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POSTWACHSTUMSPOLITIK
WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
IMPULSE ZU POLITIKMAßNAHMEN UND KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN
FÜR GESTALTER*INNEN AUS POLITIK, MEDIEN UND ZIVILGESELLSCHAFT
1 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................................................... 2
Einleitung – zur Entstehung dieser Broschüre .............................................................................. 3
I. Politikvorschläge für eine Wirtschaft ohne Wachstum ............................................................ 4
1. Gesamtpolitische Leitbilder .................................................................................................................... 4
2. Umweltpolitische Rahmensetzungen ..................................................................................................... 5
a) Begrenzung des Ressourcen- und Energieverbrauchs ...................................................................... 5
b) Abbau umweltschädlicher Subventionen .......................................................................................... 6
3. Unternehmen und Märkte ....................................................................................................................... 7
a) Unternehmensverfassung und -förderung ......................................................................................... 7
b) Produkt- und Werberegulierung ......................................................................................................... 7
4. Arbeit und Soziales .................................................................................................................................. 8
a) Neue Arbeitsplätze und Arbeitszeitverkürzung ................................................................................. 9
b) Umverteilung ....................................................................................................................................... 9
c) Soziale Grundsicherung..................................................................................................................... 10
5. Mobilität und Güterverkehr ................................................................................................................... 10
a) Verkehrsvermeidung ......................................................................................................................... 11
b) Regionale Wirtschaftskreisläufe ........................................................................................................ 11
c) Internalisierung von Umweltkosten über Steuern ........................................................................... 11
6. Landwirtschaft und Ernährung ............................................................................................................. 12
a) Massentierhaltung abschaffen .......................................................................................................... 12
b) Umstellung auf biologische und solidarische Landwirtschaft ......................................................... 13
c) Biologische und pflanzliche Ernährung ............................................................................................ 14
7. Demokratie und gesellschaftliche Partizipation .................................................................................. 14
a) Stärkung demokratischer Strukturen und Verfahren ...................................................................... 14
b) Regulierung und Einschränkung von Lobbyismus .......................................................................... 15
c) Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft .................................................................................... 15
8. Finanzmärkte ......................................................................................................................................... 16
a) Verkleinerung, Entflechtung und Stabilisierung des Finanzsektors ............................................... 16
b) Investitionen in öffentliche Hand ...................................................................................................... 16
II. Kommunikationswege für eine Wachstumswende ............................................................... 18
1. Ein Plädoyer für neue Kommunikationsformate .................................................................................. 18
2. Beispiele für kreative Kommunikationsformate .................................................................................. 20
3. Die Medien vom Wachstum befreien .................................................................................................... 21
4. Kommunikation in die Politik ................................................................................................................ 24
III. Ausblick: Eine, zwei, viele Enquete-Kommissionen? ............................................................ 26
Literaturverweise .................................................................................................................. 32
2 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Vorwort
Die Frage nach den Alternativen zum allgegen-
wärtigen Wachstumszwang unserer Wirtschaft
hat die Republik niemals mehr bewegt als zu den
Zeiten der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ (WWL) im Deutschen
Bundestag. In dieser recht kurzen Zeitspanne von
Anfang 2011 bis Mitte 2013 wurde das Thema
„Wachstum und Wohlstand“ in seiner Gesamtheit
oder einzelne Aspekte davon in den meinungsfüh-
renden Medien rauf und runter diskutiert. Und
was man auch immer von dieser Enquete und
ihren Ergebnissen halten mag – eines hat sie ge-
leistet: Sie hat für zwei Jahre eine öffentliche
Plattform in Deutschland geschaffen, einen Ort
zum Streiten und der Suche nach Lösungen für
diese zukunftsentscheidenden Fragen.
Die Stille nach der Enquete war erschreckend und
führte dazu, dass ich im September 2014 auf der
Degrowth-Konferenz in Leipzig ein Brainstor-
ming-Treffen organisierte. Dort wurde diskutiert,
wie man das Thema im öffentlichen Diskurs vo-
ranbringen könne. Damit folgte ich einer einfa-
chen Idee, die ich schon als damaliges Mitglied
des Bundestages und der Enquete für Bündnis
90/Die Grünen skizziert hatte: Wenn es die Politik
nicht macht, muss man es halt selber machen!
Warum also nicht eine „Zivile Enquete“ einrich-
ten, um dieses Jahrhundertthema im Zusammen-
wirken mit Aktivist*innen einer Postwachstums-
gesellschaft, mit Wissenschaftler*innen, enga-
gierten Politiker*innen und Medienschaffenden
zu diskutieren und Lösungen zu entwickeln? Das
Feedback beim Brainstorming in Leipzig war po-
sitiv und ich bekam das Mandat, ein Folgetreffen
zu organisieren. Aus diesem einen sind zehn ge-
worden, das Netzwerk ist auf über 150 Menschen
angewachsen und auf den vierteljährlichen Tref-
fen wird heiß zur Wachstums- und Wohlstands-
frage diskutiert.
