Erkenntnis in Frage, nicht aber die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, und unterscheidet
sich deshalb vom Skeptizismus. Die großen Strömungen der griechischen Philosophie, die
Stoa, der Epikureismus, die Skepsis, suchen nach einem Zustand des Seelenfriedens
(Ataraxia; Apathie); auch der Skeptiker Sextus Empiricus benutzt dafür das Bild von der
Ungestörtheit und „Meeresstille der Seele“. Deshalb steht der Skeptizismus auch für eine
„Lebensrichtung“ (Diogenes Laertius), eine ethische Grundhaltung, nicht nur für einen
Standpunkt in der Erkenntnistheorie. Diogenes Laertius beschrieb den Zusammenhang so:
„Als Endziel nehmen die Skeptiker die Zurückhaltung des Urteils an, der wie ein Schatten die
unerschütterliche Gemütsruhe folgt (...).“ Der Skeptizismus setzt seine Argumente gegen
jeden Dogmatismus und Fundamentalismus, in der Hoffnung auf Meeresstille des Gemüts.
Der Skeptizismus vertritt insbesondere den Standpunkt, dass zum Beweis einer Hypothese
stets grundlegendere Erkenntnisse herangezogen werden müssen. Dadurch komme man zu
einer unendlichen Reihe von Beweisen, deren Boden nicht zu ergründen sei („infiniter
Rechtfertigungsregress“). Insbesondere ist es auch ein Teil der skeptischen Auffassung, dass
die Gründe für jede Behauptung und für ihr Gegenteil gleich stark sind (Isosthenie), zur
Nicht-Begründbarkeit allen Wissens. Im Gegensatz zu den Empirikern, Rationalisten und
Realisten nehmen die Skeptiker also nicht an, dass es grundlegende Wahrheiten (das heißt
Evidenzen) gebe, die keines Beweises bedürften.
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Das Zeitalter der Aufklärung gilt als eine Epoche der geistigen Entwicklung der westlichen
Gesellschaft im 17. bis 18. Jahrhundert, die besonders durch das Bestreben geprägt war, das
Denken mit den Mitteln der Vernunft von althergebrachten, starren und überholten
Vorstellungen, Vorurteilen und Ideologien zu befreien und Akzeptanz für neu erlangtes
Wissen zu schaffen. Unter Aufklärung versteht man einen sowohl individuellen wie
gesellschaftlichen geistigen Emanzipationsprozess; dieser hinterfragt die allein auf dem
Glauben an Autoritäten beruhenden Denkweisen kritisch. Es wird gefordert, sich „seines
eigenen Verstandes zu bedienen“. Der aufgeklärte Mensch soll nicht mehr an die Vorgaben
der Obrigkeiten oder Zwänge von Mode und Zeitgeist gebunden sein, sondern sein Leben
und Denken selbst bestimmen.
Die moderne europäische Aufklärung, verstanden als Abkehr von einer christlich-
mittelalterlichen Lebenshaltung, begann in der Renaissance, in welcher heidnische Elemente
der Antike vom Gegenbild zum Vorbild gemacht wurden. Renaissance und Reformation
leiteten das Zeitalter der Aufklärung ein. Grundlegend dafür ist die Konsolidierung der
französischen Staatsmacht im 17. Jahrhundert.
Man kann das Zeitalter der Aufklärung nach dem Romanisten Werner Krauss in
FrühAufklärung, Aufklärung und SpätAufklärung unterteilen. Unter Aufklärung im engeren
Sinne versteht man die Periode um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die von Diskussionen um
die mehrfach verbotene Encyclopédie in Frankreich bestimmt wurde („Le siècle des
lumières“: Das Zeitalter der Lichter). Mit der Enzyklopädie sollte das gesamte Wissen und
Können der Menschheit gegen den Widerstand weltlicher und geistlicher Machthaber
öffentlich verfügbar gemacht werden. Mit der Aufklärung ging ein naturwissenschaftlicher
und technischer Erkenntnisfortschritt einher.
Aufklärung im Sinn einer Herrschaft der Vernunft fand schon im 17. Jahrhundert statt, etwa
in der Zeit zwischen René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz. Dieser Zeitraum war ein
Höhepunkt französischer und aristokratischer Machtentfaltung und wurde daher im
deutschsprachigen Raum gegenüber der späteren „deutschen“ Aufklärung oft
heruntergespielt. Die Epoche der Aufklärung als bürgerliche Emanzipation erstreckt sich
etwa von 1730 bis 1800. Seit dem Tod Ludwigs XIV5. bestand Aufklärung zum wesentlichen
Teil aus zersetzender Polemik gegen die Überzeugungen des Rationalismus. Dies geschah
beispielsweise durch Jean-Jacques Rousseaus „Zurück zur Natur“. Auch Immanuel Kant
kritisierte ein grenzenloses Vertrauen in die Vernunft.
5 Auch bekannt als „Sonnenkönig“ – Namensherkunft: Schon der junge Ludwig XIV. suchte Europa zu
beeindrucken. Der König wollte alle Welt nicht nur politisch überzeugen, sondern auch seine Macht und seinen Reichtum zur Schau stellen. Dies ging am besten durch prächtige, für den Barock typische Hoffeste. Europas Fürsten waren verblüfft und erstaunt über den Luxus dieser Vergnügungen und begannen zunehmend den Lebensstil des französischen Monarchen nachzuahmen. Die Legende des „Sonnenkönigs“ nahm hier ihren Anfang.
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2. Einheit (03.11.2009) Prof. Dr. Udo Thiel René Descartes, Meditationen über Erste Philosophie (1641). Descartes über das Wesen der Seele und das Leib-Seele Verhältnis. Der Cartesianismus im 17. Jahrhundert. Kritiker und Anhänger (Gassendi, Hobbes, Malebranche).
I. DESCARTES: ALLGEMEINES
Vorweg: Prof. Thiel teilte in der Vorlesung Literaturhinweise aus, die überwiegend in
deutscher Sprache abgefasst sind. Inwieweit diese prüfungsrelevant sind, hat er dabei nicht
erwähnt. Insgesamt dürften diese doch eher als Ergänzung bzw. Vertiefung über den Umfang
des prüfungsrelevanten Stoffs hinaus gedacht sein.
Descartes wurde in Frankreich geboren und war nicht nur als Philosoph, sondern auch als
Mathematiker bekannt (� „kartesisches Koordinatensystem“); überdies hat er sich intensiv
mit den Naturwissenschaften befasst. Er studierte an einer Jesuitenschule und wurde daher
in die traditionelle scholastische Philosophie eingeführt, obwohl sich seine eigene
Philosophie gegen die scholastische Schule richtete. Descartes entnahm aber dennoch
zahlreiche Begriffe aus der Scholastik, was oft verwirrend wirken mag. In weiterer Folge
studierte er Rechtswissenschaften und ging – wie es damals für vornehme Leute üblich war -
auf Reisen; überwiegend nach Holland, wo auch seine Hauptwerke erschienen. 1637
erscheint sein erstes philosophisches Werk (eines seiner Hauptwerke): „Abhandlung über die
Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung“;
dabei handelt es sich um eine Art philosophischer Autobiographie. 1641 erscheint dann sein
philosophisches Hauptwerk – die „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“. 1649
verlässt Descartes Holland und geht auf Einladung von Königin Christina nach Schweden, um
sie in Philosophie zu unterrichten. Descartes war geschmeichelt, doch erwies sich dies als
eine fatale Entscheidung. Nicht nur, dass er seine Tutorien morgens um 5 Uhr abhalten
musste; auch das kalte Wetter dürfte ihm nicht bekommen sein - denn nach nur einem Jahr
in Schweden starb Descartes 1650. Auf dem Handzettel zu dieser Einheit sind zwei Bücher
der Sekundärliteratur zu Descartes angeführt: Specht führt die Entwicklung seiner
Philosophie aus, wohingegen Perler viel systematischer vorgeht. [Exkurs aus Wikipedia:
Scholastik, abgeleitet vom lateinischen Adjektiv scholasticus („schulisch“, „zum Studium gehörig“), ist die
wissenschaftliche Denkweise und Methode der Beweisführung, die in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt
des Mittelalters entwickelt wurde. Bei dieser Methode handelt es sich um ein von den logischen Schriften des
Aristoteles ausgehendes Verfahren zur Klärung wissenschaftlicher Fragen mittels theoretischer Erwägungen.
Dabei wird eine Behauptung untersucht, indem zuerst die für und die gegen sie sprechenden Argumente
nacheinander dargelegt werden und dann eine Entscheidung über ihre Richtigkeit getroffen und begründet
wird. Behauptungen werden widerlegt, indem sie entweder als unlogisch oder als Ergebnis einer begrifflichen
Unklarheit erwiesen werden oder indem gezeigt wird, dass sie mit evidenten oder bereits bewiesenen
Tatsachen unvereinbar sind. Die Scholastik war keineswegs auf theologische Themen und Ziele begrenzt,
sondern umfasste die Gesamtheit des Wissenschaftsbetriebs. Die scholastische Methode wurde als die
wissenschaftliche Vorgehensweise schlechthin betrachtet. Die Scholastik entwickelte sich ab dem
Hochmittelalter, im 13. Jahrhundert wurde die scholastische Methode voll ausgebildet und beherrschte das
gesamte höhere Bildungswesen. Noch in der Frühen Neuzeit (Ende mit der Französischen Revolution 1789 -
1799) war sie an Universitäten und Bildungseinrichtungen maßgeblich.]
René Descartes (1596-1650):
(*) Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
wissenschaftlichen Wahrheitsforschung (1637), Stuttgart 1961 u. ö.;
(*) Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641), Hamburg 1959 u.ö.
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Literatur zu Descartes:
(*) Specht, Rainer Descartes, Reinbek bei Hamburg 1966.
(*) Perler, Dominik, René Descartes, München 1998.
Die bibliografische Skizze von Descartes mag zwar nicht sehr informativ sein, aber ein Aspekt
ist für seine Philosophie ganz wichtig; nämlich sein Interesse an den Naturwissenschaften
bzw. seine Tätigkeit als Naturwissenschaftler. Aus diesem Grund wird Descartes heute
sowohl als ein radikaler rationaler Metaphysiker als auch als ein traditionell ausgerichteter
Denker bezeichnet. Dies ist aber ein Klischee. Der Cartesianismus wird heute oft noch als
Schimpfwort verwendet. Viele Philosophen stießen sich an seinem Verständnis von
Philosophie; so hat er etwa den menschlichen Körper vernachlässigt und bei seinen
Ausführungen nur Wert auf den menschlichen Geist gelegt. Descartes Zeitgenossen sahen in
aber ganz anders; für diese war er nicht metaphysisch genug. Er wurde viel mehr als
Naturwissenschaftler gesehen, dessen Ansichten eine Gefährdung des christlichen Glaubens
darstellten. Auch galt er als Erzfeind der traditionellen scholastischen Philosophie, weswegen
er auch scharf kritisiert wurde. So entspricht die Zurückweisung des Skeptizismus durch
Descartes sehr wohl den Ansichten der scholastischen Schule, wobei bei Descartes diese
Kritik aber keine Rückkehr zur Scholastik impliziert. Er wendet sich sowohl gegen den
Skeptizismus, als auch den traditionelle Scholastik. Er wurde gesehen als radikaler, aber
fortschrittlicher Denker, dem man die Grenzen aufzeigen musste. Naturwissenschaftlich war
er in mehreren Bereichen tätig; so auch in der Physik und der Physiologie [Exkurs aus Wikipedia:
Die Physiologie ist als Teilgebiet der Biologie die Lehre von den physikalischen, biochemischen und
informationsverarbeitenden Funktionen von Lebewesen.]. Nach seiner Physiologie können sowohl der
menschliche Körper als auch dessen Funktionen mechanistisch erklärt werden. Das
bedeutet, dass man für die Erklärung der Körperfunktionen keine immaterielle Seele
benötigt. Deswegen sind ihm absurderweise materialistische Tendenzen vorgeworfen
worden, die sich bei ihm aber definitiv nicht zeigten. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten
können zwar schon so gedeutet werden, dass sie zu einer rein mechanischsten Erklärung
führen. In letzter Zeit wird das Bild von Descartes allerdings wieder besser. Laut Prof. Thiel ist
es wichtig zu wissen, dass der philosophische Angriff auf den Skeptizismus eine späte
Entwicklung bei Descartes war; ab 1641, also 9 Jahre vor seinem Tod. [Exkurs aus Wikipedia:
René Descartes (* 31. März 1596 in Frankreich; † 11. Februar 1650 in Stockholm, Schweden) war ein
französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Descartes gilt als der Begründer des
modernen frühneuzeitlichen Rationalismus, den Spinoza, Malebranche und Leibniz kritisch-konstruktiv
weitergeführt haben. Sein rationalistisches Denken wird auch Cartesianismus genannt. Er ist außerdem für das
berühmte Dictum „cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“) bekannt, das die Grundlage seiner Metaphysik
bildet, aber auch das Selbstbewusstsein als genuin philosophisches Thema eingeführt hat. Seine Auffassung
bezüglich der Existenz von zwei nicht miteinander wechselwirkenden, voneinander verschiedenen 'Substanzen'
- Geist und Materie - ist heute als Cartesianischer Dualismus bekannt und steht im Gegensatz zu den
verschiedenen Varianten des Monismus sowie zur dualistischen Naturphilosophie Isaac Newtons. Descartes ist
der Erfinder der sogenannten analytischen Geometrie, die die Algebra und die Geometrie verbindet. Seine
naturwissenschaftlichen Arbeiten sind zwar früh durch die newtonsche Physik widerlegt worden - sei es seine
Ablehnung des Gravitations-Prinzips oder seine Wirbel-Theorie; Descartes' Leistungen im
naturwissenschaftlichen Bereich dürfen aber nicht unterschätzt werden, da er einer der wichtigsten und
strengsten Vertreter des Mechanizismus gewesen ist, der die ältere aristotelische Physik überwunden hat. Sein
Ethos der Pflicht und der Selbstüberwindung hat die Literatur der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts
teilweise beeinflusst.]
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II. MEDITATIONEN ÜBER ERSTE PHILOSOPHIE (1641)
Die „Meditationen über die erste Philosophie“ sind in sechs Meditationen untergliedert.
Darin geht es um die Grundlagen der Philosophie und des philosophischen als auch des
allgemeinen menschlichen Denkens; deshalb wird dieser Text auch oft als „Meditationen
über die Grundlagen der Philosophie“ übersetzt. Descartes sucht nach einer Grundlage des
menschlichen Wissens, die den skeptischen Angriffen gegenüber gewappnet ist; ihnen
gegenüber quasi immun sei. Dies ist das Erste und Wichtigste was man nach Prof. Thiel über
die Meditationen wissen muss. Descartes geht es in erster Linie um ein unumstößliches
Fundament menschlicher Erkenntnis. Nicht alle Erkenntnistheoretiker waren und sind der
Auffassung, dass man nach ersten Grundlagen der Erkenntnis suchen muss. Kurzer Hinweis:
Ähnliches gilt auch für die Empiristen. So hat auch Locke nach einem sicheren Fundament
der Erkenntnis gesucht und gemeint, dass dieses in der Erfahrung zu finden sei. Descartes
hingegen argumentiert hier anders. Gemeinsam ist aber beiden diese Suche nach dem
„ersten Fundament“. Aber warum war diese Suche nach einem Fundament der Erkenntnis
für die beiden so wichtig? Traditionellerweise wird der Begriff der Erkenntnis seit Platon im
Sinne dreier Elemente verstanden (vgl in diesem Zusammenhang die GWG-Definition �
Wissen als wahrer, gerechtfertigter Glaube):
(1) Wenn ich etwas weiß muss folgendes gelten: Ich muss glauben, dass etwas der
Fall ist;
(2) Es muss wahr sein, dass dies der Fall ist;
(3) Ich muss Gründe haben für meinen Glauben, dass dies der Fall ist; z.B. das Sturm
Graz am 31. Oktober 2009 4:0 gewonnen hat.
Wie begründe ich dieses Wissen? Wenn die Aussage über den Kantersieg von Sturm eine
Zufallsaussage war, dann handelt es sich um kein Wissen, da ich keine Gründe für diese
Aussage habe (auch wenn sie richtig sein mag). Die traditionelle Definition von Wissen ist
„Knowledge is justified true belief“, also Wissen ist gerechtfertigt wahrer Glaube. Aber was
hat das mit dem Fundament der Erkenntnis zu tun? Wie kann ich meine Überzeugungen
begründen? Natürlich in Beug auf andere Überzeugungen! Auf diese Weise kommen wir
aber in einen unerwünschten Begründungsregress. Deshalb – so meint Descartes - muss er
einen Grund finden, der diese Überzeugungskette zu durchbrechen vermag und diese dann
abschließt (der Skeptizist meint ja, dass man diesem Dilemma nur mit einem dogmatischen
Regressabbruch, einen infiniten Begründungsregress oder einem Zirkel entkommen kann).
Dass diese Begründungskette zu einem Ende kommen muss, darin stimmen Empiristen,
Rationalisten und Skeptizisten überein. Empiristen und Rationalisten meinen auch, dass es
ein solches Ende gibt. Bevor Descartes seinen Text publizierte, hatte er diesen seinen Zeit-
genossen und Kollegen zum Durchlesen überreicht, um ihm in weiterer Folge Kommentare
zu liefern. Wie man laut Prof. Thiel weiß, sind Philosophen streitsüchtige Menschen, weshalb
die Kommentare oft negativ und mit vielen Einwänden versehen waren. Descartes wollte das
nicht so auf sich sitzen lassen und bereitete Antworten auf diese Einwände vor, die er dann
in Buchform publizierte. Ein Philosoph der hier (und später auch für Locke) wichtig wird ist
der französische Zeitgenosse Pierre Gassendi (1592 – 1655). Dieser hatte ausführliche
Einwände gegen Descartes, auf welche dieser auch antwortete. Dabei ging es durchaus
polemisch zu. Descartes ging davon aus, dass Pierre Gassendi ein Materialist sei, weshalb er
ihn „Oh Fleisch“ ansprach und umgekehrt wurde Descartes von Pierre Gassendi mit „Oh
Geist“ angesprochen. Pierre Gassendi war ganz wichtig für die Philosophie John Lockes.
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III. METHODISCHER ZWEIFEL
Das Buch von Descartes umfasst insgesamt sechs Meditationen; hauptsächlich bleiben wir
bei den ersten beiden. Wie geht Descartes vor? Descartes versucht also nach der Grundlage
menschlicher Erkenntnis zu forschen; um das zu tun - so meint er – muss er all seine
bisherigen Überzeugungen in Zweifel ziehen. Das heißt nicht – betont er –, dass er jede
einzelne Überzeugung, welche er einmal gehabt haben mag einmal betrachtet, um zu sehen,
ob er diese anzweifelt oder nicht. Er meint selbst, dass dies eine endlose Arbeit wäre.
Vielmehr geht es Descartes darum, die Grundlagen bzw. Prinzipien auf welche diese
früheren Überzeugungen beruhten zu untersuchen. Er werde seinen Angriff vielmehr auf die
Prinzipien richten, auf welche seine Überzeugungen beruhten. Denn wenn er das
Fundament (der Prinzipien) erfolgreich zerstört, dann brechen automatisch alle Prinzipien
gleich einem Kartenhaus in sich zusammen. Der Methode, welcher sich Descartes hier in der
1. Meditation bediente, wird gewöhnlich mit dem Terminus des „methodischen Zweifels“
beschrieben. Der Text lässt sich auch als Dialog verstehen; er betrachtet das Für und Wider
der einzelnen Argumente. Descartes bezeichnet dies als einen Dialog zwischen einem
Skeptiker und jemandem, der ein Fürsprecher des gesunden Menschenverstandes ist; also
des Commonsense. Die Fürsprecher des Commonsense meinen, dass es ganz zuverlässige
Quellen menschlicher Erkenntnis gibt. Die Skeptiker hingegen hinterfragen stets diese
Annahmen des Commonsense. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass Descartes´ Position weder
mit der des Skeptikers, noch mit der des Commonsense übereinstimmt. Zwischen diesen
beiden Richtungen produziert er hier einen Kontrast, um seine eigene Position sowohl als
gut begründete als auch als effektvoll darstellen zu können.
Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641) - Erste Meditation:
Descartes’ erste Meditation kann als Dialog zwischen einem Skeptiker und einem
Fürsprecher des gesunden Menschenverstandes (Common Sense) rekonstruiert werden.
Es ist ganz deutlich zu sehen, dass es hier um zwei Grundprinzipien geht, auf die sich die
Überzeugungen Descartes bislang gestützt haben: (1) Sinnlichkeit und (2) Verstand. Die erste
These, die Descartes als Dialog behandelt, ist die, dass die Sinne die Grundlage der
menschlichen Erkenntnis sind. Er beginnt also mit der These, dass die Sinne eine verlässliche
Grundlage der Erkenntnis bilden. Der Skeptiker meint hier, dass die Wahrnehmung weit
entfernter Gegenstände durchaus nicht zuverlässig sei; auch sollte man Quellen, die einem
einmal getäuscht haben, nicht weiter vertrauen. Der Commonsense kontert und meint
dagegen, dass aber die sinnliche Wahrnehmung von unmittelbar gegenwärtigen Dingen
zuverlässig ist. Darauf erwidert der Skeptiker, dass es aber auch möglich sei, dass man
wahnsinnig ist. Auch diesem Einwand kann der Commonsense noch erfolgreich begegnen.
An dieser Stelle bringen die Skeptiker ihr „Traumargument“: Angenommen du befindest
dich in einem Traumzustand, und angenommen, es gibt keine Kenntnisse aufgrund derer wir
im Traum diese Traumerkenntnisse von den Erkenntnissen der Wirklichkeit unterscheiden
können; so wären wir doch schon wieder getäuscht, ohne es zu wissen! Es geht hier darum,
dass die sinnliche Erfahrung eine verlässliche Erkenntnisquelle sein soll, die solche
Möglichkeiten der Täuschung auszuschließen vermag. Der Skeptiker bezweifelt dies, da er
meint, dass mein jetziger Zustand kein Wachzustand, sondern ein Traumzustand ist.
Aufgrund dieser Prämisse ist die sinnliche Erfahrung als Quelle der Erkenntnis nicht
verlässlich, weshalb der Skeptiker auch wie folgt meint: „Ihr mögt zwar sagen, wenn wir
aufgewacht sind, wissen wir, dass es ein Traum war. Das Problem dabei ist aber, dass wir im
Traum selbst nicht zwischen Traum- und Wachzuständen unterscheiden können.“ Hier
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versucht der Skeptiker sehr radikal zu argumentieren; er versucht seine Position sehr stark
zu machen um die Einstellung des gesunden Menschenverstands zu hinterfragen. Descartes
selbst ist kein Skeptiker. Er argumentiert in der sechsten Meditation, dass es in der Tat
Erkenntnisse gibt, durch die wir diese Zustände unterscheiden können. So verknüpft unser
Gedächtnis die Erinnerungen des Wachszustands und formt damit ein kohärentes
Erinnerungsbild. Der Skeptiker versucht mit dem Traumargument die Erkenntnis zu
hinterfragen.
A. These: Die Sinne sind eine verlässliche Grundlage der Erkenntnis.
Common Sense: Alle Sinneserfahrungen sind verlässlich.
Skeptiker: Aber die Wahrnehmung weit entfernter Gegenstände ist nicht verlässlich. Die
Sinne täuschen uns häufig, und wir sollten nicht dem vertrauen, was uns auch nur einmal getäuscht hat. Was einmal die Quelle falscher Überzeugungen gewesen ist, kann
nie als Garant für Gewissheit angesehen werden (Meditationen, 33).
Common Sense: Die sinnliche Wahrnehmung von unmittelbar gegenwärtigen Dingen ist
verlässlich. Wie könnte man leugnen, dass diese Hände, dieser Körper mir gehören?
Skeptiker: Aber es ist doch möglich, dass Du wahnsinnig bist (Meditationen, 33).
Common Sense: Diese Möglichkeit weise ich zurück.
Skeptiker: Na gut, aber es gibt eine andere Möglichkeit, die Du nicht so einfach
zurückweisen kannst und die ebenso Deine Behauptung, etwas zu wissen, zweifelhaft erscheinen lässt. Angenommen, Du befindest Dich in einem Traumzustand. Es gibt keine
Kennzeichen, mit Hilfe derer wir während des Träumens zwischen Wachzuständen und
Traumzuständen unterscheiden können. Wie können wir uns also dessen gewiss sein,
dass unsere gegenwärtige Erfahrung verlässlich und kein Traumbild ist? (Meditationen,
33-5).
Common Sense: Aber die Bestandteile meiner Sinneseindrücke und die der Traumbilder
müssen doch von realen Gegenständen abgeleitet sein (“Augen, Haupt, Hände” usw.,
Meditationen, 35).
Skeptiker: Alle diese Vorstellungen könnten nur eingebildet sein.
Nun behandelt Descartes die zweite These. Auch wenn die sinnliche Wahrnehmung
anfechtbar ist, so beruft sich der Commonsense in weiterer Folge auf den Verstand als eine
verlässliche Quelle der Erkenntnis. Das Traumargument wird nicht in Bezug auf irgendwelche
Kriterien bekämpft, sondern Descartes meint es gibt bestimmte Kriterien die gewiss sind und
nicht angezweifelt werden können. Egal ob ich „2 + 2 = 4“ träume; es bleibt wahr. Hier wird
angenommen, dass es bestimmte Wahrheiten gibt, die apriorisch sind; das bedeutet, dass
sie zu ihrer Begründung keiner Erfahrung bedürfen � diese Wahrheiten sind somit
erfahrungsunabhängig. Um dieses „2 + 2 = 4“ als wahr anzusehen, braucht man keine
Erfahrung. Man kann zwar sagen, ohne die Erfahrung hätten wir die Symbole ‚2’ und
dergleichen nicht gekannt; aber dieser Einwand ist hier irrelevant. Sobald wir die Termini
verstanden haben, wissen wir auch ohne Erfahrung, dass diese Aussage wahr ist. Es wird hier
darauf abgestellt, dass es eine gewisse Menge von Erfahrungen gibt, die erfahrungs-
unabhängig und nicht anzweifelbar sind. Das scheint dem Skeptiker ein starkes Argument zu
sein. Sodann holt dieser zum letzten Schlag aus („Es ist möglich, dass ein “böser Geist”
existiert, der „zugleich allmächtig und verschlagen ist” und der “all seinen Fleiß“ darauf
verwendet, „mich zu täuschen“). Dieser böse Geist könnte mich laut Skeptiker aber auch in
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Bezug auf unser „2 + 2 = 4“ täuschen. Descartes glaubt weder daran, dass solch ein böser
Geist - der uns ständig täuscht - existiert, noch behauptet er das. Es geht hier nur um die
Möglichkeit eines solchen täuschenden Geistes. Das reicht dem Skeptiker um zu behaupten,
dass man sich auch nicht dieser logischen oder mathematischen Wahrheiten absolut gewiss
sein kann.
B. These: Der Verstand ist eine verlässliche Grundlage der Erkenntnis.
Common Sense: „Arithmetik, Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art …
enthalten etwas von zweifelloser Gewissheit ... Denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2+3=5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint
unmöglich, dass so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten
könnten“ (Meditationen, 37).
Skeptiker: Es ist möglich, dass ein “böser Geist” existiert, der „zugleich allmächtig und
verschlagen ist” und der “all seinen Fleiß“ darauf verwendet, „mich zu täuschen“
(Meditationen, 39). Wenn nicht gewiss ist, dass es einen solchen bösen Geist nicht gibt,
dann kann ich nicht berechtigterweise behaupten, irgendetwas über Dinge zu wissen,
über die mich ein böser Geist täuschen könnte.
Es handelt sich hierbei um einen argumentativen Schritt, mit welchem man zu zeigen
versucht, dass auch diese scheinbar absoluten Wahrheiten bezweifelbar sind. Auch muss
man hier noch anmerken, dass Descartes den Skeptizismus an diesem Punkt so weit
getrieben hat, dass er – wenn er jetzt noch eine Wahrheit finden kann, die auch noch die
Annahme dieses bösen Geistes unterlaufen kann – den Skeptizismus dann tatsächlich zu
widerlegen vermag (so war jedenfalls Descartes Ansicht). Es muss etwas geben, das noch
gewisser ist, als diese so genannten apriorischen Wahrheiten es sind. Die erste Meditation
endet ergebnislos und hat demgemäß weder ein negatives oder ein positives Resultat
gebracht. Prof. Thiel meint dazu, dass man in solchen Situationen im Englischen von einem
„stand off“ spricht. So endet also die erste Meditation; sie endet im Zweifel und es ist
möglich, dass der Skeptiker Recht hat.
C. Resultat: Es ist möglich, dass ich „nicht imstande sein sollte, irgendetwas Wahres zu
erkennen“ (Meditationen, 41).
IV. DESCARTES´ ERSTE GEWISSHEIT
Die Lösung des Problems kommt jetzt im Rahmen der zweiten Meditation. Descartes
versucht den Skeptizismus zu benutzen um zu zeigen, dass es doch eine erste Wahrheit gibt
(deswegen der Name methodischer Zweifel). In der zweiten Meditation geht es darum, diese
methodische Gewissheit zu nennen und zu erläutern. Vorher muss man aber den
methodischen Zweifel selbst in Frage stellen. Dieser Zweifel soll ja universell und
allumfassend sein und insofern den Skeptizismus stärken. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die
sinnliche Wahrnehmung als auch der Verstand als Erkenntnisquelle angezweifelt worden.
Gerade in Hinblick auf die Lösung wurde etwas ausgelassen, das in der ersten Meditation
nicht angezweifelt wurde; die Sprache selbst als Argumentationsmittel wurde nicht
angezweifelt. Descartes nimmt einfach an, dass wir die Aussagen seiner Texte als auch ihre
logische Struktur verstehen. Warum soll man den Skeptizismus nicht noch weitertreiben und
die semantische Konzeption der Sprache anzweifeln, nur um den Skeptizismus zu stärken.
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Descartes scheint - wie der Skeptizismus selbst - auch anzunehmen, dass diese Konventionen
gültig sind. Man muss sich überlegen, ob Descartes vielleicht doch gute Gründe gehabt hat,
den Skeptizismus nicht so darzustellen, als würde dieser auch die semantischen und
syntaktischen Konventionen der Sprache anzweifeln. Aber wäre das der Fall, würde der
Skeptizismus nun wirklich auch die Sprache unterminieren: Wie könnte dann der
Skeptizismus seine Zweifel überhaupt erst formulieren? Sobald der Skeptizismus versucht,
solch eine radikale Position seiner selbst zu formulieren, muss er sich aber dieser Mittel
bedienen und hätte sich schon selbst widerlegt. Der Skeptizismus, den Descartes darstellt, ist
nicht so radikal, dass er sich selbst widerlegen kann. Dies ist ein Grund dafür, wieso
Descartes diese umfassende Art des Skeptizismus nicht berücksichtigt. Würde er ihn
berücksichtigen, dann könnte Descartes nicht mit seinen Überlegungen beginnen.
Wie löst Descartes nun dieses Problem? Am Ende der ersten Meditation scheint es so, als sei
nichts gewiss, alles anzweifelbar und in weiterer Folge scheint der Skeptizismus überhaupt
gewonnen zu haben. In der zweiten Meditation meint Descartes ein Argument zu haben,
dass unschlagbar ist. Selbst bei Annahme eines bösen Geistes, der mich ständig täuscht, ist
eines gewiss; nämlich dass ich selbst existiere, ich, der diese Annahme macht. Denn selbst
wenn ich diesen bösen Geist annehme, täuscht dieser Geist auch immer jemanden, nämlich
mich. Er kann mich täuschen so viel er mag; meine Existenz ist deswegen immer noch
gewiss. Anders formuliert: Selbst der radikalste Zweifel kann nichts gegen die Wahrheit dass
ich selbst existiere ausrichten. Wenn ich etwas anzweifele, dann ist meine Existenz direkt
damit verbunden. Das bedeutet: Sobald ich sage ich zweifle (zweifeln ist eine Form des
Denkens), sage ich (implizit) auch, dass ich existiere. Das ist Descartes erste Gewissheit.
Diese ist verbunden mit der berühmten Aussage „Ich denke, also bin ich“, die Descartes
zugeschrieben wird. Jedes Zweifeln ist ein Denken und jedes Denken kann nur in einem
existierenden Objekt vorkommen. Dieses Argument von der Existenz des Zweifels zur
Existenz des Ichs wird bis heute viel und sehr scharfsinnig diskutiert als auch modifiziert.
Prof. Thiel weist hier auf zwei Variationen von Descartes selbst hin: (1) Zum einen scheint es
so zu sein, dass Descartes meint, diese Existenzgewissheit des eigenen Ichs ist
gewissermaßen intuitiv. Es handelt sich um eine unmittelbare Gewissheit, die selbst keiner
Begründung mehr bedarf. So sagt Descartes in der zweiten Meditation:
1. „Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen
habe, schließlich zu der Feststellung, dass dieser Satz ‚Ich bin, ich existiere’, sooft ich ihn
ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist“ (Meditationen, 45).
Hier merkt man, dass Descartes ausdrücklich nicht meint „ich denke also bin ich“. Aufgrund
des Satzes auf dem Handzettel können wir sagen: Wenn ich sage „ich existiere“, dann ist das
unmittelbar wahr. Denn wenn ich sage „ich existiere nicht“, dann ist dies ein Widerspruch.
Man kann zu dieser Version des Arguments noch einiges sagen, aber wir werden das vorerst
so stehen lassen.
(2) Diese Version des Arguments findet sich in der „Abhandlung über die Methode des
richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung“ (Seite 31).
2. „Alsbald aber machte ich die Beobachtung, dass, während ich so denken wollte, alles
sei falsch, doch notwendig ich, der das dachte, irgendetwas sein müsse, und da ich
bemerkte, dass die Wahrheit, ‚ich denke, also bin ich’ so fest und sicher wäre, dass auch
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die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so
konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich
suchte, annehmen“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs
und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, 31).
Hier scheint Descartes zu sagen, dass die Ich-Existenz aus dem Ich-Denken erschlossen ist.
Hier haben sich die Philosophen natürlich gefragt, ob es tatsächlich möglich ist, die Existenz
des Ich – auf diese Art und Weise - aus dem Denken zu erschließen. Wenn dies sein Schluss
sein soll, so scheint eine Prämisse zu fehlen, da Descartes hier nicht in Form eines logischen
Schlusses argumentiert. Die Existenz des Ich folgt unmittelbar aus dem „ich denke“. Aber wie
soll das möglich sein, selbst wenn wir existieren.
3. „So darf man z.B. nicht die Folgerung ziehen: ‚Ich laufe, also bin ich‘; höchstens insofern, als das Bewusstsein des Laufens Denken ist, über das allein diese Behauptung
gewiss ist, nicht aber über die Bewegung des Körpers, die manchmal, im Traume, gar
keine ist, während ich doch auch zu laufen glaube. Daher kann ich sehr wohl eben
deshalb, weil ich zu laufen glaube, die Existenz des Geistes, der das glaubt, folgern, nicht
aber die des Körpers, der läuft. Genau so ist in allen übrigen Fällen“ (Descartes an
Gassendi, in Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den
sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. von A. Buchenau, Hamburg 1972, 324).
Hier kommen wir wieder auf Pierre Gassendi zu sprechen. Man könnte doch sagen, ich gehe
also bin ich; ich trinke französischen Champagner, also bin ich. In Punkt 3 findet sich die
Argumentation von Descartes aufgrund welcher er meint, dass die Existenz des ich nur aus
dem „ich denke“ geschlossen werden kann. Was sagt Descartes eigentlich an dieser Stelle?
Descartes sagt, dass in diesem Stadium seines Arguments die Existenz seines Körpers noch
zweifelhaft ist. Die Existenz des Denkens selbst kann aber nicht zweifelhaft sein, da das
Zweifeln eine Form des Denkens ist. Der Skeptiker ist derjenige, der mit dem Zweifeln
anfängt. Dass ich denke oder zweifle ist ja eine Prämisse, welche die Skeptiker durch ihre
Argumentation selbst liefern. Dennoch gibt es viele weitere Fragen, die man an Descartes in
diesem Zusammenhang stellen kann; eine will Prof. Thiel noch erwähnen: Ist Descartes
Argument auf die Ich<-Existenz wirklich gerechtfertigt? Positivisten im 20. Jahrhundert - aber
auch andere, frühere Philosophen des 18. Jahrhunderts - haben gesagt, dass die Behauptung
des ‚Ich’ von Descartes erschlichen ist. Diese Erkenntnis ist keineswegs erschlossen, noch ist
sie intuitiv gewiss; was gewiss ist, ist nur die Existenz des Denkens. Aber darauf auf die
Existenz eines Subjekts zu schließen welches denkt, ist nicht absolut gewiss. Es wäre doch
möglich, dass ein Denken ohne Träger dieses Denkens existiert. Auch wurde behauptet, dass
Descartes hier von der Struktur der Sprache in die Irre geführt wird, da wir immer davon
reden, dass ein Ich, Du oder er handelt bzw. denkt. Die Vorstellung, dass ein Denken oder
Handeln auch ohne Subjekt daherkommt, scheint uns absurd. Dies scheint uns aber nur
aufgrund der Struktur unserer Sprache gewiss. Die „Ich-Existenz“ ist somit eine
Zusatzannahme, die aufgrund der Erfahrung des Denkens nicht mitgegeben ist; wir werden
aufgrund unserer Sprache zu solch einer Annahme gebracht, obwohl diese nicht gewiss ist.
Das nächste Mal werden wir versuchen zu zeigen, wie Descartes von dieser Ich-Existenz auf
das Leib-Seele-Problem übergeht.
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3. Einheit (10.11.2009) Prof. Dr. Udo Thiel René Descartes, Meditationen über Erste Philosophie (1641). Descartes über das Wesen der Seele und das Leib-Seele Verhältnis. Der Cartesianismus im 17. Jahrhundert. Kritiker und Anhänger (Gassendi, Hobbes, Malebranche).
IV.A. DESCARTES´ ERSTE GEWISSHEIT - FORTSETZUNG
Beim letzten Mal ging es um den Text von Descartes aus seinen Meditationen; ein Buch, das
1641 erschienen ist. Darauf gab es Erwiderungen von Kritikern und Zeitgenossen, welchen
Descartes ebenso entsprechend geantwortet hat. Auch Thomas Hobbes gehörte zu diesen
Kritikern von Descartes. In der letzten Woche ging es um die 1. Meditation und Descartes
„methodischem Zweifel“. Descartes versucht darin den Skeptizismus so stark wie möglich zu
machen; gelingt es ihm nun auf Grundlage dieser „stärksten“ Position des Skeptizismus eine
Antwort auf eben jenen Standpunkt des Skeptikers zu finden, dann gibt es keinen
Angriffspunkt mehr für die Einwände des Skeptizismus. Descartes geht es um die Grundlagen
der menschlichen Erkenntnis als auch um die der Philosophie selbst. Am Ende der
1. Meditation scheint es so zu sein, als hätte der Skeptizismus die Auseinandersetzung
gewonnen. Dort führt Descartes als argumentatives Element für den Skeptiker sogar einen
„Bösen Geist“ ein, der uns ständig täuscht. Descartes geht es natürlich nicht um die Existenz
dieses bösen Geists, sondern alleine um die (Denk-)Möglichkeit, dass wir uns immer
täuschen können und immer getäuscht werden könnten.
In der 2. Meditation sahen wir wie Descartes aus dieser radikalen Position des Skeptizismus
herauskommt. Selbst wenn wir annehmen, dass es diesen bösen Geist, der uns ständig
täuscht, gibt, so ist doch die Existenz des eigenen Ich gewiss. Das ist natürlich das berühmte
Argument von Descartes, das zumeist als folgende Schlussfolgerung dargestellt wird: „Ich
denke, also bin ich.“ Gegen Ende der Vorlesung hat Prof. Thiel auf die beiden Versionen von
Descartes hingewiesen; es gibt hier nämlich zwei Varianten dieses Arguments für die
Existenz des eigenen Ich: Einerseits scheint dieses Argument tatsächlich eine Schluss-
folgerung zu sein; das heißt, dass die Existenz des eigenen Ich erschlossen wird:
„Alsbald aber machte ich die Beobachtung, dass, während ich so denken wollte, alles sei
falsch, doch notwendig ich, der das dachte, irgendetwas sein müsse, und da ich bemerkte, dass die Wahrheit, ‚ich denke, also bin ich’ so fest und sicher wäre, dass auch
die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so
konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich
suchte, annehmen“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs
und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, 31).
In der anderen Variante wird die Existenz des eigenen Ich nicht erschlossen:
„Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe,
schließlich zu der Feststellung, dass dieser Satz ‚Ich bin, ich existiere’, sooft ich ihn
ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist“ (Meditationen, 45).
Hier gibt es keinen Schluss in der Argumentation; die Existenz des eigenen Ich ist nach dieser
Stelle unmittelbar gewiss. Ich existiere, wenn ich diese Gedanken habe und so weiter.
