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Theaterwerkstatt Heidelberg – Theaterpädagogische Akademie
Performatives Erzähltheater - Erleben neuer Wirklic hkeiten
Theaterarbeit mit Erwachsenen an der Volkshochschule
Theoretische Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Theaterpädagogin BuT an der Theaterwerkstatt Heidelberg vorgelegt von Marianne Reiffurth / BF 8-1 am 1. August 2012
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
2
I N H A L T EINLEITUNG – Positionierungen ………………….………..………………………..3 1. Theaterpädagogik und Bildung ………………………………….………..………..5
1.1 Theaterpädagogik ……….………..…………………………………..5
1.2 Kulturelle Bildung ………………………….………..………………..6
1.3 Ästhetische Bildung …………….………..……………………………..7
1.4 Ästhetisch-bildende Prozesse ……………………….………..………….8
2. Performativität …………………………………………………….………..……....9
2.1 Begriffsklärung ……………………………………………….………..……9
2.2 Performativität in der Kunst …………………..……….………..………9
2.3 Historie des Performativen in den Künsten ……….………..………..10
2.4 Performatives Theater …………………………….………..………….…12
3. Erzähltheater ……………….………..………………………………………...…13
3.1 Erzählen ………………………….………..………………………..13
3.2 Theater – Erzähltheater …….…………………….………..…...…14
3.3 Historie des Erzähltheaters …….………..……….………………...…14
3.4 Heutiges Erzähltheater …….………………….………..……...…15
4. Wirklichkeit …………………….………..……………………………………...16
4.1 Erleben neuer Wirklichkeiten …….……….………..………………...…16
5. Performatives Erzähltheater …….………………….…….…….………..…..…17
5.1 Begriffsklärung ……….………..…….………………...............…18
6. Projekt-Phasen ………………………………………….………..……………...…18
6.1 Arbeitsweise …………….………..…………………………………..…19
6.2 Erforschung der Materialität …………….………..……………………19
6.3 Themensuche ………………………………………….…….………..….22
6.4 Text in Theaterformen ……….………..……………………………....….23
6.5 Dramaturgisches Konzept …….………….………..……………...…24
7. Ästhetische und soziale Erfahrungen …….…….………..…………………...…26
8. Bedeutung für die Theaterpädagogik …….…………….………..…………...…27
9. Besonderheiten der Praxis mit Erwachsenen ………….………..….………..…29
10. Schlussbetrachtung …….………………...…………………….………..……..29
- Literatur ………………………………………………...…….………..……31
- Eigenständigkeitserklärung …….……….………..………………...………….33
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
3
EINLEITUNG - Positionierungen
Der Gegenstand dieser fachtheoretischen Arbeit basiert auf der Betrachtung und
Bearbeitung des Themas „Performatives Erzähltheater - Erleben neuer Wirklichkeiten“
und den praktischen Bezügen anhand eines von mir geleiteten theaterpädagogischen
Kurses an der Volkshochschule.
Die Volkshochschule Idstein als Bildungsträger lädt in ihrem Vorwort des Programmheftes
2012 zum „Querdenken“ ein und hat ihr Cover aussagekräftig gestaltet. Hier heißt es
denn auch: „Und es passt zu unserer Philosophie: Eine ungewohnte Perspektive
einnehmen und heraustreten aus der Komfortzone des Vertrauten. Dies gehört zu jedem
Lernprozess, der Entwicklung will. (…) Da ist es manchmal sehr wichtig, sich buchstäblich
gedanklich auf den Kopf zu stellen. Erkenntnis braucht die Bewegung. (…) Kreative
Lernprozesse helfen den Lernenden, ihre Stärken und Potenziale auf eine ganz neue Art
zu erleben und in diesem Lernprozess zu wachsen.“ Als Träger der Erwachsenenbildung
erfüllt die Volkshochschule ihren Bildungsauftrag zum lebenslangen Lernen mit der
Aufnahme eines Theaterkurses, der zu einem handlungsorientierten ganzheitlichen
Selbstbildungsprozess einlädt.
Die Teilnehmer fanden sich unter dem Kurstitel „Persönlichkeitsentwicklung mit Mitteln
des Theaters“ in freiwilliger Gemeinschaft zusammen. Ihre spezifischen Bedürfnisse und
Ansprüche resultierten nicht zuletzt aus den unterschiedlichen Lebensphasen, in denen
sie sich befanden. Das Durchschnittsalter lag bei rd. 50 Jahren. Lebenserfahrung, Reife
der Persönlichkeit und die Erwartung eines längeren Lebens spiegelten sich in Ansichten,
Grundsätzen und dem Willen zur Erweiterung der eigenen Kompetenzen wider. Zum
Konzept des lebenslangen Lernens gehört auch die Erwartung, in der Gesellschaft nicht
nur eine Rolle zu beherrschen, sondern jederzeit über eine authentische
Wandlungsfähigkeit zu verfügen. Die meisten der Teilnehmer waren mir aus vorherigen
Kursen als sehr aufgeschlossen bekannt, was eine realistische Möglichkeit des
Zustandekommens dieses modernen Projekts „Performatives Erzähltheater“ bedeutete.
Ein wichtiger Aspekt der Arbeit an der Volkshochschule liegt in der Freiwilligkeit der
Teilnehmer. Dies ist eine der günstigen Voraussetzungen für die gemeinsame Arbeit, in
der es direkt um die eigene Persönlichkeit geht. Ein weiterer, wesentlicher Aspekt der
Arbeit an der Volkshochschule besteht in der Wahlfreiheit der Lehrtätigkeit in Bezug auf
künstlerische und personale Zielbestimmung sowie auf die methodisch-didaktische
Herangehensweise in den Kursen. Die Wahl der Theaterform und des Theaterstoffs kann
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
4
in eigener Verantwortung für das Projekt und jeden einzelnen Teilnehmer getroffen
werden. Das theatrale Lernen unterliegt in dieser Konstellation nicht der Problematik
bewertenden schulischen Lernens und gibt so allen Beteiligten eine große innere und
äußere Freiheit. Spaß und Freude an der gemeinsamen Theaterarbeit zu vermitteln, ist
einer der zentralen Punkte im Konzept des Theaterkurses.
Theater ist die Plattform, auf der sich menschliche Prozesse darstellen im Spannungsfeld
zwischen Realität und Spiel. Ein Thema, das mich nicht erst seit meinen Berliner Jahren
im Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ interessiert. Dieses
Spannungsfeld auf experimenteller Ebene zu entdecken und mit theaterpädagogischen
Verfahren und Konzeptionen zu bearbeiten, versprach in ungehinderter Umsetzung eine
neuartige Begegnung mit der Theaterkunst. Die konsequente Hinwendung zu modernen
theatralen Gestaltungsformen erbrachte thematisch eine postdramatische
Schwerpunktsetzung. Hier zeigten sich in der theoretischen und praktischen
Beschäftigung mit diesem Thema vielfältige Möglichkeiten der künstlerischen Realisierung
in der Arbeit mit Erwachsenen.
Die vorliegende Arbeit geht zum einen der theoretischen Frage nach, welchen Beitrag das
Theaterspiel für die Selbstbildung, die ästhetische und soziale Bildung nicht-
professioneller Spieler leisten kann. Zum anderen wird der theaterpraktischen Frage
nachgegangen, inwieweit die gewählten Theaterformen für die Erwachsenengruppe
zielführende Elemente besitzen.
Der erste Teil der Abschlussarbeit widmet sich der Theorie und beinhaltet die Klärung der
Begrifflichkeiten, die den Titel dieser Arbeit bilden. Entsprechende Formulierungen
werden aus theaterpädagogischem Blickwinkel erwählt und stellen einen theoretischen
Bezug zu dem Projekt und seinen Besonderheiten dar. Im zweiten Teil wird die
Theaterpraxis auf der Metaebene beleuchtet und anhand einiger Projektbeispiele erläutert
und verdeutlicht.
Anzumerken ist, dass für alle vorkommenden Definitionen und begrifflichen Ausführungen
zahlreiche Begriffsvariationen existieren. Es wird versucht, eine für diese Arbeit relevante
Definition zu erbringen, die nicht auf Vollständigkeit abzielt, da dies den Rahmen der
vorliegenden Arbeit übersteigen würde.
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
5
Hier wird die Zukunft verhandelt, indem mit der Gegenwart gespielt wird.1
1. Theaterpädagogik und Bildung
Die nachfolgenden Begriffsklärungen sind immer in Bezug auf die Erwachsenen des
theaterpädagogischen Kurses zu verstehen.
1.1 Theaterpädagogik
Ziele
Der Gegenstand der Theaterpädagogik ist das Theater mit seinen Ausdrucksformen, die
in kreativen Spielprozessen erprobt und reflektorisch erfahren werden. In theatralen
Prozessen können Fähigkeiten entwickelt werden, die eigene Person zu erkennen und
selbstbildend zu erweitern. In künstlerischen Gestaltungsprozessen eröffnen sich den
Spielenden die Möglichkeit, die eigene Wahrnehmungs- und Imaginationsfähigkeit zu
erweitern, das Ausdrucks- und Sozialverhalten sowie die Fähigkeit zur Selbstreflexivität
zu stärken.
Um zu diesen Dimensionen zu qualifizieren, werden theaterpädagogische Verfahren und
Methoden genutzt, die auf Lernprozesse mit offenem Ausgang ausgerichtet sind. Den
Lernenden wird hier die Möglichkeit gegeben, Erfahrungen zu machen, die für sie als
Personen „Deutungswert“ haben, ihnen die Sinnhaftigkeit ihres Tuns einsichtig und
transparent machen und sie zu neuen Denk- und Gestaltungsprozessen anregen.2
Menschen, die gerade keine Theater-Künstler sind, sollte der Weg zu einem
Selbstausdruck eröffnet werden, der insofern künstlerische Qualitäten besitzt, als dass er
neue Blickrichtungen auf die eigene Person, das Verhältnis zu anderen Menschen,
vielleicht sogar auf die Gesellschaft ermöglicht.3
Vorgehensweisen
In der Vermittlung der Theaterkunst im theaterpädagogischen Kontext haben sich
verschiedene Arbeitsphasen in Formen der Modularisierung herausgebildet
- über Stufen: Kennen-Lernen, Ausdruck-Schulen, Figur-Aufbauen
- innerhalb von „Bausteinen“: Raum, Zeit, Figur oder
- in Formen (Masken-, Schatten-, Improtheater usw.).
1 Vgl. Seitz, Hanne, Vortrag auf Villacher Symposium am 08.04.2010, Punkt 3, 4 2 Vgl. Czerny, Gabriele, „Theaterpädagogik“, 2011, 22 3 Vgl. Hilliger, Dorothea „Theaterpädagogische Inszenierung“, 2009, 49
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
6
Die modularisierte Aufgliederung des Lernprozesses erleichtert dabei die Zuordnung
zwischen einzelnen Verfahren und Handlungen innerhalb des Theaterspielens und
einzelnen Kompetenzen im Sinne gesellschaftlich anerkannter Fähigkeiten und
Fertigkeiten.4
1.2 Kulturelle Bildung
Die Begriffe „Kultur“ und Bildung“ eröffnen ein facettenreiches Bedeutungsspektrum.
„Kultur“ meint sowohl die Gesamtheit der durch Menschen geschaffenen materiellen und
immateriellen Artefakte als auch die unterschiedlichen Lebensweisen und das Feld des
vom Alltag unterschiedenen Bereiches der Kunst. Der Begriff der „Bildung“ ist sowohl dem
humanistischen Ideal von allgemeiner, umfassender Bildung, der sozialistischen
Zielvorstellung einer „allseitig gebildeten Persönlichkeit“ als auch der Praxis schulischer
Wissensvermittlung verbunden. Kulturelle Bildung folgt einem ganzheitlichen Verständnis
von allgemeiner Bildung. Sie zielt auf kognitives, emotionales und soziales Lernen mit
allen Sinnen ab. Bezogen auf künstlerische Gestaltungsbereiche geht es nicht um
Erreichung von Professionalität, sondern um die Stärkung individueller und sozialer
Handlungsfähigkeit.5
Kulturelle Bildung ist unverzichtbarer Teil einer umfassenden Persönlichkeitsbildung. Sie
zielt auf künstlerische und kulturelle Kompetenz möglichst aller und befähigt den
Einzelnen, Kunst und Kultur von Grund auf kennen zu lernen, zu verstehen und zu
gestalten und am kulturellen Leben teil zu haben. Mit der Förderung von Kreativität
gewährleistet kulturelle Bildung den Erwerb von kultureller Kompetenz als Ressource für
gesellschaftliche Innovation. Kulturelle Bildung ist Allgemeinbildung, die mit den
spezifischen Methoden und Arbeitsformen der Kulturpädagogik entwickelt wird. Kulturelle
Bildungsarbeit findet zudem in Volkshochschulen, in Soziokulturellen Zentren und in
Jugendeinrichtungen u.a. statt.6
„Lebenslanges Lernen“ stellt einen weiteren Aspekt der kulturellen Bildung dar, der das
Ziel verfolgt, die Bildungsteilhabe zu erhöhen, allen Menschen mehr Chancen zur
persönlichen, ihrer Begabung entsprechend, gesellschaftlichen und beruflichen
Entwicklung zu ermöglichen. In der öffentlichen Diskussion und Literatur steht vorwiegend
die kulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt, erst seit einigen
4 Vgl. Pinkert, Ute, „Der Theaterbegriff in der Theaterpädagogik“, 2010, 5 Vgl. Koch u. Streisand, Wörterbuch der Theaterpädagogik, 2003, 171 6 Vgl. Fuchs, Max, Vortr.“Kulturelle Bildung in der Kultur- u. Entwicklungsplanung“, Dresd. 30.6.04
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
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Jahren ist das lebenslange Lernen von Erwachsenen in den Focus gerückt. In Anbetracht
der Herausforderungen des demographischen Wandels ist dies von besonderer
Bedeutung. Auch unter dem Blickwinkel der Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist eine
Erhaltung der Kompetenzen von gesellschaftlicher Relevanz.
1.3 Ästhetische Bildung
Ästhetik (aisthesis), kommt aus dem Griechischen und bedeutet „sinnliche
Wahrnehmung.“
Der Begriff Ästhetische Bildung bezeichnet einen Ansatz der Erziehungswissenschaften
mit ästhetischen Medien, bei dem sinnliche Erfahrungen Ausgangspunkt von Bildung und
Entwicklung des Menschen sind. Damit sind nicht nur Erfahrungen gemeint, die an
künstlerischen Werken gemacht werden können. Im Sinne der Herkunft des Wortes zielt
die ästhetische Bildung auf die Bildung der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit in
allen Lebensbereichen. Ästhetische Bildung versteht Bildung nicht in erster Linie als
Wissensaneignung, bei der das Denken der Wahrnehmung übergeordnet ist, sondern als
Ergebnis sinnlicher Erfahrungen, die selber Quelle von Wissen und Erkenntnis sein
können.7
Entsprechend der jeweiligen Perspektive kann ästhetische Bildung eher das
gesellschaftlich-kulturelle Moment betonen, darauf ausgerichtet, die ästhetischen
Komponenten der Zeichenwelt als symbolische Repräsentanten der Lebenswelten lesbar
zu machen. Auf der anderen Seite kann ästhetische Bildung Leib-Seele-Erfahrungen
bearbeiten, womit hier weniger Zeichenproduktion als die Ermöglichung subjektiver
Erfahrungsprozesse und Transformation gemeint ist.8 Beide Perspektiven werden in der
theaterpädagogischen Arbeit angesprochen, wobei für die Kursteilnehmer zu Beginn das
gesellschaftlich-kulturelle Moment der ästhetischen Bildung entscheidend war.
Orientierungspunkte der ästhetischen Bildung innerhalb der Theaterpädagogik sind zum
einen die spezifischen Bedingungen theatraler Gestaltung und zum anderen – in
bildender Absicht – die besonderen Erfahrungen, welche die nicht-professionellen Akteure
mit diesen Gestaltungsformen machen können. Im Zentrum gegenwärtiger
theaterpädagogischen Arbeit steht die performative Funktion, die Art und Weise der
Gestaltung und die Erfahrungen, die mit diesem Gestaltungsprozess gemacht werden.9
7 Vgl. Wikipedia, Ästhetische Bildung, 21.07.2012, 22:41 Uhr 8 Vgl. Pinkert, Ute, „Transformationen des Alltags“, 2005, 101 9 Vgl. Koch und Streisand, „Wörterbuch der Theaterpädagogik, 2003, 10
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
8
1.4 Ästhetisch-bildende Prozesse
In theatralen Lernprozessen löst das Individuum Probleme der sinnlichen
Selbstvergewisserung im Umgang mit seiner gegenständlichen und sozialen Umwelt,
indem es szenisch-spielerisch interagiert und aus der Interaktion einen ästhetischen
Ausdruck entwickelt.10
Kriterien für eine ästhetische Grundhaltung, welche die Basis für ästhetisch-bildende
Prozesse darstellen:
1. Innehalten und Verweilen: Theaterspielen braucht Zeit zur Besinnung auf sich
selbst, erfordert Auseinandersetzung mit dem Stoff und der Gruppe
2. Synästhetische Wahrnehmung: Sinneswahrnehmung ist die Grundlage
ästhetischer Erfahrung. Gut ausgebildete Sinne sind die Voraussetzung für den
Prozess der Verkörperung.
3. Subjektivität: Äußerungen subjektiver Empfindungen einfordern, sie wirken in der
Auseinandersetzung mit dem theatralen Stoff Selbstwert fördernd
4. Imagination: Phantasie und Vorstellungskraft gilt besondere Aufmerksamkeit, denn
in der Imagination werden Sinneswahrnehmungen lebendig
5. Zweckfreiheit: Entscheidendes Kriterium der ästhetischen Wahrnehmung.
Sich zweckfrei in einer Theatersituation zu erleben und zu bewegen heißt auch,
das Theaterspiel um seiner selbst willen zu genießen. 11
Die Spielenden durchleben individuell die Auseinandersetzung mit sich selbst im Medium
der Kunst und erkunden diese reflexiv auf Grundlage theaterpädagogischer Arbeitsweise.
Pädagogisch angeleitete ästhetische Praxis, darauf verweist Jürgen Weintz, bewegt sich
zwischen einer künstlerischen Innovation einerseits und sozialen Gegebenheiten,
Beziehungen sowie Zielstellungen andererseits. „Pädagogisch initiierte ästhetische
Bildungs- und Erziehungsvorgänge müssen also der Tatsache Rechnung tragen, dass
ästhetische Vorgänge eine kunst- oder formbezogene Seite haben und dass weiterhin
Imagination und Objektivation einerseits immer individuelle Leistungen eines
schöpferischen Subjekts sind, andererseits dieses Subjekt jedoch ebenso wie die
betreffende schöpferische Äußerung auch geschichtlich-sozial geprägt ist.“12
10 Vgl. Wiese, Günther, Ruping „Theatrales Lernen als philosophische Praxis“, 2006, 29 11 Vgl. Czerny, Bildungsforum Albstadt-Ebingen, „Beitrag zur ästhetischen Bildung“ am 12.11.2004 12 Vgl. Weintz, Jürgen, „Theaterpädagogik und Schauspielkunst“, 2008, 127
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
9
2. Performativität
2.1 Begriffsklärung
Der englische Begriff performance heißt Aus- und Durchführung, to perform aktives
Handeln, etwas tun, vollziehen. Performativität ist ein Begriff aus der Sprechakttheorie
des Sprachphilosophen John L. Austin (1911–1960) und bezeichnet die Ausführung des
gesprochenen Wortes, das die Sprechintension benennt. Das Sprechen wurde als
veränderndes Medium erkannt, das in und mit dem Sprechakt selbst Transformationen
bewirken kann, klassisches Beispiel: „Ich taufe das Schiff auf den Namen ,Queen
Elisabeth´“. Identität als körperliche und soziale Wirklichkeit wird also durch performative
Akte konstituiert. Diesen Erscheinungsformen des Sinns wird eine eigene, konstitutive
Rolle zugesprochen. Sie wird als eine wirkende Kraft anerkannt, die als Ereignis in der
Realität auftritt und diese zu ändern vermag. Merkmale performativer Äußerungen sind
selbstreferentiell: im Moment des Sprechens wird die aktuelle Wirklichkeit formuliert
wirklichkeitskonstituierend: im Moment des Sprechens wird neue Wirklichkeit erschaffen.13
2.2 Performativität in der Kunst
Die Gemeinsamkeit performativer Darstellungen liegt in ihrer gegenwärtigen
Prozesshaftigkeit. Nicht der Text, sondern die Aktion steht im Vordergrund, die sich in
Strukturen und Symbolen als Veränderung und Entgrenzung eines dramatischen
Theaterverständnisses zeigt. „Künstlerische Performance (…) eine Kunstpraxis, die das
Reale des Augenblicks dem konventionellen Kunstgedanken von Werk und Illusion
entgegen stellt.“14
Die sinnlich erfahrbaren Ebenen der Aktionskunst liegen in der Handlung, der Sprache
und den Zeichen und fließen in ihrer signifikanten Materialität ineinander. Sinn- und
Handlungszusammenhänge stellen sich nicht her, da die Akteure bestrebt sind, sich jeder
Art kausaler Vernetzung zu entledigen. So wird der „Einbruch des Realen“ in der Realität
herbeigeführt. Das Publikum wendet verstärkt seine Aufmerksamkeit der situativen und
ereignishaften Dimension geistigen Phänomene zu und deutet diese in personal-
spezifischer Wahrnehmungsfähigkeit.