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Descartes scheint gemäß der ersten Stelle über die Methode des richtigen
Vernunftgebrauchs die Existenz zu erschließen (unvollständiger Syllogismus), da er den
Obersatz „Alles was denkt existiert“ nicht formuliert hat. Es handelt sich um einen
Syllogismus, da dieser Obersatz nicht explizit gemacht wird. [Exkurs aus Wikipedia: Die
Syllogismen sind ein Katalog von Typen logischer Argumente. Syllogismen sind immer nach dem gleichen
Muster aufgebaut. Jeweils zwei Prämissen (Voraussetzungen), Obersatz und Untersatz genannt, führen zu einer
Konklusion (Schlussfolgerung). Die Prämissen und die Konklusion sind Aussagen von einem bestimmten Typ, in
denen jeweils einem Begriff, dem syllogistischen Subjekt, ein anderer Begriff, das syllogistische Prädikat (nicht
gleichbedeutend mit Subjekt und Prädikat in der Grammatik), in bestimmter Weise zu- oder abgesprochen
wird. In Abhängigkeit von der Stelle, an der sie im Syllogismus auftreten, werden die vorkommenden Begriffe
Oberbegriff, Mittelbegriff und Unterbegriff genannt.] Nun sagt Descartes an anderer Stelle selbst,
dass das „ich existiere“ erschlossen sei und führt als Antwort auf einer seiner Kritiker
folgendes aus:
„Wenn wir aber bemerken, dass wir denkende Dinge sind, so ist das ein gewisser
Grundbegriff, der aus keinem Syllogismus geschlossen wird; und auch, wenn jemand
sagt: ‚ich denke, also bin ich, oder existiere ich‘, so leitet er nicht die Existenz aus dem
Denken durch einen Syllogismus ab, sondern erkennt etwas ‚durch sich selbst
Bekanntes‘ durch einen einfachen Einblick des Geistes (mentis intuitus) an, wie sich
daraus ergibt, dass, wenn er sie durch einen Syllogismus ableiten sollte, man vorher den
Obersatz erkannt haben müsste: ‚Alles, was denkt, ist oder existiert‘, während man
vielmehr umgekehrt diesen erst daraus gewinnt, dass man bei sich erfährt, es sei
unmöglich zu denken ohne zu existieren‘ (Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. u. hrsg. v. A.
Buchenau, Hamburg 1972, S. 127-8).
Das bedeutet, dass die unmittelbare Einsicht in die Intuition Priorität hat; „ich denke also bin
ich“ ist durch eine Intuition begründet und kann nicht erst durch einen Syllogismus
abgeleitet werden. Man könnte gegen den Gedanken, dass das Ich bei Descartes erschlossen
wäre folgendes einwenden (in Wirklichkeit ist es ja nicht erschlossen!): Denn das ich denke,
setzt schon voraus, dass ich bin. Mit dieser Möglichkeit muss man sich befassen; hier liegt
keine Zirkularität vor. Man könnte schon sagen, dass die Prämisse „ich denke“ ja nicht von
Descartes stammt, sondern von der Argumentation des Skeptikers vorausgesetzt wird; denn
dieser redet dem universellen Zweifel das Wort.
Descartes zeigt dann den Widerspruchbrei der Skeptiker auf. Jeder, auch schon der Skeptiker
selbst, ist auf die Prämisse „ich denke“ festgelegt; denn wer zweifelt denkt. Descartes weist
sodann nur mehr darauf hin, dass man beim Denken die Existenz schon inkludiert ist.
Insofern man Descartes Linie jetzt betrachtet, könnte man behaupten, dass das „ich denke“
das „ich bin“ schon voraussetzt. Dieser Gedanke hat die Formulierung nahe gelegt, dass das
„Ich“ nicht erschlossen wurde, sondern eine einfache mentale Intuition ist. Nehmen wir an,
dass Descartes insoweit Recht hat. Die Existenz ist nicht bezweifelbar, auch wenn uns ein
böser Geist täuschen will. Ganz egal ob wir nun sagen, die Existenz sei erschlossen oder
intuitiv gewiss, so scheint es für Descartes weitere Probleme zu geben: Descartes redete
davon, dass die erste Gewissheit eine solche Gewissheit sein soll, die nicht nur gegen die
Angriffe des Skeptizismus immun ist, sondern sie solle auch eine Grundlage für jede weitere
Erkenntnis darstellen. Aber wie soll es möglich sein, ein System des Wissens auf der
Grundlage der Evidenz der eigenen Existenz zu erschaffen? In diesem Stadium der
Meditationen ist es unklar, wie Descartes von der Existenz des eigenen Ich zu weiterer
Gewissheit bzw. Erkenntnis kommen will bzw. kann.
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V. DAS WESEN DER SEELE – ÜBERBLICK ÜBER DIE ANDEREN MEDITATIONEN Descartes hat zu seiner eigenen Zufriedenheit bewiesen, dass es eine Gewissheit gibt;
nämlich die Existenz des eigenen Ich. Was er hingegen nicht beantwortet hat ist die Frage,
was denn nun die Natur bzw. das Wesen des eigenen Ich ist; er geht über von der Existenz
zur Essenz des eigenen Ich. Die Frage nach dem, ob ich bin können wir jetzt mit ja
beantworten; unbeantwortet bleibt aber die Frage „Was ist es, das denkt?“. Descartes
erörtert in der zweiten Meditation verschiedene Möglichkeiten, wie man das Ich bestimmten
könnte. Er beginnt mit dem plausiblen Vorschlag, dass dieses Ich ein vernunftbegabtes
Lebewesen ist. Dies lehnt er aber sogleich wieder ab, da wir (zumindest in diesem Stadium
der Meditationen) nicht wissen können, was die Begriffe Vernunft und Lebewesen bedeuten.
Er will ja wissen, was wir mit Gewissheit wissen können. Auch weist er den Gedanken zurück,
dass wir ein körperliches Wesen sind. In diesem Stadium ist selbst dies nicht gewiss, da uns
auch hier wieder unser böser Geist täuschen könnte.
Als dritte Möglichkeit erörtert Descartes den Begriff der Seele. Aber auch die Möglichkeit
dass wir eine Seele sind, scheint Descartes bei der Frage „Was bin ich?“ zurückzuweisen. Zu
diesem Zeitpunkt ist Descartes ein wenig verwirrend, da er auf Gedanken anspielt, die er
dann nicht weiter vertieft. Er erwähnt beispielsweise die Ernährung oder die Bewegung als
Funktionen der Seele; dies ist doch erstaunlich, wenn man die Tradition, auf die sich
Descartes hier bezieht nicht kennt. Früher wurde von Teilen der Seele – ja sogar von
mehreren Seelen in Bezug auf einen Menschen – oder aber sogar von mehreren
Seelenvermögen gesprochen. Es gibt ein vegetatives Seelenvermögen (für Ernährung bzw.
Wachstum zuständig), ein sinnliches Seelenvermögen und ein rationales Seelenvermögen
(Verstand und Wille). Traditionell war es so, dass durchaus angenommen wurde, dass
sowohl der Mensch als auch die Tiere eine Seele haben, wobei Tieren nur ein vegetatives
Seelenvermögen zukommt; die anderen beiden Teile kommen den Tieren nicht zu. Descartes
stimmt mit seinen Vorgängern darin überein, dass Verstand und Wille nur Menschen
zukommt; im Gegensatz zu diesen Seelenvermögen, sind Ernährung und Wachstum rein
mechanistisch (in Bezug auf den Körper) erklärbar; dies bedeutet, dass diese Funktionen rein
dem Körper zukommen. Das bedeutet für Descartes, dass Tiere letztendlich nur Maschinen
sind, da sie mechanistisch erklärt werden können; diese Ansicht brachte ihm bis heute viel
Kritik. Auch diese Ansicht von Descartes ist mit ein Grund, weshalb man ganz abstruse
Physikansätze der Metaphysik, welche als negativ erachtet werden, mit der Bezeichnung als
„cartesianisch“ zurückweist. Diese Kritik mag laut Prof. Thiel berechtigt sein; aber aus einer
anderen Perspektive, in der auch der menschliche Körper mechanistisch erklärt werden
kann. Allerdings hat der Mensch noch Verstandes- und Willenfunktionen, und kann nicht
rein mechanistisch erklärt werden. Für diese Annahmen der mechanistischen Vorgänge
wurde Descartes eben scharf kritisiert.
Spricht Descartes im positiven Sinne von der Seele, so schränkt er den Seelenbegriff auf das
Denken ein, weshalb die Seele bei ihm mit dem Geist (mind, mens (lat)) gleichgesetzt wird,
wobei der sich gegen den traditionell scholastischen Begriff der Seele wendet. Nach
Descartes kommt der Seele nur das Denken zu, wozu Descartes nun auch folgendes sagt:
“Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere,
das ist gewiss. Wie lange aber? Nun, solange ich denke … Ich bin also genau nur ein
denkendes Wesen“ (Descartes, Meditationen, übers. u. hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg 1959,
S. 47).
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Descartes behauptet also, dass das Wesen des Ich im Denken besteht und somit als Seele
verstanden wird. Das bedeutet auch, dass wenn das Denken eine wesentliche Eigenschaft
des Ich oder der Seele sein soll, dann würde sie aufhören zu existieren, wenn sie nicht
denken würde. Es scheint so in der Argumentation Descartes, dass wir nur als denkende
Dinge existieren. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir Descartes bereits an dieser Stelle
einen Leib-Seele-Dualismus vorwerfen wollen. Er hat noch gar nicht gesagt, dass das Denken
ohne Körper bestehen kann. Nun kann der Gedanke, dass das Wesen der Seele im Denken
besteht auf verschiedene Weise interpretiert werden:
1. Das Wesen der Seele besteht in dem Vermögen bzw. der Fähigkeit zu denken. Descartes
scheint am Anfang der Meditationen solch einen Gedanken nahe zu legen. Aber an anderen
Stellen scheint Descartes anderes zu sagen.
2. Ihm geht es nicht nur um die Denkfähigkeit der Seele, sondern es sei für die Seele
wesentlich, dass sie tatsächlich bzw. aktual Denkfähigkeit ausführt (und dass sie nicht nur die
bloße Fähigkeit dazu besitzt; also die Disposition zu denken). Das bedeutet weiter, dass die
Seele, solange sie existiert, zu jedem Zeitpunkt denkt, also aktiv ist. Dies ist eine radikale
These, die uns auf den ersten Blick unplausibel erscheint. Wir können uns Momente
vorstellen, in denen wir nicht denken (in diese Richtung gehen dann auch die Empiristen). So
sagte darauf John Locke, dass das nicht geht, da uns die Erfahrung zeigt, dass es viele
Episoden im Leben gibt, bei denen wir nicht denken. Aber können wir diese These zumindest
etwas plausibler machen: Dazu müssen wir mehr darüber wissen, was Descartes überhaupt
mit „denken“ meint.
„Denken“ scheint für ihn eine rein rationale Vernunfttätigkeit zu sein; diese Auffassung ist
auch die heute eigentlich noch gebräuchliche. Es gilt zu bedenken, dass Descartes‘ Begriff
vom „Denken“ weiter gefasst ist:
„Ein denkendes Wesen! Was heißt das? Nun, - ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht,
verneint, will, nicht will und das sich auch etwas bildlich vorstellt und empfindet”
(Descartes, Meditationen, übers. u. hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1959, S. 51).
All diese mentalen Operationen stellen für Descartes Formen des Denkens dar. Er beschränkt
das Denken gerade nicht nur auf die rationalen Vernunfttätigkeiten. Aus diesem Grund
könnte das Argument „ich denke, also bin“ umformuliert werden; z.B. „ich bilde mir etwas
ein, also bin ich“. Was meint Descartes nun mit „denken“? Denken wird bei ihm durch den
Begriff des Bewusstseins bestimmt: Das Problem dabei ist, dass die Begriffe des
Bewusstseins und des Denkens oftmals als synonym angesehen werden; leider oftmals auch
in den Übersetzungen seiner Texte. So ist am Beginn des nächsten Zitats „Bewusstsein“
gestanden, was aber so überhaupt keinen Sinn ergibt; Prof. Thiel hat dies hier ausgebessert
und durch den Terminus „bewusst werden“ ersetzt.
“Unter dem Namen ‚Denken‘ … befasse ich alles das, was so in uns ist, dass wir uns
seiner unmittelbar bewusst werden. In diesem Sinne gehören alle Operationen des
Willens, des Verstandes, der Einbildung und der Sinne zum Denken. Das Wort
‚unmittelbar‘ habe ich hinzugefügt, um all das auszuschließen, was aus ihnen erst folgt. So hat die freiwillige Bewegung zwar das Denken als Ausgangspunkt, ist aber doch nicht
selbst Denken“ (Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den
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sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. u. hrsg. v. A. Buchenau, Hamburg 1972,
S. 145).
„Bewusst werden“ heißt, dass wir uns auf etwas unmittelbar beziehen können oder dies tun.
All das, dem wir uns unmittelbar bewusst sind, gehört zum Denken! Dabei handelt es sich
um einen Bewusstseinsbegriff, der selbstbezüglich ist. Wir reden heute auch oft davon, dass
wir uns einer Außenwelt bewusst sind (ich sitze hier im Raum und so weiter). In gewissen
technischen Zusammenhängen wird der Begriff des Denkens eben als selbstbezügliches
Bewusstsein verstanden; dies ist bei Descartes offensichtlich der Fall. Was ist aber, wenn die
sinnliche Wahrnehmung zum Denken gehören soll? Gemäß der traditionellen Auffassung der
Seele ist ein anderer Teil der Seele für die Wahrnehmung zuständig; so schreibt Descartes
die Seelenwahrnehmung dem Körper zu. Wie kann diese aber dann um Denken gehören?
Laut Prof. Thiel meint hier Descartes, dass die Sinneswahrnehmungen körperliche,
psychologische und geistige Elemente besitzen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass wir
einen Körper zur sinnlichen Wahrnehmung benötigen und auch die zweite Meditation nicht
abgeschlossen. Wir gehen nun aber trotzdem zur dritten Meditation über.
Man kann jetzt meinen, dass wir in der zweiten Meditation noch nicht viel erreicht haben.
Das „Ich“ von Descartes scheint ziemlich einsam auf der Welt zu sein, denn alles was seit der
ersten Meditation gewiss ist, ist die Existenz des Ich, die Bewusstseinsgehalte, das Denken
und so weiter. Descartes muss eine plausible philosophische Position erreichen (können), um
aus diesem „einsamen Ich“ herausbrechen zu können. Ansonsten würde seine Philosophie in
einer Art und Weise enden, die man solipsistisch nennen könnte. [Exkurs aus Wikipedia: Der
Solipsismus (von lat. solus allein und ipse selbst: nur ich selbst oder das Selbst allein) ist ein philosophischer
Begriff. Er bezeichnet den erkenntnistheoretischen Standpunkt, nur das eigene Ich sei wirklich, während die
Außenwelt und andere fremde „Ichs“ nur Bewusstseinsinhalte ohne eigene Existenz darstellten. Alles Sein ist
im eigenen Ich, im eigenen Bewusstsein beschlossen.] Im Solipsismus sind das Ich und dessen Ideen
das einzig existierende; andere fremde „Ichs“ kann ich zwar wahrnehmen, mir aber ihrer
Existenz nicht sicher sein. Das ist eine ziemlich traurige Position laut Prof. Thiel, wenn ich zu
meiner Freundin sagen müsste „Ich liebe dich, aber du bist nur eine Idee!“. Descartes muss
nun zeigen, dass es einen Gott gibt, welcher uns nicht über solche Erkenntnisse täuschen
kann, und die für uns klar und deutlich erscheinen. Einerseits könnte man annehmen, dass
es bei Descartes mit seinem „Ich denke, also bin ich“ eine Gewissheit gibt. Kann nun nicht
diese erste Wahrheit als Kriterium bzw. auch Basis für weitere Wahrheiten und Gewissheiten
verwendet werden? In gewisser Weise scheint er diesen Gedanken auch aufzugreifen, wobei
am Ende der zweiten Meditation noch immer die Möglichkeit besteht, dass uns ein böser
Geist über Dinge täuscht, von denen wir subjektiv meinen, sie seien gewiss. Descartes muss
nun zeigen, dass Gott existiert und kein böser Geist ist, sondern allmächtig, allgütig und
allwissend. In der Tat ist das der nächste Schritt in den Meditationen. In der dritten
Meditation versucht Descartes einen Gottesbeweis zu liefern. Er versucht die Existenz Gottes
aus der Vernunft zu beweisen, ohne ihn durch Glauben anzunehmen bzw. „in die Welt zu
bringen“. Über diesen Gottesbeweis ließe sich viel sagen, wobei wir uns im Rahmen dieser
Vorlesung nur rudimentär mit ihm befassen.
Der Gottesbeweis scheint den meisten Denkern nicht sehr plausibel zu sein; Descartes
argumentiert hier folgendermaßen: Der Begriffsinhalt der Gottesidee ist so geartet, dass ich
selbst nicht Ursache dieser Idee sein kann, sondern der Begriff bzw. die Idee Gottes ist der
Begriff eines vollkommenen Wesens; zu einem vollkommen Wesen gehört aber auch dessen
Existenz. Ein Mensch kann nicht aus sich selbst heraus einen solchen (vollkommenen) Begriff
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verursachen. [Exkurs aus Philolex: Klar und deutlich erkennbar ist nach Descartes die Existenz Gottes. Dazu
bringt er zwei „Gottesbeweise“: 1. Gottesbeweis: Descartes hat in seinem Bewusstsein die Idee Gottes als des
vollkommensten Wesens. Dieses Wesen müsse existieren, denn sonst wäre es ja nicht vollkommen
(ontologischer Beweis wie bei Anselm von Canterbury). 2. Gottesbeweis: Eine Wirkung könne nie vollkommener
sein als ihre Ursache. [Wieso nicht?] Die Idee eines unendlichen Wesens kann nicht von meinem Verstand
hervorgebracht werden, da dieser endlich sei. Die Idee des unendlichen Wesens setze deshalb dessen
tatsächliche Existenz voraus, dessen Abbild diese Idee sei (psychologischer Gottesbeweis wie bei wie bei
Augustinus). Außer diesen beiden „Gottesbeweisen“ hat Descartes aber noch weitere Gottesbeweise; z. B. den
ersten Beweger (den hatte auch schon Thomas von Aquin) und die Notwendigkeit eines unendlich starken und
unendlichen intelligenten Mathematikers. Ad Gottesbeweis I: Der Fehler ist nach meiner Auffassung, dass von
dem Begriff einer Sache oder Eigenschaft auf die reale Existenz der Sache oder Eigenschaft geschlossen wird.
Außerdem wird Gott faktisch mit dem Sein gleichgesetzt - als das Vollkommenste, wodurch der Begriff Gott
jeden Erklärungswert verliert. Ein solch weiter Gottesbegriff hat genauso wenig Erklärungswert, wie der
Materiebegriff Lenins. Ad Gottesbeweis II: Die Behauptung eine Wirkung könne nicht vollkommener sein als die
Ursache ist eine Vermutung. Sie ist unbeweisbar. Und woher weiß Descartes, dass sein Verstand endlich sei?
Meint er endlich in der Zeit oder endlich in seiner Erkenntnisfähigkeit?] Diese Darstellung ist laut Prof.
Thiel sehr abgekürzt. Dieser Gedanke von Descartes bzw. seine Herleitung von Gott wird
später oftmals – so auch von Kant - zurückgewiesen. Dieser meinte, man kann nicht vom
Begriff eines Wesens auf dessen Existenz schließen. Descartes meinte, dass die letzte
Ursache des Gottesbegriffs nicht im Menschen sein kann, sondern in Gott selbst liegen muss.
Das ist eine sehr verkürzte Darstellung; aber auch bei einer weniger starken Verkürzung ist
dieser Beweis nicht plausibel. Ein drittes Problem stellt sich bei diesem Gottesbeweis in der
Hinsicht, dass nämlich Descartes in seinem Versuch Gott zu beweisen, einem Zirkel
unterliegt. Wie bereits erwähnt wurde, geht es Descartes darum, die Existenz Gottes - als ein
uns nicht täuschendes Wesen - zu beweisen. Er will damit zeigen, dass es ein
Wahrheitskriterium gibt, das absolut verlässlich ist. In diesem Beweisvorgang zur Existenz
Gottes nimmt Descartes schon immer an, dass die einzelnen Schritte seiner Argumentation
gültig sind. Woher kann er aber wissen, dass diese einzelnen Schritte nicht schon den
Täuschungsmanövern unseres bösen Geistes unterliegen?! Descartes muss nun - um zu
zeigen, dass es ein verlässliches Wahrheitskriterium gibt -, dieses schon annehmen (selbst
dann, wenn sein Beweis schlüssig wäre). Wenn wir annehmen, dass Descartes die Existenz
Gottes bewiesen hat, dann haben wir neben unserer eignen Existenz auch schon die von
Gott beweisen.
In der letzten Meditation will Descartes die Existenz der Menschen beweisen und das
Verhältnis zwischen Leib und Seele erörtern. Das Wesen der Materie liegt für Descartes in
der räumlichen Ausdehnung ebendieser. In der vierten und fünften Meditation geht es noch
einmal um andere Dinge. In der vierten Meditation geht es um die Möglichkeit des Irrtums,
welche Descartes damit auflöst, dass er den Verstand vom menschlichen Willen unter-
scheidet. In der fünften Meditation versucht sich Descartes noch an einem weiteren
Gottesbeweis, der ganz anders abläuft als der hier bereits dargestellte. Auf diesen brauchen
wir laut Prof. Thiel aber hier nicht näher eingehen. Auch die Existenz der Materie können wir
bei Descartes aufgrund der Existenz Gottes einfach nachweisen. Descartes argumentiert,
dass materielle Gegenstände die Ursache seiner sinnlichen Wahrnehmung und Ideen sind.
Dies deswegen, da nach der Meinung Descartes´ Gott uns nicht darüber täuschen würde.
Angenommen: Descartes hat all das wirklich geschafft zu zeigen; so dass das „Ich“, Gott und
die Materie existiert. Jetzt stellt sich für uns wieder die Frage nach dem Ich, an deren
Beantwortung sich Descartes in der sechsten Meditation macht.
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VI. DESCARTES´ LEIB-SEELE-DUALISMUS
Die meisten von uns wissen, was das Resultat dieser Argumentation ist. Im Falle des
Menschen sind Leib und Seele eine zusammengehörige Einheit, die aber getrennt
voneinander existieren können. Descartes versucht nicht zu zeigen, dass die Seele getrennt
vom Leib existiert, sondern nur, dass dies prinzipiell möglich sei. Zunächst wiederholt
Descartes die Ausführungen über das Wesen der Seele und versucht dann zu zeigen, dass im
Falle des Menschen Leib und Seele zusammengehören; wir erfahren uns als eine
„leibseelische Einheit“. Wenn unser Körper verletzt wird, so nehmen wir das Geist im wahr.
Descartes benutzt den Begriff der „Person“ für die individuellen Menschen. Wir erfahren uns
als eine solche Einheit. Es mag sein, dass es so ist wie Descartes es beschreibt und diese
Argumentation scheint laut Prof. Thiel auch plausibel zu sein. Es stellt sich hier aber die
Frage, ob Descartes diese leibseelische Einheit philosophisch erklären kann.
Es mag eine Erfahrungstatsache sein, dass wir uns als eine solche Einheit erleben. Aber wie
kann Descartes eine solche Einheit erklären? Denn „denken“ und „Materie“, „Seele“ und
„Leib“ sind für Descartes zwei Substanzen völlig unterschiedlicher Art, die unabhängig
voneinander existieren könnten. Das Denken besitzt für Descartes keine (räumliche)
Ausdehnung. Wie kann Descartes diese angenommene Interaktion zwischen Leib und Seele
überhaupt erklären? Es scheint hier für Descartes keine Lösungsmöglichkeiten zu geben.
Denn wenn man Descartes Metaphysik folgt, dann gibt es drei Arten von Substanzen:
(1) Gott; (2) Geistige Substanzen wie die Seele und (3) Materie. Gott wird in Descartes
Argumentation meist außen vor gelassen und man spricht von einem „Geist-Materie-Dualismus“. Die Haupteigenschaften des Geistes bestehen in seiner Fähigkeit zu denken,
sowie in der Annahme, dass dieser einfach und immateriell ist. Die Materie hingegen besitzt
Ausdehnung und ist teilbar. Wie können wir diese beiden Substanzen zueinander bringen
bzw. verknüpfen? Descartes Schüler haben versucht einerseits Cartesianer zu bleiben, aber
andererseits diesen Leib-Seele-Dualismus zu lösen (dies scheint bis heute nicht gelungen zu
sein). Überdies verstehen sich diese Versuche letztendlich nicht als cartesianisch.
Es ergibt sich aber auch für die Existenz des Geistes selbst ein Problem bei Descartes
Argumentation: Er meint, dass die Seele unabhängig vom Leib existieren kann, da wir Seele
und Leib unabhängig voneinander begreifen können; deshalb müssen sie auch unabhängig
voneinander existieren können. Das Motiv zu zeigen, wieso der Geist bzw. die Seele
immateriell ist, ist kein rein philosophisches, sondern vielmehr auch eine theologisches.
Historischer Kontext: Es gab zu der Zeit Descartes´ von theologischer Seite die Forderung,
dass Philosophen die Unsterblichkeit der Seele beweisen sollen. Nun scheint Descartes in
den ganzen Meditationen nicht von dieser Unsterblichkeit der Seele zu reden; er versucht
aber zu zeigen, dass die Seele immateriell ist. Denn: Wenn die Seele immateriell ist, dann
kann sie auch nicht geteilt werden; aus diesem Grund ist sie für Descartes unsterblich. Somit
ist die Immaterialität der Seele eine Bedingung ihrer Unsterblichkeit. Das bedeutet weiter
auch, dass - wenn die Seele eine einfache und immaterielle Substanz ist -, sie sich durch die
Zeit hindurch nicht so verändern kann, dass sie ihre Identität verlieren könnte. Vergleiche
dazu das folgende Zitat, welches diesen Gedanken ausdrückt.
“Zweitens aber muss man beachten, dass … der menschliche Geist nicht so in irgendwelchen zufälligen Bestimmungen besteht, sondern eine reine Substanz ist; denn
wenn auch alle seine zufälligen Bestimmungen wechseln, z. B. wenn er andere Dinge
erkennt, anderes will, anderes fühlt usw., so wird darum doch nicht der Geist selbst ein
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anderer; der menschliche Körper dagegen wird allein dadurch schon ein anderer, dass
sich die Gestalt einiger seiner Teile ändert. Hieraus folgt, dass der Körper zwar äußerst
leicht untergeht, der Geist aber oder die menschliche Seele (ich unterscheide nicht
zwischen diesen) seiner Natur nach unsterblich ist“ (Descartes, Meditationen, übers. u.
hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg 1959, S. 25-7).
Hier wird ganz deutlich der Zusammenhang mit der Unsterblichkeit der Seele ersichtlich.
Dies versucht Descartes nicht separat für die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, sondern
nur die These, dass sie immateriell und über die Zeit hindurch identisch ist.
„Dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin …. [ist] vom Körper völlig
verschieden und selbst leichter zu erkennen … als dieser und … [hört] auch ohne Körper
nicht … [auf], alles zu sein, was sie ist“ (Descartes, Abhandlung über die Methode des
richtigen Vernunftgebrauchs, übers. v. K. Fischer, Stuttgart 1969, S. 32)
Das bedeutet, dass der Körper bzw. der Leib nur ein Instrument der Seele ist, obwohl wir von
einer leibseelischen Einheit sprechen. Laut Prof. Thiel mögen uns viele dieser Argumente
nicht plausibel erscheinen, wobei der zum Schluss noch auf folgendes hinweisen will;
nämlich auf das „Ich“. Mit Bezug auf den Geist selbst gibt es auch noch ein Problem für
Descartes: Descartes nimmt an, dass es eine Pluralität von menschlichen Seelen gibt. Hier
stellt sich aber die Frage, wie man auf Grundlage einer Philosophie, welche für die
Individualität steht, von einer Pluralität der menschlichen Seele sprechen kann. Nun: Wenn
Seelen oder denkende Wesen immateriell sein sollen, dann stellt sich die Frage, mit Hilfe
welches Kriteriums man zwischen der einen oder der anderen Seele unterscheiden können
soll. Einerseits könnte man sagen, dass die Seelen durch die Verbindung mit dem Körper
individuell sind. Aber das geht bei Descartes ja nicht, da bei ihm die Seele unabhängig vom
Körper existieren kann. Eine andere Möglichkeit wäre aber die folgende: Wir haben vom
Bewusstsein gesprochen, welches sich auf die eigenen mentalen Operationen bezieht. Kann
es nicht so sein, dass sich jede Seele auf sich selbst bezieht und somit eine Individualität
bewirkt. Descartes meinte, dass ich mich durch das Selbstbewusstsein als individuelle Seele
bzw. als individuelles Ich erkenne. Aber das ist genau derjenige Punkt, welcher bei Descartes
erklärungsbedürftig ist. Aber wodurch werden die Seelen individualisiert, wenn sie doch
immaterielle Substanzen sein sollen? Dieses Problem ist für Descartes´ Metaphysik laut Prof.
Thiel unlösbar. Wir werden auf diese Probleme des Selbstbewusstseins bzw. der
Individuation ausführlicher zu sprechen kommen, wenn wir uns mit Locke oder Hume
beschäftigen. Denn Descartes bespricht diese Themen nur am Rande, wobei bei Locke und
Hume diese Themen als eigenständige Probleme diskutiert werden. Trotz der Probleme bei
Descartes´ Metaphysik hat seine Philosophie viel ausgelöst; so hat Descartes damit die ganze
Metaphysik der Folgezeit beeinflusst, wobei die Metaphysik zu diesem Zeitpunkt noch unter
dem starken Einfluss der Scholastik steht. Es gilt aber zu beachten, dass das „Ich“ hier schon
stark im Mittelpunkt steht. Drei Bereiche in Descartes Meditationen wollen Existenz
beweisen:
1. Die Seele entwickelt sich zu einem Bereich der Metaphysik, der rationale Psychologie
heißt (Christian Wolf);
2. Eine Metaphysik der Seele, geht von Descartes aus;
3. Auch gibt es eine rationale Theologie, bei welcher es um Gott geht, aber ebenso eine
rationale Kosmologie.
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Diese drei Bereiche sind bereits in den Meditationen Descartes angelegt, wo es darum geht,
die Metaphysik der Seele, der Welt und die über Gott zu entwickeln. Schlussendlich gingen
die allgemeinen metaphysischen Überlegungen in diese Richtung von Descartes und folgten
diesem. So beschäftigt sich damit auch Kant, wenn er diese später kritisiert.
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4. Einheit (17.11.2009) Prof. Dr. Udo Thiel Descartes und der Cartesianismus - Malebranche: Seele, Welt und Gott John Locke, Ein
Essay über den menschlichen Verstand (1690). Lockes Kritik am Innatismus.
VII. DESCARTES UND DER CARTESIANISMUS - MALEBRANCHE: SEELE, WELT UND GOTT
Die Erkenntnis des eigenen Ich ist die Haupterkenntnis Descartes. Das Subjekt ist ein
urteilendes, denkendes Ding (res cogitans). Die Interaktion von Seele und Körper ist für
Descartes ein permanentes Problem. So stellt sich der Leib-Seele-Dualismus die Fragen, wie
diese zwei Substanzarten zusammengehören können? Trotzdem hatte er einen immensen
Einfluss auf die Philosophie ausgeübt. Seine Anhänger verbreiteten seine Erkenntnisse
weiter, Kritik gab es dabei jedoch am Leib-Seele-Dualismus.
Im Okkasionalismus kam durch Nicolas Malebranche (1638 – 1715) Gott wieder stärker in
den Vordergrund, dessen Existenz er nachweisen wollte. „Von der Erforschung der
Wahrheit“ („De la recherche de la vérité“; 1674/75) ist der Titel seines Hauptwerks (Versuch
des Gottesbeweises). Auch für ihn sind Leib und Seele zwei Substanzen ohne wechselseitigen
Einfluss, aber für ihn gibt es noch eine dritte Substanz mit einer selbstständigen Substanz;
nämlich Gott (diese Lehre nennt man Okkasionalismus.) Sämtliche Wechselwirkungen
würden jeweils durch übernatürliche Beihilfe Gottes hervorgerufen. Gott ist die einzige
selbständige und aktive Substanz. Gott greift stets in das Weltgeschehen ein. Nach
Malebranche kann man das als Naturgesetz interpretieren.
Exkurs aus Textlog.de: Arnold Geulincx, geboren 1625 zu Antwerpen, seit 1646 Professor an
der katholischen Universität Löwen, ward als Cartesianer angefeindet, trat zum Calvinismus
über und wurde Professor in Leiden, wo er schon 1669 an der Pest starb. Geulincx beginnt
als scharfer Gegner des naiv-dogmatischen Realismus: Alle unsere Vorstellungen sind rein
subjektiv, Setzungen unseres Geistes; die Kategorien des Aristoteles gar sind rein
grammatische Abstraktionen. Aber er führt diese Denkweise nicht folgerichtig durch,
sondern stellt der Welt des Geistes die der Körper als etwas völlig Fremdes gegenüber. An
sich, schließt Geulincx folgerecht aus Descartes' Dualismus, kann weder der Körper die Seele
noch diese jenen beeinflussen. Dass trotzdem dieser Einfluss tatsächlich besteht, z.B. in
unseren willkürlichen Bewegungen und unwillkürlichen Sinneswahrnehmungen, ist ein
Wunder und wird von Gott bewirkt, der beide bei Gelegenheit miteinander verbindet. Doch
nimmt der „Okkasionalismus“ des Geulincx ein solches jedesmaliges Einzeleingreifen des
Allmächtigen nur an einzelnen Stellen an; im allgemeinen ist von Gott Vorsorge für eine
ständige Einwirkung, eine Korrespondenz von Geist und Körper getroffen, die, wie zwei von
demselben Mechaniker gleich gearbeitete und gleich gestellte Uhren, in stetig einander
korrespondierendem Gange bleiben. - Die Ethik, welche der neue Calvinist weit mehr als der
vorsichtige Descartes ausbildete, lehrt ganz folgerecht eine völlige Ergebung in den Willen
Gottes. Demut ist die höchste Tugend.
Malebranche versuchte eigentlich Descartes Theorien weiterzuentwickeln, kam dadurch
aber auf eine andere, eigene Metaphysik. Malebranche erntete im 17. bzw. 18. Jahrhundert
dafür starke Kritik. Exkurs aus Textlog.de: Noch weiter in dieser Richtung geht Nicolas
Malebranche (1638-1715). 1638 zu Paris geboren, zart und kränklich, daher von Jugend auf
zurückgezogen lebend, trat er 1660 in die Kongregation des Oratoriums ein, eine
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Vereinigung von Männern, welche Wissenschaft und Kirche zu versöhnen suchten. Durch die
Lektüre Descartes' für diesen gewonnen, widmete sich der junge Malebranche bald ganz
dem Studium der Philosophie, Mathematik und Physiologie. 1675 erschien sein Hauptwerk
Recherche de la vérité, von dem er selbst noch sechs Ausgaben erlebte. Malebranches
Philosophie ist zunächst durch sein psychologisches Interesse bestimmt: des Menschen am
würdigsten ist die Wissenschaft vom Menschen. Aber die Natur der Seele selbst ist uns
unbegreiflich; sie lässt sich wissenschaftlich erfassen nur in den ihr streng parallel laufenden
körperlichen Erscheinungen. Der Physiker hat nicht nach „Dingen“ zu fragen, die hinter den
Wahrnehmungen lägen. Das wahrhaft Wirksame sind nicht die Körper, sondern die Gesetze
des reinen Denkens. „Wahrheit“ bedeutet eine reale Beziehung, die zwischen zwei Ideen
stattfindet. Die Empfindungen verschaffen uns niemals die Gewissheit eines äußeren
Gegenstandes, das vermögen bloß die mathematischen Begriffe und Urteile. Woher aber
stammt die Wirksamkeit jener Gesetze selbst? Aus dem gleichförmigen und beständigen -
Willen der Gottheit! Die Wirklichkeit löst sich für Malebranche in eine Mannigfaltigkeit
zusammenhängender Ideen auf, es gibt kein unabhängiges stoffliches Sein.
Deshalb lässt sich auch nicht aus einem bloßen Begriffe (z.B. Gottes) auf seine dingliche
Existenz schließen. Aber worin liegt nun die Haltbarkeit, Dauerhaftigkeit und Notwendigkeit
dieses wahrhaften, intelligiblen Seins, z.B. des mathematischen, begründet? Wieder lautet
die Antwort im Geiste Augustins: in unserem Schöpfer. In ihm sind alle Wahrheiten, also
auch alle Dinge ihrer Idee nach enthalten. Die Idee eines Dinges (hier zeigen sich die
platonischen bzw. neuplatonischen Einflüsse seiner Kongregation) ist nichts anderes als eine
Teilnahme (participation) an der göttlichen Vollkommenheit. Die Ideen sind die notwendigen
und ewigen Urbilder der Dinge. Nicht die Menschen erzeugen sie, sondern unsere gesamte
Erkenntnis stammt von Gott. Wie der Raum der Ort der Körper, so ist Gott der Ort der
Geister, er steht mit jedem von ihnen in Verbindung. Die Dinge wahrhaft erkennen heißt
daher sie in Gott, im Lichte der göttlichen Ideen schauen. Ebenso wie unser Erkennen von
Gott stammt, ist auch unser Wollen nur ein Mitgezogenwerden von der Liebe, mit der Gott
liebt, all unser Streben daher im Grunde Liebe zum Unendlichen, zum höchsten Gut, zur
Glückseligkeit, die allein in Gott liegt. In der Lehre von den dem reinen Geiste
entstammenden Neigungen und den durch die Bewegung der (körperlichen) Lebensgeister
entstehenden Leidenschaften stimmt Malebranche mit Descartes, in der Lehre vom
Verhältnis zwischen Leib und Seele mit dem Okkasionalismus überein. Auch für ihn sind die
natürlichen Ursachen nur Gelegenheitsursachen (causes occasionelles) für das göttliche
Wirken; dass z.B. eine Lufterschütterung zum Tone oder zur Lichterscheinung wird, ist an
sich unbegreiflich und nur als göttliches Wunder zu fassen. Es gibt streng genommen nur
eine einzige Ursache, nämlich Gott; alle endlichen Geister sind nur Modi der göttlichen
Substanz, die unser Bewusstsein und unseren Willen lenkt. Die Bewegung wird der an sich
nur Ausdehnung besitzenden Materie von Gott mitgeteilt, und nur durch diesen von einem
Körper auf den anderen übertragen. Indes braucht Gott nach Malebranche überall die
einfachsten Mittel und handelt nach den Bestimmungen der ewig geltenden Vernunft,
sodass wir dennoch die Natur wissenschaftlich zu erkennen vermögen. In unserem Erkennen
sollen wir bloß demjenigen zustimmen, dem man die Zustimmung nicht ohne innere
Vorwürfe der Vernunft versagen kann; denn Vernunft wie Gott sind gleich notwendig und
unveränderlich. So paaren sich bei Malebranche Rationalismus und Mystik, ähnlich wie bei
dem von ihm als „Atheist“ verabscheuten „misérable“ Spinoza, nur dass bei diesem der
erstere, bei dem französischen Pater die letztere den Grundton abgibt. Spinoza erblickte, wie
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Malebranche einmal sagt, Gott im Universum, er selbst dagegen das Universum in Gott.
Andere Konzeptionen als jene Descartes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wären:
- Thomas Hobbes (1588 – 1679) war Atheist. Sein Hauptwerk ist Leviathan (1651). Er
entwickelte eine materialistische Theorie. Die Vorgänge im Bewusstsein erklärt Hobbes
als eine Folge der Bewegung von Körpern. Die
Sinneswahrnehmung entsteht durch Druck auf die
Sinnesorgane, diese führen zu Einbildungen. Er
entwickelte außerdem eine absolutistische
Konzeption des Staates.
- Baruch Spinoza (1632 – 1677) wird dem
Rationalismus zugeordnet und er vertrat eine Art
Monismus. Ähnlich wie Descartes nahm Spinoza
einen Gegensatz zwischen Geist und Materie an;
anders als jener sah Spinoza sie jedoch nicht als zwei
verschiedene Substanzen (Dualismus), sondern als
verschiedene Attribute einer einzigen Substanz
(Monismus). Die Gesamtheit des Universums ist eine
universelle Substanz=Gott.
In Cambridge entstand wieder ein Platonismus. Einer
der Vertreter war Ralph Cudworth (1617 – 1688). 1678
veröffentlichte dieser sein Hauptwerk „The True
Intellectual System of the Universe“. In diesem wandte
er sich gegen den Atheismus und den Determinismus.
Des Weiteren versuchte er den Materialismus von
Hobbes zu widerlegen.
VII.A. EXKURS UND VERTIEFUNG: DESCARTES‘ LEIBE-
SEELE-DUALISMUS6
Die Ausgangsfrage: Was unterscheidet rein manifest-
psychische Eigenschaften (wie zu wollen, Freude zu
haben, überzeugt zu sein, Schmerzen zu empfinden) von
physischen Eigenschaften (wie sich zu bewegen, 1,90
cm groß zu sein, 100 kg schwer zu sein, ein Gehirn zu
haben)? Gibt es ein Kriterium, ein charakteristisches
Merkmal für psychische Eigenschaften, und ist es sogar ein Abgrenzungskriterium zum Nicht-
Psychischen, also etwas, dass für Psychisches und nur für Psychisches – und nicht auch für
Physisches – gilt?
6 Der VK „Einführung in die Philosophie des Geistes“ von Prof. J.C. Marek aus dem SS 2007 entnommen.
Zur Grafik: Punkt (1) entspricht der Position Descartes; (2) Ausdrücke des Mentalen sind rückführbar auf physikalische Vorgänge; (3) 2-Aspekte-Theorie: Es gibt eine gewisse unbekannte zugrundeliegende Substanz – wir kennen von dieser Substanz nur Erscheinungsweisen (das Psychische und das Physische); (4) Hier gibt es keine Interaktion zwischen Seele und Körper. Gott als Inbegriff der tatsächlich wirkenden kausalen Kräfte im Universum. Grundsätzlich aber auch hier dualistische Grundvorstellung á la Descartes. Der Blitz ist hier im Bild Gottes Wirken.
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Eigenschaftsdualismus versus Substanzdualismus: Nimmt man an, dass es ein Merkmal gibt,
wonach psychische Eigenschaften von physischen streng zu unterscheiden sind (z.B.