13 Vgl. Fischer-Lichte „Ästhetik des Performativen“, 2004, 31f 14 Vgl. Sting, Wolfgang, Vortrag „Performance now?!“ 2011, Bergedorf
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
10
Das Publikum tritt aber nicht nur in einen geistig-sinnstiftenden Dialog, es reagiert und
agiert zeichenhaft, greift in das Geschehen ein und wird selbst zum Akteur des
Ereignisses. In „Ästhetik des Performativen“ schreibt Erika-Fischer Lichte: „Sowohl die
Akteure als auch die Zuschauer suchten hier den Rollenwechsel dazu zu nutzen, für sich
das Recht und die Macht durchzusetzen, die Wahrnehmung der anderen sowie den
Diskurs zu bestimmen, in dessen Kontext sie zu situieren und zu deuten sei.“ 15
Die Darstellungsformen zeigen sich als Ereignisse in Live-Performances, die sich im
Laufe der Jahrzehnte zunehmend aller ihr zur Verfügung stehenden künstlerischen Mittel
bedienen. In einem intermedialen Reigen bringt jede Kunstart die ihr eigene Wirkung
gleichberechtigt zur Geltung. Hier verbinden sich Elemente der Musik, der Literatur, der
Malerei, des Tanzes, der Architektur, des Theaters sowie der bildgebenden Techniken,
denen des Films und der Fotografie.
2.3 Historie des Performativen in den Künsten
Performative Merkmale zeigten sich bereits in den 50iger Jahren in der Musik. In sog.
Events wurden Geräusche zu Laut-Ereignissen, die unter Anleitung der Musiker vom
Publikum selbst erzeugt und mit Bewegungen begleitet wurden. Diese neue Beziehung
zwischen Musiker und Zuhörern spiegeln die Begriffe „szenische“ und „sichtbare“ Musik.16
In den frühen 60iger Jahren entwickelten sich in den Künsten performative Strukturen, die
als neue Kunstgattung mit sog. Aktions- und Performancekunst hervortraten. Die
Kunstwerke der bildenden Kunst, die als action painting und body art den agierenden
Künstler, Lichtskulpturen oder Videoinstallationen zeigten, hatten Aufführungscharakter.
Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten wurden immer fließender – sie
tendierten zunehmend dazu, Ereignisse statt Werke zu schaffen, und realisierten sich
auffallend häufig in Aufführungen. 17
Auch auf dem Theater ging es im Zuge einer performativen Kunstentwicklung um
Neubestimmung und Aushandeln des Verhältnisses von Akteuren zu ihren
konsumierenden Zuschauern. Der Dramentext als bildungsbürgerliches Kulturgut trat in
den Hintergrund und verlor an Einfluss, die Kultur als Text wich einer Kultur als
Performance. Die Bedeutung der Darstellung wurde nun im Prozess der Aufführung
generiert. Die Aufhebung der vierten Wand als Differenzerfahrung neuer Formenhaftigkeit
15 Vgl. Fischer-Lichte, Erika, „Ästhetik des Performativen“, 73 16 Vgl. ebd., 22 17 Vgl. ebd., 22
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
11
auf dem Theater wurde in geistigen und körperlichen Handlungen von Akteuren und
Zuschauern geschaffen. In dem ereignishaften Handeln ging es außerdem um die
Destabilisierung der Privatheit des Publikums.
Das Erzähltheater erlebte in den 60iger Jahren die proklamierte und beobachtete
Entgrenzung der Künste, als „performative Wende“ beschrieben. „Die besondere
Differenz zwischen Lesen und Zuhören beim Vorlesen von Literatur – zwischen Lesen als
Text-Entziffern und ,Lesen´ als Aufführung – wurde so deutlich markiert. Nicht zuletzt
wurde die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die spezifische Materialität der jeweils
vortragenden Stimme gelenkt (…)“18
In den 70iger Jahren wurde die Kunst zunehmend medialisiert, woraus sich in der
performativen Kunst ein Spannungsfeld zum Faktor „Zeit“ ergab. Die Künstler selbst
hatten keine konzeptionellen Vorbehalte gegenüber der Fotographie oder des Films. Sie
nutzten die neuen Möglichkeiten, auch zur Dokumentation ihrer Werke. Sie bedienten sich
vielmehr dieser spezifischen Ausdrucksform und machten sie in ihren Bühnenwerken
produktiv.
Zu Beginn der 80iger Jahre wurde der Begriff der Installation in der Bildenden Kunst
verwendet und bezieht sich auf ein an die Umgebung, zum Beispiel den Raum,
angepasstes Kunstwerk, dessen Gestaltungsmittel Licht, Zeit, Klang und Bewegung sein
können.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt findet sich performative Praxis auch in der öffentlichen
Aktion, zum Beispiel „Flashmob“. Hier zeigt sich kollektive Kraft in ästhetischer und
sozialer Wirksamkeit. Unbekannte Menschen verabreden sich über die Medien, wie
Internet oder Handy, zu einer gemeinsamen Aktion auf öffentlichen Flächen. Die
Zusammenkunft wird zum Ereignis, das für einen Moment die öffentliche Ordnung
durchbricht und sich ästhetischer Mittel bedient: Menschen mit unzähligen Fahrrädern,
Sprechchöre, aus Körperbewegungen werden Choreographien, Alltagshandlungen
werden angehalten oder erfahren Tempoverschiebungen.
18 Vgl. Fischer-Lichte, Erika, „Ästhetik des Performativen“,25
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
12
2.4 Performatives Theater
Das Performative Theater verbindet spielerische, szenische Ansätze mit einer formalen
Ästhetik, ohne eine schauspielerisch- textliche Inhaltsdarstellung zu evozieren. Es werden
keine Charaktere in schlüssigen Handlungen gezeigt, sondern Tätigkeiten und
Handlungen ausgeführt. Die Körperlichkeit der Spieler prägt in ihrer Charakteristika die
spezifische Materialität der Aktionen. Die assoziative Verschränkung von Material und
Materialität ist dazu bestimmt, vielschichtige Atmosphären auf der Bühne zu erzeugen.
Das theatralische Ereignis stellt eine durch die/den Künstler bestimmte performative
Eigenproduktion mit einer Vielfalt thematischer und ästhetischer Schwerpunkte dar.
Die Aspekte der Theatralität im performativen Theater zeigen sich in
- Performativer Hervorbringung von Materialität zugleich spezifischer Modus der
Zeichenverwendung
- Körperlichkeit, die sich aus Material und Darstellung ergibt
- Wahrnehmung des Zuschauers in Bezug auf seine Beobachtungsleistung und
Perspektive
- Aufführung/Performance, konstituiert durch leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und
Zuschauern.19
Zentrale Unterschiede von Performance im Vergleich zum dramatischen Theater:
- Ereignis statt Werk
- Präsentation statt Repräsentation
- Handeln statt Spielen
- Selbstdarstellung statt Rollen- und Figurendarstellung
- Zuschaueransprache und Unmittelbarkeit statt vierter Wand.20
„Wir sehen Darsteller, die sich mit ihrem exzessiven Verwandlungsgeschick verausgaben,
dem Zufall und auch dem Scheitern aussetzen, im Wettkampf mit anderen, mit dem
Raum, mit sich selbst. Sie zeigen, dass es längst nicht mehr um die Sache oder Person
geht, sondern um Präsenz, Unmittelbarkeit und pure Körperlichkeit. Die performative
Wende, die das Theater erfasst hat, führt vor Augen, wie wir zwischen verschiedenen
Wirklichkeiten, Identitäten, Zuständen wechseln können. Theater wird dabei zu einer Art
Krisenexperiment. Das Labor ist allerdings ein geschützter, eine Spielstätte, in der
sozusagen auf Probe gehandelt wird – und darum kann auch Verstörendes oder
Irritierendes vor Augen geführt werden, ohne dass Schaden davon getragen wird. Theater
19 Schmidt, Axel, Metzler-Lexikon „Theatertheorie“ in Literaturkritik.de, Nr. 2, Feb. 2006 20 Vgl. Sting, Wolfgang, 2011, Impulsvortrag „Performance Now“, 2011
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
13
kann zeigen, wie mit Identitäts- und Werteverlust oder Orientierungslosigkeit umgegangen
wird, wie man aus all dem, was uns der Paradigmenwechsel zumutet, sogar noch Gewinn
ziehen kann. Man geht „ungeschoren“ und um eine Erfahrung reicher daraus hervor. Und
natürlich bietet Theater der Wirklichkeit auch Paroli, indem es immer noch mögliche und
andere Welten erkundet – ein Ort, an dem sich Leben erprobt und bisweilen feiert.“ 21
3. Erzähltheater
3.1 Erzählen
Das Erzählen gehört zu den ältesten Kulturtechniken der Menschen. Im Mittelalter
gehörten in unserem Kulturkreis zu den Geschichtenerzählern die Minnesänger,
Troubadoure und Hofnarren. Erzählerische Traditionslinien führen bis in die Gegenwart
hinein und finden sich im Alltag als Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation
wieder.
Jeder Mensch erzählt. Das Erzählen realer oder fiktiver Ereignisse ist ein Grundelement
im Kommunikationsverhalten, es ist mehr als der Austausch von Informationen. Die
Absicht des Erzählers ist es, Erlebnisse und Ansichten auf anschauliche Weise zu
vermitteln, um geistiges Nachvollziehen und emotionale Übereinstimmung mit dem
Zuhörer zu erreichen. Im Erzählen wird der Sachverhalt sowohl abstrahiert als auch
dramatisiert und ermöglicht dem Zuhörer das Geschehen zu erleben. Der Erzähler bringt
auf diese Weise seine eigene Sichtweise ein. Die Fähigkeiten des Erzählers zeigen sich
in der Art seiner Geschichten-Aufbereitung und inwieweit es ihm gelingt, vor dem
geistigen Auge des Zuhörers Bilder auferstehen zu lassen, um Spannung und Neugierde
zu erzeugen. Er erzählt dabei unter eigenem Namen oder spielt eine Rolle, indem er
diese mit Stimme, Atem, Ton und Rhythmus verkörpert. Er veranschaulicht so die Innen-
und Außenperspektive der Figur und wendet sich an die Zuhörer, die ihrerseits
aufmerksam Imaginations- und Ergänzungsleistungen erbringen. Die Erzählung entwickelt
sich in Wechselwirkung zwischen Erzählendem und Zuhörer, beide tragen zur
individuellen Prägung der Geschichte bei.
Für das Erzählen hat sich das typologische Modell der Erzählsituationen etabliert. Es
dient der Unterscheidung von Erzählperspektiven, drei der maßgeblichen Haltungen des
Erzählers seien genannt:22
21 Vgl. Seitz, Hanne, Beitrag auf Villacher Symposium am 08.04.2010, 3. „Theater als Spiel“, 4 22Vgl. teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_gat/d_epik/strukt/erzpers/erzpers_1_2.h… 2012
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
14
auktorial - persönlich anwesender, „allwissender“ Erzähler, nicht der Autor
- der initiiert und lenkt die Geschichte (Zeitabläufe, Orte, Figuren etc.)
- besitzt ausgeprägten Erzählgestus im Prozess erzählter Wirklichkeit
- Außen- und Innenansicht aller Figuren jederzeit möglich
personal - neutrales Erzählen dargestellter Wirklichkeit, spiegelt Figurenbewusstsein
- keine Wertung oder Einmischung ins Geschehen
- erzähltes Geschehen als personale Innensicht oder Außensicht
- sog. Showing: szenische Darstellung, erlebte Rede, innerer Monolog
Ich-Form - Anwesenheit eines Erzähler-Mediums in Ich-Form
- Unterscheidung zwischen erlebendem und erzählendem Ich
- mit jeder anderen Erzählperspektive verknüpfbar
- stets emotionale Eingebundenheit des Ichs im Geschehen.
Der Erzähler bedient sich neben personaler Gestaltungsmittel rascher Perspektivwechsel
und nimmt in der erzählten Wirklichkeit den wandelbaren Part vom ICH zur Erzählerrolle
ein. Der Erzähltext benutzt oft als Stilmittel die dritte Person und die Vergangenheitsform.
3.2 Theater - Erzähltheater
Theater als Prozess zeigt szenische Darstellungen innerer und äußerer Vorgänge von
Darstellern vor einem Publikum. Traditionell geht von der Figur als Zentralperspektive die
Wahrnehmung und Bedeutung des Dramas aus.
Erzähltheater ist eine Formenbeschreibung, eine Verschmelzung und Verflechtung von
Sprech- und Bildtext, die sich im fließenden Wechsel in einem offenen Spiel vollzieht.
Das Erzähltheater kommt im Gegensatz zum konventionellen Theater mit einem Minimum
an Kostüm, Requisite und Bühnenbild aus. Der Erzähler behandelt Vergangenes,
während gleichzeitig Bilder, Zeichen und Gesten eine inszenierte Gegenwart vermitteln.
Das dialogische Prinzip mit theaterspezifischen Mitteln ist der Grundgedanke zur
Überbrückung der Distanz zwischen Erzähler, Darsteller und Publikum.
3.3 Historie des Erzähltheaters
Im Wörterbuch der Theaterpädagogik heißt es dazu: „Das Erzähltheater nimmt
Traditionslinien auf, die bis zu den Vorformen des Theaters zurückreichen, zum
dithyrambischen und rhapsodischen Erzählen der Antike, die weiterlebten mit den
fahrenden Spielleuten des Mittelalters, den Bänkel- und Moritatensängern der (frühen)
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
15
Neuzeit und bis zum Misterio buffo eines Dario Fo reichen.“23 In Brechts
„Dreigroschenoper“ wurde der Moritatensänger, der auf eine bebilderte Geschichte
verweist, zum Erzähler.
In den letzten 20 Jahren hat sich im Erzähltheater die sogenannte offene Spielweise
durchgesetzt. Eine mehrdimensionale Darstellung im Bereich der Figuren vollzieht die
eigentliche Weiterentwicklung des Erzähltheaters. Auch in Hinblick auf ineinander
greifende Theaterformen, den Umgang mit kreativ benutzten Gegenständen oder das
Einbeziehen des Publikums zeigen sich moderne Formen des Erzähltheaters.
3.4 Heutiges Erzähltheater
Es ist ein Spiel mit den Sprachen des Erzählers und der des Darstellers, in welchem die
Bilder selbst beweglich sind. Hier wird die Handlung durch die szenische Erzählung
lebendig. Wenn das Bildmaterial die Geschichte erzählt, tritt der Erzähler zurück in die
Ebene der Darstellungsform. Im Ensemble ist Gleichzeitigkeit von Erzählung und
Darstellung durch Elemente des Rollentheaters in unterschiedlicher Personenzahl und
variabler Rollenzuordnung gegeben. Die Erzähler und Darsteller beziehen sich in
differenzierter Intensität aufeinander und agieren gleichzeitig oder zeitversetzt. In
vielfältiger Schichtung der Erzählperspektiven realisiert sich der Spannungsbogen einer
theatralisierten Geschichte.
In seinem Beitrag zur Praktischen Theaterwissenschaft „Spiel – Inszenierung – Text“
äußert sich Hajo Kurzenberger wie folgt: „Heutiges Erzähltheater verzichtet nicht nur auf
derartige ideologische oder metaphysische Fundierung. Es zeigt sich auch als ein äußerst
variables theatralisches Verfahren, das zwischen Erzählen und Spielen keine
hierarchischen Unterschiede macht. So ist Erzähltheater nur selten ,bebildertes Erzählen´,
aber auch nur selten ein Spiel mit erzählenden Zwischenteilen. Erzählen und Spielen
können die unterschiedlichsten Verschränkungen, Mischungsverhältnisse,
Abhängigkeiten und Dominanzen eingehen. Die Übergänge können schroff oder fließend
sein, es kann nacheinander erzählt oder gespielt, aber auch simultan gespielt und erzählt
werden.“24
Zu den verschiedenen Ausprägungen des modernen Erzähltheaters gehört auch das
„Material-Erzähltheater“. Es behandelt und bespielt Materialien, die beziehungs- und
sinnreich in Bewegung und somit ins Verhältnis gesetzt werden. Die Materialen sind so
23 Vgl. G.Koch und M.Streisand (2003) Wörterbuch der Theaterpädagogik, 90 24 Kurzenberger, Hajo, Beitrag „Spiel – Inszenierung – Text“, Hildesheim 1998
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
16
ausgewählt, dass sie vielgestaltig und signifikant sind, unterschiedlich in ihrer Geschichte,
Verarbeitung und Ausdrucksform. Die ästhetische Funktion erschließt sich im sinnlichen
Reichtum und kreativen Umgang mit dem Material. In diesem Segment des modernen
Erzähltheaters entfalten sich Form- und Sprachgebung auf ungewöhnliche Weise, in der
Spiel, Material und Erzählung kreativ miteinander kombiniert werden.
4. Wirklichkeit
Der Brockhaus Philosophie25 formuliert Wirklichkeit, als Realität im Unterschied zur
Möglichkeit oder zum Schein. Wirklichkeit also im Sinne der Summe alles Vorhandenen,
tatsächlich Gegebenen, Gegenständlichen im Unterschied zum lediglich Gedachten oder
Vorgestellten. Im Weiteren: „Die Naturwissenschaft hat die neuzeitliche
Wirklichkeitsauffassung nachhaltig geprägt, zum einen, indem sie zu einer durchgängigen
Spaltung der Wirklichkeit in die objektive Welt der Tatsachen und die subjektive-geistige
Wirklichkeit des Menschen führte. Zum anderen zeigt sich Wirklichkeit als wesentlich
durch die erkennende, konstruierende und handelnde Aktivität des Menschen geprägt und
ist von ihr nicht zu trennen.“
Paul Watzlawik erhebt das Postulat „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere
Erfahrung.“ Als zentrale Bezugsgröße der Realität sieht er „…die Beziehung zwischen
dem Du und dem Ich, und diese Beziehung heißt Identität: Wirklichkeit – Gemeinschaft.
Der ästhetische Imperativ: Willst du erkennen, lerne zu handeln. Der ethische Imperativ:
Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen. (…) So konstruieren wir aus einer
Wirklichkeit in Zusammenwirkung unsere Wirklichkeit.“26
4.1 Erleben neuer Wirklichkeiten
Der Begriff „Erleben“ ist der angewandten Psychologie zugeordnet. Im Erleben zeigt sich,
wie der Mensch Ereignisse und Situationen aus der Perspektive der Selbstwahrnehmung
bewertet.
„Neue Wirklichkeit“ als Terminus findet sich nach meinen Recherchen nicht in der
Fachliteratur. So könnte es nach Watzlawik heißen „unsere / meine Wirklichkeit“. Und
doch ist diese Wortkombination keine unbekannte, ihre Herkunft scheint vielmehr einer
poetischen Annahme oder literarischen Beschreibung zu entspringen. „Neue Wirklichkeit“
als Wortspiel taucht in der Literatur, Presse, Kunst und sogar in der Wirtschaft auf. Allen
Bereichen gemeinsam liegt sicher die Absicht des Verheißens einer unbekannten Größe
25 Vgl. Brockhaus Philosophie, 2. Erweiterte Auflage, 2009, S. 457 26 Vgl. Watzlawik, Paul (Hg), „Die erfundene Wirklichkeit“, 5. Auflage 2010, S. 59 f
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
17
zugrunde, die in ihrer vagen Bestimmtheit genügend Freiraum der eigenen Phantasie
zuweist. Die Zeichenhaftigkeit des Wortes „neu“ ist stark medial geprägt und bedeutet
meist „die bessere Variante zum Vorhergehenden“. Dies evoziert auf den Gegenstand
gerichtete Aufmerksamkeit, Spannung und positive Emotionalität, auf diese Weise erfährt
sie Verbreitung und Legitimation. Als Folgerung der Betrachtung zum Thema „Neue
Wirklichkeit“ wurde die Begrifflichkeit als Wortspiel angenommen.