Subjektivität, Unteilbarkeit, Unausgedehntheit, Unmittelbarkeit), nimmt man also einen
Dualismus der betreffenden Eigenschaften an, so folgt daraus noch nicht die von René
Descartes vertretene dualistische Position, dass es jeweils nur rein psychische und rein
physische Individuen geben kann. (Eine derartige Position wird oft Substanzdualismus
genannt.) Für den Eigenschaftsdualismus gilt: Auch wenn die Eigenschaften verschieden
sind, ist damit nicht ausgeschlossen, dass ein Ding sowohl psychische als auch physische
Eigenschaften haben kann. Rund zu sein ist verschieden von weich zu sein, aber dennoch gibt
es Dinge, die zugleich rund und weich sind. Es gilt somit, dass ein Dualismus auf der Ebene
der Eigenschaften noch keinen Dualismus auf der Ebene der Einzeldinge impliziert (also erst
auf der Ebene der Wesenseigenschaften). Zugunsten des Eigenschaftsdualismus zwischen
dem Psychischen und Physischen werden unterscheidende Merkmale angeführt wie zum
Beispiel:
1. Keine räumliche, sondern nur zeitliche Lokalisierbarkeit und Ausgedehntheit des Psychischen: Descartes (1596-1650) schreibt in seinen Meditationen (Hamburg Meiner
1972, Nachdruck von 1915):
Unter Körper verstehe ich alles, was durch irgendeine Figur begrenzt, was örtlich umschrieben werden
kann und einen Raum so erfüllt, daß es aus ihm jeden anderen Körper ausschließt; was durch Gefühl,
Gesicht, Gehör, Geschmack oder Geruch wahrgenommen oder auch auf mannigfache Art bewegt
werden kann, zwar nicht durch sich selbst, aber durch irgendetwas anderes, wodurch es berührt wird.
[Zweite Meditation, § 6, S. 19] Und ich habe doch eine [...] Idee vom menschlichen Geiste, insofern
er ein denkendes Ding ist, — das weder nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ist, noch sonst etwas
vom Körper hat [...]. [Vierte Meditation, § 2, S. 44] Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding!
Und was heißt das? Nun, – ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das
auch Einbildung und Empfindung hat. [Zweite Meditation, § 14, S. 21] Wie lange aber bin ich? Nun,
so lange, als ich denke. [...] Ich bin also genau nur ein denkendes Ding (res cogitans) [im Gegensatz
zur res extensa], das heißt Geist (mens), Seele (animus), Verstand (intellectus), Vernunft (ratio) [...].
[Zweite Meditation, § 9, S. 20]
2. Unteilbarkeit: In seiner Sechsten Meditation (op. cit., § 36, S. 74) schreibt Descartes:
Nun bemerke ich hier erstlich, daß ein großer Unterschied zwischen Geist und Körper insofern
vorhanden ist, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist.
Denn in der Tat, wenn ich diesen betrachte, das heißt mich selbst, insofern ich nur ein denkendes Ding
bin, so vermag ich in mir keine Teile zu unterscheiden, sondern erkenne mich als ein durchaus
einheitliches und ganzes Ding. Und wenngleich der ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu
sein scheint, so erkenne ich doch, daß, wenn man den Fuß oder den Arm oder irgendeinen anderen
Teil des Körpers abschneidet, darum nichts vom Geist weggenommen ist. Auch darf man nicht die
Fähigkeit des Wollens, Empfindens, Erkennens als seine Teile bezeichnen, ist doch ein und derselbe
Geist, der will, empfindet und erkennt. Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches, das heißt
ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen und ebendadurch als
teilbar erkennen könnte, und das allein würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper
gänzlich verschieden ist, wenn ich es noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.
- Vergleiche dazu Art. 30 seines Werks Über die Leidenschaften der Seele (in: René
Descartes: Philosophische Werke, 2. Bd., 4. Abt., 3. Aufl., Leipzig: Meiner, 1911, S. 16f), wo
er schreibt,
daß man wissen muß, daß die Seele wahrhaft mit dem ganzen Körper verbunden ist, und daß man
nicht wohl sagen kann, sie befinde sich in einem seiner Teile mit Ausschluß der anderen; denn der
Körper ist einer und in gewisser Hinsicht unteilbar, insofern als seine Organe sich derart aufeinander
beziehen, daß mit dem Wegfall eines einzigen der ganze Körper fehlerhaft wird, und die Seele hat von
Natur keinen Teil an der Ausdehnung oder den Dimensionen oder den anderen Eigenschaften der
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Materie, woraus der Körper besteht, sondern nur am Ganzen seiner Organe. Denn man kann sich
keine halbe oder drittel Seele vorstellen und keinen Raum, den sie einnimmt; sie wird auch nicht
kleiner, wenn man einen Teil von dem Körper wegnimmt, sondern sie trennt sich ganz, wenn man den
Verband seiner Organe auflöst.
3. Introspizierbarkeit, Unmittelbarkeit, Evidenz, Selbstpräsentation etc.: Brentano (op. cit.,
S. 128):
Eine weitere gemeinsame Eigentümlichkeit aller psychischen Phänomene ist die, daß sie nur in
innerem Bewußtsein wahrgenommen werden, während bei den physischen nur äußere
Wahrnehmung möglich ist. [...] Es könnte einer glauben mit einer solchen Bestimmung sei wenig
gesagt, da es vielmehr das Naturgemäße scheine, daß man umgekehrt den Akt nach dem Objekt, also
die Wahrnehmung im Gegensatze zu jeder anderen als Wahrnehmung psychischer Phänomene
bestimme. Allein die innere Wahrnehmung hat, abgesehen von der Besonderheit ihres Objektes, auch
noch anderes, was sie auszeichnet; namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter allen
Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zukommt. Wenn wir also sagen, die psychischen
Phänomene seien diejenigen, welche durch innere Wahrnehmung erfaßt werden, so ist damit gesagt,
daß ihre Wahrnehmung unmittelbar evident sei.
- Damit verweist Brentano auf die Unmittelbarkeit und Evidenz des Psychischen. Vergleiche
auch Descartes’ Prinzipien der Philosophie, Teil, § 9 (in: ders.: Philosophische Werke, 2.
Bd., 3. Abt., 3. Aufl., Leipzig: Meiner, 1911, S. 3):
Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns
selbst bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Einbilden, sondern auch das
Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: “Ich sehe, oder: ich gehe, also bin ich”, und ich
dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittels des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluß nicht
durchaus sicher; denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und
mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt; ja dies könnte geschehen,
ohne daß ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder
von dem Bewußtsein (conscientia) meines Sehens oder Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil
es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge.
I. DIE PHILOSOPHIE JOHN LOCKES
John Locke (1632 - 1704) ist bis heute ein viel diskutierter Philosoph. Er war einer der
Hauptvertreter des britischen Empirismus. Er bildet zusammen mit George Berkeley (1684 –
1753) und David Hume (1711–1776) das Dreigestirn der britischen Aufklärung und des
aufkommenden Empirismus. Des Weiteren gilt er neben Thomas Hobbes (1588–1679) und
Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) als einer der bedeutendsten Vertragstheoretiker. Seine
politische Philosophie beeinflusste die Verfassung der Vereinigten Staaten und Frankreichs
und über diesen Weg die meisten Verfassungen liberaler Staaten maßgeblich. Er wurde1632
in der Grafschaft Somerset in einer wohlhabenden Familie geboren. Ab 1652 studierte Locke
die „klassischen Wissenschaften“ an der Oxforder Universität. Er erwarb einen Abschluss in
Medizin und übte auch den Beruf des Arztes aus. Er war der Leibarzt des späteren Earl of
Shaftesbury. Locke suchte aus politischen Gründen in Holland Exil für fünf Jahre. Die
Veröffentlichung seines „Essay concerning Humane Understanding“ um 1690 machte Locke
in weiten gelehrten Kreisen Europas bekannt. Im Sinne des Puritanismus erzogen,
beeinflusste dieser ihn sehr stark. Er versuchte aus diesem Denken herauszukommen, was
sich auch seiner Philosophie widerspiegelt. Locke bewunderte Cudworths Tochter Damaris
Cudworth, die die Philosophie ihres Vaters vertrat und z.B. gemeinsam mit Leibniz
publizierte, wegen ihrer philosophischen Kenntnisse sehr. Des Weiteren wurde Locke von
Descartes beeinflusst, aber auch dessen Kritiker Gassendi galt Lockes Interesse. Locke wurde
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kein Cartesianer, sondern übte Kritik, er verwendete dabei einige Argumente von Gassendi.
Boyle, der Begründer der modernen Chemie, war ein Freund Lockes. Locke hatte großes
Interesse an den Naturwissenschaften (Chemie, Medizin) und praktizierte auch als Arzt,
obwohl er das Studium ohne Abschluss beendet hatte.
Bei Locke findet sich ein Spannungsverhältnis zwischen der (religiösen) Tradition und den
Naturwissenschaften. Bei seinem Hauptwerk, dem Essay concerning Human Understanding
aus dem Jahre 1690 handelt es sich um eine Schrift, vor allem über Erkenntnistheorie. Locke
geht darin mehr als Descartes auf Erkenntnistheorie ein. Descartes meinte ja, den
Skeptizismus widerlegt zu haben und dadurch eine Metaphysik der Seele entwickeln zu
könne. Bei Locke stehen hingegen wirklich erkenntnistheoretische Fragen im Zentrum.
Jedoch ist anzumerken, dass auch Locke Themen behandelt, die heute als metaphysisch
gelten würden.
„Two Treatises of Government“ („Zwei Abhandlungen über die Regierung“) von 1689 war
eines der Hauptwerke Lockes. Es war ein wichtiges Werk für die Französische Revolution. Er
veröffentlichte dies Werk 1689 anonym. Insbesondere die zweite Abhandlung wird oft als
Manifest für die liberale Demokratie und den Kapitalismus bezeichnet und hat
dementsprechend positive wie negative Kritik auf sich gezogen. Darin argumentiert er, dass
eine Regierung nur legitim ist, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitzt und die
Naturrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum bewahrt als auch beschützt. Wenn diese
Bedingungen nicht erfüllt sind, haben die Untertanen ein Recht auf Widerstand gegen die
Regierenden. Locke verfasste auch Erziehungsschriften.
II. LOCKES ESSAY CONCERNING HUMAN UNDERSTANDING
Sein Vorwort beginnt mit dem Hinterfragen der geistigen Fähigkeiten bzw. der Grenzen des
Verstandes. Locke betreibt eine Analyse des menschlichen Verstandes. Die Hauptfrage
Lockes ist die Möglichkeit des Erkennens und das schlägt sich in all seinen Überlegungen
nieder. Er will keine eigene Metaphysik entwickeln, sondern bei der Erkenntnistheorie
bleiben. Locke fragt auch nach der Freiheit des Willens. Sein Hauptthema ist: Kann man
prinzipiell die Seele oder die bzw. Dinge der Außenwelt erkennen? Locke möchte auch
Grundlagen für die Naturwissenschaften herstellen: Inwieweit kann man die Natur
erkennen?
1. „Nachdem wir uns so eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns
quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, dass wir einen
falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig
unsere eigenen geistigen Fähigkeiten prüfen und zusehen müssten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei“ (Versuch, Bd. 1, S. 7).
2. Es ist Lockes Ziel, „Ursprung, Gewissheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis zu
untersuchen, nebst den Grundlagen und Abstufungen von Glauben, Meinung und
Zustimmung“. Daher will er sich „gegenwärtig nicht auf eine naturwissenschaftliche
Betrachtung des Geistes einlassen oder … prüfen, worin sein Wesen bestehe“ (Versuch,
Bd. 1, S. 22).
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3. Der Aufbau von Lockes Essay über den menschlichen Verstand, welcher aus vier
Teilen (=Büchern besteht): (1) Kritik des Innatismus (Kapitel 1: Einleitung); (2) Das
Material der Erkenntnis (Ideen); (3) Sprache; (4) Erkenntnis und Meinung.
Das erste Buch stellt eine Kritik des Innatismus dar. Er entwickelt eine Vielzahl an
Argumenten, um angeborene Ideen abzulehnen. Seine Grundthese lautete: Nihil est in intellectu quod non (prius) fuerit in sensibus (Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den
Sinnen gewesen wäre). Das zweite Buch befasst sich mit dem Material der Erkenntnis, dem
Denken im Allgemeinen. Das menschliche Bewusstsein gleicht bei der Geburt einem weißen
Blatt Papier (einer tabula rasa), das durch die Erfahrungen erst beschrieben wird. Den
Ideenbegriff fasst Locke sehr weit und versteht darunter alles, was uns beim Denken
beschäftigt. Im dritten Buch untersucht Locke die Rolle der Sprache. Buch Nummer Vier
behandelt die komplexen Ideen und widmet sich den Grenzen der Erkenntnis und dem
Verhältnis von Begründung und Glauben. Erkenntnis drückt sich in Aussagesätzen aus, diese
können wahr oder falsch sein; dafür braucht man aber Ideen � propositionale Erkenntnis.
Seine Frage lautet: Wo kommen die Ideen her? Er will eine positive Theorie über den
Ursprung der Erkenntnis entwickeln. Sein Hauptziel ist dabei die Kritik am angeborenen
Denken sowie den angeborenen Prinzipien.
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5. Einheit (01.12.2009) Prof. Dr. Udo Thiel John Locke, Ein Essay über den menschlichen Verstand (1690). Lockes Kritik am Innatismus. Lockes Begriff der Erfahrung. Lockes weitgefasster Ideenbegriff. Einfache und komplexe Ideen. Lockes Kritik an der cartesischen Lehre vom Wesen der Seele.
III. LOCKES KRITIK DES INNATISMUS (ESSAY 1)
Der Innatismus besagt, dass einige unserer Ideen angeboren sind. Zur Zeit Lockes war jene
Lehre weit verbreitet. Sie geht jedoch bereits auf die Antike zurück aber, ist vor allem durch
Descartes These, die Gottesidee sei dem menschlichen Geist angeboren, wichtig. Locke gibt
in seiner Kritik jedoch keine Vertreter an. Diese These des Innatismus besagt aber nicht, dass
alle Erkenntnisse dem menschlichen Geist angeboren sind. Viele übernahmen diese Ansicht
ohne sie zu argumentieren, wohingegen sich bei Descartes doch Ansätze einer
Argumentation finden lassen. Locke wendet sich gegen den Innatismus als eine Lehre, nach
der manche Prinzipien (nicht alle) angeboren sind (z.B. bei Descartes die Gottesidee). Die
These des Innatismus besagt aber nicht, dass alle Erkenntnisse dem menschlichen Geist
eingeboren sind. Sondern (a) nur fundamentale Prinzipien bzw. (b) die Ideen (z.B.
Gottesidee). Locke lehnt eher eingeborene Prinzipien als Ideen ab. Locke unterteilt die
Prinzipien in theoretische (spekulative) und praktische; so wäre ein Beispiel für ein
theoretisches Prinzip z.B. „p oder non-p“ � etwas kann nur entweder zutreffen oder nicht
zutreffen (= Prinzip des verbotenen Widerspruchs). Dieses Prinzip ist evident und universal
gültig sowie Grundlage unseres Denkens, daher wird es oft als „angeborenes Prinzip“
betrachtet. Locke meint nun, dass dieses - wie auch andere solcher Prinzipien - evident und
universal gültig sind. Dies erklärt er aber auf andere Weise als durch die Angeborenheit.
Dieser behauptet nämlich nicht, dass dieses Prinzip nicht gilt; er räumt sehr wohl ein, dass
diese Prinzipien evident seien. Er argumentiert lediglich gegen den Schluss von der Evidenz
auf die Angeborenheit eines solchen Prinzips. Neben den theoretischen Prinzipien gibt es
auch noch die praktischen Prinzipien der Moralität. Wären diese angeboren, dann hätten wir
eine objektive und zugleich universelle Grundlage für Moralität. Locke lehnt jedoch, wie
schon gesagt, angeborene Prinzipien ab. Ihm wurde daher unter anderem ein ethischer
Relativismus vorgeworfen. Dies trifft jedoch nicht zu, da er meint, dass es grundlegende,
universelle moralische Prinzipien gibt. Diese sind im Gegensatz zu den theoretischen
Prinzipien jedoch nicht evident, sondern bedürfen der Begründung durch den menschlichen
Geist. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es sich keineswegs um einen
moralischen Relativismus handelt. Denn auch Locke meinte, es gäbe grundlegende Prinzipien
der Moralität, jedoch stellt Locke die Evidenz dieser Prinzipien in Frage. Er fordert hingegen
eine Begründung jener Prinzipien, meint aber auch, selbige seien nicht allein durch Vernunft
begründbar. Es existieren zwei Versionen vom Ursprung der Prinzipien im Innatismus:
(1) Sie werden bei der Geburt von Gott eingeprägt (naive Fassung);
(2) Wir haben ein implizites Wissen von den Prinzipien und bestimmte Fähigkeiten, die es
erlauben, die Prinzipien grundsätzlich zu erkennen. Das Wissen ist jedoch nicht voll
entwickelt; wir haben eine Disposition zu Erkennen (implizite Fassung).
Lockes Kritik bezieht sich auf beide Versionen. Ad Version 1: Durch den Innatismus kann der
„universal consent“, die allgemeine Zustimmung zu den Prinzipien, erklärt werden und
umgekehrt. Locke sagt jedoch: Die allgemeine Zustimmung ist nur eine notwendige, nicht
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eine hinreichende Bedingung für die Angeborenheit der Prinzipien; ja, sie ist nicht einmal
notwendig, da es Menschen gibt, die diese Prinzipien nicht kennen oder ihnen mangels
Verständnis nicht zustimmen könnten (so z.B. Kinder). Dies ist besonders bei theoretischen
Prinzipien - wie dem Prinzip des verbotenen Widerspruchs - der Fall. Praktische bzw.
moralische Prinzipien unterscheiden sich davon. Ad Version 2, nach der Menschen eine
implizite Kenntnis der Prinzipien besitzen und grundsätzlich fähig sind, diese zu erkennen:
Locke meint, dass dies einer Aufgabe des Innatismus gleichkommt. Man kann nicht leugnen,
dass Menschen Fähigkeiten zu erkennen besitzen. Doch dies kann keine Angeborenheit von
Prinzipien begründen. Locke vertritt einen grundlegenden Gedanken der Aufklärung; nämlich
das Prinzip des selbstständigen Denkens.
1. “Für manchen ist es eine ausgemachte Sache, dass im Verstand gewisse angeborene
Prinzipien vorhanden seien, gewisse primäre Begriffe …, die dem Geist des Menschen
gleichsam eingeprägt sind. Diese empfange die Seele ganz zu Anfang ihrer Existenz und
bringe sie mit sich in die Welt“ (Versuch, Buch I, Kap.i. [i. e. ii], §1; Bd. 1, S. 29).
2. „Wenn die Fähigkeit des Erkennens als die von Natur gegebene Einprägung betrachtet
wird, so sind dieser Anschauung zufolge sämtliche Wahrheiten, die jemand irgendeinmal erkennen kann, ausnahmslos angeboren. Damit aber liefe diese so
wichtige Frage auf nichts weiter hinaus als auf eine sehr ungeeignete Ausdrucksweise,
die während sie angeblich das Gegenteil besagt, in Wirklichkeit nichts anderes
behauptet als diejenigen, die angeborene Prinzipien leugnen“ (Versuch, Buch I, Kap. ii,
§5; Bd. 1, S. 32).
3. „Denn niemand hat, denke ich, jemals bestritten, dass der Geist fähig ist,
verschiedene Wahrheiten zu erkennen. Die Fähigkeit, so sagt man, sei angeboren, die
Kenntnis erworben. Aber wozu dann ein solcher Streit um bestimmte angeborene
Axiome?“ (Versuch, Buch I, Kap. ii, §5; Bd. 1, S. 32).
4. „Nachdem man erst einige allgemeine Sätze gefunden hatte, die, sobald sie
verstanden wurden, nicht anzuzweifeln waren, war es allerdings nur noch ein kurzer
und leichter Schritt bis zu der Folgerung, dass jene Sätze angeboren seien. … Es war für
die, die sich als Meister und Lehrer aufspielten, von nicht geringem Vorteil, wenn sie das
zum Prinzip aller Prinzipien machten, dass Prinzipien nicht in Zweifel gezogen werden
dürften. Denn war es erst einmal zum Grundsatz erhoben, dass es angeborene
Prinzipien gebe, so sahen sich deren Anhänger gezwungen, bestimmte Lehren als
angeboren anzuerkennen; damit aber wollte man ihnen den Gebrauch ihrer eigenen
Vernunft und Urteilskraft entziehen und sie dazu veranlassen, diese Lehren auf Treu und Glauben anzuerkennen. In dieser Haltung blinder Leichtgläubigkeit ließen sie sich von
gewissen Leuten leichter regieren und besser ausnützen, die das Geschick und das Amt
hatten, ihnen Prinzipien beizubringen und sie zu lenken. Auch verleiht es einem
Menschen keine geringe Macht über den andern, wenn er die Autorität besitzt,
Prinzipien zu diktieren und unantastbare Wahrheiten zu lehren oder einem andern das
als angeborenes Prinzip aufzuzwingen, was den eigenen Zwecken des Lehrers dienlich
sein kann“ (Versuch, Buch I, Kap. iv, § 25 [i.e. 24]; Bd. 1, S. 103-104).
Locke fragt, was es bedeute zu sagen, wir hätten implizite Kenntnis. Wenn Prinzipien in
unserem Geist sind, müssten wir sie eigentlich erkennen können. Locke meint, man gibt den
Innatismus eigentlich auf, da der Innatismus davon ausgeht, bestimmte Prinzipien seien
angeboren. Wenn nur bestimmte Fähigkeiten angeboren sind, dann kann man behaupten,
dass alles angeboren ist (vgl Handzettel Punkt 2) � natürlich haben wir erkenntnis-
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theoretische Fähigkeiten, aber beim Innatismus geht es um fundamentale Prinzipien. Zu
Punkt 3: Lockes Strategie scheint es zu sein, darzulegen, dass, sollte man den Innatismus
verteidigen wollen, müsse man eine extreme Version von Position (1) vertreten; da bei der
zweiten Position der Innatismus nämlich viel zu trivial wird. Frage: Gibt es eine Version des
Innatismus, die zwischen den beiden Versionen liegt (bzw. gibt es Dispositionen zur
Erkenntnis ganz bestimmter Prinzipien (vgl Leibniz). Locke äußert auch noch andere
Bedenken zum Innatismus (vgl Handzettel Punkt 4); hierbei geht es um den Gedanken der
Aufklärung (Locke galt als einer der ersten Aufklärer) und damit des Selbst–Denkens. Wahr
und gültig ist nur etwas, wenn es durch die eigene Vernunft als wahr und gültig erkannt
wurde (vgl Handzettel Punkt 5).
5. „Denn ich meine, wir könnten ebenso gut hoffen, mit den Augen anderer zu sehen,
wie wir erwarten können, mit ihrem Verstande zu erkennen. In dem Maße, wie wir
selber die Wahrheit und die Vernunft betrachten und erfassen, besitzen wir auch reale
und wahre Erkenntnis“ (Versuch, Buch I, Kap. iv, § 24 [i.e. 23]; Bd. 1, S. 102-103).
6. „Um vorurteilsfreie Leser von der Irrigkeit dieser Annahme [des Innatismus] zu
überzeugen, würde es genügen, wenn ich nur zeigte (was mir hoffentlich in den folgenden Teilen dieser Abhandlung gelingen wird), wie sich die Menschen allein durch
den Gebrauch ihrer natürlichen Fähigkeiten ohne Zuhilfenahme irgendwelcher
angeborenen Eindrücke alle Kenntnisse, die sie besitzen, aneignen und ohne solche
ursprünglichen Begriffe oder Prinzipien zur Gewissheit gelangen können“ (Versuch, Buch
I, Kap. i [i. e. ii], § 1; Bd. 1, S. 29).
Der Innatismus lässt sich leicht für Macht und Autorität missbrauchen. Daher haben die
Fragen nach dem Innatismus nicht nur eine erkenntnistheoretischen Hintergrund, sondern
auch einen politischen. Bestimmte geistige Fähigkeiten, wie z.B. die Fähigkeit der Perzeption,
sind „angeboren“. Es sind nur keine Prinzipien „angeboren“, sondern die Erkenntnis muss
erworben werden durch tätige Vernunft. Hier ist Locke noch nicht auf eine empiristische
Denkweise festgelegt. Was die Quelle von Erkenntnis ist, Vernunft oder Erfahrung, lässt er
an dieser Stelle (am Anfang des ersten Buchs) noch offen.
IV. LOCKES ALTERNATIVE: ERFAHRUNG ALS URSPRUNG DER IDEEN
Für Locke ist folgende Definition von „Idee“ gültig (heute ist der Begriff meist enger gefasst):
Eine Idee ist ein mentaler Inhalt, z.B. auch eine Farbwahrnehmung; aber eigentlich alles, was
im Geist ist. Das Ziel des zweiten Buchs ist es zu zeigen, wie der menschliche Geist Erkenntnis
ohne angeborene Ideen gewinnen kann. Der Ursprung der Ideen bzw. des Erkenntnis-
materials ist die Erfahrung! Locke bedient sich einer Tabula rasa-Metapher (Geist als Tabula
rasa, der erst durch die Erfahrung gefüllt werden muss).
Erfahrung als Quelle des Erkenntnismaterials: „Nehmen wir also an, der Geist sei, wie
man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ... ohne alle Ideen; wie werden ihm diese dann
zugeführt? … Woher hat er all das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis?
Ich antworte darauf mit einem einzigen Wort: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich
unsere gesamte Erkenntnis, von ihr leitet sie sich letztlich her“ (Versuch, Buch II, Kap. i, §
2; Bd 1, S. 107-108).
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V. SENSATION UND REFLEXION: EINFACHE & KOMPLEXE IDEEN
Die Erfahrung teilt sich in äußere (Sensation) und innere (Reflexion/innerer Sinn). Mit dem
„inneren Sinn“ können wir uns auf mentale Inhalte beziehen. Die angeborenen Fähigkeiten
sind die mentalen Operationen, die wir auf Ideen anwenden können. Diese mentalen
Operationen können aber auch selbst Gegenstand werden, z.B. als Idee vom Erinnern. Die
Unterscheidung in innere und äußere Erfahrung zieht sich durch bis zu Immanuel Kant. Die
Ideen werden unterteilt in einfache und komplexe. Einfache Ideen werden passiv durch den
menschlichen Geist mittels Sensation und Reflexion gebildet. Komplexe Ideen werden
erschlossen durch mentale Operationen. Komplexe Ideen lassen sich noch einmal
unterteilen:
(1) Substanz: bestehend aus einfachen Ideen, wie Farbe, Größe usw (z.B. „Auto“);
(2) Relationen: durch Vergleiche (z.B. Identität und Verschiedenheit);
(3) Modi: Konstruktionen des menschlichen Geistes (z.B. Gerechtigkeit, Dreieck, Mord).
Die einzige Verbindung des Menschen zur Außenwelt sind die einfachen Ideen, die aus
direkter Erfahrung (nämlich aus äußerer Erfahrung bzw. Sensation) stammen. Einfache Ideen
sind z.B. Gestalt, Farbe und so weiter. Die Frage ist nun, ob ich wirklich nur diese und nicht
gleich eine komplexe Gestalt wie z.B. einen Tisch wahrnehme; dies würde die Aktivität des
menschlichen Geistes zeigen. Locke behauptet aber in diesem Fall eine Passivität. Er meint
damit, dass ich beim Sehen automatisch eine Wahrnehmung habe. Diese wird nicht vom
Geist konstruiert. Einwand gegen Locke: Er hätte dies expliziter machen müssen.
Sensation und Reflexion: Die „Quelle der meisten unserer Ideen, die ganz und gar von
den Sinnen abhängen und durch sie dem Verstand zugeleitet werden, nenne ich
Sensation. Die andere Quelle [Reflexion], aus der die Erfahrung den Verstand mit Ideen
speist, ist die Wahrnehmung der Operationen des eigenen Geistes in uns, der sich mit
den ihm zugeführten Ideen beschäftigt“ (Versuch, Buch II, Kap. i, § 3-4; Bd 1, S. 108).
Einfache Ideen: Eine einfache Idee enthält nichts in sich „als eine einheitliche
Erscheinung oder Vorstellung im Geist; deshalb lässt sie sich auch nicht in verschiedene
Ideen zerlegen“ (Versuch, Buch II, Kap. ii, § 1; Bd. 1, S. 127). „Diese einfachen Ideen, das
Material unserer gesamten Erkenntnis, werden dem Geist nur auf den beiden oben
erwähnten Wegen zugeführt und geliefert, nämlich durch Sensation und Reflexion“
(Versuch, Buch II, Kap. ii, § 2; Bd 1, S. 127).
Komplexe Ideen: „Wenn der Verstand einmal mit einem Vorrat an solchen einfachen
Ideen versehen ist, dann hat er die Kraft, sie zu wiederholen, zu vergleichen und zu verbinden, und zwar in fast unendlicher Mannigfaltigkeit, so dass er auf diese Weise
nach Belieben neue Ideen bilden kann“ (Versuch, Buch II, Kap. ii, § 2; Bd 1, S. 127).
Kurz zusammengefasst: Bei den Ideen unterscheiden wir zwischen einfachen und
komplexen; letztere werden folgendermaßen unterteilt: Substanzen, Relationen und Modi.
Die einfachen Ideen entstammen nur aus direkter Erfahrung � Sensation (Außenwelt) vs.
Reflexion (Innenwelt).
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6. Einheit (24.11.2009) Prof. Dr. Udo Thiel Locke über die Erkenntnis der Außenwelt. Primäre und Sekundäre Qualitäten. Der Begriff der Substanz. Lockes Theorie der persönlichen Identität. Locke über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und die Möglichkeit der Naturwissenschaft
VI. LOCKE ÜBER PRIMÄRE & SEKUNDÄRE QUALITÄTEN
Über die Sensation nehmen wir Eigenschaften und Qualitäten wahr, sie ist die Verbindung
zur Außenwelt. Die Eigenschaften und Qualitäten sind jedoch unterschiedlich beschaffen. So
sind Farben, Geräusche oder Geschmäcker z.B. sehr subjektiv � sie existieren nur im Geist,
werden aber kausal vom Gegenstand hervorgerufen (� Annahme einer Kausalbeziehung
zwischen Körper und Geist). Gestalt, Umfang oder Festigkeit sind dagegen im Gegenstand
selbst gegeben und daher objektiv. Es existiert zwar keine genaue Entsprechung zwischen
Eigenschaft und Gegenstand, aber z.B. die Gestalt als Eigenschaftsart ist vorhanden, auch
wenn ich mich in der Form des Gegenstands irre.
Primäre Qualitäten (z.B. Ausdehnung, Umfang oder Gestalt) sind solche, die jeder Körper
hat, auch wenn ich sie falsch wahrnehme. Meist sind dies geometrische Eigenschaften.
Sekundäre Qualitäten hängen dagegen vom Wahrnehmenden ab.
KÖRPER GEIST
Qualitäten Ideen
Primäre von primären Qualitäten
Ausdehnung von Ausdehnung
Gestalt von Gestalt Umfang von Umfang
Sekundäre von sekundären Qualitäten
‚Kombinationen‘ von primären Farben, Geräusche, Gerüche, etc.
Qualitäten: Texturen, Strukturen
Primäre Qualitäten: „Die besondere Größe, Zahl, Gestalt und Bewegung der Teile des
Feuers oder des Schnees ist in diesen Gegenständen wirklich vorhanden, gleichviel ob
sie von den Sinnen eines Menschen wahrgenommen werden oder nicht“ (Versuch, Buch
II, Kap. viii, § 17; Bd 1, S. 151).
Ideen von Sekundären Qualitäten: Anders ist es bei Farben und Tönen und Gerüchen. „Man schalte bei ihnen die Sensation aus, man lasse die Augen kein Licht und keine
Farben sehen, das Ohr keine Töne hören, den Gaumen nicht schmecken, die Nase nicht
riechen, so schwinden und vergehen alle Farben, Geschmacksarten, Gerüche und Töne,
da sie solche partikularen Ideen sind, und werden auf ihre Ursachen reduziert, das heißt
auf Größe, Gestalt und Bewegung der Teile“ (Versuch, Buch II, Kap. viii, § 17; Bd. 1, S.
151).
Locke verwendet die Hypothese von der Natur als Materie, die aus Korpuskeln bzw. Atomen
besteht (eine von R. Boyle erneuerte Hypothese). Bei der Wahrnehmung von Farbe
geschieht folgendes: Eine Interaktion der Korpuskeln bzw. Atome des Körpers mit dessen
primären Qualitäten produziert eine Oberfläche („Textur“), welche im Geist zu einer
Farbwahrnehmung führt. Locke gibt zu, dass dies auf unbekannte Weise geschieht. Die
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Farbe, die wir wahrnehmen, muss also nicht der Außenwelt entsprechen. Die
Farbwahrnehmung hängt nicht mit etwas zusammen, was selbst farbig ist.
Texturen: „Zerstampft man eine Mandel, so verwandelt sich die reine weiße Farbe in
eine schmutzige, der süße Geschmack in einen öligen. Welche andere reale Veränderung kann aber der Stoß der Mörserkeule in einem Körper zustande bringen als
nur eine Veränderung seiner Textur?“ (Versuch, Buch II, Kap. viii, § 20; Bd. 1, S. 153).
Kritik an Lockes Theorie: (1) Auch primäre Qualitäten sind subjektiv: So kommen kleinen
Tieren große Dinge riesig vor; auch die Größe hängt vom wahrnehmenden Geist ab. Replik:
Es gibt aber einen Umfang, den man messen kann, unabhängig vom wahrnehmenden
Subjekt. (2) Sekundäre Qualitäten wie Farbe und so weiter sind nicht nur subjektiv: Es gibt
Einigkeit darüber, was „rot“ ist und es kann daher etwas im Gegenstand sein, was dies
auslöst. Replik: Lockes Anhänger behaupten nicht, dass wir unsere alltägliche Redeweise
(z.B. über „rot“) aufgrund der Theorie ändern müssen.
VII. SUBSTANZBEGRIFF
Substanz im Allgemeinen bzw. reine Substanz: Es muss etwas geben, was die Eigenschaften
zusammenhält bzw. derer Trägerin ist, denn wir denken uns die Eigenschaften als zu einem
Ding gehörend � ein Substrat. Dieses ist nun die Substanz.
1. „Unsere Idee, der wir den allgemeinen Namen Substanz geben, ist … nichts anderes
als der vorausgesetzte, aber unbekannte Träger der Qualitäten, die wir existieren sehen.
Wir nehmen an, dass sie nicht sine re substante, ohne ein sie Tragendes, bestehen
können; deshalb nennen wir den Träger substantia“ (Versuch, Buch II, Kap. xxiii, § 2; Bd.
1, S. 367).
Die Fragestellung lautet: Woher kommt diese Idee, da sie notwendig in unserer Sicht auf die
Außenwelt vorhanden ist? Die Idee der Substanz stammt nicht aus der Erfahrung laut Locke,
ist aber notwendig für die Sicht auf die Außenwelt; auch kann die Idee der Substanz kann
nicht angeboren sein.
2. „Es ist die Idee der Substanz, die wir durch Sensation oder Reflexion weder besitzen
noch erlangen können“ (Versuch, Buch I, Kap. iii [i.e. Kap. iv], § 19 [i.e. § 18] ; Bd. 1, S.
95).
Es sind zwei Dinge nötig, um sich auf die Außenwelt beziehen zu können: Erfahrung und
Aktivität des Verstandes (!). Diese Aktivität des Verstandes fügt das Substrat bzw. die
Substanzidee hinzu; diese ist auch für die Bildung von Erfahrung wichtig. Der Empirismus ist
mit dieser Ansicht kompatibel, wie auch mit der Korpuskeltheorie, obwohl Korpuskeln nicht
wahrnehmbar sind, da auch der Empirist auf Erfahrung basierende Hypothesen aufstellen
kann. Wir unterscheiden Ideen bestimmter Substanzarten (z.B. Gold, Eisen und dergleichen).
Wir kommen zu diesen Ideen durch die Erfahrung.
3. „Wenn wir von uns auf diese Weise eine dunkle und relative Idee von der Substanz im allgemeinen gebildet haben, können wir uns die Ideen von einzelnen Arten von
Substanzen erwerben, indem wir diejenigen Kombinationen von einfachen Ideen
zusammenfassen, die, wie uns die Erfahrung und Beobachtung unserer Sinne zeigen,
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zusammen existieren; wir nehmen deshalb von ihnen an, dass sie aus besonderen
inneren Beschaffenheit oder unbekannten Wesenheit jener Substanz herrühren. So
kommen wir zu den Ideen Mensch, Pferd, Gold, Wasser und dergleichen mehr“
(Versuch, Buch II, Kap. xxiii, § 3; Bd. 1, S. 367-8).
Durch bestimmte gemeinsame Eigenschaften und Ähnlichkeiten können wir uns Ideen von
den Gegenständen beschaffen. Die Einteilung in Arten ist eine subjektive Leistung des
menschlichen Verstandes aufgrund wahrnehmbarer Eigenschaften, die in unserer Erfahrung
zusammengehören. Die Einteilung existiert nur als unsere innere Begrifflichkeit; somit nur in
unserem Geist. Die Einteilung ist daher nicht „natürlich“. Locke wendet sich gegen die
scholastische Tradition, für die die Struktur von der Natur vorgegeben ist. Was bedeutet dies
jedoch für unsere Erkenntnis?
4. Das Klassifizieren der Dinge unter Artbezeichnungen „ist das Werk des Verstandes,
der auf Grund der Ähnlichkeiten, die er bei ihnen beobachtet, veranlasst wird, abstrakte allgemeine Ideen zu bilden, die er im Geist unter Beifügung von Namen als Muster
aufstellt … Je nachdem sich nun zwischen diesen und den existierenden Einzeldingen
eine Übereinstimmung ergibt, werden die Einzeldinge einer bestimmten Art
zugewiesen, erhalten einen entsprechenden Namen oder werden der betreffenden
Klasse zugeteilt. Denn wenn wir sagen, dies ist ein Mensch, jenes ein Pferd … was tun
wir dabei anderes, als dass wir die Dinge unter verschiedene Artbezeichnungen
einordnen, weil sie mit denjenigen abstrakten Ideen übereinstimmen, zu deren Zeichen
wir jene Namen gemacht haben?“ (Versuch, Buch III, Kap. iii, § 13; Bd. 2, S. 18).
VIII. REALE VS. NOMINALE ESSENZEN
Essenz bedeutet Wesen(heit); so besteht jedes Wesen aus einer Form (Wesenheit). Diese
Theorie steht in der aristotelischen Tradition. Diese Form, die Materie, individualisiert mich
als Mensch. Locke weist die Existenz einer allgemeinen Wesenheit zurück. Die Formen bzw.
Essenzen bestehen nur im Geist � sie sind keine Universalien. Nominale Essenz: Diese ist die
Idee von einer Art, Wesenheit. Sie ist eine „abstrakte Idee“ bzw. deren Gehalt. Sie muss aber
in der Wirklichkeit existieren, sondern ist lediglich eine Konvention. Reale Essenz: Diese ist
eine „reale Beschaffenheit“, etwas, das im Gegenstand existiert, was die nominale Essenz
hervorruft. Diese reale Essenz muss es geben, aber wir können sie nicht unbedingt erkennen.
Es macht Sinn die realen Essenzen durch die Korpuskeltheorie zu erklären, dies ist jedoch
eine Hypothese, niemals Gewissheit. Selbst wenn wir die Hypothese von den Korpuskeln und
ihrer mechanischen Interaktion für wahr befinden, haben wir nie wirkliches Wissen darüber
(z.B. über den Aufbau eines Dings). Wir befinden uns hier im Bereich der Wahrscheinlichkeit.
John Locke ist kein radikaler Skeptiker; so nimmt er eine Außen- bzw. Körperwelt an. Er sagt
aber auch, dass wir diese nie ganz erkennen können. Auch mentale Operationen bzw.
Reflexion sind nicht besser erkennbar (wie allerdings Descartes meinte). Wir haben
Erfahrung von diesen (z.B. erinnern). Wir denken auch hier ein ausführendes Subjekt (Geist)
dazu, über dessen Wesen wir jedoch nichts sagen können. Es ist untentscheidbar, ob der
Geist materiell oder immateriell ist.
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7. Einheit (15.12.2009) Prof. Dr. Udo Thiel Lockes Einfluss auf die Philosophie der Folgezeit. Lockes Kritiker. David Hume, Eine
Untersuchung über den menschlichen Verstand (1748); Ein Traktat über die menschliche
4atur (1739/1740). Humes Analyse des Kausalitätsbegriffs.
Das Programm für heute besteht einerseits aus abschließenden Bemerkungen zur
theoretischen Philosophie von John Locke. Dabei geht es vor allem auch um den Unterschied
zwischen Nominal- und Realessenzen und was diese Differenzierung für den Erkenntnis-
begriff bedeutet. Anschließend werden wir noch einige Bemerkungen zum Subjektsbegriff
bei Locke hören. Die Frage nach dem Subjekt ist in der Philosophie der Neuzeit generell eine
zentrale; so eben auch bei Locke. Der nächste Philosoph mit dem wir uns dann beschäftigen
ist David Hume; wir werden uns näher mit seinem Begriff der Kausalität aus dem Bereich der
theoretischen Philosophie beschäftigen.
IX. LOCKE: GRENZEN DER ERKENNTNIS
Beim letzten Mal ging es um die Bedeutung bzw. den Unterschied zwischen Lockes realen
und nominalen Essenzen. Nominale Essenzen sind für Locke die abstrakten Ideen bzw. die
Begriffe, die wir von den Dingen haben; quasi die Inhalte der abstrakten Ideen. So bündelt
meine abstrakte Idee von Gold die Eigenschaften von
Gold, die wir wahrnehmen und aus den für uns der
Begriff der Idee besteht. Aufgrund dieser abstrakten
Begriffe teilen wir die äußere bzw. die Körperwelt in
Arten bzw. Klassen ein (unter anderem Baum, Tier,
Pflanze und so weiter). Das geschieht aufgrund von
wahrgenommenen Ähnlichkeiten von Gegenständen,
welche wir dann zu bzw. in abstrakten Ideen bzw.
Begriffen bündeln. Diese Bündelung macht die
nominale Essenz der Dinge aus, auf die wir diese
abstrakten Begriffe anwenden. Die nominalen
Essenzen existieren nicht in den Gegenständen
selbst, sondern sie sind eine Leistung des
menschlichen Verstands.
In weiterer Folge unterscheidet Locke dann zwischen
den realen Essenzen und den nominalen Essenzen. Er
braucht den Begriff einer realen Essenz, da er weiß,
dass diese wahrnehmbaren Eigenschaften aus denen
wir die abstrakten Ideen bilden, irgendwo
herkommen müssen. Die realen Essenzen bilden die
innere Beschaffenheit der Dinge, aus denen die uns
wahrnehmbaren Eigenschaften hervorgehen.
Nominale und reale Essenzen fallen in Bezug auf
körperliche Substanzen bzw. Substanzen überhaupt
nicht bzw. niemals zusammen Über unsere
abstrakten Ideen bzw. Begriffe können wir nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass sie die
realen Essenzen der körperlichen Substanzen erfassen. Dies aus dem Grund, da unsere
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abstrakten Ideen nur mithilfe der wahrnehmbaren Eigenschaften gebildet werden (können).
Was aber diese wahrnehmbaren Eigenschaften verursacht und was diese genau sind,
können wir nicht erkennen. Die abstrakten Ideen werden aufgrund dessen gebildet, was wir
auch wahrnehmen können. Die „sensations“ sind die einzige Quelle unserer abstrakten
Ideen; darüber hinaus haben wir keinen weiteren Zugang zu der Natur der realen Essenzen.
Daraus lassen sich die Grenzen von Locke bezüglich der Grenzen der menschlichen
Erkenntnis in Hinblick auf die Außenwelt erkennen. Locke hat in seiner These ein skeptisches
Element in Bezug auf die Außenwelt, da die wahre Natur der Dinge hinter dem liegt, was der
Mensch erkennen kann. Locke stellt nicht die Existenz der Außenwelt in Frage und ist
deshalb auch kein radikaler Skeptiker. Descartes hingegen erwähnt die Nichtexistenz der
Außenwelt als Möglichkeit, obwohl er am Ende nicht dabei bleibt bzw. nicht die
Nichtexistenz der Außenwelt behauptet. Locke erwähnt diese Vorstellung einer nicht-
existierenden Außenwelt nicht einmal. Er stellt die Existenz der Außen- bzw. Körperwelt
nicht in Frage und braucht bzw. will deshalb diese gar erst nicht zu beweisen (wie es eben
Descartes getan hat). Der radikale Skeptizismus wird von Locke nicht widerlegt oder
überhaupt erst wirklich behandelt. Dazu finden sich eigentlich nur kurze Äußerungen in
seinem Essay, da er diese Gedanken als eine abstruse Annahme abtut, welche man nicht
ernst zu nehmen braucht. Lockes Position ist nicht unproblematisch, da wir als Philosophen
ja genau wissen wollen, ob unsere Annahmen gerechtfertigt sind oder nicht. Bei Locke haben
wir bezüglich der Erkenntnis der Außenwelt ein Element des Skeptizismus, da hier die
Existenz der Außenwelt angenommen wird, aber die Erkenntnis von der Natur bzw. von
deren inneren Beschaffenheit durch uns Menschen begrenzt ist. Wir können uns nie darauf
verlassen, dass unsere Begriffe mit absoluter Gewissheit die realen Essenzen der realen Welt
darstellen.
1. Nominale Essenz: „Das Maß und die Begrenzung jeder Art …, wodurch sie zu dieser
besonderen Art gemacht und von anderen unterschieden wird, ist das, was man ihre
Essenz nennt. Dies ist nichts anderes als die betreffende abstrakte Idee, der der Name
beigefügt ist, so dass alles, was diese Idee enthält, für jene Art wesentlich ist. Obwohl
dies die gesamte Essenz der natürlichen Substanzen ist, die wir kennen oder durch die
wir sie in Arten einteilen, so bezeichne ich sie doch mit einem eigenen Namen als
nominale Essenz … So ist zum Beispiel die nominale Essenz des Goldes jene komplexe Idee, die durch das Wort ‚Gold‘ bezeichnet wird. Das kann beispielsweise ein gelber
Körper sein, der ein bestimmtes Gewicht besitzt, dehnbar, schmelzbar und
feuerbeständig ist“ (Versuch, Buch III, Kap. vi, § 2; Bd. 2, S. 50).
2. Reale Essenz: „Die reale Beschaffenheit von Substanzen ..., durch die diese nominale
Essenz und alle Eigenschaften der betreffenden Art bedingt sind, … kann … reale Essenz
genannt werden ... Die reale Essenz [von Gold] … ist die Beschaffenheit der sinnlich nicht
wahrnehmbaren Teilchen jenes Körpers, auf der die eben genannten ‚‘Qualitäten und all
die anderen Eigenschaften des Goldes beruhen“ (Versuch, Buch III, Kap. vi, § 2; Bd. 2, S.
50).
Wie steht es jetzt mit der Innenwelt? Die Existenz der Außenwelt ist bei Locke nicht
anzuzweifeln. Was ist aber mit dem eigenen ich, dem Subjekt? Können wir mehr über das
eigene Ich als über die Außenwelt erkennen? Im Gegensatz zu Descartes wird Locke diese
Frage mit einem klaren Nein beantworten! Locke argumentiert, dass wir das Wesen des
menschlichen Geistes bzw. der Seele genauso wenig wie die Körperwelt erkennen können.
Locke hat ein Argument für diese These (ähnlich in Bezug auf die Außenwelt): Was können
wir über den menschlichen Geist erkennen bzw. wissen? Nur das, was uns über ihr an
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Erfahrung zugänglich ist. Die hier relevante Erfahrung ist die innere Erfahrung („reflection“ bzw. „innerer Sinn“). „Reflections“ und „sensations“ sind die einzigen Erfahrungs- bzw.
Erkenntnisquellen unserer Ideen. Durch die „reflections“ bzw. durch die Innenwelt nehmen
wir die Operationen des menschlichen Geistes wahr (z. B. wenn ich mich erinnere, was ich
gestern tat, die Operationen des Vergleichens oder dass wir abstrahieren können). Diese
mentalen Operationen können wir ausführen, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf den
menschlichen Geist selbst richten. Diese Ideen von mentalen Operationen sind „ideas of refletion“, „Ideen des inneren Sinns“. Unsere Begriff vom menschlichen Geist bzw. der
menschlichen Seele, besteht aus dem Bündel dieser mentalen Operationen; ein Wesen das
vergleichen bzw. abstrahieren kann und so weiter nennen wir Seele bzw. Geist. Das heißt,
unser Begriff vom menschlichen Geist bzw. von der menschlichen Seele kann bestimmte
Aktivitäten ausführen bzw. hat die Fähigkeit dazu. Natürlich führen wir nicht ständig solche
mentalen Operationen aus. Das heißt weiterhin, dass unsere Erkenntnis durch den
menschlichen Geist bei diesen inneren Operationen beschränkt ist; somit können wir wieder
nicht wissen, was hinter der Außenwelt steckt bzw. steht. Hier bleibt für Locke die Frage
offen, ob der menschliche Geist ein materielles oder immaterielles Wesen ist. Das können
wir mit den Mitteln des menschlichen Verstandes nicht erkennen. Im Gegensatz dazu steht
Descartes mit seiner Meinung, dass der menschliche Geist eine immaterielle Substanz ist und
das Denken und Materie nicht zusammengehen können. Locke ist kein Materialist; er sagt
nicht, dass der menschliche Geist ein materielles Wesen ist. Er sagt, dass wir das Wesen
nicht erkennen können; ebenso wenig, wie wir das Wesen der körperlichen Substanzen nicht
erkennen können. Wir sind beschränkt auf unsere innere und äußere Erfahrung; wir können
einen Begriff vom menschlichen Wesen haben (das menschliche Wesen kann abstrahieren,
vergleichen und dergleichen mehr). Was aber hinter diese Fähigkeiten steckt, liegt aber
jenseits dessen, was der menschliche Verstand erkennen kann; wir können die Realessenz
von denkenden und anderen Substanzen nicht erkennen. Locke hat eine skeptische
Einstellung in Bezug auf die reale Essenz des Geistes und ist auch nicht auf den
Materialismus festgelegt, obwohl später behauptet wurde, dass Locke mit seiner
Argumentation dem Materialismus Tür und Tor geöffnet hat, da nach seiner Theorie die
prinzipielle Möglichkeit besteht, dass der menschliche Geist eine materielles Wesen ist,
obwohl er sich nicht festlegt, ob es nun wirklich so ist oder nicht.
Ein weiterer Unterschied zwischen realen und nominalen Essenzen: Bisher haben wir nur von
der Erkenntnis von Substanzen bzw. der Außenwelt gesprochen. Unsere Ideen und Begriffe
können diese realen Essenzen nicht erfassen. Wir können aber Erkenntnisbehauptungen
über geometrische Formen – z.B. wie bei einem Dreieck - machen. Hier meint Locke, dass wir
prinzipiell in diesem Bereich Erkenntnis von absoluter Gewissheit erreichen können. Wieso
meint Locke, dass hier reale Essenzen und nominalen Essenzen zusammenfallen? Wenn sich
unsere Begriffe auf körperliche Substanzen beziehen, dann sprechen wir von Dingen, die
unabhängig vom menschlichen Verstand existieren; und in diesem Bereich sind wir auf die
Außenwelt angewiesen. Wir haben hier nur unseren menschlichen Zugang zur Außenwelt
durch die Erkenntnis. Bei Dreiecken und Kreisen ist dies anderes, da diese nur Konstrukte
des menschlichen Verstandes sind. Hier haben wir nicht das Problem, dass wir unsere
Begriffe auf etwas beziehen müssen, das vom menschlichen Verstand ganz verschieden ist;
der menschlichen Verstand konstruiert diese Figuren wie Dreieck und Kreis ja selbst; durch
den menschlichen Geist eben. In diesem Fall sind nominale und reale Essenzen – zumindest
prinzipiell – zusammenfallend. Unser Begriff von Dreieck ist nicht nur eine nominale Essenz,
sondern auch eine reale Essenz. Wie können alle Eigenschaften, die wir in Bezug auf solche
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Dinge wahrnehmen, auf diese Weise erkennen. Man kann das innere Wesen des Dreiecks
selbst erkennen, da es vom menschlichen Geist konstruiert wurde und nicht unabhängig von
diesem besteht. In diesem Bereich ist prinzipiell Erkenntnis mit absoluter Gewissheit
möglich. Es kann schon sein, dass ein Individuum, welches - aus Gründen z.B. mangelnder
Existenz - diese Fähigkeit nicht hat. Aber prinzipiell ist der menschliche Geist in der Lage
mathematische und geometrische Wahrheiten absolut zu erkennen. Das gleiche gilt auch
von der Logik, da wir dort ebenso absolute Erkenntnis erreichen können. Der interessante,
aber auch hoch problematische Aspekt dieses Gedanken von Locke besteht aber nicht in
diesem Punkt, sondern in der Behauptung, dass wir auch in der Ethik eine absolute
Erkenntnis erreichen könnten. Auch dort sehen wir, dass Lockes Skeptizismus begrenzt ist, da
er meint, dass wir auch bei den Prinzipien der Moral – z.B. in Bezug auf die generellen
Normen, die uns sagen wie wir uns verhalten sollen - absolute Gewissheit erlangen können.
Das ist eine starke These, die nicht unmittelbar überzeugend sein mag. Auch für Prof. Thiel
selbst erscheint diese These problematisch, aber im Rahmen von Lockes Erkenntnislehre ist
sie zumindest konsistent. Locke meinte, dass es auch hier um Begriffe geht, welche
Konstrukte des menschlichen Verstands sind und somit einfach nicht von der Erfahrung
abgezogen sind. Wenn ich einen moralischen Begriff von Gerechtigkeit bilde, dann gebe ich
nichts wieder, was ich in der Außenwelt zuvor bereits gesehen habe, sondern konstruiere
diesen Begriff mithilfe des menschlichen Verstands. So haben wir eine absolute Geltung
dieses Begriffs unabhängig davon, was in der Außenwelt ist oder passiert (egal ob nun
irgendjemand jemals solch eine moralische Verpflichtung befolgt hat oder nicht). Moralische
Prinzipien können für Locke prinzipiell bewiesen werden, wobei der in seinem Essay nicht
daran geht, diese moralischen Prinzipien auch zu beweisen. Moralische Prinzipien stammen
für Locke nicht aus der Erfahrung, sondern aus reiner Vernunft. Die Begriffe Empirismus und
Rationalismus haben sicherlich einen Sinn laut Prof. Thiel, obwohl die Grenzen oft
verschwimmend sind. Die Unterscheidung von nominalen und realen Essenzen ist nach Locke
auch auf die Mathematik bzw. die moralischen Prinzipien anzuwenden. Zum Schluss unserer
Ausführungen über John Locke möchte Prof. Thiel noch auf seinen Subjektsbegriff eingehen.
X. SUBJEKT & PERSON
Für Locke kann die Natur des menschlichen Geistes als auch der des Subjekts nicht erkannt
werden. Aber dennoch schreiben wir uns im täglichen Leben gewisse Eigenschaften und
Gedanken zu. Um diesen Begriff eines erfahrungsbegabten Subjekts von der unerkennbaren
Seele zu unterscheiden, führt Locke den Begriff der Person ein. Dieser entspricht nicht dem
Alltagsverständnis von Personen. Für Locke müssen wir zwischen Person und Seele,
unterscheiden. Als Menschen sind wir rein körperliche Wesen, als Seele hingegen denkende
Wesen. Die Person ist für Locke die Bewusstseinseinheit, der wir unsere Gedanken und
Handlungen durch unser inneres Bewusstsein zuschreiben. Bei Descartes ist das „Ich“ eine
Substanz, ein Ding. Locke hingegen meint, dass wir das Wesen des menschlichen Geistes
bzw. der denkenden Substanz nicht erkennen können. Für unser erfahrungsmäßiges Leben
ist es irrelevant, worin das Wesen des menschlichen Geistes besteht. Wichtig ist, dass wir
unserem Bewusstsein Gedanken und Handlungen zuschreiben; das nennt Locke Person und
dieser Begriff ist weiter relevant für die Frage, wieso wir über die Zeit hinweg dieselbe
Person bleiben � „Problem der Identität des Ich“. Der entscheidende Punkt hier ist der,
dass die subjektivistische Komponente des Ichbegriffs in dem Begriff der Person enthalten
ist. Nur das Selbstbewusste zählt zu meiner Personalität, was für Locke mit dem Begriff der
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Person ident ist. Gerade die Frage nach der Identität einer Person beantwortet Locke mit
seinem Begriff der Person. Dass ich dieselbe Person bin bedeutet für Locke noch lange nicht,
dass ich derselbe Mensch bin. Das Ich ist einfach eine Vereinigung aus 2 Substanzen – Einheit
aus denkender und körperlicher Substanz. Hier haben wir wirklich – erstmals in der
(Geschichte der) Philosophie – eine Wende hin zum Subjektivismus. Bei Descartes gab es
diesen Gedanken noch nicht, da bei ihm der Geist ein Ding war, die „res cogitans“. Locke war
für diese These zu seiner Zeit (und auch danach) scharfer Kritik ausgesetzt.
Erstens wegen der Tatsache, dass seine Meinung die These von den angeborenen Ideen und
Prinzipien zurückweist. Er meinte überdies auch, dass die moralischen Prinzipien nicht
angeboren oder gottgegeben seien; viele meinten aufgrund dessen, Locke untergrabe
dadurch die Moral. Locke meinte, der Mensch muss die moralischen Prinzipien selbst
kreieren, wobei der menschliche Verstand diese Fähigkeit besitzt. Moralische Prinzipien sind
nach Locke somit nicht vorgegeben bzw. nicht angeboren. Er untergräbt somit die
Objektivität der Moral. Zweitens können wir nach Locke nicht das Wesen des menschlichen
Geistes erkennen und wissen daher nicht, ob dieser immateriell ist oder nicht. Die
Immaterialität ist aber eine in der damaligen Zeit überwiegend anerkannte Voraussetzung
für die Unsterblichkeit der Seele. Irgendwie hatte Locke tatsächlich (unbewusst) die Lehre
von der Unsterblichkeit der Seele in Frage gestellt, obwohl er selbst ein gläubiger Christ war.
Aber seine Philosophie war zumindest Ausgangspunkt für spätere Philosophien; z.B. im
18. Jahrhundert in Frankreich der Materialismus. Denn er meinte, dass es möglich sei, dass
das denkende Wesen ein materielles Wesen ist. Locke hat hier jedenfalls einen ersten Schritt
hin zu einer materialistischen Theorie des Geistes gemacht, obwohl er sich selbst nicht
darauf festgelegt hat. Locke war überhaupt kein Atheist. Er meinte sogar, dass man auch von
der Unsterblichkeit der Seele ohne deren Immaterialität vorauszusetzen ausgehen kann. Er
wollte also seine Philosophie nicht in einen Gegensatz zur Kirche stellen. Leibnitz verfasste
ein Buch, in dem er Lockes Essay Kapitel für Kapitel durchgegangen ist und zu widerlegen
versuchte („Neue Essays über den menschlichen Verstand“). 1705 hatte Leibnitz diese Schrift
veröffentlicht, Locke starb im Oktober 1704. Leibnitz wollte mit seinem Buch mit Locke in
einen kritischen Dialog treten, wozu aber Locke aufgrund seines Todes leider nicht mehr in
der Lage war. Leibnitz hatte daher dieses Buch nicht mehr zu seinen Lebzeiten publiziert; die
Publizierung des Buches erfolgte erst nach seinem Tod 1765. Das Buch von Leibnitz war kein
literarisches Meisterwerk; er hatte es in Dialogform geschrieben (eine Seite vertritt Lockes
Position, die andere die von Leibnitz). Locke war ganz klar auf der empiristischen Seite,
Leibnitz war eher metaphysisch-rationalistisch. Kant wollte in seinem Hauptwerk 1781
(„Kritik der reinen Vernunft“) diesen Gegensatz überwinden. Diese „Auseinandersetzung“
zwischen Locke und Leibnitz war unter anderem für Kants Werk ausschlaggebend. Kant
wollte diesen Gegensatz als auch die Probleme beider Philosophien überwinden. Die Kritik
von Leibnitz ist wichtig, da sie einige gute Elemente bzw. Argumente gegen Locke enthält,
welche für die darauf folgende Philosophie des 18. Jahrhunderts wichtig waren.
Locke über die Grenzen der Erkenntnis: Locke ist „geneigt zu zweifeln, dass, welche
Fortschritte der Mensch auch mit Hilfe seines Fleißes und seiner Versuche in der
Erkenntnis körperlicher Dinge machen möge, eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser
Dinge uns doch stets unerreichbar bleiben wird, weil uns vollkommene und zutreffende
Ideen gerade von denjenigen Körpern fehlen, die uns am nächsten liegen und über die
wir am besten verfügen können … Gewissheit und Demonstration sind Dinge, auf die wir
in diesem Falle keinen Anspruch erheben dürfen“ (Versuch S. 209-210).
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XI. EXKURS AUS WIKIPEDIA ZUR ERKENNTNISTHEORIE JOHN LOCKES
Erkenntnistheorie: Locke lieferte mit und in seinem Werk „An Essay concerning Human
Understanding“ (1690) einen bedeutenden Beitrag zur Erkenntnistheorie. Er befürwortet
zwar die rationale Theologie und die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, die die
rationalistische Philosophie vor allem René Descartes verdankt. Locke wendet sich aber
gegen die Rechtfertigung der Naturwissenschaften aus dem bloßen Denken und sucht ihr
Fundament stattdessen in der Erfahrung. Dennoch nahm er wie Descartes als Ausgangspunkt
der philosophischen Überlegungen den Zweifel an der gegenständlichen Wirklichkeit, an der
Existenz der Außenwelt. Die Aufhebung dieses Zweifels wurde von ihm nun nicht mehr über
den Gottesbegriff vollzogen, sondern empiristisch, angeregt durch Gassendi. In seinem aus
vier Büchern bestehenden Hauptwerk „An Essay concerning Humane Understanding“ (Eine
Untersuchung über den menschlichen Verstand) untersuchte Locke den Ursprung, die
Gewissheit und den Umfang menschlichen Wissens in Abgrenzung zu Glauben, Meinen und
Vermuten. Ausgangspunkt war einerseits Lockes scholastische Ausbildung in Oxford auf Basis
des in England vorherrschenden Nominalismus. Andererseits hatte er sich in seinem
vierjährigen Frankreichaufenthalt intensiv mit Descartes und dessen Vorstellung
angeborener Ideen auseinandergesetzt.
Entsprechend untersuchte Locke im ersten Buch zunächst den Ursprung der Ideen und
entwickelte eine Vielzahl pragmatischer Argumente gegen die Existenz angeborener Ideen
(also Argumente gegen den Innatismus). Seine Grundthese ist die bereits weit vor ihm
formulierte Aussage: „Nihil est in intellectu quod non (prius) fuerit in sensibus.“ („Nichts ist
im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre.“) Das zweite Buch befasst sich
mit dem Zusammenhang von Ideen und Erfahrung. Das menschliche Bewusstsein ist bei der
Geburt wie ein weißes Blatt Papier (tabula rasa), auf das die Erfahrung erst schreibt.
Ausgangspunkt der Erkenntnis ist die sinnliche Wahrnehmung. Er unterschied „äußere
Wahrnehmungen“ („sensations“) und „innere Wahrnehmungen“ („reflections“). Der nächste
Schritt ist im dritten Buch die Untersuchung der Rolle der Sprache, ihres Zusammenhangs
mit den Ideen und ihrer Bedeutung für das Wissen. Buch Vier handelt schließlich von den
komplexen (zusammengefassten) Ideen, von den Grenzen des Wissens und dem Verhältnis
von Begründung und Glauben.
Ideen: Lockes Kritik der Vorstellung der „angeborenen Ideen“ („ideae innatae“) hat einen
aufklärerischen Charakter. Durch die Untersuchung der Dinge selbst soll den Dogmen,
Vorurteilen und den von Autoritäten vorgegebenen Prinzipien, wie sie zu seiner Zeit an der
Tagesordnung waren, der Boden entzogen werden. Besonders ausdrücklich wandte er sich
gegen Descartes' Annahme, dass auch die Gottesidee angeboren sei: denn es gebe viele
Gegenden in der Welt, wo es keine entsprechende Gottesvorstellung gibt. Wenn es
angeborene Ideen gäbe, müssten diese auch bei geistig zurückgebliebenen Menschen
vorhanden sein. Erstens nämlich ist es offensichtlich, dass alle Kinder und sogar alle Idioten
nicht im Geringsten eine Vorstellung oder einen Gedanken von diesen Sätzen haben. Schon
dieser Mangel genügt, um jene allgemeine Zustimmung zunichte zu machen, die notwendig
und unbedingt die Begleiterin aller angeborenen Wahrheiten sein müsste (Buch I, Kapitel 1,
Abschnitt 3). Angeborene Ideen würden auch die Vernunft überflüssig machen, da man ja
nicht erst zu entdecken braucht, was man schon besitzt. Prinzipien wie das vom
ausgeschlossenen Widerspruch (Nichts kann zugleich und in derselben Hinsicht sein und
nicht sein) oder von der Identität (Alles was ist, das ist) sind evident, müssten aber erst durch
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die Vernunft erschlossen werden. Es gibt keine Kriterien zur Unterscheidung angeborener
von erworbenen Ideen. Auch das Kriterium der Evidenz kann aus Sicht Lockes angeborene
Ideen nicht kennzeichnen, denn es gebe so viele evidente Aussagen, dass diese unmöglich
angeboren sein könnten. Aus den gleichen Gründen gebe es auch keine angeborenen
moralischen Prinzipien. Grundsätze wie Gerechtigkeit oder das Einhalten von Verträgen
müssten durch die Vernunft begründet werden, damit sie Allgemeingültigkeit erhalten.
Als wesentliches Argument gegen den „Innatismus“ (Annahme, die Ideen seien dem
Menschen angeboren) sah Locke an, dass seine eigene, für ihn schlüssige Erkenntnistheorie
ohne die Vorstellung der angeborenen Ideen auskam. Das Material der Erkenntnis sind
einfache Ideen. Deren Ursprung liegt in der Erfahrung. Merke: Sinnliche Wahrnehmung, die
sowohl äußerlich als auch innerlich sein kann, ist bei Locke der Ausgangspunkt menschlicher
Erkenntnis! Locke unterschied dabei „sensations“ (äußere Eindrücke) und „reflections“
(innere Eindrücke), die erst im Verstand zu komplexen Ideen verbunden und geformt
werden. Die inneren Eindrücke umfassen geistige Tätigkeiten wie Wahrnehmen, Zweifeln,
Glauben, Schließen, Erkennen oder Wollen. Komplexe Ideen entstehen durch vergleichen,
zusammensetzen, abstrahieren und andere entsprechende Tätigkeiten des Verstandes.
Damit war Locke nicht – wie so oft zu lesen ist – Sensualist. Für ihn gab es sehr wohl einen
aktiven Verstand, der im Erkenntnisprozess eine wesentliche Rolle spielt. Soweit gibt es
keinen Unterschied zu Kant. Für Locke gab es lediglich keine Ideen a priori, sondern nur das
Vermögen, Wahrnehmungen zu Abbildern, komplexen Ideen und Begriffen zu verarbeiten.
Bei den komplexen Ideen unterschied er zwischen den Substanzen, Relationen und Modi.
Substanzen sind Dinge, die eigenständig existieren einschließlich der Engel, Gott und
anderer „konstruierter“ Gegenstände. In Relationen drückt sich das Verhältnis
verschiedener Ideen aus. Modi sind Ideen, die nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern
geistige Konstrukte, beispielsweise „Dreieck“, „Staat“ oder „Dankbarkeit“. Merke: Die
sinnliche Wahrnehmung (äußerlich & innerlich)führt zu den einfache Ideen!
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Bei der Erfassung der Substanzen, die für Locke jeweils komplexen Ideen entsprechen,
unterscheidet er die primären von den sekundären Qualitäten. Primär sind solche
Eigenschaften, die den Substanzen unmittelbar innewohnen wie Ausdehnung, Festigkeit
oder Gestalt. Sekundäre Qualitäten sind Eigenschaften, die nicht tatsächlich im Körper des
Gegenstandes vorzufinden sind, sondern der Idee der jeweiligen Substanz von unserer
Wahrnehmung hinzugefügt werden. Was in der Idee von Süß, Blau oder Warm ist, ist nur
eine gewisse Größe, Gestalt und Bewegung der sinnlich nicht wahrnehmbaren Teilchen in
den Körpern selbst, die wir so benennen (II, 8,15). Locke fand in der Unterscheidung der
sekundären Qualitäten ein Problem, das noch in der Philosophie der Gegenwart unter dem
Stichwort „Qualia“ intensiv diskutiert wird. Sekundäre Qualitäten sind für Locke Produkte
des Geistes. Sie sind nichts weiter als die Vermögen verschiedener Kombinationen der
primären Qualitäten (II,8,22). Primäre Qualitäten sind Eigenschaften fester Körper, deren
Abbilder Ideen im menschlichen Geist hervorrufen. Dies setzt einen nicht näher
bestimmbaren Träger voraus (II,22,2), eine Substanz, deren Erkenntnis angenommen
werden muss, ein Ding von dem wir offensichtlich keine klare Idee haben. Diese Substanz
stellte sich Locke in Anlehnung an Gassendi und in Übereinstimmung mit dem von Boyle
vertretenen Atomismus als nicht wahrnehmbare kleinste Teilchen vor. Diese Vorstellung
kennzeichnete Locke ausdrücklich als Hypothese. Die Welt ist so, wie sie uns erscheint, auch
wenn sie mit der realen Welt nicht übereinstimmen muss. Aber an der Annahme einer
realen Welt muss man festhalten. Als Konsequenz daraus ergibt sich ein Dualismus von Geist
und Materie. Die Annahme sowohl einer geistigen Welt als auch einer realen Welt war der
Ansatzpunkt der Kritik sowohl für Berkeleys Idealismus als auch für Humes Skeptizismus.
Erkenntnis: Erkenntnis ist die Perzeption (Wahrnehmung) der Übereinstimmung oder
Nichtübereinstimmung von Ideen � Konzept der Erkenntnis bei John Locke. Zur Erkenntnis
bedarf es also des Urteils, ob eine Aussage gültig ist. Locke unterschied grundsätzlich drei
Elemente der Erkenntnis, die intuitive, die demonstrative und die sensitive Erkenntnis.
Intuitiv erkennt man Ideen als solche, wenn sie im Geist als Einheit vorhanden sind
(Identität) und sie sich von anderen Ideen unterscheiden (Distinktheit). Das intuitive Erfassen
einer Idee ist notwendig für die weiteren Erkenntnisschritte. Intuitive Wahrheit ergibt sich,
wenn die Ideen nicht mehr weiter analysierbar sind (Evidenz).
Demonstrative Erkenntnis findet nur mittelbar statt. Der Verstand hat das Vermögen, mit
Hilfe der Ideen einen Zusammenhang zwischen zwei Ideen herzustellen. Dieses Vermögen ist
nach Locke die Vernunft, und diese Art der Erkenntnis nannte er die rationale. Die
Verknüpfung der Ideen erfolgt dabei in Einzelschritten, wobei jeder Schritt durch intuitive
Erkenntnis bestätigt wird. Die scholastischen Syllogismen waren für Locke nur deduktiv, also
nicht geeignet, tatsächlich neue Erkenntnis zu erzeugen. Sie hatten für ihn nur didaktische
Funktion. Mit der sensitiven Erkenntnis schließlich erfasst der Mensch die Existenz realer
Gegenstände; denn niemand kann im Ernst so skeptisch sein, dass er über die Existenz der
Dinge, die er sieht oder fühlt, ungewiss wäre (IV, 11, 3). Allerdings sind die Sinne gegenüber
der Evidenz und der Herleitbarkeit mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, so dass Locke
am Ende die Erkenntnis im engeren Sinne als intuitive und demonstrative Erkenntnis
bestimmt.
Diese beiden, Intuition und Demonstration, sind die Grade unserer Erkenntnis. Alles, was
nicht einer diesen beiden entspricht, ist – wie zuversichtlich man es auch annehmen mag –
bloßer Glaube oder Meinung, aber nicht Erkenntnis. Wie sicher ist aber das Wissen um das
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Erkannte? Lockes Empirismus begrenzt die Erkenntnis auf die Erfahrung. Was jenseits der
sinnlichen Erfahrung liegt, die Essenz (das Wesen) der Dinge, könne nicht erkannt werden.
Der Verstand gibt dem Erkannten Einheit, indem er den Begriff von der reinen Substanz im
Allgemeinen bildet. Aber über die Natur lässt sich nichts Endgültiges sagen. Mit Hilfe der
Vernunft kann der Mensch die Sinne nicht übersteigen. Er kann nur Hypothesen aufstellen
als Leitfaden für Forschung und Experiment. Absolute Gewissheit ist auf empirischem Wege
nicht möglich. Im Bereich der Hypothesen arbeitet der Verstand mit abstrakten Begriffen wie
Art und Gattung, indem er von der Erfahrung abgeleitete, aber abstrahierte komplexe Ideen
wie Relationen und Modi verwendet. Solche Ideen wie die des Dreieckes haben nicht nur
nominale, sondern auch reale Essenz. Deshalb ist es in den abstrakten Wissenschaften wie
der Mathematik auch möglich, unanfechtbare Wahrheiten zu finden; somit also absolute
Wahrheiten. Allgemeine und sichere Wahrheiten sind lediglich in den Beziehungen und
Verhältnissen der abstrakten Ideen begründet. Da Gerechtigkeit, Dankbarkeit oder Diebstahl
auch als Modi einzustufen sind, zählte Locke die Moral zu den abstrakten Wissenschaften,
für die man diese allgemeinen und sicheren Wahrheiten mit Hilfe der Vernunft herleiten
kann.
Rezeption der Erkenntnistheorie: Erste Reaktionen auf den Essay gab es bereits zu Lockes
Lebzeiten, wobei sich sowohl Cartesianer (John Norris) als auch Thomisten (John Sergeant)
ablehnend äußerten. Von den bekannten Philosophen reagierten sowohl Leibniz mit „Neue
Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ (1704, gedruckt 1759) als auch Berkeley mit
der „Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ (1709) unmittelbar
kritisch auf das Werk Lockes. Dieses kann daher als Anstoß für eine neue Gattung von
Abhandlungen in der Philosophie angesehen werden, die sich ausschließlich auf die
erkenntnistheoretische Frage konzentriert.
In diesem Sinn stehen auch Humes „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ und
Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in einer Linie der Diskussion über die Erkenntnistheorie.
Während Locke, Berkeley und Hume jeweils die empiristische Position vertraten, sind Leibniz
und Kant Vertreter des Apriorismus – ein Gegensatz, der seit Descartes und Locke die
philosophische Auseinandersetzung über den Positivismus (Mill) und Neopositivismus
einerseits sowie den deutschen Idealismus einschließlich Schopenhauer, der Locke als seicht
kritisierte, und dem Neukantianismus andererseits bis in die Gegenwart bestimmte.
I. EINFÜHRUNG
Sehr wichtig war auch David Hume. David Hume lebte von 1711 bis 1776. Das Erste was es
über ihn zu sagen gilt ist, dass er nach unserem Schema eindeutig zu den Empiristen zu
zählen ist. Dieses Etikett des Empiristen ist in Bezug auf Hume eher gerechtfertigt als in
Bezug auf Locke. David Hume bezieht sich positiv auf John Locke, wobei er sich in vielen
Punkten von diesem unterscheidet. David Hume war Schotte. Die Thematik von Humes
Philosophie bestand aus einer sehr breitgefassten Palette. Wir beschäftigen uns hier mehr
mit der theoretischen Philosophie - als auch der Erkenntnistheorie -, obwohl David Hume für
die Ästhetik, Kunstphilosophie oder Geschichte ebenso wichtig war. In der Tat findet man in
älteren Universitätskatalogen den Eintrag „David Hume Historian“, da er lange Zeit nur als
Historiker bekannt war, weil seine Philosophie für zu skeptisch und atheistisch gehalten
wurde. Dies ist auch der Grund dafür, wieso David Hume keine Universitätskarriere
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aufnehmen konnte, obwohl er sich mehrmals um Professuren beworben hatte. Es ging hier
nicht um seine unbestrittenen und herausragenden philosophischen oder intellektuellen
Fähigkeiten, sondern wegen seiner Bezichtigung als Atheist und Skeptizist; so hatte sich
Hume erfolglos in Edinburgh und Glasgow beworben. Sein Hauptwerk bildet „A Treatise of
Human Nature“, also „Ein Traktat über die menschliche Natur“ (1739/40). Das Buch ist in drei
Teile aufgeilt; das erste Buch handelt vom Verstand, das zweite über Affekte und das dritte
über Moral.
Das erste Buch entspricht etwa dem Thema von Lockes Essay, auf welches wir uns
hauptsächlich auch konzentrieren werden. Im Gegensatz zu Lockes Essay (erschien bereits zu
seinen Lebzeiten in der 5. Auflage) war Humes „A Treatise of Human Nature“ zu seinen
Lebzeiten kein Erfolg beschieden. Hume meinte, „it fell deadborn from the press“, da es
kaum Resonanz, und wenn, nur negative fand. Hume war damit nicht zufrieden, weshalb er
dieses Werk in kleinere und kürzere Bücher umgeschrieben hatte (vor allem auch stilistisch).
Sein erstes Buch, welches diesem Bestreben entsprang war dann „An enquiry concerning the
principles of morals“ (1748). Was ist die Zielsetzung von Humes Philosophie im Traktat als
auch in der „An enquiry concerning the principles of morals“? Beim Traktat über die
menschliche Natur geht es nicht um abstrakte moralische Prinzipien, sondern um das, was
wir heute eine philosophische Anthropologie bezeichnen würden; es geht darin um die
menschliche Natur. Hume behauptet darin, dass sich alle anderen Wissenschaften im
Grunde auf die menschliche Natur - in der einen oder andern Form - beziehen. Im Vorwort
sagte Hume folgendes dazu:
Die Lehre von der menschlichen Natur: „Alle Wissenschaften haben offenbar mehr oder
weniger Bezug zur menschlichen Natur. Wie sehr sie sich auch von ihr zu entfernen
scheinen, alle kommen sie auf dem einen oder anderem Wege wieder zu ihr zurück“
(Traktat, S. 2). „Die Lehre vom Menschen [ist] die einzig feste Grundlage für die anderen
Wissenschaften“ (S. 4). „Die einzig sichere Grundlage, die wir dieser Wissenschaft geben
können, [liegt] in der Erfahrung und Beobachtung“ (S. 4).
Das bedeutet, dass man die menschliche Natur selbst zum Gegenstand einer Untersuchung
machen sollte, da sie die Grundlage der anderen Wissenschaften bildet. Die Philosophie wird
hier als eine Grundwissenschaft (bzw. als Basis) der anderen Wissenschaften gesehen,
welche überdies empirisch ist und im Dienste des Menschen steht; nach diesem Verständnis
ist die Philosophie auch keine Metaphysik. Ganz deutlich zu erkennen liegt der Schwerpunkt
seiner Thesen - ähnlich wie bei Locke - auf der Erfahrung und Beobachtung, wobei es hier
nicht um die Rechtfertigung bestimmter Prinzipien geht, sondern um ihre Erklärung für die
menschliche Natur. Worin besteht nun die Beobachtung der menschlichen Natur? Es geht
Hume um eine „Science of men“; um die Lehre von der menschlichen Natur. Laut Hume
beziehen sich alle Wissenschaften auf diese Lehre. Die Grundlage bzw. die Methode bilden
Erfahrung und Beobachtung, mittels deren die menschliche Natur erklärt werden soll. Diese
ist uns nicht zugänglich, wie es uns andere Dinge sind, doch können wir zwei Methoden
verwenden, um uns einen gewissen Zugang zu verschaffen: die Beobachtung des
menschlichen Verhaltens und die Introspektion. Die Methode seiner Untersuchung gliedert
sich in drei Schritte:
1. Hume untersucht Überzeugungen und Annahmen, z.B. von der Existenz der
Außenwelt, von den kausalen Zusammenhängen oder der personalen Identität. Diese
werden im normalen Leben als gegeben angenommen.
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2. Er stellt die Frage, ob diese Annahmen philosophisch gerechtfertigt werden können.
Hume kommt dabei zu dem Schluss, dass das nicht der Fall ist (dies entspricht einer
skeptizistischen Position).
3. Hume versucht zu zeigen, warum wir dennoch nicht von den genannten Annahmen
lassen können?
Humes Grundlagen bilden die Wahrnehmungen („perceptions“), die er in „impressions“
(Sinneseindrücke) und „ideas“ (Ideen bzw. Gedanken) unterteilt. Die Ideen sind Abbilder von
direkten Wahrnehmungen bzw. Eindrücken („impressions“), z.B. die Idee einer Geschmacks-
wahrnehmung. Diese simple Unterscheidung, die Locke trifft, hat einen kritischen Effekt in
punkto Kausalität: Sprachliches muss aus Sinneseindrücken abgeleitet sein.
II. EXKURS AUS WIKIPEDIA ZUR ERKENNTNISTHEORIE DAVID HUMES
Die Erkenntnistheorie stellt das Herzstück der humeschen Philosophie dar und ist gleichzeitig
bis heute am intensivsten rezipiert worden. Die Basis aller Erkenntnis: Inhalte des
menschlichen Geistes unterteilt Hume prinzipiell in zwei Klassen: Sinneseindrücke
(„impressions“) und Ideen („ideas“). Sinneseindrücke, die Vorläufer der späteren
„Sinnesdaten” („sense-data“), sind dabei unmittelbare Wahrnehmungen wie eine Heiß-
Wahrnehmung, eine Rot-Empfindung usw. Als „Ideen“ bezeichnet er Erinnerungen an
vergangene Wahrnehmungen oder Vorstellungen. So kann man sich beispielsweise an einen
früheren Paris-Aufenthalt erinnern oder auch, selbst wenn man nie in Paris gewesen ist, sich
vorstellen, dort zu sein. Anhand dieser Begrifflichkeit formuliert Hume die wesentliche
Grundthese des Empirismus: Dass sich nämlich alle Ideen, so komplex sie auch sind, letztlich
von einfachen Sinneseindrücken herleiten. Stellt man sich beispielsweise einen Paris-
Aufenthalt vor, so stellt man im Grunde nur Wahrnehmungen, die man bereits gemacht hat,
neu zusammen. In letzter Konsequenz kann man empiristisch betrachtet all dies auf
bestimmte Farbempfindungen, Geräuschempfindungen usw., also auf einfache, nicht weiter
analysierbare Sinnesempfindungen, zurückführen. Demnach existiert nichts im Verstand, das
nicht vorher durch die Sinne hindurch gegangen ist, denn auch Phantasien und Träumereien
gehen zurück auf Sinneseindrücke. Damit hat Hume nicht nur die Grundthese des
Empirismus formuliert, sondern gleichzeitig auch einen wichtigen Ausgangspunkt für sein
eigenes Philosophieren: Dieses besteht nämlich in weiten Teilen darin, alle Konzeptionen,
die sich nicht auf die empirische Basis der Sinnesempfindungen zurückführen lassen,
abzulehnen. Von Humes Skeptizismus sind keinesfalls nur philosophische Dogmen betroffen,
sondern vor allem auch tief in der Lebenswelt, aber auch in der Philosophie verwurzelte
Gedanken über eine Außenwelt oder das Vertrauen in das Lernen aus Erfahrung. Für Hume
stellt sich in diesen Fällen die Folgefrage, wie diese – von ihm als falsch bezeichneten –
Vorstellungen, dennoch so große Überzeugungskraft entwickeln konnten. Er erklärt dies mit
im Geist wirkenden „mechanistischen“ Kräften wie der Gewohnheit.