Im Performativen Erzähltheater sind es die überraschenden Momente performativen
Handelns und die ungewöhnlichen postdramatischen Konstellationen, die in der Freiheit
künstlerischer Autonomie neue Wirklichkeit erleben lassen. Die eigenen lebensweltlichen
Grenzen werden in diesem Zusammen-Spiel überschritten und erzeugen unsere / meine
Wirklichkeit, die real erlebt und als neu empfunden werden.
5. Performatives Erzähltheater
Die Begrifflichkeit „Performatives Erzähltheater“ wurde aus der Notwenigkeit heraus
formuliert, ein theatrales Projekt zu bezeichnen, in dem sowohl das performative Ereignis
als auch das Erzähltheater mit denen ihnen eigenen Elementen und Strukturen sichtbar
werden. Neben performativer Emotionalitätserweckung stehen die verschiedenen
theatralen Formen postdramatischer Darstellung im Erzähltheater, um die ästhetische
Wirksamkeit synergetisch zu befördern. Ein theatrales Neuland für alle Beteiligten, das in
experimenteller Arbeitsweise erkundet und kreativ gestaltet wurde.
Hanne Seitz beschreibt die Erwartungen an ein modernes Theater und die mit ihr
verbundene Formen- und Erlebniswelt: Auffällig ist zuförderst, dass Kunst nicht mehr
gesehen, sondern erlebt werden will, Theater keine erbauliche Schau, sondern
aufregendes Erlebnis sein soll. Sprachliche und klangliche Ereignisse stehen neben
Bewegungs-, Licht- und Raumeffekten und zeigen keine künstlichen Bühnenräume. Die
Darsteller spielen im Hier und Jetzt und ihre Handlungen sind, was sie sind: performative
Akte. Ein solches „postdramatisches Theater“ erschöpft sich nicht in der dramatischen
Erzählung, es bringt eher das Drama der Darsteller zur Aufführung, die zwischen vielerlei
Wirklichkeiten hin- und herpendeln.27
27 Vgl. Seitz, Hanne, Vortrag auf Villacher Symposium am 08.04.2010, Punkt 2, 3
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
18
5.1 Begriffsklärung
Die Begriffe „Performativ“ und „Erzähltheater“ existieren in einer begrifflichen Sinneinheit
meines Wissens nicht, insofern kann ich mich auf keine autorisierten Quellen beziehen.
Der inhaltliche Schwerpunkt dieser Begriffskombination „Performatives Erzähltheater“
liegt, wie der deutschen Sprache eigen, auf dem zweiten Wort, „Erzähltheater“, und
bezeichnet die Gewichtung der Theaterformen.
Dem performativen Ereignis ist immanent, das Primat des Textes zu enden, somit den
Bedeutungsverlust des Textes herbeizuführen. Dieses Konzept entspricht nicht dem des
Erzähltheaters, vielmehr geht es hier um die Einheit des Wortes mit dem Gestischen zur
Sinn- und Bedeutungsgenerierung. So scheint eine Verbindung der Theaterformen
innerhalb eines theatralen Projektes auf der praktischen und konzeptionellen Ebene erst
einmal ungewöhnlich.
Zum Thema der Verschmelzung von Theaterformen findet sich bei Hans-Thies Lehmann
im Kapitel „Theater und Performance“ eine legitimierende Erläuterung: Der veränderte
Umgang mit den Theaterzeichen hat zur Folge, dass die Grenzen des Theaters zu
Praxisformen, die wie der Performance Art eine Realerfahrung anstreben, fließend
werden. Postdramatisches Theater kann man als Versuch verstehen, Kunst in dem Sinne
zu konzeptualisieren, dass sie nicht Repräsentation, sondern eine als unmittelbar
intendierte Erfahrung des Realen (Zeit, Raum, Körper) bietet. So liegt es auf der Hand,
dass ein Grenzbereich zwischen Performance und Theater entstehen musste, je mehr
sich Theater einem Ereignis und der Geste der Selbstdarstellung des Performance-
Künstlers annähert – zumal auf der anderen Seite in den 80iger Jahren eine gegenläufige
Tendenz zur Theatralisierung in der Performance Art zu beobachten ist.28 An anderer
Stelle (S. 178) benennt er die aus der Verschmelzung hervorgegangene theatrale Form
„postdramatisches Ereignistheater“.
6. Projekt-Phasen
In den Projekt-Phasen werden einige Arbeitsschritte genannt, die auf die Thematik des
Performativen Erzähltheaters mit Erwachsenen hinweisen. Die Arbeitsschritte können
gleichwohl Allgemeingültigkeit besitzen.
28 Vgl. Lehmann, Hans-Thies, „Postdramatisches Theater“, Aufl. 2011, 241 ff
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
19
6.1 Arbeitsweise
Bevor der Theaterpädagoge mit der Gruppe das neue Projekt thematisiert, definiert er für
sich das Ziel und wählt die Arbeitsmethode im Produktionsprozess. Die Spezifik der
Gruppe gibt das Leistungsvermögen und den künstlerischen Standard vor, der realistisch
in den Planungsprozess einfließt. Für das gesamte Projekt und für jede Probe definiert
und überprüft er Einzelziele hinsichtlich des Inhalts, der Form und der Zeit.
Die Theaterarbeit an diesem Projekt führt auf ein Terrain, dessen Ausgestaltung zwar
planbar aber dessen Ergebnis und Wirkung im Einzelnen nicht vorhersehbar ist.
Zunächst gilt es, die Teilnehmer von den Vorstellungen eines naturalistischen Theaters
und einer medial geprägten Wirklichkeit wegzuführen und sie mit den vielfältigen
Möglichkeiten und den Freiräumen künstlerischen Gestaltens bekannt zu machen.29
Das theaterpädagogische Projekt leitet in methodischen Schritten die Spielenden an
theatrale Ausdrucksformen heran, sie erfahren sich als unbeschränkt Handelnde. In
gestaltender Auseinandersetzung erkunden sie improvisatorisch und experimentierend
theatrale Materialität und erfahren sich selbst im Medium der Kunst. Reflektion bewirkt ein
produktives Erkennen, woraus personale Neupositionierung und künstlerische
Umorientierung erwachsen. Teilziele werden vereinbart, deren Ausgestaltung in
Ergebnisoffenheit liegt. Für alle am kreativen Prozess Beteiligte stellt sich eine komplexe
Situation her, die immer wieder in Ausdifferenzierung ihren Weg zu neuen Formen findet.
6.2 Erforschung der Materialität
Innerhalb des Probenprozesses stellt die Herstellung performativer Handlungen einen
ersten Schritt zur Loslösung der geistigen und körperlichen Bindung an traditionelle
Theaterformen dar. Dies geschieht im Zuge theaterpädagogischen Heranführens der
Teilnehmer an die Vielgestaltigkeit theatraler Ausdrucksformen.
Eine Reihe von Verfahren wurde in den Künsten entwickelt, um die Aufmerksamkeit
gezielt auf die performative Hervorbringung von Materialität in der Aufführung zu lenken.
Diese Verfahren erlauben uns einen Einblick in den spezifischen Erzeugungsprozess, den
die Aufführung im Hinblick auf ihre eigene Materialität vollzieht.30
Auf der Ebene der körperlichen Gestaltung wird das beispielsweise dadurch erreicht, dass
die Aufmerksamkeit auf die körperliche Anstrengung, die Mühe mit dem Sprechen eines
29 Vgl. Hilliger, Dorothea, „Theaterpädagogische Inszenierung“, 2009, 50 30 Vgl. Fischer-Lichte, „Ästhetik des Performativen“, 2004, 128
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
20
Textes, mit der Ausführung einer Bewegung gelenkt. Das geschieht beispielsweise durch
extreme Verlangsamung oder Beschleunigung von Vorgängen, durch die Wiederholung
körperlich intensiver Vorgänge bis zur völligen Verausgabung, durch den spielerischen
Umgang mit scheinbaren Pannen u.ä. Mit diesen Verfahren betont das zeitgenössische
Theater die Qualität der Materialität des im theatralen Prozess immer vorhandenen
Körpers des Darstellers, und thematisiert gleichzeitig das grundlegende
Produktionsprinzip theatraler Gestaltung.31
Im Folgenden sind einige performative Darstellungsformen des Projektes beispielhaft den
theoretischen Betrachtungen voran gestellt.
Körper
Beispie l: Innerhalb einer fragmentierten szenischen Darstellung wechseln einige Spieler
in eine performative Sequenz. Ihre Körper zeigen sich auf allen Raumebenen in
vielgestaltigen Bewegungen. Es formen sich zufällige chorische Muster, die wieder
zerfallen und die Körper im Agieren zur sichtbaren Erschöpfung bringen. - Körper und Zeit
wirken in ihrer Materialität ereignishaft.
Indem Gegenwart und Ausstrahlung des Körpers entscheidend werden, wird er in seiner
Zeichenhaftigkeit vieldeutig bis zur unauflöslichen Rätselhaftigkeit. Auch Regisseure des
Sprechtheaters schaffen vielfach ein Theater mit erheblicher oder durchgängiger
Choreographierung der Bewegungen, auch wenn kein eigentlicher Tanz vorliegt. Indem
der Körper nichts anderes als sich selbst vorzeigt, erweist sich die Abkehr vom Körper der
Bedeutung und die Hinwendung zu einem Körper sinnfreier Geste (Tanz, Rhythmus,
Anmut, Kraft).32
Man hat die Verfahren, um die Individualität des Performerkörpers hervortreten zu
lassen, insbesondere die Langsamkeit der Bewegungen und ihrer wiederholten Vollzug
nach rhythmischen und geometrischen Patterns als Dekonstruktion der Kategorie der
Figur gedeutet. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit auf Tempo, Intensität, Kraft und
Energie, Richtung etc. der Bewegung gelenkt und damit auf die je spezifische Materialität
des Performerkörpers, auf seine individuelle Körperlichkeit.33
Stimme
31 Vgl. Pinkert, Ute, „Körper im Spiel“, 2008, 85 32 Vgl. Lehmann, Hans-Thies, „Postdramatisches Theater“, 2011, 163 f 33 Vgl. Fischer-Lichte, „Ästhetik des Performativen“; 2004, 145
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
21
Beispiel : Aus phantasierenden Körperbewegungen in verschiedenen Tempi entstanden
Stimmgeräusche und Töne, die als Klangverwebung einzelne Stimmen und chorischen
Klang hörbar machten. In szenischen Darstellungen ersetzen die Stimmen fehlende
Objekte, äußern sich chorisch und erzeugen Atmosphären.