Das Problem der Außenwelt besteht in der philosophischen Frage, ob die raum-zeitlichen
Dinge um uns herum unabhängig von uns und von der Tatsache, dass wir sie wahrnehmen,
existieren. Hume behandelt dieses Problem unter anderem im „Traktat über die menschliche
Natur“. Er stellt fest, dass sich der Glaube an die Existenz der Außenwelt nicht durch
rationale Begründungen stützen lasse. Nach der empiristischen Grundthese sind die Sinne
die einzige Quelle des Wissens über die Außenwelt, und diese liefern uns nur die
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Wahrnehmung selbst, aber nicht die Information, dass diese Wahrnehmung von etwas
außerhalb ihrer selbst verursacht wird. Dennoch kommt der Mensch nicht umhin, an die
Existenz der Außenwelt zu glauben. Die Natur, so Hume, hat uns hierin keine Wahl gelassen
(„Nature has not left this to [man's] choice“). Er stellt anschließend die Frage nach den
Gründen für diesen starken Glauben. Diejenigen Wahrnehmungen, denen wir eine von uns
unabhängige Existenz zuschreiben, unterscheiden sich von den übrigen durch ihre Konstanz
und Kohärenz: Werden sie eine Zeit lang nicht beobachtet (wendet man den Blick vom
Schreibtisch ab), dann lassen sie sich entweder identisch wiederherstellen (indem man
wieder zum Schreibtisch hinblickt) oder die Änderungen sind zumindest regelhafter Natur
(der Schreibtisch könnte verschoben sein, dadurch ist aber nur seine Lage geändert, nicht
etwa seine Farbe). Humes Theorie zufolge empfindet der menschliche Geist die Tatsache,
dass solche Wahrnehmungen unterbrochen und dann in nahezu identischer Form wieder
aufgenommen werden, als Widerspruch, und versucht diesen Widerspruch durch die Fiktion
einer realen, unabhängigen Existenz des Objekts aufzulösen.
Das Problem der personalen Identität und des freien Willens: Hume zufolge gibt es kein
„Selbst“ oder „Ich“. Seine Begründung macht erneut Gebrauch von der Grundthese des
Empirismus: Gäbe es das Selbst, so müsste sich diese Idee letztlich von einem Sinneseindruck
herleiten lassen. Im menschlichen Geist gibt es für Hume aber nur eine ständige Abfolge von
Sinneseindrücken und Ideen, keinen konstanten Sinneseindruck, der alles zusammenhält
und daher mit dem Ich gleichgesetzt werden könnte. Hume macht die Beobachtung, dass es
auch andere Fälle gibt, in denen Identität zugeschrieben wird, obwohl sie im strengen Sinne
gar nicht vorliegt. So wird ein Schiff, bei dem man eine Planke austauscht, immer noch als
dasselbe angesehen, obgleich es nach Hume nicht mehr wirklich mit dem vorherigen Schiff
gleichgesetzt werden kann, da es (teilweise) aus anderem Material besteht [vgl dazu das alte
philosophische Problem des Schiffs des Theseus]. Er versucht nun aufzuweisen, warum die
Abfolge der Sinneseindrücke im menschlichen Geist als etwas Identisches aufgefasst wird,
wie es also zu der Fiktion des Ich kommen konnte. Nach Hume entsteht diese Illusion durch
den engen Zusammenhang der Eindrücke im menschlichen Geist. Der Zusammenhang
besteht darin, dass die verschiedenen Wahrnehmungen einander kausal beeinflussen, indem
nämlich Eindrücke durch Assoziation korrespondierende Ideen hervorrufen und diese
wiederum Eindrücke. Wichtig ist hierbei das Gedächtnis, welches dem Menschen erlaubt,
vergangene Eindrücke abzurufen. Letztlich ist es also dieser Zusammenhang der
Wahrnehmungen, der den Geist dazu bringt, die Abfolge der Wahrnehmungen in einer
Identität zu vereinen, die dann „Ich“ genannt wird. Wie Immanuel Kant stellt Hume die Frage
nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Begrenzung. Er entwickelt die These, dass der
„freie Wille“ mit der Tatsache der Determination durch – auf Sinneseindrücke
zurückzuführende – Wünsche, Erfahrungen und Charaktereigenschaften vereinbar ist; eine
Auffassung, die in der Philosophie als eine Form des Kompatibilismus bezeichnet wird.
Kausalität: Während die Probleme der Außenwelt und der personalen Identität schon von
den Empiristen George Berkeley und John Locke diskutiert wurden, gilt Hume als eigentlicher
Initiator des philosophischen Kausalitätsproblems. Zunächst stellt er die Wichtigkeit der
Ursachen-Wirkungs-Relation für jede empiristische Erkenntnistheorie heraus: Die einzige
Möglichkeit, Informationen zu erhalten, die über die eigenen Erfahrungen hinausgehen, liegt
in Kausalrelationen. Zum Beispiel weiß ich von der Ermordung Julius Cäsars durch Zeugen,
welche den Vorgang miterlebt und später aufgeschrieben oder in anderer Form
weitergegeben haben, sodass dieses Faktum Eingang in neue Geschichtsbücher gefunden
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hat, von denen ich eines gelesen habe. Bei jedem dieser Schritte wird Information über die
Ursache-Wirkungs-Beziehung weitergegeben, so dass man sagen kann, die Sätze in einem
modernen Geschichtsbuch sind Wirkungen des Ereignisses der Ermordung Cäsars;
andernfalls wären sie nicht wahr. Hume stellt heraus, was nach seiner Ansicht das
Gemeinsame an allen Kausalvorgängen ist. Zunächst müssen Ursache und Wirkung immer
räumlich benachbart sein. Zwar kann ein Ereignis auch über eine gewisse Entfernung auf ein
anderes wirken, aber nur, indem es eine Kette von benachbarten Ereignissen zwischen den
beiden gibt. Dann erfolgt die Wirkung immer später als die Ursache. Diese Bedingungen
seien aber zusammen noch nicht hinreichend, es müsse ein drittes Element geben, eine Kraft
oder Notwendigkeit, die vom einen Ereignis auf das andere wirkt, so dass gewiss ist, dass die
zweite Begebenheit auf der ersten beruht. Es zeigt sich aber, dass diese Notwendigkeit
weder beobachtet noch erschlossen werden kann. Aus der Flüssigkeit und Durchsichtigkeit
des Wassers könne z.B. nicht erschlossen werden, dass es einen Menschen ersticken kann.
Ursache-Wirkungs-Abfolgen unterscheiden sich nach Hume dadurch von bloß zufälligen
raum-zeitlich benachbarten Ereignissen, dass sich in ersteren viele ähnliche Fälle beobachten
lassen. Und allein darin liege die als notwendig angesehene Verknüpfung. Hat der Mensch
die Abfolge von ähnlichen Ereignissen oft gesehen, so forme er aufgrund von Gewöhnung
angesichts des einen Ereignisses die Erwartung des anderen. Naturgesetze beschreiben
demnach nur beobachtete Regelmäßigkeiten und keine notwendige Verknüpfung zwischen
Ursache und Wirkung. Jede andere Wirkung sei vorstellbar und birgt keinen logischen
Widerspruch in sich. Hume ist sich darüber im Klaren, dass seine Theorie, nach der die
notwendige Verknüpfung nicht in der Natur der Kausalvorgänge, sondern eher im Geiste der
menschlichen Betrachter liegt, provozieren muss. In diesem Zusammenhang spricht man
auch vom „Hume-Problem“.
Induktion: Ähnlich wie bei den Gedanken zur Kausalität handelt es sich auch beim
Induktionsproblem um eine von Hume neu entdeckte Problematik. Es ist der bis heute am
meisten beachtete Teil seiner Philosophie. Hier wird die gerade für eine empiristische
Erkenntnistheorie eminent wichtige Praxis des Lernens aus Erfahrung in Zweifel gezogen. Ein
Lernprozess findet beispielsweise statt, wenn jemand angesichts der Tatsache, dass ihn Brot
in der Vergangenheit genährt hat, darauf schließt, dass es ihn auch in Zukunft nähren wird.
Wie aber bereits in den Überlegungen zum Kausalitätsproblem herausgestellt, liegen die
„kausalen Kräfte“ des Brotes im Verborgenen und lassen sich aus seinen beobachtbaren
Eigenschaften nicht erschließen. Es gibt damit kein rational begründbares Argument dafür,
dass das Brot tatsächlich auch in Zukunft nähren wird. Der Versuch, ein solches Argument
durch Berufung auf ein „Uniformitätsprinzip“ beizubringen, welches besagt, dass die
Zukunft der Vergangenheit ähneln wird, muss scheitern: Ein solches Prinzip könnte nur aus
der Erfahrung begründet werden und setzt damit dasjenige, was es zu beweisen gilt, nämlich
die Berechtigung, aus der Vergangenheit zu lernen, bereits voraus. Es ist letztlich die
Gewohnheit (siehe oben), die den Menschen erwarten lässt, dass Brot ihn erneut nähren
wird, wenn dies in der Vergangenheit wiederholt der Fall war. Tatsächlich muss der Mensch
eine solche Erwartung hegen und in diesem Sinne aus der Erfahrung lernen. Dieser Drang ist
von einem praktischen Standpunkt aus betrachtet als durchaus nutzbringend zu bewerten.
Dennoch ist diese Praxis unter dem Vernunftsgesichtspunkt für Hume irrational.
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8. Einheit (12.01.2010) Prof. Dr. Udo Thiel Hume über die Seele und die persönliche Identität. Humes Selbstkritik. Humes Kritiker. Die Schottische Schule des „Common Sense“.
In der letzten Vorlesung vor Weihnachten begannen wir mit der Philosophie David Humes
(1711 – 1716). Das nächste Mal beginnen wir dann mit der Philosophie Immanuel Kants. Wir
beschäftigen uns mit zwei Hauptwerken von David Hume: (1) A Treatise of Human Nature
(1739/40; Ein Traktat über die menschliche Natur; „Traktat“); (2) An Enquiry Concerning
Human Understanding (1748; Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand; im
folgenden „Untersuchung“). Die spätere Untersuchung war einfach eine Wiederaufnahme
der Themen aus dem ersten Buch, dem Traktat über die menschliche Natur.
Ein paar allgemeine Charakteristika von Humes Philosophie sind: Einerseits ging es ihm nicht
um eine Metaphysik, sondern eine „science of man“, eine Untersuchung der „human nature“
– also der menschlichen Natur; heute würde man eine solche Richtung der Philosophie als
„philosophische Anthropologie“ bezeichnen. Locke folgend verfährt Hume nach einer
empiristischen Methode mittels innerer und äußerer Erfahrung. Hume geht im Prinzip
folgendermaßen vor: Er untersucht bestimmte Annahmen, die Menschen – nicht nur
Philosophen – über die Außenwelt haben und prüft, ob diese Annahmen philosophisch
rechtfertigbar sind. Er kommt zu dem Schluss, dass die meisten Annahmen bzw.
Überzeugungen philosophisch nicht zu rechtfertigen sind. Diese Überzeugungen bzw.
Annahmen der Menschen über die Außenwelt entstehen seiner Meinung nach und Prüfung
folgend aus nichtrationalen Gründen, die objektiv-philosophisch nicht rechtfertigbar sind.
Ganz wichtig ist vor allem Humes Unterteilung aller Bewusstseinsinhalte (= „perceptions“) in
„impressions“ („Sinnliche Eindrücke“) und „ideas“ („Vorstellungen“, die aufgrund der
ersteren Eindrücke gebildet werden). Für Hume gilt, dass alle ideas aus unmittelbarer
Erfahrung abgeleitet werden müssen, wenn sie überhaupt als sinnvolle bzw. geltungsrichtige
Vorstellungen gelten dürfen. Hume untersucht auch, ob unsere Vorstellung – z.B. von
Kausalität, Identität und der Außenwelt - wirklich von einem „Eindruck“ (auch indirekt)
abgeleitet werden kann. Wenn dem nicht der Fall ist, dann haben wir ein Problem; z.B. mit
unserer Vorstellung von Kausalität.
Exkurs aus Textlog.de: Hume hat Lockes Empirismus und Berkeleys Idealismus zu einem
Positivismus weitergebildet, der insofern „Skeptizismus“ ist, als er die Möglichkeit
metaphysischer Erkenntnis bestreitet und auch innerhalb der Wissenschaft (mit Ausnahme
der Mathematik) keine apriorische, von vornherein absolut gewisse Erkenntnis anerkennt.
Hume analysiert die Erkenntnis; dabei besonders die fundamentalen Begriffe von Kausalität
Substanz. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass nichts als real anzunehmen ist, was sich
nicht auf äußere oder innere Erfahrung - auf „Eindrücke“ beider - gründet und dass sichere
Erkenntnis nicht weiter reicht, als Erfahrung (� somit nicht ins Transzendente, mag dessen
Existenz auch feststehen). Im Ganzen steht Hume auf dem Boden des Phänomenalismus und
Psychologismus. Hume vertritt, wie er sagt, einen „milderen“, „akademischen“ Skeptizismus,
der alles die Erfahrung Übersteigende als müßig und unwissbar zurückweist und auf die
Erfahrung und die praktische Beherrschung der Natur verweist. Die letzten Ursachen der
Dinge sind unerkennbar.
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Eindrücke (Impressions) und Vorstellungen (Ideas)
1. „Die Perzeptionen (perceptions) des menschlichen Geistes zerfallen in zwei Arten, die
ich als Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas) bezeichne. Der Unterschied
zwischen ihnen besteht in dem Grade der Stärke und Lebhaftigkeit, mit welcher sie dem
Geist sich aufdrängen und in unser Denken oder Bewusstsein eingehen. Diejenigen
Perzeptionen, welche mit größter Stärke und Heftigkeit auftreten, nennen wir Eindrücke. Unter diesem Namen fasse ich alle unsere Sinnesempfindungen, Affekte
(passions) und Gefühlserregungen, so wie sie bei ihrem erstmaligen Auftreten in der
Seele sich darstellen, zusammen. Unter Vorstellungen dagegen verstehe ich die
schwachen Abbilder derselben, wie sie in unser Denken und Urteilen eingehen“
(Traktat, S. 8-10).
2. „Aller Stoff des Denkens ist entweder von unserem äußeren oder inneren Gefühl
abgeleitet. Einzig die Mischung und Zusammensetzung fällt dem Geist und dem Willen
zu. Oder: all unsere Vorstellungen … sind Abbilder unserer Eindrücke“ (Untersuchung, S.
19).
3. „Haben wir daher Verdacht, dass ein philosophischer Ausdruck ohne irgend einen
Sinn oder eine Vorstellung gebraucht werde, was nur zu häufig ist, so brauchen wir bloß
nachzuforschen, von welchem Eindruck stammt diese angebliche Vorstellung her? Und
lässt sich durchaus kein solcher aufzeigen, so wird dies zur Bestätigung unseres
Verdachts dienen“ (Untersuchung, S. 22)
Die Funktion der Einbildungskraft bei Hume: Hume versucht ja zu zeigen, wie wir zu diesen
Vorstellungen kommen, obwohl sie objektiv nicht zu rechtfertigen sind. In diesem
Zusammenhang spielt er der Einbildungskraft - und nicht der Vernunft - eine entscheidende
Rolle zu. Nach Hume gibt es bestimmte Prinzipien, nach denen die Einbildungskraft in den
meisten Fällen verfährt; Ähnlichkeit, raum-zeitliche Kontinuität und Kausalität sind diese drei
Prinzipien. So verknüpft die Einbildungskraft verschiedene Ideen miteinander. So ist die
Vorstellung einer Wunde oftmals mit der Vorstellung von Schmerz verbunden. Hume erklärt
dies am Anfang des Traktats nicht im Detail, sondern behauptet es einfach und versucht es in
einfachen Fällen zu zeigen, wie dies dann funktioniert bzw. in konkreten Fällen abläuft. Wir
müssen hier zwischen dem Begriff der Kausalität als ein Prinzip der Assoziation bzw. der
Einbildungskraft und dem Begriff der Kausalität, welches die Dinge der Außenwelt
miteinander verknüpft, unterscheiden. Um letzteres Verständnis geht es Hume bei seiner
Frage nach Ursache und Wirkung.
Exkurs aus Textlog.de: Eine genaue Zergliederung der Kräfte und Fähigkeiten des Verstandes
ist notwendig. Der Ursprung unserer Begriffe ist zu ermitteln, die „secrets springs and
principles“ des Verstandes sind aufzudecken, damit die Grundlagen und Grenzen unserer
Erkenntnis gefunden werden können. Überall ist nach dem primären Erlebnis („impression“)
zu suchen, aus dem ein Begriff hervorgeht; findet sich kein solches Erlebnis, dann handelt es
sich um einen Scheinbegriff. Eindrücke (Impressionen) und Ideen (Vorstellungen, Begriffe) als
„Kopien“ jener machen den Bestand des geistigen Lebens aus. Unter „Eindruck“ (impression)
versteht Hume jedes primäre Erlebnis wie Empfindung, Gefühl oder Streben. Es gibt einfache
und zusammengesetzte, ursprüngliche und reflektive Eindrücke. Aus Eindrücken stammen
alle Vorstellungen und Begriffe (ideas), die von jenen nur durch ihre geringere Lebhaftigkeit
und Frische unterschieden sind. Die Ideen sind „faint images“, Kopien der Eindrücke. Die
Vorstellungen verbinden sich gemäß ihrer Assoziation, einer Art „Anziehung in der geistigen
Welt“. Die Assoziation ist das Prinzip des „erleichterten Überganges von einer Idee zur
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anderen“ und das verknüpfende Band der Ideen. Sie erfolgt nach Ähnlichkeit, raum-zeitlicher Berührung (contiguity) sowie Kausalität. Ein Begriff entsteht, indem sich mit einer
Vorstellung eine Gewohnheit verbindet, ähnliche Vorstellungen zu reproduzieren: In
nominalistischer Weise erklärt Hume, dass eine Einzelvorstellung zu einer allgemeinen
werde, nur durch ihre Verbindung mit einem allgemeinen Ausdruck. Das Denken besteht in
einem Verbinden und Vergleichen von Ideen, im Auffinden der Beziehungen zweier Objekte;
es ist nicht schöpferisch, nur zusammensetzend.
III. HUME ÜBER KAUSALITÄT
Warum hält Hume die Kausalität überhaupt für so wichtig und überaus zentral? Wenn man
über Hume Bücher liest, kommt man nie um diesen Begriff der Kausalität herum. Bei Locke
und Descartes war dieser Begriff bei weitem nicht so wichtig. Um das zu erklären, müssen
wir uns eine grundlegende Unterscheidung von Hume vor Augen halten; nämlich die
Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Untersuchung über
das, was wir wissen können. Hume unterscheidet zwischen Tatsachen („matters of fact“)
und anderseits den Beziehungen zwischen Ideen („relations of ideas“). Das sind die zwei
objects of enquiry; also die beiden Gegenstände menschlicher Untersuchung. Diese
Unterscheidung ist ganz wichtig und im Grunde genommen nicht Humes eigene Erfindung.
Diese Unterscheidung gab es bereits – anders formuliert - bei anderen Philosophen; so
beschäftigen sich unter anderem schon die Mathematik als auch die Logik – und damit viele
Philosophen – mit diesen Ideenbeziehungen. Hier hängt die Wahrheit einer Aussage nur von
den Bedeutungen der Symbole und ihrer Beziehung zueinander ab. Eine Untersuchung über
Kreise ist daher auch dann gültig, wenn diese nicht in der Natur existieren; es geht hier eben
nicht um Existenzbehauptungen. In diesem Bereich ist im Prinzip absolute Gewissheit
möglich; hier kann man zu unbezweifelbaren Wahrheiten gelangen. Andere Philosophen
nannten diese oft „Vernunftwahrheiten“ oder „a apriorische“ Wahrheiten Dies deswegen,
da es hier nicht um erfahrungsabhängige Wahrheiten, sondern um „relations of ideas“, geht.
Aussagen über „matters of fact“ sind Aussagen der Art „Mein Bruder ist gerade in
Frankreich“. Das sind Tatsachenbehauptungen, in denen die Existenz physischer Objekte
(wenn auch nicht direkt) behauptet wird. Bei den „matters of fact“ ist die Bestätigung durch
Erfahrung möglich; diese sind daher a posteriori, also nach der Erfahrung kommend.
Terminologisch ist diese Unterscheidung zwischen „a priori“ und „a posteriori“ bei Hume
noch nicht vorhanden, sondern nur inhaltlich und sachlich; wohl aber später bei Immanuel
Kant schon terminologisch. Bei Tatsachenaussagen gibt es keine absolute Gewissheit.
Negationen von Tatsachenbehaupten ergeben keinen Widerspruch, sondern können bzw.
könnten immer wahr sein. Hume führt diese Unterscheidung ein, weil es ihn darauf
ankommt, den Bereich der Tatsachenbehauptungen zu isolieren. Er will herausfinden, was
für eine Art von Erfahrung erforderlich ist, um solche Aussagen mit Evidenz bestätigen zu
können. Da erwähnt er zunächst die unmittelbare (einfache) Erfahrung als auch die
Erfahrung, an die wir uns erinnern (z.B. wenn ich meinen Bruder selbst in Frankreich sehe
oder ich eine Erinnerung daran habe, in letzte Woche in Frankreich gesehen zu haben; das
wäre für mich Evidenz genug, diese Aussage für wahr zu halten). [Exkurs aus Musgrave
Alltagswissen: Apriorisches Wissen ist dasjenige Wissen, das unabhängig von der Erfahrung gewonnen werden
kann, und aposteriorisches Wissen ist solches, das nur durch Erfahrung zu gewinnen ist.]
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Hume geht es aber nun um die Frage, welche Art von Evidenz in Bezug auf Tatsachen-
aussagen, bei denen wir über die unmittelbare Erfahrung bzw. die Erinnerung daran nicht
hinausgehen können, möglich ist. Wir machen ja auch Tatsachenaussagen über Dinge, über
die wir uns nicht erinnern können und über die wir keine unmittelbare Erkenntnis haben (die
uns eben nicht gegenwärtig sind). Hier meint Hume, dieses Argumentieren über
Tatsachenaussagen involviert immer einen oder mehrere kausale Schlüsse. Kurz noch zu
Humes Vorgehensweise: Zuerst unterscheidet er die „relations of ideas“ von den
„Tatsachenaussagen“, dann untersucht der die „matters of fact“. Warum behaupte ich jetzt,
dass mein Bruder in Frankreich ist. Ich antworte: Ich habe einen Brief, welcher in Paris
abgestempelt wurde, erhalten – woraus ich dies schließe. Auch für die Wissenschaft ist es
nach Hume wichtig, nach solcher Evidenz zu fragen. Wir können nicht über die Außenwelt
bzw. über Tatsachen argumentieren, ohne den Kausalitätsbegriff zu verwenden (wenn auch
nicht explizit); daher gilt es den Kausalitätsbegriff näher zu untersuchen. Dieser
Kausalitätsbegriff, der in all unserem Denken über „matters of fact“ involviert ist, lässt sich
nach Hume objektiv nicht rechtfertigen. Wir alle nehmen an, dass es diese
Kausalitätsbeziehungen in der Welt gibt und leben danach.
Die Tatsache dass wir den Kausalitätsbegriff immer anwenden, macht ihn noch nicht objektiv
rechtfertigbar – und diese Gegebenheit will Hume hinterfragen. Hier gibt es zwei
Möglichkeiten den Kausalitätsbegriff zu rechtfertigen: (1) A apriorisch aus reiner Vernunft.
Hume erwägt diese Möglichkeit und lehnt sie natürlich ab. Wenn ich einen Gegenstand in
der Kontemplation (= beschauliche Untersuchung) betrachte, finde ich keinen kausalen
Zusammenhang mit einem anderen Gegenstand. Mit der Vernunft können wir nicht
herausfinden, ob dieser Gegenstand Ursache oder Wirkung anderer Gegenstände ist.
Unabhängig von Erfahrung und Beobachtung können wir den Begriff der Kausalität nicht
rechtfertigen. (2) Das bedeutet, dass nur die Erfahrung als Rechtfertigungsgrund der
Kausalität in Frage kommt. Kant argumentiert umgekehrt, dass der Kausalitätsbegriff nur
über den Verstand zu rechtfertigen ist. Jetzt fragt er sich im nächsten Schritt, welche Art der
Erfahrung für die Ableitung des Kausalitätsbegriffs erforderlich ist? Zunächst meint er, dass
eine einzelne Erfahrung von einem einzelnen Gegenstand nicht diesen Begriff von Kausalität
in uns hervorrufen kann. Dieser einzelne Gegenstand kann uns nicht Ursache und Wirkung
offenbaren, was bedeutet, dass wir unsere Beobachtung auf zumindest zwei Ereignisse
erweitern müssen, um eine ursächliche Verknüpfung herleiten zu können. Er meint weiter,
dass die Beobachtung, dass ein Ereignis A einem Ereignis B folgt, uns auch noch zu keiner
Kausalität bzw. dem Kausalitätsbegriff führt.
Hume führt den Begriff der „notwendigen Verknüpfung“ („necessary connection“) ein. Der
Kausalitätsbegriff involviert die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung zwischen
Ereignis A und Ereignis B. Wenn wir von kausalen Verhältnissen sprechen, dann meinen wir,
dass B notwendigerweise A folgt. Um die Untersuchung der notwendigen Verknüpfung geht
es Hume im Folgenden. Hier unterscheidet er zunächst zwischen den mathematischen
Wissenschaften und den Geisteswissenschaften.
Hume über Kausalität (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand)
1. Humes Unterscheidung zwischen den „mathematischen Wissenschaften“ und den
„Geisteswissenschaften“ - moral and metaphysical sciences (Untersuchung, S. 74).
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Er meint auch „power“, da das Ereignis A die Kraft hat, B hervorzubringen. Die notwendige
Verknüpfung und „power“ sind bei Hume fast äquivalent.
2. Viele „Vorstellungen der Geisteswissenschaft“ laufen Gefahr, „in Dunkelheit und
Verworrenheit zu verfallen“ (Untersuchung, S. 75). Dies gilt beispielsweise für Vorstellungen von Macht, Kraft und notwendiger Verknüpfung (Untersuchung S. 76). Die
Vorstellung der notwendigen Verknüpfung gehört zu der Vorstellung von Kausalität.
Hier appelliert Hume an seine Unterscheidung zwischen „impressions“ und „ideas“. Nach
Hume ist es diese Erfahrungsbasis, die die Bedeutung der notwendigen Verknüpfung
festlegen kann. Wir müssen den Sinneseindruck finden, von dem die Idee der notwendigen
Verknüpfung abgeleitet werden kann.
3. Da alle Ideen oder Vorstellungen von Eindrücken abgeleitet sind, schlägt Hume vor,
„um uns also mit der Vorstellung der Kraft oder der notwendigen Verknüpfung ganz vertraut zu machen, … den ihr zugrunde liegenden Eindruck [zu] prüfen“ (Untersuchung,
S. 77).
An dieser Stelle kommt Hume wieder zurück auf die Erfahrung äußerer Gegenstände.
4. „Wenn wir uns unter äußeren Gegenständen umsehen und die Wirksamkeit der
Ursachen betrachten, so sind wir in keinem einzelnen Falle imstande, irgend eine Kraft
oder notwendige Verknüpfung zu entdecken, irgendwelche Eigenschaft, die die Wirkung
an die Ursache bände und die eine zur unfehlbaren Folge der anderen machte“
(Untersuchung, S. 77).
Mit Punkt 4 meint Hume, dass, wenn wir die Folge A � B sehen, sehen wir keine notwendige
Verknüpfung (dahinter) bzw. es ergibt sich daraus nicht der Begriff von Kausalität. Ein
einzelnes Ereignis der Aufeinanderfolge kann uns diesen Begriff der Notwendigkeit nicht
geben; er kann daraus nicht abgeleitet werden. Wie ist es nun aber mit der inneren
Erfahrung? Wenn ich z.B. die Hand heben möchte und ich hebe diese – gibt es hier keine
ursächliche Verknüpfung zwischen einem „mentalen Akt“ – dem Wollen - und dem
„physischen Akt“ – dem Heben des Armes?
5. Kann die Vorstellung von Kraft oder notwendiger Verknüpfung durch Beobachtung der „Tätigkeiten unseres eigenen Geistes gewonnen und einem inneren Eindruck
nachgebildet sein“? (Untersuchung , S. 78). Humes Antwort ist negativ.
Humes Antwort darauf war negativ, da wir bei der inneren Erfahrung auch nur die
Aufeinanderfolge eines Ereignisses auf ein anderes Ereignis haben; wir sehen auch hier nicht
die innere Verknüpfung (dahinter). Wir sehen weder die Kausalität noch eine notwendige
Verknüpfung, sondern nur die Aufeinanderfolge von einem Ereignis A auf ein Ereignis B. Das
scheint das Einzige zu sein, dass uns die unmittelbare Erfahrung geben kann und gibt - nicht
mehr.
Beachte in diesem Zusammenhang die Lehre des Okkasionalismus; dabei handelt es sich um
eine „abstruse“ Theorie, die von Hume auch als solche gekennzeichnet wird [Exkurs aus
Wikipedia: Die zentralen Thesen des Okkasionalismus lauten: (1) Körper und Geist haben keinen kausalen
Einfluss aufeinander; (2) Zwischen körperlichen und geistigen Zuständen vermittelt Gott. Die Ideen der
Okkasionalisten, deren Hauptvertreter Nicolas Malebranche war, können wie folgt zusammengefasst werden:
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Immer wenn eine Person in einem mentalen Zustand ist, so ist sie in einem immateriellen Zustand, der keinen
Einfluss auf die materielle Welt haben kann. Dennoch scheint eine Interaktion zu existieren, wie sich an
einfachen Beispielen verdeutlichen lässt: Personen essen etwas (physisch), wenn sie Hunger haben (mental)
oder laufen fort (physisch), wenn sie Angst haben (mental). Diesen Zusammenhang erklären Okkasionalisten
nun durch Gott: Wenn eine Person etwa Hunger hat, so registriert Gott diesen mentalen Zustand und setzt den
Körper daraufhin in Bewegung. Genau der gleiche Prozess soll vom Physischen zum Mentalen ablaufen: Wenn
eine Person sich etwa mit einer Nadel sticht, so registriert Gott dieses physische Ereignis und löst ein
Schmerzerleben aus.]. Der Okkasionalismus ist sehr theologisch, hat aber einiges mit der
atheistischen Anschauung von Hume gemein. Wir haben hier das Problem des Leib-Seele-
Interaktionismus. Leib und Seele sind zwei ganz unterschiedliche Substanzen; wie kann es
zwischen diesen zu einer Interaktion kommen? Descartes kannte keine Antwort darauf und
spekulierte philosophisch unbefriedigend. Einige seiner Nachfolge (Okkasionalisten wie
Melbranche) meinen, es gäbe keine Interaktion; somit gibt es zwischen zwei Ereignissen x
und y keine kausale Verknüpfung. Melbranche hat die Theorie entwickelt, dass das Ereignis x
der Anlass (die Okkasion) für Gott ist, das Ereignis y hervorzubringen. Jedes Ereignis ist durch
Gott hervorgerufen; nur Gott hat kausale Kraft. Hume meint dazu, dass wir nun bei den
Okkasionalisten im Märchenland angekommen sind. Nicht nur die daraus folgende Tatsache,
dass unser Gott damit immer äußerst vielbeschäftigt wäre, sondern auch folgende
Überlegung wirft ein großes Problem auf. Zu sagen, dass ein Ereignis x der Anlass für Gott
sein soll y hervorzubringen, bedeutet zu sagen, dass x auf Gott irgendwie eine kausale
Wirkung hat (damit dieser y bewirkt). Nun haben wir einen Kausalitätsbegriff, denn wir nach
dieser Theorie selbst ja gar nicht einführen dürfen! Bei Hume haben wir gewissermaßen
einen Okkasionalismus ohne Gott. Wir haben tatsächlich nur die Aufeinanderfolge der
Ereignisse. Hume versuchte das Problem dadurch zu erklären, dass wir den Kausalitätsbegriff
einfach durch die oftmalige Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen bilden.
6. „Alle Ereignisse erscheinen durchaus unzusammenhängend und vereinzelt“
(Untersuchung S. 90). Es scheint, „dass wir überhaupt gar keine Vorstellung von
Verknüpfung oder Kraft besitzen, und dass diese Wörter gänzlich ohne jeden Sinn sind,
ob sie nun in philosophischen Gedankengängen oder im gewöhnlichen Leben angewandt werden“ (Untersuchung, S. 90).
7. Es scheint, „ dass die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von Ereignissen
ihren Ursprung in einer Häufung eingetretener gleichartiger Fälle hat, in denen
beständig diese Ereignisse im Zusammenhang standen“ (Untersuchung, S. 91).
Es erscheint der von uns ständig verwendeten Begriff der notwendigen Verknüpfung
entleert zu sein, sodass wir von ihm keine sinnliche Erfahrung haben können. Daraus
erschließt sich auch die kritische Funktion der Unterscheidung von „impressions“ und
„ideas“, wenn wir meinen, eine bestimmte Idee von etwas zu haben und diese auf eine
„impression“ rückführen zu müssen. Das scheint nach Hume und seinem Begriff von
Kausalität nicht möglich zu sein. Nun versucht Hume aber dennoch eine positive Antwort auf
die Frage zu geben, wo der Kausalitätsbegriff herkommt. Er argumentiert (kurz gefasst) wie
folgt:
8. „Nach einer Wiederholung gleichartiger Fälle … [wird] der Geist aus Gewohnheit
veranlasst, beim Auftreten des einen Ereignisses dessen übliche Begleitung zu erwarten
und zu glauben, dass sie ins Dasein treten werde“ (Untersuchung, S. 91)
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Das heißt für Hume, dass die bloße Erfahrung einer Aufeinanderfolge von A und B nicht den
Kausalitätsbegriff hervorrufen kann. Wir haben eine Wiederholung gleichartiger Fälle; wir
haben solch einen ähnlichen Fall immer wieder. Bei der ersten Erfahrung einer
Aufeinanderfolge von A und B können wir nicht von Kausalität sprechen; aber passiert diese
Aufeinanderfolge z.B. schon zum vierten Mal, führt dass beim Auftreten von Ereignis A
automatisch in uns zur Erwartung, dass auch Ereignis B auftritt. Der Geist erwartet in diesem
Fall beim Auftreten von A immer schon B und sieht aus Gewohnheit („habit“) A als Ursache
von B.
9. „Diese Verknüpfung also, die wir im Geist empfinden, dieser gewohnheitsmäßige
Übergang der Einbildungskraft von einem Gegenstand zu seinem üblichen Begleiter ist
das Gefühl oder der Eindruck, nach dem wir die Vorstellung von Kraft oder notwendiger
Verknüpfung bilden“ (Untersuchung, S. 91).
Wir haben keine einzelne Erfahrung dieser Verknüpfung, sondern die regelmäßige
Wiederholung gleichartiger Fälle, die uns zum Kausalitätsbegriff führt. Wir erfahren nur
diese Wiederholung gleichartiger Fälle; wir sehen nicht die Kausalität oder die
Notwendigkeit selbst. Aber im Geist haben wir durch diese Erfahrung der regelmäßigen
Wiederholung eine Veranlassung (aus Gewohnheit) A als Ursache von B anzusehen bzw. B
als die Wirkung von A zu betrachten.
10. „Behaupten wir also, dass ein Gegenstand mit einem anderen verknüpft ist, so
meinen wir nur, dass sie in unserem Denken eine Verknüpfung eingegangen sind“
(Untersuchung, S. 91).
Was wir meinen wenn wir sagen A sei die Ursache von B ist dass wir das nur im Geist so
empfinden, dass A die Ursache von B ist; und dies aufgrund der gewohnheitsmäßigen
Aufeinanderfolge von A und B. Im letzten Argumentationsschritt bei Hume meint dieser,
dass wir diese gewohnheitsmäßige Verknüpfung des Geistes nun auf die Gegenstände selbst
übertragen.
11. „Da wir eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung zwischen den betreffenden
Vorstellungen empfinden, übertragen wir diese Empfindung auf die Gegenstände, ist
doch nichts so gewöhnlich, wie äußeren Körpern jede innere Wahrnehmung, die sie
veranlassen, zuzuschreiben“ (Untersuchung, S. 94).
Wir reden und denken dann so, als ob A tatsächlich die Ursache von B wäre. Aber
letztendlich - und tatsächlich - handelt es sich nur um eine Verknüpfung im Denken, welche
wir auf die Außenwelt projizieren. Was für eine Erklärung von Kausalität haben wir nun mit
Humes Analyse vorliegen? Handelt es sich hier um eine Rechtfertigung der objektiven
Geltung des Kausalitätsbegriffs? Nach Prof. Thiel mit Sicherheit nicht. Es handelt sich laut
Prof. Thiel um eine genetische bzw. psychologische Erklärung; der Erklärung der Genese des
Vorstellungsbegriffs, A als Ursache von B zu betrachten. Es geht Hume hier um keinen
Beweis, sondern er will nur zeigen, wie wir zum Kausalitätsbegriff kommen – dies erfolgt in
drei Schritten: (1) Wir beobachten eine regelmäßige Wiederholung; (2) Das ist verbunden
mit einer Gewohnheit, sodass wir immer auch das Ereignis B beim Auftreten von Ereignis A
erwarten; (3) Wir projizieren diese geistige Gewohnheit auf die Gegenstände selbst, und
sagen A ist die Ursache von B.
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Damit scheint Hume die Frage in gewisse Hinsicht beantwortet zu haben. Doch scheint er
auch zu behaupten, dass die Annahme einer kausalen Verknüpfung in der Welt eine Illusion
ist. Bei seiner Theorie handelt es sich nicht um einen Nachweis der objektiven Geltung des
Kausalitätsbegriffs, sondern nur um eine genetische Erklärung, wie der menschliche Geist
mit Kausalverknüpfungen denkt und arbeitet. Der Kausalitätsbegriff ist nach Hume eine
Fiktion der menschlichen Einbildungskraft, die sich auf Ähnlichkeitsrelationen bezieht.
Kausalität wird hier anscheinend nicht mehr als etwas real Existierendes angesehen, sondern
es handelt sich dabei um etwas, dass unsere Einbildungskraft hervorbringt. Es bleibt offen,
ob dieser Vorstellung überhaupt irgendetwas in der Wirklichkeit entspricht. Diese
Argumentation scheint nach Prof. Thiel mit einigen Problemen behaftet zu sein.
Man könnte zu Hume sagen, die Aufeinanderfolge der untersuchten Ereignisse bringt im
Geist eine Gewohnheit hervor; nämlich B zu erwarten, wenn A passiert. Man kann Hume
vorwerfen, dass sein eigener philosophischer Erklärungsversuch der Herkunft der
„notwendigen Verknüpfung“ bzw. der „Kausalität“ diese Begriffe bereits verwendet bzw.
verwenden muss, damit seine philosophische Erklärung überhaupt funktioniert. Seine
Argumentation ist zirkulär, da er etwas voraussetzt, was er eigentlich zeigen will. Er meint,
nur die Wiederholung gleichartiger Fälle kann im Geist eine Gewohnheit hervorbringen. Aber
diese Erklärung benützt bereits den Begriff der Kausalität, da er ansonsten nicht sagen
könnte, dass die Erfahrung der Aufeinanderfolge von Ereignis A und Ereignis B (A � B) eine
Gewohnheit „verursacht“. Das scheint zunächst einmal ein schlagender Einwand gegen
Hume zu sein, wenn es so sein soll, dass Hume hier zirkulär argumentiert. Natürlich gibt es in
der Philosophie darüber keine Einigkeit. Was behauptet Hume nun eigentlich tatsächlich?
Meint er, dass kausale Verknüpfungen nicht existieren oder dass wir nur deren Natur nicht
erkennen können? Wenn Hume den Kausalitätsbegriff auf eine Wiederholung gleichartiger
Fälle („regular succession“) zurückführt, dann haben wir eine ontologische Variante seiner
Theorie („regularity theory“) � ontologische These. In der Natur gibt es keine Kausalität,
sondern nur die Aufeinanderfolge dieser bzw. verschiedener Ereignisse. Damit haben wir
hier wieder diese Zirkularität. Aus einem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt heraus
meint Hume, dass wir in unserer Erkenntnis der Außenwelt nur regelmäßige Aufeinander-
folgen von Ereignissen wahrnehmen; damit behauptet Hume aber nicht automatisch, dass es
keine kausalen Verknüpfungen in der Welt gibt, sondern nur, was wir von den kausalen
Verknüpfungen erkennen können und was nicht. Wollte Hume in seiner Argumentation tat-
sächlich nur eine erkenntnistheoretische These vorbringen, dann ist der Zirkularitätseinwand
hinfällig. Hume leugnet nicht die kausale Verknüpfungen, sondern meint, dass alles was von
ihr zu erkennen ist, auf die Wiederholung gleichartiger Fälle zurückzuführen ist. Die
traditionelle Interpretation von Hume hat ihn immer als radikalen Skeptiker gesehen, der die
ontologische Variante der „regularity theory“ vertritt. Neuere Interpretationen – vor allem
veranlasst von Strawson (Buch: „The Secret Connection“) – argumentieren, dass Hume zwar
ein Skeptiker sei, aber in Bezug auf die Kausalität selbst auch ein Realist. Nach dieser
Interpretation ist Hume ein „sceptical realist“. Strawson argumentiert mithilfe von
zahlreichen Textverweisen, dass Hume ein Skeptiker sei; doch meint er, dass die
ontologische Variante der „regularity theory“ nicht mit Humes „Skeptizismus“ vereinbar ist.
Hume spricht oft davon, dass es alternierende Ursachen gibt. Strawson weist nach, dass
Hume oftmals so schreibt, als würde er die kausalen Verknüpfungen annehmen – und damit
ein Realist sein - und nur in Bezug auf die Erkennbarkeit dieser kausalen Verknüpfungen
„skeptisch“ sein. Das ist kein bloßer Gelehrtenkampf; es ist hier wichtig zu wissen, welche
These Hume nun zugeschrieben wird. Wichtig ist eine Kritik von Winkler „The new Hume“
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(1991). Der neue Hume ist der Hume als „sceptical realist“, der skeptische alte Hume ist der
Hume, nach dem die „regularity theory“ eine ontologische These beinhaltet. Winkler
kritisiert diese Deutung von Hume als „sceptical realist“. Auch Prof. Thiel hat eine Meinung
dazu, teilt diese in der Vorlesung aber nicht mit, da er meint, dass man diese für sich selbst
herausfinden muss. Vor allem sagt er noch, dass ihm - vor allem in Bezug auf die Klausur -
nur die Argumentation und die Qualität der Argumente dahinter wichtig ist, aber auf keinen
Fall die vertretene Lösung bzw. Stellung an sich zu diesem Problem.
IV. HUME ÜBER PERSÖNLICHE IDENTITÄT
Die Prinzipien der Argumentation über persönliche Identität sind ganz ähnlich aufgebaut wie
Humes Ausführungen über Kausalität. Wenn Hume von der Identität einer Person spricht,
dann sind für ihn die Begriffe „Person“ und „mind“ gleichbedeutend. Es geht dabei um die
Frage der Identität einer Person über die Zeit hinweg (wir hatten das Problem schon bei
Locke untersucht, auf welchen sich Hume unter anderem kritisch bezieht). Hume geht hier
wieder ähnlich wie bei der Analyse des Kausalitätsbegriffs vor. Er beschreibt zunächst die
traditionelle Auffassung der Philosophen als auch die der meisten Menschen, welche im
Alltagsleben notwendigerweise mit einem „normalen“ Verständnis der persönlichen
Identität umgehen; nämlich dass wir eine Person sind, die über die Zeit hinweg identisch
bleibt. Das heißt, ich nehme ohne große Hinterfragung an, dass ich in diesem Moment
dieselbe Person bin (die akribisch Prof. Thiels Vortrag festzuhalten versucht), als die, die
noch vor eineinhalb Stunden auf Einlass in seine Vorlesung gewartet hat. Warum täte ich
ansonsten irgendetwas, wenn ich morgen nicht die gleiche Person wäre wie heute – denn
dann wäre es ja egal was ich mache. Hume nimmt sich diese grundlegende Annahme bzw.
Überzeugung vor und kritisiert sie wenig überraschend. Er meint es gibt Philosophen, die
meinen, dass wir in jedem Augenblick unseres Ichs uns unmittelbar unseres „Ichs“ bewusst
sind (unter anderem auch Descartes). Aber es geht auch um ganz normale Menschen, die
annehmen, dass sie sich ihrer Identität bewusst sind. Die Erfahrung auf die man sich hier
beruft, beweist nämlich bestens das Gegenteil nach Hume. Aufgrund unserer Erfahrung
können wir nicht beweisen, dass wir über die Zeit hinweg identisch bleiben. Diese
Kontinuität müsste sich nach Hume auf eine „impression“ berufen.
1. „Wenn ein Eindruck die Vorstellung des Ich veranlasste, so müsste dieser Eindruck
unser ganzes Leben lang unverändert derselbe bleiben; denn das Ich soll ja in solcher Weise existieren. Es gibt aber keinen konstanten und unveränderlichen Eindruck“
(Traktat, Buch I, S. 326).
Laut Prof. Thiel hat Hume damit Recht.
2. „Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als “mich” bezeichne, so
unmittelbar als irgend möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedes Mal über die eine
oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder
Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust.
Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes
beobachten als eine Perzeption“ (Traktat, Buch I, S. 326).
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Das heißt, wenn ich meine innere Erfahrung betrachte, finde ich keinen Begriff meines
„Ichs“. Zusätzlich zu dieser individuellen Erfahrung von Hass und Liebe habe ich keinen Ich-
Begriff, sondern nur Erfahrung einzelner Empfindungen.
3. „Wenn ich aber von einigen Metaphysikern … absehe, so kann ich wagen, von allen
übrigen Menschen zu behaupten, dass sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen (bundle or collection) verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher
Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind“ (Traktat, Buch I, S. 327).
Das heißt, dass uns die Erfahrung lediglich zeigt, dass wir ein Bündel an Perzeptionen sind,
aber nichts, dass über die Zeit hinweg identisch bleibt. Obwohl wir alle annehmen, dass wir
alle über die Zeit hinweg identisch bleiben. Hume zeigt dann, wie wir zu dieser Common-
senseüberzeugung kommen, obwohl diese aufgrund der Erfahrung überhaupt nicht zu
rechtfertigen ist.
Exkurs aus textlog.de: Eine apriorische Erkenntnis von Tatsachen ist nach Hume unmöglich,
alle Tatsachenerkenntnis ist empirisch, durch Erfahrung bedingt. Hingegen gibt es eine
apriorische, unmittelbare, von der Existenz des Beurteilten ganz unabhängige Beurteilung
von Relationen (vgl Meinong). „Sätze dieser Art sind durch die reine Tätigkeit des Denkens zu
entdecken, ohne von irgendeinem Dasein in der Welt abhängig zu sein. Wenn es auch
niemals einen Kreis oder ein Dreieck in der Natur gegeben hätte, so würden doch die von
Euklid demonstrierten Wahrheiten für immer ihre Gewissheit und Evidenz behalten“ (Enquir.
IV). So ist die Mathematik eine demonstrativ-apriorische, analytische, deduktive
Wissenschaft, denn sie hat es nur mit einer Art der Relationen, nicht mit wirklichen Dingen
zu tun, und so ist hier die Vernunft imstande, apriorisch und apodiktisch zu schließen.
Ähnlichkeit, Widerstreit, Qualitätsgrade, Quantität und Zahl werden durch reines Denken
festgestellt und haben absolute Gewissheit.
Tatsachen hingegen sind nicht durch reines Denken zu erkennen, auch bleibt das Gegenteil
jeder Tatsache immer möglich. Tatsachen sind nur durch Erfahrung erkennbar. Worin
besteht nun diese Erfahrung? In einer Folgerung von Tatsachen aus anderen am Leitfaden
der Kausalität. Welchen Ursprung und Geltungswert hat nun das Kausalprinzip? Nach Hume
ist die ursächliche Verbindung weder aus reiner Vernunft noch aus der objektiven Erfahrung
zu entnehmen. Wir sind nicht imstande, a priori eine bestimmte Wirkung aus dem Begriff
einer Ursache abzuleiten, mit absoluter Notwendigkeit und Evidenz darzutun, dass und
warum, weil A auftritt, B mit ihm verknüpft sein muss. Die Regelmäßigkeit und
Gleichförmigkeit des bisherigen Geschehens beweist nicht, dass sie auch in Zukunft
statthaben muss, wenn wir sie auch erwarten; sie ist nicht logisch begründet. Das Prinzip
unseres kausalen Erkennens ist nicht die Vernunft, sondern die Gewohnheit, die „große
Führerin im menschlichen Leben“. Sie allein gestaltet unsere Erfahrungen nutzbringend. Ein
„natürlicher Instinkt“ treibt uns zum Glauben an konstante Kausalverknüpfung und
Gesetzmäßigkeit: er ist notwendig zur Erhaltung des Menschen, ist biologisch zweckmäßig.
Wir sind in allen Kausalurteilen auf die Beobachtung und Erfahrung angewiesen, welcher wir
die einzelnen, speziellen Gesetze entnehmen. Aber die Erfahrung - äußere und innere - zeigt
uns nichts von einer Kraft, von einem inneren Bande, welches notwendig die Wirkung aus
der Ursache hervorgehen lässt; ein besonderer „Eindruck“ der Ursächlichkeit, ein
Kausalerlebnis findet sich nirgends. Erst in der subjektiven Verbindung der Wahrnehmungen
und Vorstellungen liegt das Kausale und dieses ist, rein empirisch genommen, nur ein
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regelmäßiges Aufeinanderfolgen von Ereignissen, nichts mehr. Die Art und Weise, wie und
wodurch etwas wirkt, ist uns völlig unbekannt. Wir kennen nur - auch bei unseren
Willensakten - eine Aufeinanderfolge, erkennen nicht ein Bewirken. Die Kraft, durch die
etwas erfolgt, ist überall verborgen, gegeben ist nur eine mehr oder weniger konstante
Beziehung zwischen Vorgängen. Wir kennen Zusammenhänge (conjunction), aber keine
innere Verknüpfung (connexion). Das Plus, den inneren Zusammenhang, das „Durch“, die
notwendige Verknüpfung legen wir selbst in die Objekte hinein.
So ist die Kausalität rein subjektiven, psychologischen Ursprungs; ein Produkt der
Gewohnheit, indem auf Grund wiederholter, konstanter Assoziation zwischen zwei
Vorstellungen A und B das Auftreten der einen ein Gefühl subjektiver Notwendigkeit
erzeugt, zur anderen überzugehen, sie zu erwarten. Erst dieses Überzeugungsgefühl, dieser
feste „Glaube“ (belief), die Vorstellung B werde wieder auftreten, macht aus dem post hoc
ein propter hoc, welches letztere nichts objektiv Erfahrbares ist. Der „Glaube“, auf den sich
Hume beruft, ist ein lebhaftes, intensives Überzeugungsgefühl, das sich an Vorstellungen
und deren Ablauf knüpft, nicht etwa eine bloße Vermutung. Ungeachtet dieses subjektiven
Ursprungs des Kausalprinzips aus Assoziation, Gewohnheit und „Glauben“ können und
müssen wir es doch für Erfahrungsobjekte gebrauchen, auch zu immer allgemeineren
Ursachen und Gesetzen aufsteigen, ohne aber über metaphysische, transzendente
„Ursachen“ und Kräfte das Geringste ausmachen zu können (Positivismus). Der einzige
unmittelbare Nutzen der Wissenschaften besteht darin, „uns die Beherrschung und Regelung
künftiger Ereignisse durch ihre Ursachen zu lehren“ (Aktivismus).
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9. Einheit (19.01.2010) Prof. Dr. Udo Thiel Hume über die Seele und die persönliche Identität. Humes Selbstkritik. Humes Kritiker. Die Schottische Schule des „Common Sense“.
Vorweg gibt Prof. Thiel ein paar Informationen zur Klausur selbst: Es wird drei bis vier Fragen
über das geben, was wir tatsächlich in der Vorlesung besprochen haben; und auch nur
solche Themen, die ausführlich besprochen wurden (so sind zwischenzeitliche (und kleine)
Randbemerkungen – wie unter anderem zu Melbranche – nicht prüfungsrelevant). Vor allem
Descartes, Locke, Hume und Kant werden den Kern der Klausur bilden; und dazu auch nur
Fragen, die wir gut behandelt haben. Das nächste Mal werden wir noch einige
Themenschwerpunkte – die für die Prüfung wichtig sein könnten – wiederholen.
Unsere Ausführungen zu Hume werden wir in dieser Einheit heute - relativ kurz gehalten -
abschließen. Letztes Mal ging es um den zentralen Begriff der Kausalität und wieso dieser
denn nun so eine zentrale Rolle spielt wie er es bei Hume eben macht. Wir konnten sehen,
dass für Hume der Begriff der Kausalität aus der Erfahrung gewonnen werden muss; es muss
ein Eindruck von der Vorstellung der Kausalität gewonnen werden. Hume fand zunächst
keinen einzigen Eindruck, aus dem diese Vorstellung (der Kausalität) hergeleitet werden
könnte. Die Vorstellung entsteht letztendlich dadurch, dass wir eine regelmäßige
Wiederholung an Ereignisketten gleicher Art wahrnehmen, die zu einer Gewohnheit im Geist
führt, durch welche wir beim nächsten Auftreten von A wieder B erwarten und A damit als
Ursache von B ansehen. Für Hume ist das keine objektive Rechtfertigung von Kausalität. In
der Tat will er mit seiner Darstellung der Funktionsweise von Kausalität nur zeigen, wie der
Mensch seine Vorstellung über und von dieser bildet. Humes Lehre bzw. Meinung lassen uns
zwei Interpretationsmöglichkeiten offen: Entweder die, dass es (a) in der Realität keine
Kausalität gibt oder (b), dass man sie nur nicht erkennen kann.
V. HUME: IDENTITÄT/SKEPTIZISMUS
Den Identitätsbegriff kann man bei Hume recht kurz darstellen, da das dazugehörige
Argument analog zu demjenigen über Kausalität geführt wird. Mir nehmen alle an, dass es
kausale Verknüpfungen gibt – können dies aber nicht objektiv rechtfertigen. Ganz ähnlich ist
es mit der Vorstellung von persönlicher Identität. Es gab viele Menschen die meinen, dass
wir jederzeit durch ein unmittelbares Bewusstsein bzw. eine unmittelbare Erfahrung von
unserer Einheit bzw. Identität über die Zeit hinweg wissen, was schlussendlich einen Beweis
erübrige. Wir müssen damit leben, um nicht verrückt zu werden � das ist eine praktisch-
notwendige Annahme. Denn wie schon letztens gesagt: Wieso sollte ich mir heute die Zähne
putzen, wenn ich morgen nicht mehr annehmen kann, diese (idente) Person (mit diesen
identen, aber dann karieskranken Zähnen) zu sein? Aber können wir die Annahme
persönlicher Identität objektiv rechtfertigen? Woher kommt diese Vorstellung der
persönlichen Identität? Alle Ideen müssen aus Vorstellungen hergeleitet werden, um sinnvoll
sein zu können. Hume meint, dass die Erfahrung genau dieser Annahme der persönlichen
Identität widerspricht. Denn; was erfahren wir, wenn wir unsere eigenen Erfahrungen
betrachten? Finden wir dort ein einheitliches, über die Zeit identisches Ich? Nein, muss man
sagen. Wir nehmen nur einzelne Perzeptionen und deren Ansammlung war. Abgesehen von
den Metaphysikern kann man von allen anderen Menschen behaupten, dass sie nicht mehr
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als ein „Bündel von Perzeptionen“ sind („bundle or collection of perceptions“), da wir in und
aus der Erfahrung ein Ich, welches über dieses Bündel von Perzeptionen hinausgeht, nicht
finden können. Hume meint weiter, dass der Geist eine Art Theater sei:
4. „Der Geist ist eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander
auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen … Der Vergleich mit dem Theater darf
uns freilich nicht irre führen. Die einander folgenden Perzeptionen sind allein das, was
den Geist ausmacht“ (Traktat, Buch I, S. 327).
Das bedeutet also, dass die Metapher vom Theater fehlgeleitet ist, da es keine Bühne gibt,
auf der sich diese Perzeptionen abspielen. Es sind nur die Perzeptionen selbst, die wir hier
haben; aber kein Theater, welches diese Perzeptionen zusammenhält. Nun haben wir eine
Vorstellung eines identischen Ichs über die Zeit hinweg – Hume fragt sich sodann, wie es
eigentlich zu dieser Vorstellung kommt.
5. „Was macht uns nun aber so geneigt, diesen einander folgenden Perzeptionen
Identität zuzuschreiben und anzunehmen, wir besäßen unser ganzes Leben lang eine unveränderliche und ununterbrochene Existenz?“ (Traktat, Buch I, S. 328).
Ganz ähnlich wie beim Problem der Kausalität versucht Hume zu zeigen, wie diese „Ich-
Vorstellung“ durch die Einbildungskraft fingiert wird. Hume meint: Gut, das was wir an uns
wahrnehmen, sind einzelne Erfahrungen und Perzeptionen. Diese stehen aber in
bestimmten Beziehungen zueinander – das bedeutet, wir nehmen zwar kein Ich war,
nehmen aber doch wahr, dass diese Erfahrungen nicht völlig isoliert zueinander stehen. Zwei
dieser Beziehungen sind die der Ähnlichkeit und der Kausalität. Das bedeutet; wenn ich z.B.
meine heutigen Erlebnisse mit meinen gestrigen vergleiche, besteht zwischen diesen eine
Ähnlichkeit. Durch diese Beziehung verknüpft die Einbildungskraft die unterschiedlichen
Perzeptionen miteinander. Das gleiche Schema vollzieht sich wenn wir feststellen, dass es
zwischen den Perzeptionen einen kausalen Zusammenhang gibt. Wir können mithilfe der
Erfahrung z.B. feststellen, dass bestimmte mentale Zustände zu anderen Erfahrungen bzw.
Ereignissen führen. Perzeptionen stehen also in diesen beiden Beziehungen zueinander. Die
Einbildungskraft verknüpft jetzt aufgrund dieser Beziehung unsere Perzeptionen, welche
(fingiert) zu einem „Ich“ gehören.
6. „Die Identität ist nicht etwas, das diesen verschiedenen Perzeptionen realiter zukäme
und sie miteinander verbände, sondern lediglich eine Bestimmung, die wir ihnen
zuschreiben auf Grund der Verbindung, in die die Vorstellungen derselben in unserer
Einbildungskraft geraten, dann wenn wir über sie reflektieren“ (Traktat, Buch I, S. 336).
Dieses Band, das die Einbildungskraft erst kreiert hat, ist das, was wir das (eigene) „Ich“
nennen. Das heißt aber natürlich auch, dass dieses nur eine Fiktion der Einbildungskraft ist.
Damit ist nicht nachgewiesen, dass es solch ein Band tatsächlich gibt, sondern nur, die Art
und Weise wie die Einbildungskraft dazu kommt, sich solch ein Band zwischen den
Erfahrungen vorzustellen. Die wichtigste Relation scheint Hume aber nach wie vor die der
Kausalität zu sein:
7. „Wir haben überhaupt dann erst eine richtige Vorstellung von dem menschlichen
Geist, wenn wir ihn als ein System von verschiedenen Perzeptionen oder verschiedenen Existenzen betrachten, die durch kausale Beziehungen aneinander gekettet sind und
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sich gegenseitig hervorbringen, zerstören, beeinflussen und ändern“ (Traktat, Buch I, S.
337).
Hier wird der menschliche Geist nicht bloß als „Bündel von Perzeptionen“ angesehen,
sondern als ein System kausaler Relationen zwischen den Erfahrungen. Kann man hier denn
nicht fragen, ob es denn nicht seltsam sei, dass Hume in Bezug auf die persönliche Identität
auf die Kausalität abstellt, wiewohl er diese doch vorher (objektiv) erst abgelehnt hatte? Hier
stellt sich nach Ansicht von Prof. Thiel für Hume kein wirkliches Problem. Er sagt ja nicht,
dass die Kausalitätsvorstellung eine objektive ist, sondern einfach etwas, mit dem die
Einbildungskraft arbeitet und mit deren Hilfe sie unsere Perzeptionen verknüpft. Nach Hume
gibt es verschiedene Assoziationsprinzipien, mit derer Hilfe die Einbildungskraft
Perzeptionen im Geist verknüpft. Hier wird die Kausalität nur als Prinzip für die Arbeit der
Einbildungskraft eingesetzt.
Dennoch kann man an dieser Stelle sogleich einen ganz ähnlichen Einwand wie in Bezug auf
die Analyse von Kausalität einbringen: Ist es nicht so, dass Humes eigene Erklärung, wie es
zur Kausalitätsvorstellung kommen kann, diesen Begriff eigentlich nicht schon voraussetzt?
Kurz gesagt handelt es sich hier um den Vorwurf der Zirkularität. Denn: Wenn Hume schon
die Einbildungskraft als auch die Erinnerung (mit deren Hilfe wir eine Relation zwischen den
Perzeptionen feststellen sollen) voraussetzt, dann handelt es sich bei diesen Fähigkeiten um
solche, die selbst keine Perzeptionen sind, sondern einfach einem Subjekt zugeschrieben
werden müssen. Kurz gefasst kann man sagen: Um zu erklären, wie die Einbildungskraft die
„Ich-Vorstellung“ konstruiert, müssen wir schon annehmen, dass es so etwas wie ein „Ich“
jenseits der Perzeptionen gibt. Aber gerade das wollte Hume mit seiner Analyse
zurückweisen indem er sagte, dass das „Ich“ nichts anderes als ein „Bündel von
Perzeptionen“ sei. Wir haben auch hier wieder eine (offenbare) Zirkularität. Jetzt kann man
auf diesen Einwand natürlich auch mit der Frage antworten, welchen Status diese These
Humes eigentlich hat, sodass das „Ich“ nichts weiter als ein „Bündel an Perzeptionen“ sei.
Meint Hume damit, dass dieses „Bündel an Perzeptionen“ alles ist, was wir vom eigenen
„Ich“ erkennen können oder vielmehr, ob es dieses „Ich“ überhaupt gibt. Auch bei der
Beantwortung dieser Frage gibt es wieder zwei Interpretationsmöglichkeiten. Versteht Hume
seine These als eine ontologische, welche Aussagen über den menschlichen Geist macht
oder als eine erkenntnistheoretische; eine These, mit der er etwas über unsere „Erkenntnis
des Ichs“ aussagen will � erkenntnistheoretische oder ontologische These? Wäre es eine
ontologische These, dann würde der Einwand der Zirkularität (sehr wahrscheinlich)
schlagend werden. Ist seine These aber anders – also erkenntnistheoretisch – zu verstehen,
dann lässt er ja offen, ob es nicht tatsächlich ein „Ich“ bzw. ein Subjekt gibt, welches diese
Perzeptionen auflöst (� insofern ich mich selbst erfahre, kann ich nur sagen, dass ich ein
Bündel an Perzeptionen und Erfahrung bin). In dieser Variante seiner These wäre der
Vorwurf der Zirkularität nichtig, da in dieser Hume erst gar nichts zurückzuweisen hätte, was
er später aber noch voraussetzt. Wie ist Humes These nun genau zu verstehen? Die
traditionelle Lesart von Hume ist die, dass Hume tatsächlich meint, dass das „Ich“ lediglich
ein Bündel an Perzeptionen oder Erfahrungen sei. Diese Interpretation widerspricht Prof.
Thiels Meinung nach Humes wahrer Intention, da dieser im Vorwort zu seinem Traktat über
die menschliche Natur („A Treatise of Human Nature“) geschrieben hatte: „Das Wesen des
Geistes können wir nicht erkennen.“ Später (in seinem Werk) meint Hume aber, dass der
menschliche Geist ein Bündel von Perzeptionen sei und tut das, von dem er behauptete,
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dass er es nicht tun würde. Es gibt hier so viel Literstur, dass man laut Prof. Thiel damit sein
ganzes Leben verbringen könnte.
Ein weiteres Problem bei Hume ist aber noch wichtig, da dieses immer wieder in der
Literatur erwähnt wird. Hume hatte dieses Kapitel (über die persönliche Identität) im ersten
Buch seines Traktats geschrieben – es erschien zusammen mit dem zweiten Buch. Das dritte
Buch über die Moral folgte nur ein Jahr später und enthielt einen Anhang, in dem Hume
Reflexionen über das anstellt, was er zu einigen Themen in den ersten Büchern gesagt hatte.
Zumeist handelte es sich dabei nur um stilistische Änderungen, unter denen aber auch einige
inhaltliche Ausbesserungen – so unter anderem ein paar Seiten zur persönlichen Identität –
zu finden sind. Überraschenderweise sagt Hume dort, nur 1 Jahr nach Publikation der ersten
Bücher, dass das, was er dort gesagt hat, so nicht stimmen kann. Er versucht zu erklären,
was daran nicht stimmt. Leider ist fast keinem Leser als auch Wissenschaftler daran klar, was
Hume damit denn eigentlich meint. Es gibt zu diesen paar Seiten von Hume mächtig
Literatur. Hume meinte in seinem Text lapidar, dass es hier Probleme gibt und er sie nicht
lösen kann. Tatsächlich beschäftigt er sich nie wieder mit diesen Themen (vor allem der
persönliche Identität); er gibt dafür auch keine Gründe an und belässt es einfach dabei.
Worin besteht nun das Problem, welches Hume mit seiner eigenen Analyse von persönlicher
Identität hat? Warum erklärt uns das Prof. Thiel (vor allem auch die Thematik der
persönlichen Identität), wenn schon Hume selbst sagt, sie stimmt nicht. Worum geht es
also?
8. „Nachdem ich aber in solcher Weise das Band zwischen den einzelnen Perzeptionen
beseitigt hatte, ging ich dazu über, das verknüpfende Prinzip zu bezeichnen, das sie
aneinanderbindet und uns veranlasst, ihnen reale Einfachheit und Identität
zuzuschreiben. Und hier bin ich mir bewusst, nur eine mangelhafte Erklärung gegeben
zu haben“ (Traktat, Buch I, S. 363).
Was war nun dieses verknüpfende Prinzip? Es war jenes der Kausalität, das zwischen den
Perzeptionen bestehen soll. Bei dieser Erklärung stimmt nach Hume etwas nicht. Und auch in
der Literatur gibt es darüber keine Einigkeit. Das heißt, Hume weist keineswegs seine
gesamte Theorie von Buch 1 zurück. Er lehnt nicht ab, dass wir das „Ich“ nur als Bündel von
Perzeptionen wahrnehmen oder seine These, dass wir zwischen diesen Relationen
Beziehungen wahrnehmen oder die These, dass wir aufgrund dieser Relationen eine Fiktion
von einem einheitlichen „Ich“ bilden. Man kann sagen, in diesem Punkt hat Hume Recht -
denn: Wenn man sich das genau überlegt, muss man sich fragen, wieso uns die kausalen
Relationen dazu bringen, von einem „einheitlichen Ich“ zu sprechen bzw. zu denken (also
dieses seitens der Einbildungskraft zu fingieren). Man kann behaupten, dass es doch Sinn
macht wenn man sagte, wir haben ein Bündel von Perzeptionen und ebenso ein anderes
Bündel von Perzeptionen mit kausalen Relationen zueinander (also wenn Menschen als
solche Bündel an Perzeptionen in kausaler Relation zueinander stehen). Das heißt also, es
kann durchaus kausale Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Bündeln von
Perzeptionen geben; so kann die Eifersucht meiner Freundin meinen Ärger hervorrufen.
Deswegen gehört diese Eifersucht nicht zu meinem Bündel an Perzeptionen. Das bedeutet,
dass die kausale Relation nicht erklären kann, wie die Einbildungskraft zu der Vorstellung
eines „Ichs“ kommt. Genau das sagt - Prof. Thiels Meinung nach – Hume in seinem Anhang
Somit bliebe auch alles andere – all seine übrigen Thesen und Erkenntnisse - von Hume
bestehen; der einzige – und wichtige - Aspekt den Hume verwirft ist der, wie die
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Einbildungskraft zur persönlichen Identität kommt. Hume kennt dazu im Rahmen seiner
Philosophie keine Lösung.
Prof. Thiel möchte dazu - und zu Humes Skeptizismus – ein paar abschließende
Bemerkungen machen. Wir haben letztens schon gesehen, dass wir zwischen verschiedenen
Lesarten bei Hume unterscheiden zu müssen. Hume war als ein Skeptizist bekannt, wobei er
aber eigentlich ein „sceptical realist“ war, indem er die kausalen Relationen annimmt und
behauptet, dass wir diese nicht erkennen können bzw. gleich behauptet, dass es diese
kausalen Relationen nicht gibt. Nun könnte man sagen, dass seine Philosophie insofern
skeptisch ist, indem er sagt, dass wir nicht positiv erkennen können, worum es sich bei
diesem „Ich“ nun handelt, selbst wenn es ein solches gibt. Humes zweites Buch handelt über
Emotionen; hier ist man sich seines eigenen „Ichs“ bewusst (so wenn wir z.B. wütend oder
beleidigt sind). Das widerspricht seiner These aus dem 1. Buch, wonach es kein „Ich-
Bewusstsein“ gibt. Laut Prof. Thiel liegt hier kein Widerspruch begraben, da er hier mit der
Vorstellung eines „Ichs“ arbeitet und dieses ja nicht annimmt. Um aber Affekte wie Stolz
erklären zu können, bedarf es der Vorstellung eines „Ichs“. Wenn ich z.B. sage „Ich bin stolz
darauf in der Jugendzeit der beste Stürmer meiner Heimatmannschaft gewesen zu sein“,
dann bedeutet dies, dass wir uns selbst eine bestimmte Eigenschaft zuzuschreiben. Dies
setzt allerdings voraus, dass ich selbst eine Vorstellung vom eigenen „Ich“ voraussetze. Es
besteht kein Widerspruch dazu, dass wir vom „Ich“ genau genommen nichts weiter als
Perzeptionen erkennen können. So wie wir mit der Annahme von kausalen Verknüpfungen
leben müssen, müssen wir mit der „Ich-Vorstellung“ leben.
9. „Wir müssen unterscheiden zwischen der persönlichen Identität, soweit sie unser
Denken und unsere Einbildungskraft betrifft, und der persönlichen Identität, soweit sie
unsere Affekte und den Anteil (concern), den wir an uns selbst nehmen, betrifft”
(Traktat, Buch I, S. 328).
Humes Skeptizismus ist nicht gegen unsere Alltagsüberzeugungen gerichtet, da Hume nach
eigenen Angaben einen „akademischen Skeptizismus“ betreibt, bei dem es darum geht, ob
wir diese Vorstellung eines „Ichs“ auch rechtfertigen können. Und wenn nicht – wie kann
man erklären, dass wir sie trotzdem haben? Insofern ist der Humesche Skeptizismus nicht so
radikal, wie es zunächst den Anschein macht.
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I. KANT. KRITIK DER REINEN VERNUNFT Die Philosophie Immanuel Kants knüpft kritisch an
die Philosophie Humes an (ebenso wie an die
Descartes und anderer Rationalisten). Kant war mit
der Philosophie des 18. Jahrhunderts (und auch der
davor) gut vertraut. Kants Philosophie wird so
dargestellt, dass er eine Synthese zwischen
Rationalismus (unter anderen Descartes) und
Empirismus (etwa Hume oder Locke) herzustellen
versuchte. Aber zunächst beginnen wir mit ein paar
allgemeinen Anmerkungen zu Immanuel Kant. Zu
seiner Biographie gibt es eigentlich gar nicht viel zu
sagen, obwohl es eine recht neue von Manfred
Kühn gibt. In seinem Werk geht es hauptsächlich
um die intellektuelle Entwicklung Kants. Kant
scheint ein sehr geruhsames Leben geführt zu
haben (welches einem penibelst geordnetem
Zeitplan unterworfen war), mit Ausnahme zweier
kurzer Reisen (er blieb ansonsten nur in seiner
Geburtsstadt Königsberg). Er engagierte sich
keineswegs politisch (wie viele andere Philosophen
(seiner Zeit)), obwohl er unpopuläre Ansichten zur
Religion veröffentlichte. Ein paar Aspekte seiner Biografie sind aber dennoch
erwähnenswert; so z.B. die Tatsache, dass er von den in dieser Lehrveranstaltung
behandelten (innovativen) Philosophen der erste ist, der sein Brot als Universitätsprofessor
verdiente (Locke schaffte dies nur kurz (hatte dann genug von der Universität), Descartes,
Hume und viele andere „blieben auch der Universität fern“). Ein anderer Aspekt der oft
erwähnt wird ist der, dass sein Umfeld sehr religiös geprägt war (was zu dieser Zeit ja Gang
und Gäbe war). Das besondere daran war aber die Spielart der Religiosität, die – vor allem
auch in seiner Familie – praktizierte wurde; nämlich der Pietismus, bei welchem Pflicht und
Gewissen sowie harte Arbeit im Vordergrund standen. Vor allem diese Begriffe kommen
auch in Kants Moralphilosophie vor, welche sich aber keineswegs darauf reduzieren lässt. Er
schrieb auch noch ein äußerst religionskritisches Werk am Ende seines Lebens – nämlich:
„Religiosität innerhalb der Vernunft“. [„Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ist
eine religionsphilosophische Schrift von Immanuel Kant, die zwischen 1793 und 1794 erschienen ist. Kant
entwickelt darin eine philosophische Religionslehre, die eine auf Vernunft beruhende Religion entwirft, die
sogenannte Vernunftreligion. Dazu werden die Idee der Freiheit, die Idee der Unsterblichkeit der Seele und die
Idee Gottes als unbeweisbare, aber notwendige Postulate der Vernunft charakterisiert. Den Menschen selbst
entwirft Kant dabei als eine Person, in der gutes Prinzip und böses Prinzip miteinander notwendig im Wettstreit
liegen. Die Religionsschrift gilt als eines der bekanntesten Werke Kants.] Er studierte neben Philosophie
auch Theologie und die Naturwissenschaften. Seine erste Publikation war aus dem Bereich
der Naturwissenschaften. Er bekam erst 1770 eine (bezahlte) Professur an der Universität
Königsberg (zuvor war er unbezahlter Privatdozent). [Exkurs aus Wikipedia: Der Pietismus ist nach
der Reformation die wichtigste Reformbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus. Der Pietismus
entsprang einem Gefühl der mangelhaften Frömmigkeit, unzureichender christlicher Lebensführung und dem
Drang zur Verifizierbarkeit des persönlichen Glaubens. Theologisch reagiert er auf die Spannung und das
Trauma des Dreißigjährigen Krieges durch Neuorientierung auf die Bibel bzw. die christlichen Traditionen.
Durch die im 18. Jahrhundert aufkommende Aufklärung gerieten die Vertreter des Pietismus ebenso wie die
der altprotestantischen Orthodoxie sukzessive in die Defensive und verloren zunehmend an Einfluss. In der
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Aufklärung wurde das traditionelle Weltbild durch neue Erkenntnisse der Naturwissenschaft erschüttert und
die offizielle Theologie von der aufklärerischen Philosophie angegriffen. Die Theologie reagierte darauf mit
einer zunehmenden Verwissenschaftlichung, wurde aber für die normalen Gemeindemitglieder immer
unverständlicher.]
1770 publizierte er auch noch ein (relativ kurzes) Buch, welches den ersten Anstoß zu seiner
späteren Philosophie legte, für die er später auch berühmt wurde. Es ging um „Die Formen
und Prinzipien der Sinnes- und Verstandeswelt“, welches schon gewisse Vorstellungen der
„Kritik der reinen Vernunft“ enthielt. Zunächst wollte Kant dieses erste Werk nur umändern,
was schließlich aber dazu führte, dass er zehn Jahre nichts von Bedeutung publizierte. Kant
dachte also zehn Jahre nach und schrieb nach eigener Aussage innerhalb von vier bis fünf
Monaten sein 800-seitige Werk „Die Kritik der reinen Vernunft“ (Mai 1781). Kant aber war
damit letztendlich immer noch nicht zufrieden und publizierte 1787 (mit vielen (wichtigen)
Änderungen) eine 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“. Die Zitierweise von Kants
Werken bezieht sich immer auf diese beiden Auflagen. Die erste Auflage ist mit A, und die
zweite mit B gekennzeichnet. Egal welche Edition
man vor sich hat, wann wir am Seitenrand immer
diese Paginierung von A und B finden. Inhaltlich
kann man dazu ganz allgemein sagen, dass es in
„Die Kritik der reinen Vernunft“ um zwei große
Themen geht. Erstens geht es um das, was wir
heute als Erkenntnistheorie und zweitens um
das, was wir heute als Metaphysik bezeichnen
würden. Bei der Metaphysik geht es darum, dass
Kant darin die traditionelle rationalistische
Metaphysik kritisiert. Nach diesen Jahren des
Schweigens brachte Kant dann eine Flut von
Publikationen heraus– so unter anderem seine
„Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785).
Diese „drei Kritikbücher“ gelten als Kants
Hauptwerke und werden als „Kants kritische Philosophie“ zusammengefasst. Bis 1770 spricht
man von „Kants vorkritischer Philosophie“. Das
heißt natürlich nicht, dass er davor unkritisch
oder unvernünftig war, sondern nur, dass er
diese Werke noch nicht geschrieben hatte. Kants
Philosophie ist nach Prof. Thiels Meinung bis zum
heutigen Tage unerlässlich; fast jeder Philosoph
bezieht sich in der ein oder anderen Weise auf Kants Werke, Denken und Thesen. Der Text
der „Kritik der reinen Vernunft“ ist nicht besonders leicht zugänglich; dennoch: diese
Tatsache konnte den Einfluss seines Werkes nicht mindern. Die „Kritik der reinen Vernunft“
ist das wichtigste Werk und die Grundlage für all das, was danach kommt; also Kants
kritische Philosophie, als auch seine Moral-, Kunst- oder Rechtsphilosophie. Ganz am Anfang
des Semesters haben wir von der Aufklärung gesprochen; hier stellt Kant ein ganz wichtiges
Stadium dar. Es war für seine Zeit außergewöhnlich, dass das, worüber in der Zeit
argumentiert wird, auch gleichzeitig kritisch reflektiert wird; so z.B. im Aufsatz von Kant
„Was ist Aufklärung?“. Dies war ihm ein großes Anliegen; die Aufklärung war nach Kant der
Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Die Aufklärung wird
eng mit dem Namen Kant verbunden. Berühmt ist vor allem seine Definition derselben:
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„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn
die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und
des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude
[wage es verständig zu sein]! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Berlinische Monatsschrift, 1784,2, S. 481–494)
Nun zur „Kritik der reinen Vernunft“ an sich (obwohl der Termini „an sich“ seit Kant in der
Philosophie reserviert ist). Prof. Thiel möchte erklären, worum es Kant in diesem doch so
berühmten Werk geht. Am besten fängt man nach Prof. Thiel damit an, dass man sich den
Titel des (oder überhaupt eines) Werks genau ansieht; also: „Kritik der reinen Vernunft“. Es
geht somit um Kritik und Vernunft. „Kritik“ ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt
negativ zu verstehen. Es geht um eine Analyse als auch die kritische Bewertung der Leistung
der reinen Vernunft. Es kann durchaus sein, dass Kant der reinen Vernunft etwas Positives
abgewinnen kann. „Reine Vernunft“ hört sich fast so an, als würde es um ein
„Reinheitsgebot des Denkens“ gehen. Nun - was ist mit „rein“ hier gemeint? „Rein“ bedeutet
hier apriorisch. Wir haben bereits gesehen, dass das Apriori die Erfahrungsunabhängigkeit
meint. Aussagen sind genau dann a priori wahr oder falsch, wenn sich ihr Wahrheitswert
unabhängig von der Erfahrung feststellen lässt. Der Titel der „Kritik der reinen Vernunft“
bedeutet also eine Analyse der Vernunft insofern, als dass diese zu Aussagen kommt, welche
die Erfahrung überschreiten. Genau darum geht es Kant aber auch in der traditionellen
Metaphysik. Kant stellt in der Vorrede der reinen Vernunft die Metaphysik als einen
„Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ dar. Diese Streitigkeiten entstehen nach Kant dadurch,
dass die Metaphysik seiner Zeit sich über die Grenzen der Erfahrung hinausbewegt; und zwar
mit Thesen, die nicht bloß die Mathematik oder Logik, sondern auch die Realität betreffen.
Die Metaphysik macht Aussagen – z.B. über Idee der menschlichen Seele, Gott oder die Welt
als Ganzes – unabhängig von der Erfahrung, also a priori. Aussagen über die Realität werden
ohne Berufung auf jedwede Erfahrung getätigt. Wir kennen das von Descartes, als er aus
reiner Vernunft die Existenz Gottes ebenso wie die Immaterialität der Seele beweisen wollte.
Kant versuchte diese Wissensbehauptungen zu untersuchen und festzustellen, ob diese
überhaupt gerechtfertigt werden können. An dieser Stelle kommen wir wieder auf unsere
beiden bereits eingangs erwähnten Unterscheidungen zurück:
a priori � a posteriori
analytische � synthetische Urteile
Diese Termine sind für Kants Philosophie äußerst relevant. Eine Aussage ist dann analytisch,
wenn der Prädikatbegriff den Subjektsbegriff lediglich erläutert, aber nicht über diesen
hinausgeht; so z.B. die Aussage „Alle Junggesellen sind unverheiratet“. Das bedeutet nur,
dass das „Unverheiratet sein“ zum Begriff von Junggeselle gehört; es wird hier nur expliziert,
was ohnedies im Subjektsbegriff enthalten ist. Um diese Aussage als wahr zu erkennen, muss
ich nicht erst die Erfahrung befragen, weshalb sie auch apriorisch sind. Wenn ich sage, alle
Junggesellen sind Österreicher, dann kann diese Aussage möglicherweise falsch sein. Denn:
Das „Österreicher sein“ ist keineswegs im Begriff des Junggesellensein enthalten. Solche
Sätze, die über das hinausgehen, was im Begriff schon enthalten ist, nennt man synthetisch.
Solche Aussagen kann man anhand der Erfahrung verifizieren, anstatt mit der Analyse von
Begriffen. [Exkurs aus Musgraves „Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus“: Hier noch einmal die
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beiden Unterscheidungen, welche zum ersten Mal von dem deutschen Philosophen Immanuel Kant scharf
formuliert wurden. Die erste Unterscheidung ist die zwischen apriorischem und aposteriorischem Wissen:
apriorisches Wissen ist dasjenige Wissen, das unabhängig von der Erfahrung gewonnen werden kann, und
aposteriorisches Wissen ist solches, das nur durch Erfahrung zu gewinnen ist. Zwei Bemerkungen über die
Definition des apriorischen Wissens sind nötig. Erstens kann ein Bestandteil des Wissens auch dann a priori
sein, wenn irgendjemand es psychologisch gesehen tatsächlich als Resultat der Erfahrung erworben hat. Wenn
dieses Wissen unabhängig von der Erfahrung hätte erworben werden können, dann ist es a priori. So mag eine
Person tatsächlich durch das Zählen von Objekten - also als Resultat der Erfahrung - dazu gekommen sein zu
glauben, dass sieben plus fünf gleich zwölf ist. Aber da diese Wahrheit unabhängig von Erfahrung gewusst
werden kann, bleibt sie eine apriorische Wahrheit. Zweitens mag ein Bestandteil des apriorischen Wissens von
der Sprachkenntnis einer Person abhängen, und diese Person mag die Sprache durch Erfahrung gelernt haben.