Lautlichkeit durch die Stimme hervorgebracht, zeigt seine Materialität, indem Zeit und
Modulation der Stimme sinnfrei ins Verhältnis gesetzt werden. Rhythmisiert, verzerrt und
überlagert kann sich die Stimme in all ihren physischen Möglichkeiten einbringen.
Die enge Beziehung zwischen Körper und Stimme zeigt sich vor allem in emotionalen
Lauten von Schrei, Seufzen, Stöhnen, Lachen etc., denen ein spezifischer
Verkörperungsprozess zugrunde liegt. Die Materialität der Stimme wird hörbar in ihrer
Lautstärke, in ihren Höhen und Tiefen und ihrem subjektgebundenem Klang.
Die Polymorphie der Stimme in der performativen Darstellung löst die Vieldeutigkeit der
sprachlichen Äußerungen auf; sie erschwert daher ein eindeutiges Verstehen, nicht aber
generell sprachliches Verstehen. Ein performatives Ereignis wurde so beschrieben: Die
besondere Materialität der die Sprachlaute artikulierenden Stimmen brachte sich zu
Gehör; die besonderen Lautlichkeiten von Stimme und Sprache klangen keineswegs
zusammen, sondern traten eher in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander.34
Raum
Beispiel : Ein Raum ohne Bühne, der Raum ist Bühne, eine Fläche variabel zugeteilt in
Bühnen- und Zuschauerraum. Alles erleuchtet als Spielfläche und Aktionsraum, kein Off,
chorische Präsenz der aktiven und nicht aktiven Spieler. Barrierefreies, dialogisches Spiel
mit den Zuschauern.
Der performative Raum wird von allen Teilnehmenden, Akteuren und Zuschauern, als
Aktionsraum wahrgenommen. Die Gegebenheiten des Raumes werden als
strukturierende Wirklichkeit anerkannt. Die Möglichkeiten des Raumes werden
einbezogen, benutzt und beeinflussen das Spiel- und Emotionsgeschehen der
Beteiligten. Räumlichkeit ist nicht gegeben, sondern wird ständig neu hervorgebracht.
Darüber hinaus geschieht eine Entgrenzung des performativen Raumes als Hör-Raum.
Dieser dehnt sich über den geometrischen Raum hinaus (in welchem die Aufführung
34 Vgl. Fischer-Lichte, „Ästhetik des Performativen“, 2004, 224
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
22
stattfindet) zum ihn umgebenden Raum aus; der performative Raum verliert so seine
Grenzen; sie öffnen sich für Räume, die außerhalb liegen. Das heißt, jedes Geräusch, das
von außen zufällig hörbar wird, wird zum Element der Aufführung und vermag den
performativen Raum zu verändern.35
Objekt
Beispiel : Die Stühle, Bewegung im Raum mit Stuhl, Rhythmus mit Stuhl, Stühle
imaginieren Räume. Objekt-Behandlung wird ins Verhältnis zu Raum, Zeit und Körper
gesetzt und erzeugt Atmosphäre.
Die Materialität des Objektes entsteht durch seine Behandlung im Spielgeschehen. Die
Materialität kann sich beispielsweise in der Erkundung der spezifischen Objekt-
Eigenheiten oder in einer Vervielfachung des Objektes zeigen.
------------------------------------------------------------------
Bei der Erforschung der Materialität kann das Spiel unvermittelt ins Szenische geraten,
deshalb Erinnern der theoretischen Grundlage: Performative Handlungen dienen nicht der
Vermittlung von Bedeutung oder Sinnvermittlung. Die Reduktion der theatralen Mittel auf
ihre Materialität/Sinnlichkeit verhindert eine Konstitution von Bedeutung durch die
Akteure, ermöglicht jedoch den Zuschauern, ihrerseits Bedeutung zu generieren.36
6.3 Themensuche
Das Thema des Projektes kann den Teilnehmern vorgegeben werden oder in
verschiedenen Verfahren gemeinsam gefunden werden.
Während der freien performativen Gestaltung erfuhren einige Teilnehmer verstärkt die
eigenen körperlichen Gegebenheiten. Unter diesem Eindruck und nach Reflexionen
kamen nur einige performative Bausteine für das Projekt in Betracht. Im Kapitel
„Ästhetischer versus realer Körper“ führt Hans-Thies Lehmann aus, dass paradoxerweise
im Theater gerade Serialität, Wiederholung und Symmetrie den Sinn für die winzigen
Unterschiede der Körper und die Aura der Spieler, ihre Gestalt und Bewegungsweise
wach werden lässt.37
35 Vgl ebd., 216 f 36 Vgl. Fischer-Lichte. 242 37 Vgl. Lehmann, Hans-Thies, „Postdramatisches Theater“, 2011, 389
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
23
Auf der Suche nach einem gemeinsam interessierenden Thema wurden Schnittstellen
herausgearbeitet und selektiert. Die Materialsammlung umfasst textliche Elemente und
Objekte. Es geht darum, möglichst vieles zusammen zu tragen, um mit unterschiedlichen
Mitteln das Thema gestalten und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten zu können.
Wertfreies Sammeln stellt den eigentlichen Wert in dieser Phase dar. Die Suche gestaltet
sich nicht eingrenzend, sondern empfänglich für verschiedenste Ideen und Ansichten.
Gruppendynamisch führt Offenheit und Toleranz gegenüber den Auffassungen und
Wünschen der anderen zu kreativen Denk- und Handlungsansätzen.
Die Auseinandersetzung mit Stoffen, Texten und Themen im Hinblick auf ihre mögliche
Adaption bilden den Ausgangspunkt einer Spielidee, die mit theatralen Mitteln umgesetzt
wird. Der Text regt die Vorstellungskraft der Spieler an, um eigene und fremde Denk- und
Vorstellungswelten auszuprobieren und neue Perspektiven zu erkunden mit dem Ziel, sie
im Theaterspiel zur Entfaltung zu bringen.38
Relevante Aspekte für den Umgang mit Stoff:
I. Der Stoff (Text, Film, Bild, Lebenswelt) bildet die thematische Grundlage des
Theaterspiels.
II. Er kann in Improvisationen verändert, verfremdet, „zertrümmert“, ergänzt,
parodiert, um- und weitergespielt werden.
III. Er muss ein kreatives Potential enthalten, das die Phantasie- und
Imaginationstätigkeit der Spielenden anregt, zu sinnlich-körperlicher Darstellung
herausfordert und Möglichkeiten zur sprachlichen Verlebendigung bietet.
IV. Der Stoff muss theatralisierbar sein, d.h., er muss sich textlich zu Szenen und
Bildern materialisieren lassen.
V. Aus pädagogischer Sicht sollte der Stoff auch die Möglichkeit einer solchen
Veränderung in sich bergen, dass er über sich hinausweist, also ein freiheitliches
Element beinhaltet, das zum Beispiel mit dem „Was wäre wenn…-Aspekt“ neue
Perspektiven für die Spielenden eröffnet.39
6.4 Text in Theaterformen
Beispiel: Performativer Raum, Schichtung des Bühnengeschehens in postdramatischer
Darstellungsweise: Erzähler geht in eine laufende Szene und verhandelt diese mit dem
Publikum. Der szenische Ablauf mit Textfragmenten läuft weiter oder geht sinnstiftend in
38 Vgl. Czerny, Gabriele, Theaterpädagogik, 2011, 163 f 39 Vgl. Czerny, Gabriele, „Theaterpädagogik“, 2011, 167
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
24
Freeze. Zeitgleich zu diesem Vorgang läuft eine andere Szene, in der performative
Handlungen vollzogen werden. Die nichtaktiven Spieler am Rand agieren chorisch,
situationsbezogen stellen sie Atmosphäre her.
Neben der Materialsammlung und inhaltlicher Spurensuche wird deutlich, dass der Text
an Bedeutung für die Spieler gewinnt und den Ausgangspunkt für neue Ideen und
Gestaltungsformen bildet. Die Möglichkeit des freien Umgangs mit Texten setzt neue
Impulse und stimuliert den darstellerischen Ausdruckswillen für sprachliche, stimmliche
und körperliche Experimente. Das kreative Sprechen ist sprachlich-körperliche
Auseinandersetzung, welche die subjektiv-theatrale Aneignung des Textes bedeutet.
Sucht man einen Begriff, der die neuen Spielformen des Textes erfasst, so muss er die
lautliche Materialität, den zeitlichen Verlauf, die Ausbreitung im Raum und den Verlust der
Selbstidentität bezeichnen. Wir wählen den Begriff Textlandschaft, weil er die
Verknüpfung der postdramatischen Theatersprache mit den neuen Dramaturgien des
Visuellen mitbenennt.40
Text ist also nicht als Geschichte bestimmend, sondern vielmehr als Ideengerüst einer
postdramatischen Konstruktion gedacht. In experimenteller Arbeitsweise, die vom Text
zur Textlandschaft führt, werden Darstellungselemente in verschiedenen theatralen
Formen entwickelt. Der Text dient als inhaltliche Basis und als Impulsgeber, auch, um
weitere, thematisch relevante Texte aus anderen Genres (Drama, Lyrik, Presse)
zusammen zu tragen und auf kreative Weise einzubinden.
In der gegenwärtigen Theaterlandschaft, insbesondere durch die Einflüsse des
postmodernen Theaters, geht ein veränderter Umgang mit Stoffen auch in der nicht-
professionellen Theaterpraxis einher. Der Text bildet hier die Grundlage, auf welcher der
Stoff in verschiedenen theatralen Formen abstrahiert wird. Das „Postdramatische“ wird
zum Paradigma einer Theaterpraxis, die den Text nur noch als Basismaterial verwendet
und ihn dekonstruiert.41
6.5 Dramaturgisches Konzept
Die so entstandenen Bausteine performativer und postdramatischer Darstellungsweise
werden nach Themen und Merkmalen sowohl diskursiv untersucht als auch praktisch
erprobend bearbeitet und dramaturgisch zugeordnet.
40 Vgl. Lehmann, Hans-Thies, „Postdramatisches Theater“, 2011, 272 41 Vgl. Czerny, Gabriele, Theaterpädagogik, 2011, 164
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
25
Der experimentelle Umgang mit Text ermöglicht Formen der Inszenierungspraxis wie
Collage, Performance, oder „Theater der Bilder“, die keine Abbilder des Textes sind,
sondern sich konstituieren durch ihre Eigenständigkeit. Mehrere Genres können
nebeneinander stehen, wie Bewegungstheater, Musik- und Sprechtheater, und sich zu
einer szenischen Komposition fügen.42
Die Dynamik des Projektes kann einen reizvollen Rhythmus entwickeln durch
- Tempovariationen innerhalb der Abfolge von Handlungen und szenischen
Darstellungen
- Variationen in der Darstellungsart verschiedener, gleichzeitiger Szenen
- Wechsel von chorischen Aktionen und Einzeldarstellungen
- Einsatz von musikalischem Live- oder Off-Ton oder entsprechenden
Geräuschen in unterschiedlichen Intensitäten.43
Die dramaturgische Gestaltung kann in einer Abfolge von theatralen Modulen bestehen,
die für sich stehen und/ oder sich aufeinander beziehen. Durch strukturbildende Elemente
können sie verbunden werden, zum Beispiel durch wiederkehrende Motive (Musik, Ton-
oder Sprach-Rhythmus, Bild- oder Schriftelemente) oder Erzählerfiguren, die in das
Geschehen kommentierend, erklärend, rück- oder vorblickend eingreifen. Auch
Spielszenen können auf Grundlage der entwickelten Textlandschaft Eingang finden. Der
Schwerpunkt bei den performativen Modulen liegt auf der Körperlichkeit und auf den
Handlungen, nicht auf dem darzustellenden Inhalt.
Mit den erprobten Theaterformen wird dramaturgisch ein Spannungsfeld aufgebaut. So
kann beispielsweise ein dramaturgischer Überbau in Form einer Rahmenhandlung, die
aus performativer oder postdramatischer Darstellung bzw. Erzähltheater besteht, eine
Collage umspannen. Es können auch Wiederholungen körperlicher, stimmlicher oder
medialer Art als thematisches oder emotionales Zeichen gesetzt werden. Dramaturgische
Konzepte von offenen bis zu geschlossenen Formen verschiedener Ausprägung sind
möglich. Szenencollagen folgen einer offenen Dramaturgie, da sie nicht an der
Dramenstruktur orientiert sind, sie folgen keinem Handlungsstrang. Das bedeutet keine
Beliebigkeit in der Darstellung, denn trotz fehlender Handlung kann sich eine Collage an
Erzählmustern orientieren und einen Spannungsbogen aufbauen. In dieser Theaterform
42 Vgl. Czerny, Gabriele, Theaterpädagogik, 2011, 174 f 43 Vgl. Pfeiffer, Malte, „Darstellenden Spiel“, 2009, 172
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
26
ist den Spielern und Texten in den Präsentations- bzw. Darstellungsformen weit mehr als
nur eine Bedeutung zugemessen.
Hans-Thies Lehmann dazu: „Die Bühne wird ein komplexes Ganzes aus assoziativen
Räumen, in denen sämtliche Bühnenmittel zu einer poetischen „Sprache“
zusammentreten. Texte werden verbunden mit Gesten und der Körperlichkeit der Spieler,
und zugleich sorgen Fragmentierung und Collage verschiedener Handlungsmomente
dafür, dass statt der (epischen) Spannung auf den Verlauf der (erzählten und agierten)
Handlungen die Aufmerksamkeit ganz der Präsenz der Spieler und den wechselseitigen
Spiegelungen und Analogien gilt.“44
7. Ästhetische und soziale Erfahrung durch Theater
Erfahrung gewinnt der Mensch durch ein von ihm wahrgenommenes Ereignis, das er
emotional und rational erfasst und bewusst oder unbewusst in seinem weiteren Handeln
berücksichtigt. In der traditionellen Erkenntnistheorie wird zwischen der äußeren
Erfahrung (Sinneswahrnehmung/Stille, Atmosphäre) und inneren Erfahrung
(Seelenzustand/Lachen, Trauer) unterschieden.
Beispiel einer ästhetischen und sozialen Erfahrung während der Probe: Eine Spielerin gab
in einem Modul den auktorialen Erzähler. Nach ihrer Textsprechung sagte eine
Darstellerin aus der laufenden Szene heraus: „Du hast hier eine angenehme Stimme, da
höre ich gerne zu.“
Ästhetische Erfahrung
Indem die Spielenden sich bewusst in solche Situationen begeben, in denen sie mit
Gefühlen in Kontakt kommen, die sie sonst nicht kennen, erfahren sie etwas über sich
selbst. Sie können dabei ästhetische Erfahrungen machen, die im Alltag außerhalb des
für sie Erlebbaren liegen.
Ästhetische Erfahrung hebt sich als intensivere Erfahrungsweise von der Alltagserfahrung
auch dadurch ab, dass Entwürfe von bis dahin Unbekanntem, noch nicht
Erfahrenem/Bearbeitetem oder auch kaum Erfahrbarem möglich sind. In der ästhetischen
Erfahrung wird nicht nur etwas aufgearbeitet, sondern auch auf etwas hingearbeitet.45
44 Lehmann, Hans-Thies, „Postdramatisches Theater“, 2011, 200 45 Vgl. Weintz, Jürgen, „Theterpädagogik und Schauspielkunst“, 2008, 119
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
27
In Bezug auf die Selbstverantwortung der Erfahrung führt Ulrike Pinkert aus, dass das
einzelne (erwachsene) Subjekt die Verantwortung für seine Wahrnehmungen und
Erfahrungen und damit seine Selbst-Werdung zu übernehmen hat. „Wenn Wahrnehmen
letzten Endes Entscheiden heißt, dann ist das Subjekt unablässig aufgefordert,
Entscheidungen zu treffen – für oder gegen bestimmte Reizumgebungen und Reize und
damit für oder gegen bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten.“ 46
Der vorliegende Ansatz ästhetischer Bildung versucht, dem Dilemma der
Instrumentalisierung ästhetischer Erfahrungen dadurch aus dem Weg zu gehen, dass
zunächst – ausgehend von der Kunstform Theater – die möglichen Erfahrungen, die diese
eröffnet, herausgearbeitet werden, um daran anschließend die spezifische
Bildungsbedeutung dieser Erfahrungen zu erfassen.47
Mit dem Einziehen pädagogischer Absichten in theatrale Gestaltungsprozesse werden
reflektierte und verantwortbare Weg-Ziel-Bestimmungen unabdingbar. Aufgrund der
Unabwägbarkeit kommunikativer Situationen sowie der Befindlichkeiten der Akteure, kann
ein ästhetischer Wert nur bedingt planvoll, d.h. handwerklich, sichergestellt und
methodisch verbürgt werden.48
Soziale Erfahrung
Die ästhetisch-theatralen Erfahrungen der Lernenden bilden sich erst dadurch, dass sie in
einem gemeinsamen Lernprozess der Gruppe eine Resonanz finden – jeder individuelle
Ausdruck spiegelt sich in der Sozietät des Ensembles und wäre ohne diese soziale
Spiegelung nicht möglich. Insofern entwickeln sich die ästhetischen Lernprozesse des
theatralen Unterrichts stets in Gestalt sozialer Lernvorgänge. In theatralen Lernprozessen
können soziale Erfahrungen in eine ästhetische Form gebracht werden.49
8. Bedeutung für die Theaterpädagogik
Als entscheidendes Merkmal einer postmodernen Kultur wird eine allumfassende
Ästhetisierung der Lebenswelt, einer Konzentration auf das „Wie“, d.h. die Art der
Gestaltung gesehen. Ein weiteres Merkmal ist die Individualisierung des Subjekts, d.h.
Abkehr von außenorientierter Lebensauffassung (Lebenssicherung, traditionelle
46 Vgl. Pinkert, Ulrike, „Trasformationen des Alltags“, 2005, 233 47 Vgl. Henschel, Ulrike, “Theaterspielen als ästhetische Bildung“, 2010, 75 48 Vgl. Koch und Streisand, „Wörterbuch der Theaterpädagogik“, 2003, 13 49 Vgl. Wiese, Günther, Ruping „Theatrales Lernen als philosophische Praxis“, 2006, 49
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
28
Lebensaufgabe), statt dessen Hinwendung zu einer innenorientierten Lebensauffassung,
die sich auf das innere Erleben des Subjekts richtet.50
Ausgehend von den gesellschaftlichen Beobachtungen und Gegebenheiten, lassen sich
Rückschlüsse auf theatrale Bedürfnisse und Anforderungen der Spielenden und der
Zuschauer ziehen. Zeichenhaftigkeit, kurzgefasste Texte und Erlebniswelten sprechen
den heutigen, medial geprägten Menschen rational und emotional an. Das Performative
Erzähltheater bietet, ausgerichtet an fragmentarischer Wahrnehmungserfahrung,
Freiräume für die Realisierung individueller Interpretationen, für die normfreie Darstellung
personalen und künstlerischen Empfindens und für Kreativität in dramaturgischen
Konzepten.
In den letzten Jahrzehnten lassen sich veränderte „Aneignungsweisen von Wirklichkeit“
feststellen, die gravierende Konsequenzen für Praxis und Theorie der Ästhetischen
Bildung haben, wie Ulrike Pinkert in „Transformationen des Alltags“ anmerkt. So lassen
sich vielfältige Schlussfolgerungen in Bezug auf die Gestaltung pädagogischer Prozesse
in der darstellenden Kunst ziehen. Hier besteht die Notwendigkeit,
- auf spezielle Wahrnehmungsweisen der Teilnehmer einzugehen,
- Kompetenzen im Umgang mit modernen Medien und mit Zeichen postmoderner
Lebenswelt zu ermitteln und dort anzusetzen,
- veränderten Selbstkonzepten und psychischen Dispositionen Raum zu geben.51
Im Performativen Erzähltheater haben die Spieler die Möglichkeit, sich in verschiedenen
Theaterformen auszuprobieren, wobei die eine Form Inhalte darstellt und die andere sich
in selbstreferentieller Zeichenhaftigkeit präsentiert. Unterschiedliche persönliche Affinität
zu den Darstellungsformen und Graduierungen der Gestaltungsfähigkeit können im
Projekt beachtet und individuell bedient werden. In dieser Theaterform-Kombination gibt
es spieltechnisch kein Entweder/Oder, sondern ein an den Spielern orientiertes und
entwickeltes Spielverfahren, das allen Teilnehmern Entwicklungsmöglichkeiten anbietet.