Aber wenn es einer Person, nachdem sie eine Sprache gelernt hat, gelingen kann, eine Wahrheit ohne jede
weitere Erfahrung zu wissen, dann ist diese Wahrheit a priori gewusst. Kants erste Unterscheidung ist eine
erkenntnistheoretische, eine Unterscheidung zwischen zwei Typen von Wissen. Die zweite Unterscheidung ist
logisch oder semantisch: Es ist die zwischen analytischen und synthetischen Wahrheiten. Analytische Wahrheiten werden traditionellerweise als solche definiert, die wahr sind aufgrund der Bedeutungen der
Worte, die sie enthalten; das Lieblingsbeispiel dazu lautet „Alle Junggesellen sind unverheiratet“. Diese
Kantsche Bestimmung ist, abgesehen von ihrem metaphorischen Charakter, beschränkt auf Subjekt-Prädikat-
Aussagen. Kant gab, vielleicht weil er das erkannte, noch eine andere Erläuterung der Analytizität: Eine
Wahrheit ist analytisch, wenn ihre Wahrheit aus dem Gesetz des Widerspruchs allein folgt. Wir können das so
auffassen, dass eine Wahrheit analytisch ist, wenn ihre Negation einen Widerspruch involviert, also wenn sie
durch reductio ad absurdum bewiesen werden kann. Synthetische Wahrheiten können wir einfach als
Wahrheiten definieren, die nicht analytisch sind. Wir können auch von analytischen und nicht-analytischen
Falschheiten sprechen, die nach dem Vorhergehenden in offensichtlicher Weise zu definieren sind. Dann
besteht der Bereich des Analytischen im Allgemeinen aus den Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit aus
den Bedeutungen der Worte folgt, die sie enthalten. Im Folgenden ist, wie üblich, eine Aussage, die als
analytisch bezeichnet wird, als analytisch wahr aufzufassen. Die zwei angegebenen Unterscheidungen - die
erkenntnistheoretische und die logische - liefern uns vier Möglichkeiten, die man mit Hilfe des Kantschen
Kastens darlegen kann:]
Rechts oben im „Kantschen Kasten“ macht
er ein X, weil es ein Widerspruch an sich
wäre. Die große Frage, die sich Kant stellt, ist
die, ob es synthetisch-apriorische Urteile
gibt. Das sind Aussagen, welche unsere
Erkenntnis erweitern, aber nicht bloß
analytisch sind, sondern uns auch etwas
über die Realität zu erkennen geben – z.B.
die Seele ist ein materielles Wesen oder
Gott existiert als ein allmächtiges Wesen.
Das sind üblicherweise Aussagen, von denen
die traditionellen Metaphysiker behaupten, sie könnten aus reiner Vernunft – also a priori -
bewiesen werden. Hier ist die große Frage: Wie sind synthetisch-apriorische Urteile möglich?
Das hängt zusammen mit dem Titel des gesamten Buches. Den Titel kann man als Kritik der
synthetisch-apriorischen Vernunft verstehen. Es geht Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“
darum, ob die reine Vernunft zu Aussagen kommen kann, die nicht bloß analytisch sind,
sondern auch etwas über die Realität aussagen können.
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10. und letzte Einheit (26.01.2010) Prof. Dr. Udo Thiel Immanuel Kant. Allgemeine Einführung. Kants Antwort auf Hume. Der Begriff des Transzendentalen. Das letzte Mal wollte Prof. Thiel erklären, worum es Kant in seinem Werk „Kritik der reinen
Vernunft“ geht. Das Wort „rein“ kann bei Kant als im Sinne von apriorisch verstanden
werden; also Erkenntnisse unabhängig von jeder Erfahrung. Kant versucht zu analysieren ob
es möglich sei, Erkenntnis über die Realität mittels apriorischer Vernunft zu erlangen. Hier
geht Prof. Thiel noch einmal auf „Kantschen Kasten“ ein, bei welchem es vor allem um das
synthetische Apriori – also erfahrungsunabhängige Erkenntnis – und die Frage geht, ob es
eine solche Art der Erkenntnis gibt. Gibt man dieser Frage eine negative Antwort, so hat dies
zur Konsequenz, dass die gesamte Metaphysik von Descartes, Leibnitz und deren Nachfolger
in sich zusammen bricht. „Was bleibt?“ ist ein Zitat darauf von Kant, mit welchem man nach
Prof. Thiel auch heute noch etwas anfangen kann.
II. KANT. KRITIK DER REINEN VERNUNFT – STRUKTUR
Prof. Thiel hat letztens schon angedeutet, dass Kant die Philosophie seiner Zeit – also vor
allem die philosophische Tradition in der er aufgewachsen ist– ablehnt; Kants eigener
philosophischer Ansatz stellt für sich alleine etwas total Neues dar. Um zu bestimmen, worin
dieses „Neue“ besteht, muss man wissen, was Kant denn eigentlich ablehnt. Zu seiner Zeit
gab es vor allem den Rationalismus eines Descartes oder Leibnitz und den Empirismus mit
solchen Vertretern wie John Locke oder David Hume. Nun stellt sich die Frage, was denn
Kant an der Philosophie seiner Zeit so problematisch fand. Kant beschreibt die Situation der
Philosophie – wie sie sich seiner Meinung nach eben darbietet - im Vorwort zur ersten
Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“. Er stellt dort die Streitigkeiten der Metaphysik dar
und sagt: „Metaphysik ist ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten.“ [Exkurs aus „Immanuel Kant“
von Otfried Höffe: Obwohl im Einzelnen die Argumentation gelegentlich einen verschlungenen Weg nimmt, ist
Die Kritik der reinen Vernunft im Ganzen ein gut komponiertes Werk. Mit einem Gespür für dramatische
Spannung legt die „Vorrede“ zur ersten Auflage jene tragische Lage der menschlichen Vernunft dar, die ihre
Kritik notwendig macht, die folgenden Untersuchungen leitet und erst nach einem großen Bogen im zweiten
Teil, der „Dialektik“, ihre Auflösung findet. Ohne umständliche Erklärungen springt Kant gleich in die Szene, die
verfahrene Situation der Metaphysik: dass sie als notwendig und zugleich unmöglich erscheint. Denn der
menschlichen Vernunft drängen sich gewisse Fragen auf, die sich nicht abweisen, aber auch nicht beantworten
lassen. Die Fragen lassen sich nicht abweisen, da die Vernunft angesichts der Mannigfaltigkeit von
Beobachtungen und Erfahrungen nach allgemeinen Grundsätzen sucht, durch die die Mannigfaltigkeit nicht als
ein Chaos, vielmehr als ein strukturiertes Ganzes, als Zusammenhang und Einheit, erscheint. Schon die
Naturwissenschaften fragen nach solchen Grundsätzen, die sie in allgemeinen Theorien zusammenfassen. Die
Metaphysik will nichts anderes, als das Fragen bis zum vollständigen Ende durchhalten, statt es auf halbem
Weg abzubrechen. Das Fragen vollendet sich erst bei Grundsätzen, die nicht mehr von weiteren Grundsätzen
bedingt sind; die schlechthin letzten Grundsätze sind unbedingt. Solange sich die Vernunft an Erfahrung hält,
findet sie nur immer entferntere Bedingungen, aber kein Unbedingtes. Um ihr Fragen trotzdem zu vollenden,
nimmt sie „zu Grundsätzen ihre Zuflucht ..., die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und
gleichwohl so unverdächtig scheinen, dass auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse
steht“. Die letzte Grundlage der Erfahrung scheint jenseits aller Erfahrung zu liegen. Ihre Erforschung heißt
daher Metaphysik, wörtlich: jenseits (meta) der Physik, der Naturerfahrungen. Der Versuch, unabhängig von
der Erfahrung Erkenntnisse zu gewinnen, stürzt die Vernunft „in Dunkelheit und Widersprüche“. Auf der einen
Seite, zeigt Kant später, sprechen gute Gründe dafür, dass die Welt einen Anfang hat, dass es Gott gibt, der
Wille frei und die Seele unsterblich ist; auf der anderen Seite finden sich ebenso gute Gründe für die
entgegengesetzten Behauptungen, und die Frage, was denn richtig ist, lässt sich nicht beantworten. Da die
behaupteten Grundsätze die Basis der Erfahrung bilden sollen, ist man versucht, sie an der Erfahrung zu
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überprüfen. Doch verbietet sich die Erfahrung als Maßstab, da die metaphysischen Grundsätze
definitionsgemäß jenseits aller Erfahrung liegen. Das, was die Metaphysik ausmacht, das Übersteigen der
Erfahrung, ist zugleich der Grund, der sie als Wissenschaft unmöglich macht. Nicht äußere Hindernisse stehen
der Metaphysik entgegen. Es ist ihr eigenes Wesen, die erfahrungsunabhängige oder reine Vernunfterkenntnis,
die ihr im Wege steht; die „Metaphysik wird zum Kampfplatz prinzipiell endloser Streitigkeiten“.]
Was ist genau mit Metaphysik gemeint? Heutzutage wird Metaphysik als Begriff viel weiter
gebraucht als zu Kants Zeit. Zu dieser Zeit ist Metaphysik eine Disziplin der Wissenschaft, die
von Rationalisten wie Descartes und Leibnitz vertreten wurde; eine Lehre, die versucht aus
reiner Vernunft Aussagen über die Objektivität bzw. Realität zu treffen (� „Sie zeigt sich
genötigt zu Grundsätzen Zuflucht zunehmen, die allen Erfahrungsbereich überschreiten.“).
Metaphysik wird hier als eine Ansammlung von Aussagen über die Realität verstanden,
welche jede für sich den (menschlichen) Erfahrungsbereich überschreiten. Es handelt sich
um den Versuch - um in Kants Terminologie zu bleiben – synthetisch-apriorische Wahrheiten
zu erlangen. Kant hatte festgestellt, dass dieses Unterfangen eines Angriffs auf die
traditionelle rationale Metaphysik bereits von Philosophen wie Locke unternommen wurde;
so hatte schon Locke eine Kritik des Rationalismus vorgetragen. Kant ist sehr wohl mit der
Tradition des Empirismus als auch mit der des Rationalismus vertraut (wobei Hume von Kant
nicht explizit erwähnt wird). In einem anderen Werk nennt Kant Hume als einen ganz
wichtigen Vorgänger seiner eigenen Philosophie, da dieser ihn aus seinem „dogmatischen
Schlummer“ geweckt habe; und dieser Schlummer (Kants) bestand in der traditionellen
rationalen Metaphysik von seiner Zeit. [Zitat Kant aus Prolegomena, A 143, § 50: „Dieses Produkt [die
kosmologischen Ideen] der reinen Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch ist das merkwürdigste
Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen
Schlummer zu erwecken, und sie zu den schweren Geschäfte der Kritik der reinen Vernunft selbst zu bewegen.“]
Die rationale Metaphysik wurde damals auf Grundlage von Lehrbüchern, welche
Universitätsprofessoren niedergeschrieben hatten, gelehrt. Ausgangspunkt der in diesen
Lehrbüchern niedergeschrieben Lehre war Leibnitz‘ Philosophie: dies scheint ob der Tatsache
beachtlich, dass seine Texte keineswegs als Lehrbücher geeignet waren, da diese auf sehr
viele Werke (Briefe, Aufsätze und dergleichen) verteilt waren. Christian Wolff übernimmt zu
großen Teilen die Philosophie von Leibnitz und bringt sie schlussendlich in einen
systematischen Zusammenhang, sodass die Philosophie von Leibnitz als Lehrinhalt an
Universitäten unterrichtet werden konnte. Die Lehrbücher von Wolff selbst – oder auch
seiner Schüler – waren an den deutschen Universitäten dieser Zeit weit verbreitet (über 100
Professoren waren Anhänger der „Leibnitz-Wolffschen Philosophie“ und lasen mit wenigen
Abweichungen in ihren Vorlesungen daraus vor). Diese Tatsache ist deswegen für uns
wichtig, da man an diesen Lehrbüchern sehen kann, wie sich „Die Kritik der reinen Vernunft“
in der Tradition spiegelt, die Kant selbst ja ablehnt. Kant reagierte aber auf die Philosophie
seiner Zeit; das drückt sich in der Struktur seines Werkes aus, aus welcher man Wesentliches
über den Inhalt desselben erfahren kann. Wie wurde nun die Metaphysik seiner Zeit gelehrt?
Diese Metaphysik bestand aus zwei Teilen; einem allgemeinen (metaphysica generalis) und
einem speziellen (metaphysica specialis) Teil. Im allgemeinen Teil wurde das betrieben, was
Ontologie genannt wurde. Hier geht es um die allgemeinsten Bestimmungen (aus reiner
Vernunft) des Seienden überhaupt. Zu diesen Begriffen, die in Zusammenhang mit diesem
allgemeinen Teil untersucht wurden, gehören Wesen, Existenz, Aktualität, Form, Materie
und Essenz. Hierbei handelt es sich um Begriffe, die schon aus und seit der aristotelischen
Metaphysik bekannt sind. In den speziellen Teilen der Metaphysik geht es um bestimmte
Arten des Seienden – wie z.B. das Verhältnis zwischen Substanz und Akzidenz -; so wurde
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auch zwischen unterschiedlichen Arten von Substanzen unterschieden. Vor allem gab es eine
ganz essentielle Dreiteilung in der speziellen Metaphysik:
(1) Geistige Substanzen (z.B. die menschliche Seele) � Psychologie;
(2) Die Welt als Ganzes (Kosmos) � Kosmologie;
(3) Gott � philosophische Theologie.
Das sind also die drei Hauptthemen der speziellen Metaphysik wie sie in der Zeit vor Kant
gelehrt wurden. [Exkurs aus Wikipedia: Traditionell wird die Metaphysik in einen allgemeinen
(metaphysica generalis) und einen speziellen (metaphysica specialis) Zweig geschieden; den ersten bildet die
Ontologie, der andere umfasst die philosophische Theologie, Psychologie und Kosmologie: Die allgemeine
Metaphysik hat von allen Wissenschaften die höchste Abstraktionsstufe; sie fragt nach den allgemeinsten
Kategorien des Seins und heißt deshalb auch Fundamentalphilosophie. Sie beschäftigt sich damit, was Dinge,
Eigenschaften oder Prozesse ihrem Wesen nach sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Sofern
sie das Seiende als Seiendes untersucht, spricht man von Ontologie bzw. Seinslehre. Die rationale Theologie
fragt nach der ersten Ursache allen Seins, das heißt nach Gott als dem höchsten Sein und als Grund aller
Wirklichkeit. Diese philosophische Teildisziplin wird auch Philosophische oder Natürliche Theologie genannt.
Die rationale Psychologie beschäftigt sich mit der Seele bzw. dem (menschlichen) Geist als einfacher Substanz
(Anthropologie). Die rationale Kosmologie untersucht das Wesen der Welt, das heißt den Zusammenhang alles
Seienden im Ganzen. Als Lehre des Aufbaus der materiellen Welt als einem natürlichen System physischer
Substanzen fällt sie schon seit der Antike im Wesentlichen mit der Naturphilosophie zusammen.] 1719
veröffentlichte Christian Wolff die deutsche Metaphysik in seinem Werk „Vernünftige
Gedanken“; Vernunft ist auch hier im apriorischen Sinne zu verstehen. „Vernünftige
Gedanken“ handelt über Gott, die Welt und die Seele des Menschen als auch (in der Sache
liegend) über die Dinge überhaupt. Kant hat im Vorwort der „Kritik der reinen Vernunft“
darauf hingewiesen, dass diese (deutsche) Metaphysik im Grunde schon von den
skeptischen Philosophen wie John Locke kritisiert worden ist. Ebenso erkannte er auch David
Hume als Kritiker der dogmatischen Metaphysik, dass diese nicht nach der
Erkenntnismöglichkeit an sich fragt, sondern einfach danach, worin das Wesen der Dinge
besteht; somit fragte man nicht, ob eine letzte Erkenntnis für den Menschen überhaupt
möglich sei.
Diese Frage nach der Möglichkeit einer letzten Erkenntnis ist das Thema der „Kritik der
reinen Vernunft“. Ist es der menschlichen Vernunft überhaupt möglich, solche eine
Erkenntnis zu erlangen? Kant meinte aber auch, dass das was Locke und Hume diesbezüglich
betrieben haben, ebenso unbefriedigend sei. Aber auch diese Kritik der Metaphysik seitens
der Empiristen ist irgendwie dogmatisch und gerät in eine Sackgasse, da die Empiristen die
Möglichkeit der Erfahrung, auf welche sie sich selbst ständig berufen, von ihnen nicht
reflektiert wird. Das was Kant sodann gemacht hat, bestand nicht einfach darin Empirismus
und Rationalismus irgendwie zusammenzukleistern. Nein, sein Anspruch bestand darin,
aufgrund seiner Kritik an diesen philosophischen Traditionen - etwas total Neues zu
schaffen. Kant wollte eine Art Revolution bzw. Wende in der Philosophie schaffen. Das wird
sogar von ihm selbst – in nicht gerade bescheidener Art und Weise – ausgedrückt.
1. ‘Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen
richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch
unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser
fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem
Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer
Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns
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gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten
Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der
Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer
drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er
den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ’ (B XVI).
Man sieht schon an diesem Zitat, dass Kant durchaus lange Sätze schätzt. Die
„kopernikanische Wende“ Kants scheint darin zu bestehen, dass er die Charakteristika der
objektiven Realität durch das menschlich erkennende Subjekt erklärt. [Exkurs aus
www.raffiniert.ch/sKant.html: Kant leitete mit seinem wichtigsten Werk „Die Kritik der reinen Vernunft“ eine -
wie er es nannte – „kopernikanische Wende“ in der Philosophie ein. Er meinte also, er habe für die Philosophie
etwas Ähnliches geleistet wie seinerzeit Kopernikus im Bereich der Astronomie. Kopernikus steht für einen
Perspektivwechsel in der Anschauung der Welt: Indem er die Sonne und nicht mehr die Erde in den Mittelpunkt
des Universums rückte, konnte der Mensch nicht mehr als Mittelpunkt der Welt gelten. Kants Wende kreist um
die menschliche Erkenntnis. Wir sollten den Blick von den Erkenntnisgegenständen auf die
Erkenntnisvoraussetzungen lenken. Kants Kritik setzte der menschlichen Erkenntnisfähigkeit neue Grenzen und
stutzte damit die Philosophie auf ein gesundes Maß zurück, indem er wesentlich engere Grenzen für die
menschliche Erkenntnis als viele Philosophen vor ihm zog. Obwohl er den letzten Begriffen wie Gott oder
Unsterblichkeit die Möglichkeit ihrer Erkenntnis abspricht, will Kant weiter an ihnen festhalten. In seiner
„Transzendentalen Methodenlehre“ erklärt er diese zu notwendigen Ideen, die für die Aufrechterhaltung der
Moral notwendig seien.] Der Mensch selbst steht bei Kant im Mittelpunkt, nicht mehr der
Gegenstand selbst � daher auch die Bezeichnung seiner Philosophie als Idealismus. Was
Kant mit der „kopernikanische Wende“ meint – es geht ihm ja nicht um Ontologie oder eine
Darstellung des Wesen der Realität – ist die Frage, ob wir eine Realität erkennen können und
was wir von dieser apriorisch erkennen können. An der Struktur der „Kritik der reinen
Vernunft“ sehen wir, wie Kant vorgeht. Und zwar besteht die „Kritik der reinen Vernunft“ im
Grund genommen aus zwei großen Hauptteilen; diese zwei Hauptteile heißen
„Transzendentale Ästhetik“ und „Transzendentale Logik“.
Ein paar Anmerkungen zur „Transzendentalen Ästhetik“, dem ersten Hauptteil der „Kritik der
reinen Vernunft“: Kant unterscheidet hier zwischen den zentralen kognitiven Fähigkeiten
bzw. dem Vermögen des menschlichen Geistes und sagt folgendes:
6. Es gibt ‘zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis … nämlich Sinnlichkeit und
Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber
gedacht werden’ (B 29).
Es gibt also zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis: „Sinnlichkeit“ und „Verstand“. Die
transzendentale Ästhetik beschäftigt sich mit der Sinnlichkeit. Und ein Teil der
transzendentalen Logik - mit transzendentaler Analytik – beschäftigt sich mit dem Verstand.
Sinnlichkeit und Verstand wirken also bei der menschlichen Erkenntnis zusammen; in der
Sinnlichkeit ist uns die Erkenntnis gegeben, im Verstand werden die Erkenntnisse gedacht.
Die Vorstellung der Sinnlichkeit nennt Kant „Anschauungen“ (es geht hier nicht rein um
visuelle Anschauungen, sondern überhaupt um sinnliche Empfindungen, also allgemeine
Perzeptionen). Das Wort „Ästhetik“ hat hier einen anderen Begriff wie das, was wir
heutzutage darunter verstehen; also Ästhetik als Philosophie der Kunst bzw. des Schönen.
Der Begriff der Ästhetik in diesem neueren Sinne entwickelte sich aber auch schon im
18. Jahrhundert heraus. Kant benutzte ihn aber im allgemeineren (alten) Sinn; das Wort
leitet sich vom Griechischen ab und bedeutet „Wahrnehmung“. Der Begriff der
„Transzendentalen Ästhetik“ ist hier folgendermaßen zu verstehen: Dabei geht es nicht um
Studien der Sinnlichkeit. Kant betreibt hier keine Untersuchung der fünf Sinne in Beug auf
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unsere Erfahrung � kein empirisches Studium der Sinneswahrnehmung; es geht ihm hier um
die apriorischen Bedingungen der Sinneswahrnehmung. Was sollte das sein, da ja gerade die
Sinne erfahrungstechnisch sind und diese Fragestellung geradezu als ein Musterbeispiel
eines Paradoxes erscheint. Aber genau dieses Paradox ist das, was Kant zu zeigen versucht;
nämlich, dass es eine bestimmte apriorische Form der Sinnlichkeit gibt, die es uns überhaupt
erst ermöglicht, sinnliche Erfahrungen zu haben. Der Verstand muss mit der Sinnlichkeit
zusammenarbeiten und wird als Vermögen der Begriffe bezeichnet. Hier untersucht Kant –
nicht mit Hilfe eines empirischen Studiums wie es z.B. Locke tat - ob es Begriffe gibt, die aller
empirischen Erfahrung (zeitlich) vorgehen bzw. die Erfahrung überhaupt erst ermöglichen.
Diese Begriffe nennt Kant Kategorien. Wir haben in der transzendentalen Logik den Versuch
zu zeigen, dass der menschliche Verstand selbst etwas zur Möglichkeit der Erfahrung
beiträgt. Dann gibt es noch die Sinnlichkeit und den Verstand in der transzendentalen Logik,
in der es um eine Untersuchung der Erkenntnisansprüche die die traditionelle Metaphysik
gemacht hat geht; Kant untersucht dort die Seele (rationale Psychologie), den Kosmos
(rationale Kosmologie) und Gott (rationale Theologie). Hier versucht Kant, auf Grundlage der
positiven Erkenntnislehre der (transzendentalen) Analytik und Ästhetik, die traditionelle
Metaphysik und deren Erkenntnisansprüche zu widerlegen; in diesem Bereich spiegeln sich
auch die Inhalte der traditionellen Lehrbücher wider. Was ist nun aus der allgemeinen
Metaphysik bzw. der Ontologie geworden? Diese gibt es bei Kant anscheinend nicht, da der
erste Teil der traditionellen Metaphysik bei Kant durch eine Erkenntniskritik ersetzt worden
ist; und zwar durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Die
Struktur der „Kritik der reinen Vernunft“ ist durch die Tradition in dieser Weise vorgegeben
und lässt sich dadurch erklären.
Wir konzentrieren und auf die „Transzendentale Ästhetik“, da hier schon das Hauptstück von
Kants Philosophie, der „transzendentale Idealismus“, angelegt ist. Was heißt aber in diesem
Zusammenhang transzendental? Vorweg ist zu sagen, dass dieser Begriff von Kant nicht
einheitlich verwendet wird. Dennoch kann man erklären, was damit in etwa gemeint ist.
Kant ging es um die Möglichkeit des synthetischen Apriori; „der Metaphysik wenn sie so
wollen“7. Der Begriff des Transzendentalen wird von Kant so bestimmt, dass er damit
zunächst seine eigene Untersuchung charakterisiert; er betreibt seiner Meinung nach eine
transzendentale Kritik. Dabei geht es Kant um die apriorische Vernunft. Somit geht es ihm
beim Begriff des Transzendentalen also um das a priori; darum, eine Metatheorie über
apriorische Erkenntnis zu liefern. Aber nicht jede Erkenntnis a priori ist gleich auch
transzendental. So ist die Mathematik a priori, aber nicht transzendental. Die Transzendenz
ist (bei Kant) eine Untersuchung, die nach der grundsätzlichen Möglichkeit von apriorischer
Erkenntnis überhaupt fragt. [Exkurs aus Wikipedia: Religiösen und philosophischen Verständnissen vom
Transzendenten ist gemeinsam, dass dieser Begriff eine Wirklichkeit bezeichnet, die das voraussetzungslos
sinnlich Wahrnehmbare überschreitet. Damit transzendentiert das Verstehen des Sinnlichen seine
Wahrnehmung auf etwas – ein Drittes, das in seiner Beziehung zum Wahrnehmbaren erst bestimmt werden
muss. Diese Bestimmung hat eine erste Perspektive in der Struktur des Seienden, also eine ontologische, und
eine zweite in der Struktur menschlicher Erkenntnis, also eine gnoseologische. Unter Transendenz versteht
man in Folge Kants den Versuch, die Frage nach den Voraussetzungen der Verstandeserkenntnis unter
Ausklammerung von ontologischen Fragestellungen zu klären. Die sinnlich wahrnehmbare Welt gehorcht dem
Naturgesetz; damit ist nicht ihre seinsmäßige Verfassung das Problem, sondern die Erkenntnis der über das
Sinnliche hinausgehende – dort weniger die Abstraktion vom Sinnlichen als vielmehr die Erkenntnisse, die auf
Verknüpfung „reiner“ Begriffe fußen. In diesem Zusammenhang entsteht der Begriff des Transzendentalen als
Frage nach den Voraussetzungen des Denkens, der sich vom Begriff der Transzendenz im Sinne eines „Jenseits
7 Zitat Prof. Thiel.
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der Sinnenwelt“ absetzt. Hier gabelt sich der Weg in die Philosophie, die Gott als Ziel und Voraussetzung des
Denkens versteht und eine, die diese Einheit mindestens methodisch negiert.]
4. ‘Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen,
sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich
sein soll, überhaupt beschäftigt (B 25)… Diese Untersuchung, die wir …transzendentale
Kritik nennen können, weil sie nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern
nur die Berichtigung derselben zu Absicht hat, und den Probierstein des Werts oder
Unwerts aller Erkenntnisse a priori abgeben soll, ist das, womit wir uns jetzt
beschäftigen‘ (B 26). Hierbei macht also ‘nicht die Natur der Dinge, welche
unerschöpflich ist, sondern der Verstand, der über die Natur der Dinge urteilt, und auch dieser wiederum nur in Ansehung seiner Erkenntnis a priori, den Gegenstand’ aus (B 26).
Da bedeutet also, dass Kant gerade keine Ontologie betreibt und über die Natur der Dinge
spricht, sondern es geht bei ihm um die Möglichkeit der apriorischen Erkenntnis der Dinge.
Diese Untersuchung nennt kann transzendental, daher ist seine Kritik eine transzendentale
Kritik.
5. Es gilt, ‘dass nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir kennen,
dass und wie gewisse Vorstellungen … lediglich a priori angewandt werden, oder
möglich sind, … transzendental heißen müsse’ (B 80).
Es geht dabei um die offizielle Bestimmung dessen was transzendental ist. Kant versucht hier
zu zeigen, dass selbst die Sinnlichkeit ein apriorisches Element enthält, auch wenn uns das
zunächst einmal äußerst merkwürdig erscheinen mag, da ja gerade der Begriff der
Sinnlichkeit impliziert, etwas durch Anfassen oder Tasten unmittelbar zu erfahren. Kant
meinte – ähnlich wie Locke – dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung beginne.
2. ‘Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel …
Der Zeit nach geht … keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser
fängt alle an’ (B 1).
Das wäre doch die Position von John Locke, würde Kant nicht unmittelbar darauf folgende
Einschränkung hinterherschieben.
3. ‘Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie
darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst
unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch
Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch
sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt’ (B 1).
Kant versucht zu zeigen, dass unser eigenes Erkenntnisvermögen als auch die Sinnlichkeit
etwas zu unserer Erkenntnis der Wirklichkeit beitragen. Kant beginnt seine Untersuchung
mit einer Reihe von Begriffsbestimmungen; so definiert er unter anderem den Begriff der
Anschauung als das, was die Vorstellung der Sinnlichkeit ist. Nach Kant sind uns die Objekte
durch die Sinnlichkeit unmittelbar gegeben; daher auch die Unterscheidung zwischen
Anschauung und Begriff. Was uns durch die Sinnlichkeit gegeben ist, ist eine Mannigfaltigkeit
von sinnlichen Wahrnehmungen. Um aber Erkenntnis erlangen zu können, bedarf es noch
des Verstandes, welcher dieses (Sinnes-)Material ordnet, sodass es uns durch diesen auch
möglich ist nicht nur eine konfuse Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen zu haben, sondern uns
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auch auf bestimmte Objekte beziehen zu können. In diesem Zusammenhang gibt es ein
berühmtes Zitat von Kant.
7. ‘Keine dieser Eigenschaften (Anm.: Sinnlichkeit und Verstand) ist der anderen
vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe
sind blind … Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.
Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große
Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden’ (B 76).
Kant meinte hier folgendes: Natürlich ist es in der tatsächlichen Erkenntnis der Gegenstände
nicht so, dass ich zuerst immer eine sinnliche Anschauung besitze und ich mir dann bewusst
werde, dass diese mir mein Verstand erst aufbereiten muss. Allerdings müssen wir in der
philosophischen Analyse diese Bestandteile voneinander trennen. Die nächste
Unterscheidung, die Kant in der „Transzendentalen Ästhetik“ trifft, ist zwar ganz wichtig,
doch hat Kant selbst diese nicht erklärt noch begründet. Er unterschied nämlich zwischen
„innerer Erfahrung“ und „äußerer Erfahrung“, was wir ja eigentlich so auch schon von John
Locke kennen. Kant liegt hier ähnlich und setzt voraus, dass es diese Unterscheidung gibt. Er
meinte dazu nur, dass man sich durch die innere Erfahrung der Perzeptionen bewusst wird
und uns durch die äußere Erfahrung die Gegenstände der äußeren Welt gegeben sind. Diese
Unterscheidung ist für Kants Philosophie ganz wichtig und wird von ihm vorausgesetzt, auch
wenn sie nicht Teil seiner Untersuchung ist. Die nächste Unterscheidung die Kant liefert ist in
der Tat wichtig; nämlich die zwischen Form und Materie.
Wenn Kant von der „Materie der Anschauung“ spricht, dann meint er die konkrete sinnliche
Empfindung; darum geht es ihm letztlich zwar nicht, doch braucht er diese Unterscheidung
für seine Untersuchung. Kant geht es hier um die Form der Sinnlichkeit; das ist dasjenige, in
dem allein die Erscheinung geordnet werden kann. Kant argumentiert, dass die Form der
Anschauung genau dasjenige ist, was die Sinnlichkeit in einem apriorischen Sinne zur
Erkenntnis beiträgt. Kant behauptet zunächst, dass es für den inneren und äußeren Sinn
jeweils unterschiedliche Formen der Anschauung gibt. Für den äußeren Sinn ist dies der
Raum, für den inneren Sinn ist dies die Zeit. Das ist die Antwort, die Kant auf die Frage nach
den apriorischen Elementen der Sinnlichkeit gibt; das sind die Formen, die wir brauchen. Wie
begründet nun Kant diese These? Der Raum als Form der Anschauung ist bei Kant nicht von
der Erfahrung abgeleitet, sondern der Raum liegt vielmehr jeder Erfahrung immer schon
zugrunde. Das bedeutet folgendes: Um wahrnehmen zu können, dass dieser Stuhl vor mir
außer meiner selbst existiert und in einem bestimmten Verhältnis zum Tisch davor steht, ist
der Raum als eine Form der Anschauung bereits vorausgesetzt. Das heißt weiters, dass ich
unter den Eigenschaften der Gegenstände selbst nicht den Raum selbst als solches finde,
sondern nur Eigenschaften wie unter anderem Farbigkeit, Gestalt oder Härte. Wir mögen
zwar empirisch feststellen können, wo der Stuhl im Verhältnis zum Tisch steht, da die
äußeren Gegenstände der Erfahrung uns im Raum begegnen. Nur nehmen wir das nicht
wahr, sondern setzen diesen (den Raum) voraus. Ähnlich argumentiert Kant für die Zeit als
Form der inneren Anschauung. Hier muss man fragen, wie wir denn eigentlich die mentalen
Zustände wahrnehmen – als aufeinanderfolgend oder gleichzeitig? Um eine solche
Unterscheidung überhaupt erst treffen zu können, muss schon immer die Zeit als dasjenige
vorausgesetzt sein, in dem wir diese (unsere) inneren Zustände überhaupt erst wahrnehmen
können. Mit anderen Worten: Damit innere und äußere Erfahrung überhaupt erst möglich
sein sollen, müssen wir Raum und Zeit als reine bzw. apriorische Formen schon
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WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
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voraussetzen. Kant betreibt dann noch einige weitere Ausführungen zum Verhältnis von
Raum und Zeit, auf die Prof. Thiel in unserer Vorlesung aus Zeitgründen aber nicht eingehen
wird bzw. kann.
Kurz noch einmal eine Zusammenfassung von Kants Argumentation. Denn; wenn wir ihm
diese These abkaufen, dann haben wir Kant nach Prof. Thiel schon so viel abgekauft, dass wir
sehr viel andere Ausführungen seinerseits schon für sehr akzeptabel bzw. plausibel halten
werden (bzw. auch müssen). Es geht um die Sinnlichkeit, genauer das kognitive Vermögen
der Sinnlichkeit; hier spricht Kant von Anschauungen als Vorstellung der Sinnlichkeit. Die
Sinnlichkeit selbst wird in eine innere und äußere untergliedert. Bei beiden Arten der
Sinnlichkeit kann man zwischen Form und Materie unterscheiden; die Materie ist die
Empfindung selbst. Allerdings geht es Kant nicht darum, sondern um die Form der
Sinnlichkeit. Die Form in Bezug auf die innere Sinnlichkeit ist die Zeit, und in Bezug auf die
äußere Sinnlichkeit der Raum. Nun kann man hier wahrscheinlich vieles einwenden meint
Prof. Thiel, wobei aber ein Einwand tatsächlich sehr oft vorgebracht wird; es ist der, zu
sagen: „So ein Blödsinn! Meine Vorstellung von Raum und Zeit habe ich doch durch Erfahrung
erhalten und diese ist doch keine apriorische Idee.“ Wie kann Kant behaupten, dass Raum
und Zeit apriorisch sind? Kant würde darauf antworten: „Natürlich, dein Begriff bzw. deine
Vorstellung von Raum hast du durch Erfahrung erhalten und diese Begriffe können sich auch
ändern und von Person zu Person verschieden sein. Dennoch: Um überhaupt irgendwelche
Erfahrungen zu haben – auch diejenige Erfahrung, die uns Begriffe von Raum und Zeit gibt –
müssen wir schon Raum und Zeit als Bedingung der Erfahrung annehmen.“ Kants Kritik an
den Empiristen würde besagen, dass Locke und Hume sich zwar ständig auf die Erfahrung
berufen, wenn sie Philosophen wie Descartes und Leibnitz kritisieren, sie selbst aber keinen
Begriff von Erfahrung haben und überhaupt nicht wissen, wie diese möglich ist.
Nun hat Prof. Thiel behauptet, dass die Lehre der Anschauungsformen impliziert, Kants
Lehrstück vom „Transzendentalen Idealismus“ akzeptabel zu halten. Wie ergibt bzw.
erschließt sich dieses Lehrstück aus der „Transzendentale Ästhetik“?
II.A. EXKURS AUS WIKIPEDIA ZUR TRANSZENDENTALEN ÄSTHETIK IMMANUEL KANTS
Die transzendentale Ästhetik ist der erste Teil der transzendentalen Elementarlehre in
Immanuel Kants Werk der „Kritik der reinen Vernunft“. Den Begriff Ästhetik verstand Kant
noch in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung als sinnliche Wahrnehmung (von
griechisch „aisthesis“). Die transzendentale Ästhetik ist also eine Theorie der Wahrnehmung,
oder mit Kants Begriff der Sinnlichkeit als Erkenntnisgrundlage. Ihr folgt die transzendentale
Logik - die Theorie vom Denken. So kommen nach Kant rein zeitlich erst die sinnlichen
Anschauungen und dann das Denken. Doch Erkenntnis ist auf Anschauung und Denken
gleichermaßen angewiesen. In der transzendentalen Ästhetik behandelte Kant vorrangig die
Bedeutung von Raum und Zeit für das menschliche Wahrnehmungsvermögen. Da er das
Räumliche als Grundlage für die Geometrie und das Zeitliche als Grundlage für die
Arithmetik ansah, ist die transzendentale Ästhetik zugleich eine Theorie darüber, wie reine
Mathematik möglich ist.
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Reine Anschauung: Der erste
Abschnitt der transzendentalen
Ästhetik (B 33-36) ist eine dicht
gedrängte Folge von Begriffs-
bestimmungen, die Kant dann
im Verlauf der „Kritik der rei-
nen Vernunft“ zugrunde legte.
Eine Anschauung entsteht nur,
wenn ein Gegenstand (die
Dinge an sich) das Gemüt auf
gewisse Weise affiziert. Mit
Gemüt meint Kant den gesamten (bewussten und unbewussten) Umfang des menschlichen
Geistes. Affizieren ist ein Vorgang, der noch vorbewusst ist, so dass er als solcher nicht
beschrieben werden kann und man auch nicht von Kausalität sprechen kann. Der Mensch
verfügt über eine Fähigkeit, die Kant Rezeptivität nennt, aus der Affizierung Vorstellungen zu
bekommen. Dieser Vorgang heißt Sinnlichkeit und ist die einzige Quelle von Anschauungen.
Demgegenüber entspringen Begriffe dem Verstand. Alle sprachlichen Inhalte des
Bewusstseins entstammen nicht der Sinnlichkeit. Aber es gibt kein Denken, das sich nicht
irgendwie auf die Anschauungen bezieht. Beide zusammen sind die „zwei Stämme der
menschlichen Erkenntnis“ (B 29); warum das so ist ließ Kant offen. Er verzichtete auf eine
Letztbegründung (z.B. eine Schöpfung), sondern verwies darauf, dass beide
Erkenntnisstämme „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel
entspringen.“ (B 29)
Wenn ein Gegenstand die Vorstellungsfähigkeit affiziert, bewirkt er Empfindungen.
Empfindungen sind noch vorsprachlich. Anschauungen sind empirisch, wenn sie sich auf den
Gegenstand beziehen, der sich in der Empfindung manifestiert. Eine Erscheinung besteht aus
Materie, die der Empfindung korrespondiert, und aus Form, die dafür sorgt, dass die
Mannigfaltigkeit, die in einer Erscheinung enthalten ist, eine Ordnung aufweist, eine Struktur
hat. Während die Materie, also die Empfindung, aufgrund des Vorgangs der Affizierung nur a
posteriori gegeben sein kann, ist die reine Form bereits a priori im Gemüt vorhanden. Der
Vorgang des Ordnens findet also im Gemüt statt. Reine Vorstellungen enthalten keine
Empfindungen, also nichts Empirisches. Reine Form sinnlicher Anschauung ist a priori im
Gemüt enthalten. Es gibt also Elemente sinnlicher Anschauung, nämlich solche, welche die
Ordnung in die empfundene Mannigfaltigkeit bringen, die das Gemüt beisteuert, damit aus
einer Empfindung eine Anschauung entsteht. Diese reinen Formen nannte Kant auch reine Anschauung. Wenn man an einen Körper denkt, so sind Undurchdringlichkeit, Härte oder
Farbe Empfindungen. Die Begriffe Substanz, Kraft oder Teilbarkeit, die auch mit dem Begriff
eines Körpers verbunden sind, kann man nicht wahrnehmen. Es sind strukturierende
Begriffe, die dem Verstand entstammen. Wenn man nun versucht, den Begriff des Körpers
ohne Empfindungen und ohne Verstandesbegriffe zu denken, bleibt immer noch etwas
übrig, und zwar Ausdehnung und Gestalt. Dies ist Teil der reinen Anschauung a priori. Die
transzendentale Ästhetik a priori hat die Funktion, die Sinnlichkeit zu isolieren und auch die
Erscheinung ohne die Verstandesbegriffe zu denken, „damit nichts als reine Anschauung und
die bloße Form der Erscheinung übrig bleibe“. (B 36) „Bei dieser Untersuchung wird sich
finden, dass es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a
priori, gebe, nämlich Raum und Zeit, […]“ (B 36)
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Metaphysische Erörterung von Raum (§ 2) und Zeit (§ 4): Kant behandelte Raum und Zeit
nacheinander, verwendete aber deckungsgleich parallele Argumente. Unter metaphysischer
Erörterung verstand er eine Argumentation, die zeigt, dass der untersuchte Gegenstand a
priori ist. Kant unterschied als Eigenschaften des Gemüts einen äußeren Sinn, in dem
Gegenstände (Erscheinungen) im Raum vorgestellt werden, und einen inneren Sinn, der das
Gemüt selbst oder seinen inneren Zustand anschaut. Im inneren Sinn hat alles zumindest
einen Bezug zur Zeit. Zum Nachweis des a priori von Raum und Zeit verwendete Kant jeweils
vier Argumente (B 38/39 bzw. B 46-48) - Gründe für das a priori von Raum und Zeit bei Kant:
Raum Zeit
1. Damit man Empfindungen als etwas außerhalb
ansehen kann, muss es schon einen Raum geben.