Gruppendynamisch wirkt sich dieses Konzept sehr förderlich aus, da ein engagiertes
Einbringen in den Probenprozess das Experimentieren vorantreibt und theatrale
Lösungen spielfreudig herbeiführt.
Hinsichtlich der Bedeutung performativer und postdramatischer Formen im
theaterpädagogischen Raum, äußert Ulrike Hentschel, dass die Ästhetik dieser Formen
50 Pinkert, Ute, „Transformationen des Alltags“, 2005, 64 f 51 Vgl. Pinkert, Ute, „Transformationen des Alltags“, 2005, 66 f
Performatives Erzähltheater – Erleben neuer Wirklichkeiten
29
und die Gestaltungsfragen aus der Sicht der Theaterpädagogik diese besonders attraktiv
erscheinen lassen. Das Anknüpfen an soziale Realitäten und an biographische
Erfahrungen der Akteure sei immer schon ein genuines Interesse theaterpädagogischer
Arbeit gewesen. Diese Art der Darstellung eröffnet den nichtprofessionellen Akteuren
neue, kunstformen-übergreifende Gestaltungsmöglichkeiten jenseits des traditionellen
Theater- und Spielverständnisses.52
9. Besonderheiten der Praxis mit Erwachsenen
In Vorbereitung auf das Projekt „Performatives Erzähltheater“ wurden die Teilnehmern in
vorhergehenden Theaterprojekten bereits mit einzelnen postmodernen Versatzstücken
bekannt gemacht. Ohne diese formale und inhaltliche Vorbereitung mit Bezug auf
gewohnte Sichtweisen und Bewertungsmuster, wäre das aktuelle Projekt nicht ohne
weiteres umsetzbar gewesen. Denn trotz medialer moderner Einflüsse in allen
Lebensbereichen wird das eigene Theaterspiel von den Erwachsenen oftmals recht
traditionell angedacht.
Einen weiteren Aspekt stellt das biologische Alter mit seinen adäquaten
Erscheinungsformen dar. Die starke Betonung des Körperlichen in der performativen
Darstellung kann für Jugendliche ein befreiendes Element darstellen, Erwachsene können
hier jedoch an die Grenzen ihrer körperlichen Möglichkeiten gelangen. Insofern ist die
Umsetzung des theatralen Spiels durchaus abhängig von der Altersstruktur sowie den
Lebensansichten der Teilnehmer.
Das Bedürfnis nach Texten, nach Sinngebung, nach einem greifbaren Festmachen der
eigenen Person, die das ungeschützte ICH in performativer Darstellung offenlegt, ist
anfangs nicht unbeträchtlich. Und so stellt für die Teilnehmer die Erzählung, der Text, eine
willkommene Grundlage für die Arbeit am Projekt dar. Im Laufe des theatralen Prozesses,
der im Postdramatischen Erzähltheater eine Dekonstruktion des Realen mit sich bringt,
wandelt sich auch der Text in gemeinsam entwickelte Text-Landschaften.
10. Schlussbetrachtung
Das theaterpädagogische Projekt „Performatives Erzähltheater – Erleben neuer
Wirklichkeiten“ fand seinen Abschluss mit der Präsentation vor Publikum. „Im Theaterspiel
geht es auch um die Teilhabe an gesellschaftlicher Öffentlichkeit, die Erfahrung ihrer
52 Vgl. Hentschel, Ulrike, „Theaterspielen als ästhetische Bildung“, 2010, 11 f
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(ästhetischen) Regeln der Präsentation, um das Sichtbar- und Hörbarwerden in der
Öffentlichkeit.“53
Eines der Motive der Teilnehmer, an dem Kurs teilzunehmen, lag in dem konkreten
Wunsch nach Ausformung des Selbst-Erscheinungsbildes. Relevante Fähigkeiten und
Fertigkeiten für den gesellschaftlichen Umgang sollten gefördert und kultiviert werden.
Persönliche Entwicklungen im Kompetenzbereich wurden durch die vielseitige
theaterpädagogische Theaterarbeit angestoßen und konnten im Laufe eines
vielgestaltigen Probenprozesses erweitert werden. In produktiver Selbstvergessenheit,
die auf Erprobung der Darstellungsmöglichkeiten und das Gelingen des Ganzen gerichtet
war, haben die Teilnehmer mitgearbeitet und dem Ereignis Theater ihre besondere,
individuelle Darstellungsform verliehen. Die Zusammenarbeit mit Erwachsenen gestaltet
sich für mich sehr interessant, da jeder Teilnehmer seine Biographie in Ansichten und
Ausdrucksweisen mit ins Spiel bringt. Diese Vielgestaltigkeit lässt sich
theaterpädagogisch sehr gut in postdramatische Darstellungsformen einbringen.
Die Thematik des Performativen, die in unsere moderne Gesellschaft greift und den
Wechsel von der Was- zur Wie-Ebene beschreibt, wird im Prozess der Bildung als die
Verknüpfung von Kultur und Individualität bezeichnet. Diese Verbindung macht es den
Menschen möglich, an ihre Erziehungs- und Bildungsbedingungen, das heißt, an ihren
Selbst- und Weltverhältnissen, selbst mitzuwirken, um sich selbst eine Form geben zu
können.54
In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema dieser
Abschlussarbeit habe ich viel für meine weitere Arbeit als Theaterpädagogin gelernt. Das
theoretische Aufschlüsseln und Erarbeiten des Themas „Performatives Erzähltheater“ in
unmittelbarem Zusammenhang mit der praktischen Theaterarbeit am Projekt, war
spannend und hat mir neue Blickwinkel und Perspektiven eröffnet. Auch die
verschiedenen Theaterformen nach künstlerischem Ermessen und Empfinden
ungebunden kombinieren zu können, und dies im Einklang mit der Theorie, hat mich
begeistert. Individuelles Erleben der Kursteilnehmer, das begünstigt wurde durch die
flexiblen Darstellungsmöglichkeiten, werde ich auch in Zukunft durch moderne
Theaterformen ermöglichen. So wird noch vieles entstehen zur Freude und zum Nutzen
aller Beteiligten im wertfreien Raum der Theaterpädagogik.
53 Vgl. Hentschel, Ulrike, „Theaterspielen als ästhetische Bildung“, 2010, 11 54 Vgl. Wulf und Zirfas, „Pädagogik des Performativen“, 2007, 10
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Literatur
Czerny, Gabriele „Theaterpädagogik – Ein Ausbildungskonzept“, Wißner- Verlag, 2004 Fischer-Lichte, Erika „Ästhetik des Performativen“, Suhrkamp Verlag, 2004 Hentschel, Ulrike „Theaterspielen als ästhetische Bildung“, 2010, Schibri- Verlag, 2010 Hilliger, Dorothea „Theaterpädagogische Inszenierung“, Schibri-Verlag, 2009 Koch, Gerd Streisand, Marianne „Wörterbuch der Theaterpädagogik“ (Hg.), Schibri-Verlag, 2003 Lehmann, Hans-Thies „Postdramatisches Theater“, Verlag der Autoren, 2011 Pfeiffer, Malte „Darstellendes Spiel“, Klett Verlag, 2009 Pinkert, Ute „Transformationen des Alltags“, Schibri-Verlag, 2005 Pinkert, Ute „Körper im Spiel“, Schibri-Verlag, 2008 Pinkert, Ute „Der Theaterbegriff in der Theaterpädagogik“, U.Hentschel (Hrsg.) „szenenwechsel“, Berlin 2012, S. 173-180 Weintz, Jürgen „Theaterpädagogik und Schauspielkunst“, Schibri-Verlag, 2008 Wiese, Hans-Joachim Günther, Michaela Ruping, Bernd „Theatrales Lernen als philosophische Praxis“, (Hg.) Bd. 1, Lingener Beiträge, Schibri-Verlag, 2006 Wulf, Christoph Zirfas, Jörg „Pädagogik des Performativen“, Beltz Verlag, 2007 Internetquelle Czerny, Gabriele Vortrag „Wie Theater bildet und Persönlichkeit stärkt – Ein Beitrag zur ästhetischen Bildung“ , Bildungsforum Albstadt- Ebingen, 12.11.2004, (www.pb.seminar-albstadt.de) Fuchs, Max Vortrag „Kulturelle Bildung in der Kultur- und Entwicklungs- Planung“, Dresden 30.06.2004 (akademiereimscheid.de/…/publikation_download) Schmitt, Axel „Die performative Wende des theaterwissenschaftlichen Diskurses“, Metzler Lexikon Theatertheorie, (literaturkritik.de/public/inhalt.php?ausgabe=200602)
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Seitz, Hanne Vortrag „Ästhetische Bildung durch Theater“, Pkt 3 „Theater als Spiel“, 4, Beitrag auf Villacher Symposium, 08.04.2010 (ebookbrowse.com/hanne-seitz-aesthetische-bildung-durch-theater-doc) Sting, Wolfgang Impulsvortrag Performance Now: „Neue performative Spiel- und Inszenierungsformen in der Theaterpädagogik“, 2011 In: Bockhorst, H. (Hg.) Kunststück und Freiheit. München (seniorentheater-netzwerk-hamburg.de) Deutschlehrer-Seite eingesehen am 02.06.2012 teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_gat/d_epik/strukt/erzpers/erzpers_1_2.h…
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Eigenständigkeitserklärung Ich erkläre hiermit, die vorliegende Arbeit selbständig und ohne zulässige fremde Hilfe
angefertigt zu haben. Die verwendeten Hilfsmittel und Quellen sind im Literaturverzeichnis
vollständig aufgeführt.
Ich versichere, dass alle unveränderten oder mit Abänderungen aus anderen Arbeiten
übernommenen Textstellen mit einem Quellennachweis versehen sind.
Marianne Reiffurth
Idstein, den 31. Juli 2012
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