1. Man kann sich kein Aufeinanderfolgen vorstellen,
wenn es nicht die Zeit gibt.
2. Man kann sich nicht vorstellen, dass es keinen Raum
gibt.2. Man kann sich nicht vorstellen, dass es keine Zeit gibt.
3. Der Raum an sich ist etwas Ungeteiltes. Einzelne
Räume sind immer Teile des Raumes an sich.
4. Die Zeit an sich ist etwas Ungeteiltes. Einzelne Zeit-
abschnitte sind immer Teil der einen Zeit an sich.1
4. Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe
vorgestellt.
5. Die ursprüngliche Vorstellung von Zeit ist
uneingeschränkt.1 Das dritte Argument zur Zeit wird in der transzendentalen Erörterung wiederholt. Hier hat sich von der ersten zur zweiten Auflage der
„Kritik der reinen Vernunft“ ein redaktioneller Fehler ergeben.
Um Kants Argumente besser nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, die Begriffe
Räumlichkeit und Zeitlichkeit einzusetzen, wenn von Raum und Zeit als solchen gesprochen
wird. Die beiden ersten Argumente zeigen gegen den Empirismus, dass Raum und Zeit a
priori sind. Die beiden anderen Argumente zeigen gegen den Rationalismus, dass es sich um
Anschauungsformen und keine bloßen Begriffe handelt.
Der Raum ist keine Eigenschaft der Dinge, vielmehr erfasst „Raum“ alle Gegenstände, die
uns äußerlich erscheinen, nebeneinander in sich. „Der Raum hat empirische Realität und
transzendentale Idealität.“ Das heißt, er hat objektive Gültigkeit für alles, was uns als
äußerer Sinn erscheinen kann, aber er ist ein Nichts, sobald die Bedingungen der Möglichkeit
aller Erfahrung entfallen. Die Zeit ist so allgemein und notwendig wie der Raum und hat
ebenso empirische Realität wie transzendentale Idealität, doch im Gegensatz zum Raum ist
sie das fundamentalere Prinzip, denn ganz gleich ob äußere Anschauungen oder (nicht-
räumliche) innere Zustände „alle Erscheinungen überhaupt sind in der Zeit und stehen
notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit“.
Transzendentale Erörterung von Raum (§ 3) und Zeit (§ 5): In der transzendentalen
Erörterung von Raum und Zeit wollte Kant zeigen, dass diese reinen Anschauungen
Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis sind. Raum und Zeit sind synthetisch a priori,
wenn sich aus ihnen ohne Rückgriff auf empirische Anschauungen zusätzliche Erkenntnisse
herleiten lassen. Entsprechend der Vorgabe aus der Einleitung zur „Kritik der reinen
Vernunft“ untersuchte Kant die Geometrie als Teilgebiet der Mathematik, deren
Erkenntnisse sich aus der Gegebenheit des Raumes ableiten. Ein Konzept, das zeigt, wie aus
der Zeit als Form synthetische Aussagen a priori abzuleiten sind, ist die Bewegungslehre der
Mechanik.8 Kant argumentierte hierfür mit drei Punkten (B 42-43):
8 In § 10 der Prolegomena zog Kant auch die Arithmetik als Beispiel für synthetische Erkenntnisse a priori aufgrund der Zeit heran.
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(1) Raum und Zeit selbst sind keine Begriffe, sondern Anschauungsformen. Sie
sind keine kontingenten Eigenschaften, „die an Gegenständen haften“.
(2) Raum und Zeit können keine empirischen Anschauungen sein, weil sonst
Geometrie und die reine Physik keine Aussage a priori machen könnten.
(3) Raum und Zeit sind abhängig vom erkennenden Subjekt. Sie sind Form der
Erkenntnisweise des Menschen. Sie gelten nur „für uns“ und nicht „an sich“.9
Hieraus folgerte Kant, dass Raum und Zeit als notwendige Elemente der Erfahrung, der
erscheinenden Wirklichkeit, empirische Realität haben. In Bezug auf ihr Ansichsein, als
Eigenschaft der Dinge an sich, sind sie eine bloße Denkmöglichkeit. Kant nannte das
„transzendentale Idealität“.
„Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren
Erfahrung), obzwar die transzendentale Idealität, d.i. dass er nichts sei, so bald wir die Bedingung
der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum
Grunde liegt, annehmen.“ (B 44)10
Die These der „transzendentalen Idealität“ ist in dem Sinne ungewöhnlich, dass sie die
Behauptung einschließt, dass es Raum und Zeit nicht unabhängig von den wahrnehmenden
Wesen gibt. Dies läuft radikal der normalen Intuition entgegen, da im Alltag angenommen
wird, dass etwa das Universum auch schon in Raum und Zeit existierte, als es noch keinen
Menschen gab. Kant bot allerdings ein Argument für seine ungewöhnliche These: Er erklärte,
dass nicht nur Raum und Zeit a priori gegeben sind, sondern es auch synthetische Erkenntnis
a priori gebe, wie etwa die Geometrie. Kant folgerte, dass der apriorische Charakter
unverständlich sei, wenn Raum und Zeit transzendental real wären, also erkennbarer Teil der
Dinge an sich. Man kann zwar annehmen, dass Raum und Zeit real sind, aber über den
empirischen Rahmen der Erscheinungen hinaus kann der Mensch das nicht erkennen. Dies
führte ihn zu der hypothetischen Auffassung über die transzendentale Idealität:
„Wäre also nicht der Raum (und so auch die Zeit) eine bloße Form eurer Anschauung, welche
Bedingungen a priori enthält, unter denen allein Dinge für euch äußere Gegenstände seien
können, die ohne diese subjektive Bedingung an sich nichts sind: so könntet ihr a priori gar nichts
über äußere Objekte synthetisch ausmachen. Es ist also ungezweifelt gewiß, und nicht bloß
möglich, daß Raum und Zeit, als die notwendigen Bedingungen aller (äußeren und inneren
Erfahrung, bloß subjektiver Bedingungen) unserer Anschauungen sind [...]." (B 66)
Möglichkeit reiner Mathematik: Reine Mathematik11 ist nach Kant möglich, weil Raum und
Zeit als apriorische Formen in uns liegen. Die Geometrie behandelt räumliche Verhältnisse.
Dass zum Beispiel die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei, ist ein
synthetischer Satz a priori. Denn die Zergliederung des Begriffs der Geraden ergibt nur eben
diese Qualität und nichts von Größe. Wir brauchen die Anschauung, aber nicht die
Erfahrung, denn die Vorstellung vom Raum liegt bereits in uns. Auf ihr gründen
Allgemeinheit und Notwendigkeit der Geometrie. Die Arithmetik rechnet. Sie ist nach Kant
im Grunde ein Zählen in der Zeit. Da die Zeit ebenfalls eine reine Form der Sinnlichkeit in uns
9 Der Umkehrschluss, es gäbe in den Dingen an sich keinen Raum und keine Zeit, ist nicht zulässig, da man nach Kant über die Dinge an sich selbst keine Aussagen machen kann.
10 In der transzendentalen Erörterung der Zeit verwies Kant darauf, dass seine Ausführungen zum Raum auch für die Zeit gültig sind.
11 Wie wir wissen also „apriorische Mathematik“.
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ist, liegt die allgemeine und notwendige Gültigkeit von arithmetischen Sätzen in der inneren
Zeitanschauung. Indem Kant Raum und Zeit als empirisch real und transzendental ideal
bestimmte, begründete er die apodiktische Gewissheit der Mathematik.
Kritik: Kants Argumentation für die „transzendentale Idealität“ von Raum und Zeit ist
besonders in zweierlei Hinsicht kritisiert worden. Zum einen wurde bezweifelt, dass es sich
bei der Geometrie tatsächlich um eine synthetische Erkenntnis a priori handelt. Einige
Mathematiker und Philosophen erklären, dass die Geometrie analytisch sei, andere
behaupten, dass sie a posteriori sei. Zum anderen wird Kants Schluss auf die beste Erklärung
kritisiert: Es scheint keineswegs klar, dass der apriorische Charakter von Raum und Zeit oder
geometrischer Erkenntnis nur dann verständlich ist, wenn Raum und Zeit keine
Eigenschaften der Dinge an sich sind. Es könnte ja auch sein, dass diese Erkenntnisse a priori
sind - etwa im Laufe der Evolution zu angeboRenem Wissen wurden - und es trotzdem einen
nicht-subjektiven Raum (bzw. eine Zeit) gibt. Zum Beispiel hielten Albert Einstein und Hans
Reichenbach es für falsch, Raum und Zeit als Eigenschaften unserer Wahrnehmung zu sehen.
Entsprechend der Relativitätstheorie sahen sie Raum und Zeit als Eigenschaften der äußeren
Dinge.
II.B. EXKURS AUS WIKIPEDIA ZUR TRANSZENDENTALEN LOGIK IMMANUEL KANTS
Die „Transzendentale Logik“ ist ein Teilstück der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel
Kant. Sie ist als eine Theorie des Denkens zu verstehen und daher nicht mit der formalen
Logik zu verwechseln, die eine Theorie des Schließens formuliert. Kant bezeichnet die
transzendentale Logik als „eine Wissenschaft des Verstandes und Vernunfterkenntnis,
dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken“. Als Theorie des Denkens ist sie der
„Transzendentalen Ästhetik“, der Theorie der Anschauung, zur Seite gestellt, da Denken und
Anschauung nur im Zusammenspiel zu Erkenntnis führen können. Die „Transzendentale
Logik“ und „Transzendentale Ästhetik“ bilden damit die „transzendentale Elementarlehre“,
den ersten Hauptteil der „Kritik der reinen Vernunft“.
Von der Logik überhaupt: Eingangs der „Transzendentalen Logik“ betonte Kant, dass es zur
Erkenntnis sowohl der Sinnlichkeit als auch des Verstandes als zwei voneinander gegenseitig
abhängiger Erkenntnisquellen bedarf.
„Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder
Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne
Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.“ (B 74)
Während er die Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle in der „Transzendentalen Ästhetik“
abgehandelt hatte, befasste Kant sich nun in der „Transzendentalen Logik“ mit den Regeln
des Verstandesgebrauchs. Um seinen Gegenstand näher zu fassen, unterschied er zunächst
verschiedene Begriffsinhalte von Logik. Von der allgemeinen Logik trennte er die besondere
Logik, die - als „Propädeutik der Wissenschaften“ - sich mit den Gegebenheiten der einzelnen
Fächer befasst.
„Denn man muß die Gegenstände schon in ziemlich hohen Grade kennen, wenn man die Regeln
angeben will, wie sich eine Wissenschaft von ihnen zu Stande bringen will.“ (B 76-77)
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Die allgemeine Logik ist hingegen eine Elementarlogik. Sie kann nach Kant in eine „reine“
und in eine „angewandte“ Logik eingeteilt werden. In der angewandten Logik befasst man
sich mit konkreten empirischen Sachverhalten, die nach den Grundregeln der reinen Logik
untersucht werden.
[Die reine Logik] „ist eigentlich nur allein Wissenschaft, obzwar kurz und trocken, und wie es die
schulgerechte Darstellung einer Elementarlehre des Verstandes erfordert. In dieser müssen also
die Logiker jederzeit zwei Regeln vor Augen haben.
1) Als allgemeine Logik abstrahiert sie von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der
Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun.
2) Als reine Logik hat sie keine empirischen Prinzipien, mithin schöpft sie nichts (wie man sich
bisweilen überredet hat) aus der Psychologie, die also auf den Kanon des Verstandes gar keinen
Einfluß hat. Sie ist eine demonstrative Doktrin, und alles muß in ihr völlig a priori sein.“ (B 78)
Transzendentale Logik: Die reine (formale)
Logik befasst sich mit den Denkregeln
ohne Rücksicht auf Denkinhalte. Für die
Erkenntnis ist aber die Frage grundlegend,
wie diese Inhalte zustande kommen. Kant
wollte daher untersuchen, welche
Bedingungen das Denken überhaupt
ermöglichen. Grundsätzlich galt für ihn
„daß nicht eine jede Erkenntnis a priori,
sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß
und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt
werden, oder möglich sind, transzendental (d.i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch
derselben a priori) heißen müsse.“ (B 80)
Gesucht sind also Bedingungen, unter denen Begriffe unabhängig von Erfahrung gebildet
werden, sowie der Inhalt solcher reinen Begriffe. Die „transzendentale Logik“ ist mithin eine
Wissenschaft, in der Ursprung, Umfang und objektive Gültigkeit reiner Begriffe und
Prinzipien des Verstandes untersucht werden.
Analytik und Dialektik: In der Analytik werden Aussagen zergliedert und auf die zugrunde
liegenden Begriffe gebracht. Die Analytik enthält grundlegende Prinzipien wie den Satz der
Identität oder den Satz vom Widerspruch. Die Logik trägt insofern zur Findung von Wahrheit
bei, als sie aufzeigt, welche Aussagen in sich widersprüchlich sind. Sie liefert negative
(ausschließende) Kriterien der Wahrheit. Positive Aussagen zur Wahrheit sind in der Logik
nicht möglich, weil ein „Probierstein“ fehlt. Diesen liefert nur die sinnliche Anschauung. Der
Versuch, rein aus Argumenten die Wahrheit inhaltlicher Aussagen zu begründen, ist eine
„Logik des Scheins“. Dialektik verstand Kant „als eine Kritik des dialektischen Scheins“. (B 86)
Transzendentale Analytik und Dialektik: Die transzendentale Analytik untersucht den Bereich
des Denkens, in dem die reine Verstandeserkenntnis und ihre Prinzipien ohne empirische
Voraussetzung gebildet werden. Gegenstand ist die Bedingung der Möglichkeit von Begriffen
und Urteilen a priori. Die transzendentale Dialektik befasst sich hingegen mit der Kritik des
„hyperphysischen Gebrauchs“ des Verstandes und der Vernunft. Ihre Themen sind die
Fragen nach Gott, Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele. Sie ist damit eine Kritik der
klassischen (speziellen) Metaphysik.
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III. KANTS TRANSZENDENTALER IDEALISMUS
Raum und Zeit sind die Formen der Anschauung oder der Sinnlichkeit. Das bedeutet nichts
anderes als dass Raum und Zeit die Bedingungen sind, unter denen uns die Gegenstände in
der Erfahrung erscheinen. Gegenstände „erscheinen“ uns in Raum und Zeit. Erscheinen
meint hier keine göttliche Inspiration; Stühle und Tische sind nach Kant Erscheinungen, da
wir sie raum-zeitlich wahrnehmen. Gegenstände der sinnlichen Erfahrung sind nach Kant
also Erscheinungen: dabei ist keine Illusion gemeint, sondern es handelt sich um einen
terminus technicus. Als Erscheinung muss man sie von den „Dingen an sich“ unterscheiden;
das heißt, Kant unterscheidet zwischen Erscheinung und den „Dingen an sich“.
Erscheinungen sind die Gegenstände, welche wir in Raum und Zeit erfahren und die uns dort
„erscheinen“. Das bedeutet aber auch, dass wir uns vorstellen können (im Denken), dass
nicht jeder Geist (wie der menschliche Geist) auf Raum und Zeit als Bedingung der Erfahrung
angewiesen ist. Unsere Erfahrung ist immer raum-zeitlich. Aber es ist logisch möglich, dass
die Erfahrung nicht auf solche Art und Weise beschränkt ist.
11. ‘Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre … von Dingen, die der
Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als
Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muss’ (B 307).
Wenn wir dieserart an Gegenstände denken, dann denken wir an die „Gegenstände an sich“,
also unabhängig von unserer Erfahrung (eben das „Ding an sich“). Unsere Erkenntnis bzw.
Erfahrung bezieht sich auf dasjenige, das uns in Raum und Zeit gegeben wird bzw. ist; bei
den „Dingen an sich“ reden wir über diese Gegenstände, wenn sie uns nicht unter diesen
Bedingungen gegeben sind; also ohne Einschränkungen, so wie sie sind (auch wenn uns
diese Art ihres Seins – aufgrund der besagten Beschränkungen – nicht zugänglich ist). Die
„Dinge an sich“ werden als Dinge unabhängig von den Bedingungen menschlicher Erfahrung
betrachtet, unabhängig von Raum und Zeit. Diese Lehre bezeichnet Kant als
„transzendentalen Idealismus“, wobei er selbst sagt, dass im Grunde genommen der
„Transzendentale Idealismus“ nichts anderes ist, als die Lehre von der Sinnlichkeit.
9. ‘Man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, dass sie die einzige mögliche
Art der Anschauung sei’ (B 310).
Das bedeutet somit, dass es die Lehre von der Sinnlichkeit aus der „transzendentalen
Ästhetik“ mit sich bringt, dass wir die Dinge auch so denken können und müssen wie sie
unabhängig von Raum und Zeit beschaffen sind, auch wenn uns diese tatsächliche
Beschaffenheit aufgrund der notwendigen menschlichen Bedingung von Erfahrung
verborgen bleibt.
10. ‘Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von
aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.
Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch
nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muss. Mit dieser
haben wir es lediglich zu tun’ (B 59).
Kant will hier sagen, dass er nicht Berkeley ist. Für Kant sind die Gegenstände selbst real, und
nicht bloß Gegenstände im Geist. Kant ist empirischer Realist (aber kein empirischer Idealist
wie Berkeley); diese Position ist gleichbedeutend mit dem „transzendentalen Idealismus“.
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12. ‘Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der
Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nicht geschlossen werden darf,
sondern unmittelbar wahrgenommen wird’ (A 371).
Diese Lehre ist auch wichtig für die Kritik am Rationalismus. Wir können von Gegenständen
eine Erkenntnis erreichen, die jenseits jeglicher Erfahrung liegen (z.B. von Gott oder der
Seele). Hier reden wir von Gegenständen, die nicht Gegenstände unserer möglichen
Erfahrung sind (so unter anderem Raum oder Zeit). Alleine schon deswegen muss uns nach
Kant die rationale Metaphysik dubios erscheinen. Kants eigene Definition des
„transzendentalen Idealismus“ lautet wie folgt:
8. ‘Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus … den Lehrbegriff, …
demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge an sich selbst sind’
(A 369).
Das heißt, der „transzendentale Idealismus“ wird durch die Unterscheidung zwischen
Erscheinung und dem „Ding an sich“ - bezogen auf Raum und Zeit - bestimmt. Der
„transzendentale Idealismus“ hat seinen Ursprung nach Prof. Thiel eben in dieser
Unterscheidung (der „transzendentalen Ästhetik“). Eine der Konsequenzen dieser Lehre ist
die, dass sie Bedeutung hat für seine Kritik an der rationalistischen Metaphysik; sie ist aber
ebenso für Kants Moralphilosophie von Bedeutung.
Bis dato haben wir immer vom Begriff des Subjekts in der Philosophie der frühen Neuzeit
gesprochen; bei Kant jedoch geht es bei den Genständen der Erfahrung nicht nur um die
Gegenstände der äußeren Erfahrung, sondern auch um die der inneren Erfahrung (z.B. des
Ichs). Natürlich kann ich mich auch selbst denken – bloß gedacht, nicht erkannt (!) – als
etwas, dass unabhängig von den raum-zeitlichen Bedingungen der menschlichen Erfahrung
existiert. Wenn ich dies aber tue, dann bin ich nicht den Kausalzusammenhängen dieser
Welt unterworfen. Ich denke mich dadurch als frei (dieser Aspekt bringt hier das
„Metaphysische“ ein), was Konsequenzen für Kants Moralphilosophie mit sich bringt. Nach
Kant können wir in der spekulativen Metaphysik die Willensfreiheit nicht beweisen, was aber
Kant an dieser Stelle als Konsequenz seiner Lehre zu zeigen versucht. So will er eben zeigen,
dass alleine die Tatsache, dass wir uns als frei betrachten können, schon Konsequenzen
dafür hat, wie wir uns im Handeln selbst bestimmen sollen. Der Freiheitsbegriff von Kant ist
somit schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ selbst angelegt. Im Denken kann ich mich als
etwas ansehen, dass nicht bloß Erscheinung ist; so auch dass wir frei sind, auch wenn wir das
nicht beweisen können.
Ein Kritikpunkt – der immer wieder (vielleicht zu Recht laut Prof. Thiel) - gegen Kant
vorgebracht wird ist der folgende: Kant meint, die Metaphysik des Rationalismus dürfe nicht
über ihre metaphysischen Gegenstände (z.B. Gott) philosophieren. Doch Kant selbst
überschreitet die Erkenntnis, indem er Raum und Zeit als apriorisch annimmt (also ohne
Erfahrung); ebenso wie die „Dinge an sich“, die auch jenseits aller Erfahrung (aller möglichen
Erfahrung) liegen. Dabei meint Kant doch, dass unsere Erkenntnis auf Raum und Zeit
eingeschränkt ist. Darin, dass Kant also die Grenzen überschreitet, die er doch selbst
festgelegt hat (Raum und Zeit), sehen seine Kritiker nun einen eklatanten Widerspruch. Kant
könnte gegen diese Kritik folgendes einwenden: Ich rede überhaupt nicht über die Realität
oder was ihre wesentlichen Eigenschaften sind, sondern nur von der Erkenntnis der Realität.
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Raum und Zeit als apriorische Bedingung beziehen sich ja nur auf die Erfahrung selbst; dass
apriorische ist auf die Erfahrung bezogen. Das „Ding an sich“ ist – wie Kant explizit sagt - ein
Grenzbegriff; er ist ein Begriff von dem was wir denken müssen. Das bedeutet aber nicht,
dass Kant behauptet, wir könnten etwas über die „Dinge an sich“ wissen. Dieser Begriff
ergibt sich aus der Analyse der menschlichen Erfahrungsbedingungen und ist als solcher ein
Grenzbegriff, den wir nicht festmachen können. Könnten wir dies aber, dann wäre dieser
Begriff etwas Raumzeitliches. Darauf, dass oft gemeint wird, dass Kant mit dem
„transzendentalen Idealismus“ eine Metaphysik auf die Beine gestellt habe (also mit der
„Welt der Escheinung“ und den „Dingen an sich“, wobei letztere mit der Welt selbst nichts zu
tun haben; dabei handelt es sich eigentlich schon um einen Platonismus), würde dieser laut
Prof. Thiel folgendes antworten: „Keineswegs teile ich die Welt in zwei Teile („2-Welten-Theorie“)!“ Es geht Kant nicht um eine Theorie der Welt (also von dem „was ist“), sondern
darum, wie wir erkennen können „was ist“. „Erscheinung“ und die „Dinge an sich“ gehören
laut Kant zusammen und es handelt sich dabei um keine separaten Welten. Einmal können
wir von diesen Gegenständen als Erscheinung sprechen und dann von ihnen als bloßes
Denken, wie sie unabhängig von Raum und Zeit existieren würden.
Noch eine Anmerkung zur Klausur: Es kommen nur Fragen zu Autoren die wir intensiv
behandelt haben (also Descartes, Locke Hume und eben Kant). Ebenso sind nur die Themen
prüfungsrelevant, die in der Vorlesung ausführlich behandelt worden sind (unter anderem
Descartes Mediationen I & II so wie sein methodischer Zweifel als auch das „Cogito-
Argument“; bei Locke wären dies z.B. seine hier besprochenen Hauptwerke, die
Innatismuskritik, der Erfahrungs- und Substanzbegriff; Hume: Kausalitätsbegriff und
persönliche Identität; Kant: eigentlich alles Besprochene). Nach Prof. Thiel reichen die
angeschriebenen Texte, die Handzettel als auch eventuelle Sekundärliteratur aus, um die
Prüfung sehr erfolgreich zu bewältigen. Prof. Thiel bedankt sich für die studentische
Unterstützung bei seiner „Reise durch die Hörsäle der Karl-Franzens-Universität“12 und
wünschte abschließend noch schöne Semesterferien.
12 Dies deswegen, da aufgrund der Studierendenproteste im WS 2009/10 kaum eine Vorlesung in dem dafür
vorgesehenen Hörsaal der Vorklinik abgehalten werden konnte, und somit immer ein Ersatzhörsaal von Prof. Thiel aufzutreiben war, was sich als durchaus diffizile Herausforderung darstellte und sich in divergierenden Vorlesungszeiten als auch einer Vielzahl an aufgesuchten Hörsälen widerspiegelte.
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WS 2009/10 Prof. Dr. Udo Thiel
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IV. EXKURS AUS WIKIPEDIA ZUR PHILOSOPHIE UND EPISTEMOLOGIE IMMANUEL KANTS
Mit seinem kritischen Denkansatz (Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen!) ist Kant der wohl wichtigste Denker der deutschen Aufklärung. Üblicherweise
unterscheidet man bei seinem philosophischen Weg zwischen der vorkritischen und der
kritischen Phase, weil seine Position sich spätestens mit Veröffentlichung der „Kritik der
reinen Vernunft“ erheblich verändert hat. Noch bis in die 1760er Jahre kann man Kant dem
Rationalismus in der Nachfolge von Leibniz und Wolff zurechnen. In seiner Dissertation im
Jahre 1770 ist bereits ein deutlicher Bruch erkennbar. Neben dem Verstand ist nun auch die
Anschauung eine Erkenntnisquelle, deren Eigenart zu beachten ist. Verstandeserkenntnis als
anschauliche auszugeben ist Erschleichung. Die Dissertation und die Berufung an die
Universität führen dann zu seiner berühmten Phase des Schweigens, in der Kant seine neue,
als Kritizismus bekannte und heute noch maßgeblich diskutierte Erkenntnistheorie
ausarbeitet. Erst nach elf Jahren intensiver Arbeit wird diese dann 1781 in der „Kritik der
reinen Vernunft“ veröffentlicht. Nach Klärung der Grundfrage nach den Bedingungen der
Möglichkeit der Erkenntnis kann Kant sich auf dieser Grundlage schließlich im Alter von 60
Jahren den für ihn eigentlich wichtigen Themen der praktischen Philosophie und der Ästhetik
zuwenden.
Vorkritische Periode: Bis zu seiner Promotion 1755 arbeitete er als Hauslehrer und verfasste
die ersten, naturphilosophischen Schriften, so die 1749 erschienenen „Gedanken von der
wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ und 1755 die „Allgemeine Naturgeschichte“ und
„Theorie des Himmels“, in der er eine Theorie zur Entstehung des Planetensystems nach
„Newtonischen Grundsätzen“ darstellt (Kant-Laplacesche Theorie der Planetenentstehung).
Im gleichen Jahr wurde er mit einer Arbeit über das Feuer promoviert und habilitierte sich
mit einer Abhandlung über die ersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis; beides in
Latein. Im Jahr 1762 erschien, nach einigen kleinen Schriften, die Abhandlung „Der einzige
mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“, in der Kant zu erweisen
versucht, dass alle bisherigen Beweise für die Existenz Gottes nicht tragfähig sind, und eine
eigene Version des ontologischen Gottesbeweises entwickelt, die diesen Mängeln abhelfen
soll.
Die folgenden Jahre waren bestimmt von wachsendem Problembewusstsein gegenüber der
Methode der traditionellen Metaphysik, das sich vor allem in Kants literarisch wohl
unterhaltsamster Schrift, „Träume eines Geistersehers“, erläutert durch „Träume der
Metaphysik“ (1766), einer Kritik Emanuel Swedenborgs, äußerte. In der 1770 erschienenen
Schrift „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“ unterscheidet er zum
ersten Mal scharf zwischen der sinnlichen Erkenntnis der Erscheinungen der Dinge
(Phaenomena) und der Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich sind, durch den Verstand
(Noumena). Raum und Zeit fasst er zudem als dem Subjekt angehörige „reine
Anschauungen“ auf, die notwendig sind, um die Erscheinungen untereinander zu ordnen.
Damit sind zwei wesentliche Punkte der späteren kritischen Philosophie antizipiert, auch
wenn Kants Methode hier noch dogmatisch ist, und er eine Verstandeserkenntnis der Dinge,
wie sie an sich sind, für möglich hält. Wer allerdings Verstandeserkenntnis als anschauliche
Erkenntnis ausgibt, begeht das „vitium subreptionis“, den Fehler der Erschleichung. In den
folgenden zehn Jahren vollzieht sich die Entwicklung der kritischen Philosophie ohne
wesentliche Veröffentlichung (die „stummen Jahre“).
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Die vier Kantischen Fragen - Kant hat sich vier Fragen gestellt und diese zu beantworten
versucht:
Was kann ich wissen? – In seiner Erkenntnistheorie
Was soll ich tun? – In seiner Ethik
Was darf ich hoffen? – In seiner Religionsphilosophie
Was ist der Mensch? – In seiner Anthropologie
Allgemeine Darstellung der Kritik der reinen Vernunft: Als Kant 1781 „Die Kritik der reinen
Vernunft“ veröffentlichte, hatte sich seine Philosophie grundlegend gewandelt – die Frage,
wie überhaupt eine Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, müsse vor der Behandlung der
metaphysischen Fragen beantwortet werden. Die Kritik handelt die a priori, das heißt vor
aller empirischen Erfahrung mögliche, Erkenntnis in vier Abschnitten ab. Zuerst die Formen
der Sinnlichkeit a priori, die reinen Anschauungen Raum und Zeit, welche die Mathematik als
apriorische Wissenschaft begründen.
Im zweiten Teil, der „transzendentalen Logik“, dass bestimmte erfahrungsunabhängige
Begriffe, die Kategorien, notwendig auf alle Gegenstände der Erfahrung angewendet werden
müssen. Durch diese Anwendung der Kategorien ergibt sich ein System von Grundsätzen, die
a priori gewiss sind, wie z.B. die kausale Verknüpfung aller sinnlichen Erscheinungen, und die
damit ein legitimes Feld philosophischer Erkenntnisse darstellen. Diese liegen den
Naturwissenschaften zugrunde. Doch mit dieser Bestimmung der Kategorien als für die
Einheit der Erscheinungen notwendige Verknüpfungsregeln ergibt sich, dass diese Begriffe
nicht auf die Dinge, wie sie „an sich“ sind (Noumena), anwendbar sind. Im (in der
menschlichen Vernunft notwendig entstehenden) Versuch, das Unbedingte zu erkennen,
und die sinnliche Erkenntnis zu übersteigen, verwickelt die Vernunft sich in Widersprüche,
da keine Wahrheitskriterien mehr vorhanden sind. Die metaphysischen Beweise z.B. für die
Unsterblichkeit der Seele, die Unendlichkeit der Welt oder das Dasein Gottes führten zu
unauflöslichen Antinomien (Widersprüchen), die Ideen der Vernunft sind nur als regulative,
die Erfahrungserkenntnis leitende Begriffe von sinnvollem Gebrauch. Schließlich behandelt
Kant die Methodenlehre und insbesondere die Moral, die an die Stelle der älteren und
dogmatischen Metaphysik tritt. Das Buch wurde 1827 vom Vatikan auf das Verzeichnis
verbotener Bücher gesetzt.
Erkenntnistheorie: „Was kann ich wissen?“ Als Vertreter der rationalistischen Leibnizschen
Schule wird Kant durch das Studium Humes aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt
(Einleitung der Prolegomena). Er erkennt die Kritik Humes am Rationalismus als methodisch
richtig an; das heißt eine Rückführung der Erkenntnis allein auf den reinen Verstand ohne
sinnliche Anschauung ist für ihn nicht mehr möglich. Andererseits führt der Empirismus von
David Hume zu der Folgerung, dass eine sichere Erkenntnis überhaupt nicht möglich sei, das
heißt in den Skeptizismus. Diesen erachtet Kant jedoch angesichts der Evidenz gewisser
synthetischer Urteile a priori – vor allem in der Mathematik (etwa die apriorische Gewissheit
der Gleichung 7+5=12) und in der (klassischen) Physik für unhaltbar. Immerhin aber habe der
Humesche Skeptizismus „einen [methodischen] Funken geschlagen“, an welchem ein
erkenntnistheoretisches „Licht“ zu „entzünden“ sei. So kommt Kant zu der Frage, wie
(apriorische) Erkenntnis möglich sei; denn dass sie möglich sei, stehe angesichts der
Leistungen der Mathematik und der Physik außer Frage. Unter welchen Bedingungen ist also
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Erkenntnis überhaupt möglich? Oder - wie Kant es formuliert -: „Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis?“
In Folge ist „Die Kritik der reinen Vernunft“, in der Kant seine Erkenntnistheorie niederlegt,
eine Auseinandersetzung einerseits mit der rationalistischen, andererseits mit der
empiristischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, die sich vor Kant gegenüberstanden.
Zugleich wird „Die Kritik der reinen Vernunft“ eine Auseinandersetzung mit der traditionellen
Metaphysik, soweit diese Konzepte und Modelle zur Erklärung der Welt jenseits unserer
Erfahrung vertritt. Gegen den Dogmatismus der Rationalisten (z.B. Christian Wolff, Alexander
Gottlieb Baumgarten) steht, dass Erkenntnis ohne sinnliche Anschauung, das heißt ohne
Wahrnehmung, nicht möglich ist. Gegen den Empirismus steht, dass sinnliche Wahrnehmung
unstrukturiert bleibt, wenn der Verstand nicht Begriffe hinzufügt und durch Urteile und
Schlüsse, das heißt durch Regeln mit der Wahrnehmung verbindet. Für Kant ist es ein
Skandal der Philosophie, dass man es bisher nicht geschafft hat, die Metaphysik von den
Streitigkeiten zu befreien.
Sein Ziel ist es, wie in der
Mathematik seit Thales
oder in den Naturwissen-
schaften seit Galilei auch in
der Metaphysik zu wissen-
schaftlichen Aussagen zu
kommen. Kant muss hierzu
in der Metaphysik „das
Wissen aufheben, um zum
Glauben Platz zu haben“;
das heißt die Grenze des
Wissens aufzeigen, um klar-
zustellen, bei welchen Vor-
stellungen (Ideen) gar keine
Erkenntnis mehr möglich
ist, weil ihr Inhalt jenseits
allen Erkenntnisvermögens
liegt. �Schema der Erkenntnistheorie von Immanuel Kant
Für Kant erfolgt Erkenntnis durch Urteile (Aussagen, die ein Subjekt und ein Prädikat
enthalten). In diesen Urteilen werden die empirischen Anschauungen der Sinnlichkeit mit
den Vorstellungen des Verstandes verbunden (Synthesis). Sinnlichkeit und Verstand sind die
beiden einzigen, gleichberechtigten und voneinander abhängigen Quellen der Erkenntnis.
„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“
Wie kommt es nun zu empirischen Anschauungen? Kant diskutiert dies in dem Abschnitt
über die „Transzendentale Ästhetik“ (= Lehre von den Grundlagen der Wahrnehmung). Wir
verfügen einerseits über einen äußeren Sinn, der uns Vorstellungen im Raum gibt. Wir haben
andererseits einen inneren Sinn, mit dem wir Vorstellungen in der Zeit erzeugen. Raum und
Zeit sind Voraussetzung der sinnlichen Vorstellungen, weil wir uns keine Gegenstände ohne
Raum und Zeit vorstellen können. Gleichzeitig sind unsere Sinne rezeptiv, das heißt sie
werden von einer begrifflich nicht fassbaren Außenwelt („dem Ding an sich selbst“) affiziert
(≈ angeregt).
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Nun kommt Kants berühmte kopernikanische Wende: Wir erkennen nicht das „Ding an
sich“, sondern nur dessen Erscheinung oder das „Ding für uns“. Diese Erscheinung wird aber
durch uns als Subjekt, durch die apriorischen Sinnlichkeitsformen gegeben. Kant versucht
diese Denkwende zu veranschaulichen, indem er sich auf die kopernikanische Wende
bezieht. Kopernikus ist der erste, der verstanden hat, dass nicht die Sonne sich um die Erde
dreht, sondern die Erde um die Sonne. Wir können uns das am Beispiel des Sehens gut
verdeutlichen. Nach unserer Vorstellung der Außenwelt gibt es Gegenstände, die von den
Sinnen aufgenommen werden – es wird affiziert. Diese sinnlichen Anschauungen werden uns
nur als räumliche Gegenstände gegeben. Das Räumlich-Sein ist sogar die Bedingung ihrer
Existenz. Die Außenwelt ist dabei bereits eine „subjektive“ Vorstellung. Solche aus einzelnen
Elementen zusammengesetzten empirischen Anschauungen nennt Kant Empfindungen.
Raum und Zeit aber werden als reine Formen der sinnlichen Anschauung den Empfindungen
(der Materie) hinzugefügt. Sie sind reine Formen der menschlichen Anschauung und gelten
nicht für Gegenstände an sich. Dies bedeutet, dass Erkenntnis immer vom Subjekt abhängig
ist. Unsere Realität sind die Erscheinungen, das heißt alles was für uns in Raum und Zeit ist.
Dass wir uns keine Gegenstände ohne Raum und Zeit vorstellen können, liegt nach Kant an
unserer Beschränktheit und nicht in den Gegenständen an sich. Ob Raum und Zeit in den
Dingen an sich existieren, können wir nicht wissen. Empfindungen allein führen aber noch
nicht zu Begriffen. Kant führt seine Überlegungen hierzu in dem Abschnitt über die
„Transzendentale Logik“ aus (= Lehre von den Grundlagen des Denkens). Die Begriffe
kommen aus dem Verstand, der diese spontan durch die produktive Einbildungskraft nach
Regeln bildet. Hierzu bedarf es des transzendentalen Selbstbewusstseins als Grundlage allen
Denkens. Das reine, das heißt von allen sinnlichen Anschauungen abstrahierte Bewusstsein
des „Ich denke“, das man auch als die Selbstzuschreibung des Mentalen bezeichnen kann, ist
der Angelpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie. Dieses Selbstbewusstsein ist der Ursprung
reiner Verstandesbegriffe, der Kategorien. Quantität, Qualität, Relation und Modalität sind
die vier Funktionen des Verstandes, nach denen Kategorien gebildet werden.
Quantität Qualität Relation Modalität
Einheit Realität Substanz und Akzidens Möglichkeit
Vielheit Negation Ursache und Wirkung Existenz
Allheit Limitation Wechselwirkung Notwendigkeit
Kants Kategorientafel
Anhand der Kategorien verknüpft der Verstand mit Hilfe der Urteilskraft (dem Vermögen
unter Regeln zu subsumieren) die Empfindungen nach so genannten Schemata. Ein Schema
ist das allgemeine Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen; z.B.
sehe ich auf der Straße ein vierbeiniges Etwas. Ich erkenne: dies ist ein Dackel. Ich weiß: ein
Dackel ist ein Hund, ist ein Säugetier, ist ein Tier, ist ein Lebewesen. Schemata sind also
(möglicherweise mehrstufige) strukturierende Allgemeinbegriffe, die nicht aus der
empirischen Anschauung gewonnen werden können, sondern dem Verstand entstammen,
sich aber auf die Wahrnehmung beziehen.
Nachdem beschrieben wurde, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist, kommt nun die
grundlegende Frage Kants, ob wir Aussagen machen können, die die Wissenschaftlichkeit
der Metaphysik begründen. Gibt es aus reinen Verstandesüberlegungen Aussagen, die
unsere Erkenntnisse inhaltlich vermehren? Kant formuliert die Frage wie folgt: „Sind
synthetische Erkenntnisse a priori möglich?“
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Kants Antwort darauf lautet „Ja“. Wir können durch die Kategorien synthetische
Erkenntnisse a priori gewinnen. So sind z.B. unter dem Begriff der Relation die Kategorien
der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung erfasst. Am paradigmatischen Beispiel
der Kausalität kann man Folgendes sehen: In unserer sinnlichen Wahrnehmung erkennen wir
zwei aufeinander folgende Phänomene. Deren Verknüpfung als Ursache und Wirkung
entzieht sich aber unserer Wahrnehmung. Kausalität wird von uns gedacht und zwar mit
Allgemeinheit und Notwendigkeit. Wir verstehen Kausalität als Grundprinzip der Natur – dies
gilt auch in der heutigen Physik, auch wenn diese in ihren Grundlagen nur mit
Wahrscheinlichkeiten und Energiefeldern operiert –, weil wir die Kausalität in die Natur, wie
sie uns erscheint, hineindenken. Allerdings schränkt Kant diese Auffassung gegen die
Rationalisten klar ein. Kategorien ohne sinnliche Anschauung sind reine Form und damit leer
(siehe oben), das heißt zu ihrer Wirksamkeit bedarf es der empirischen Empfindungen. Hier
liegt die Grenze unserer Erkenntnis.
Wie kommt es nun zu den metaphysischen Theorien? Dies ist eine Frage der Vernunft, die
den Teil des Verstandes bezeichnet, mit dem wir aus Begriffen und Urteilen Schlüsse ziehen.
Es liegt im Wesen der Vernunft, dass diese nach immer weiter gehender Erkenntnis strebt
und am Ende versucht, das Unbedingte oder Absolute zu erkennen. Dann aber verlässt die
Vernunft den Boden der sinnlich fundierten Erkenntnis und begibt sich in den Bereich der
Spekulation. Dabei bringt sie notwendig die drei transzendentalen Ideen Unsterblichkeit
(Seele), Freiheit (Kosmos) und Unendlichkeit (Gott) hervor. Kant zeigt nun in der Dialektik als
der Wissenschaft vom Schein, dass die Existenz dieser regulativen Prinzipien weder
bewiesen noch widerlegt werden kann.
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