Seit September 2016 wird die „Zivile Enquete
Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ durch
das Projekt „Fokus Wachstumswende“ unter-
stützt, welches im Rahmen der Verbändeförde-
rung durch das Umweltbundesamt (UBA) und das
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) finanziert
wird. Dem UBA gebührt dafür großer Dank. Über
den Förderverein Wachstumswende e.V. als
Träger konzipieren und koordinieren seitdem
Miriam Boschmann (Projektleitung) und Jana
Holz die regelmäßigen Netzwerktreffen, die bei-
den öffentlichen Veranstaltungen im Dezember
2016 (Fishbowl-Diskussion „Politik ohne Wachs-
tum“) und im Juli 2017 (Konferenz „Postwachs-
tums-Politiken in Zeiten des Rechtspopulismus“)
sowie die vorliegende Arbeit. Mit ihnen ist all den
vielen Menschen zu danken, die sich mit Engage-
ment und Leidenschaft bei der Arbeit im Netz-
werk und bei der Erstellung dieser Broschüre
beteiligt haben. Darüber hinaus gilt den vielen In-
stitutionen, die direkt oder über ihre Mitarbei-
ter*innen daran beteiligt waren und sind, unser
Dank. Mehr Informationen über die Unterstüt-
zer*innen des Projekts finden Sie auf der Web-
seite: www.fokus-wachstumswende.de.
Die Arbeit in und mit der „Zivilen Enquete“ ist eine
große Freude – es ist ein Privileg, mit all diesen
großartigen Menschen zusammen zu arbeiten.
Ich wünsche mir, dass diese Broschüre dazu bei-
trägt, das Thema einer Postwachstumsgesell-
schaft dahin zu bringen, wohin es gehört: Auf die
offene Bühne, um darüber zu streiten!
Prof. Dr. Hermann E. Ott | Schirmherr und Vorsitzen-
der des Beirats von „Fokus Wachstumswende“;
Senior Advisor beim Wuppertal Institut für Klima,
Umwelt, Energie; Hochschule für Nachhaltige Entwick-
lung Eberswalde; Präsidium des Deutschen Natur-
schutzrings | hermann.ott@wupperinst.org
3 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Einleitung – zur Entstehung dieser Broschüre
Diese Broschüre versteht sich als Impulsgeber
für Multiplikator*innen aus Politik, Medien und
Zivilgesellschaft. Sie soll Entscheidungsträger*in-
nen dazu einladen, sich inhaltlich mit den aus
Postwachstumsperspektive notwendigen Politik-
maßnahmen auseinanderzusetzen und überzeu-
gende Vorschläge in ihre politischen Agenden
aufzunehmen. Multiplikator*innen können sich
inspirieren lassen und Anregungen aufgreifen, um
die Idee einer Postwachstumsgesellschaft salon-
und mehrheitsfähig zu machen.
Dieses Papier ist ein Gemeinschaftswerk von vie-
len Menschen, die sich zwischen Oktober 2016
und Juli 2017 im Rahmen des Projekts Fokus
Wachstumswende in der Zivilen Enquete
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ enga-
giert haben. Das Netzwerk hat sich in diesem Zeit-
raum während und zwischen den Vernetzungs-
treffen in fünf Arbeitsgruppen (AG) mit folgenden
Fragestellungen befasst:
❖ AG Politikvorschläge: Welche Politikvor-
schläge ebnen den Weg in eine Postwachs-
tumsgesellschaft?
❖ AG Kommunikationsstrategien: Wie können
Elemente der wachstumskritischen Diskussion
Eingang in breitere gesellschaftliche Debatten
finden?
❖ AG Medien-Kommunikation: Mit welchen
Narrativen kann das abstrakte Themenfeld
„Postwachstum“ bzw. „Degrowth“ in die
Mainstream-Medien transportiert werden?
❖ AG Lobbystrategien: Wie können zivilgesell-
schaftliche Akteure wachstumskritische In-
halte und entsprechende Politikvorschläge ef-
fektiver in den politischen Prozess einspeisen?
❖ AG Enquete-Kommission: Welche Rolle kön-
nen dabei die Erkenntnisse der letzten
Enquete-Kommission (EK) sowie eventuell
weitere EK des Bundestages einnehmen?
In dieser Broschüre wurden die Ergebnisse der
AGs durch mehrere AG-Mitglieder verarbeitet:
Im ersten Kapitel werden zentrale Vorschläge für
Politikmaßnahmen aufgeführt, die eine ökolo-
gisch nachhaltige Wirtschaft ohne Wachstum er-
möglichen würden. Sie sollen der bislang stark
wachstumsfixierten Politik und dem TINA-Mantra
(„There is no Alternative“) Alternativen entgegen-
setzen, die zeigen, wie eine Postwachstums-
gesellschaft politisch gestaltet werden kann. Die
Politikvorschläge sollen Entscheidungsträger*
innen aus Politik und Zivilgesellschaft als Anre-
gung dienen und neue politische Handlungsopti-
onen eröffnen. Es handelt sich dabei um Ansätze,
die im Postwachstumsdiskurs viel debattiert wer-
den. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit liegt der
Fokus auf denjenigen Maßnahmen, die einen
deutlichen Bezug zur Wachstumskritik haben.
Im zweiten Kapitel werden verschiedene Kom-
munikationswege aufgezeigt, wie die Visionen
und Grundhaltungen, auf denen die Politikvor-
schläge basieren, in andere Formate und Narra-
tive übersetzt und auf verschiedene Arten und
Weisen in Medien, Politik und breitere gesell-
schaftliche Kreise transportiert werden können.
Hier finden sich Erkenntnisse der Medien-
Kommunikationsgruppe und der AG Kommunika-
tionsstrategien wieder.
Das dritte Kapitel gibt einen Ausblick in Bezug
auf die Möglichkeit, die Wachstumswende in eine
neue EK des Bundestags zu tragen. In diesem Rah-
men werden verschiedene Teilbereiche des Fel-
des der Postwachstumspolitiken beleuchtet und
auf ihre Anschlussfähigkeit an aktuelle politi-
schen Themen untersucht, um somit die
aussichtsreichsten Themenfelder für weitere
Enquete-Kommissionen zu identifizieren.
Miriam Boschmann | Projektleitung Fokus Wachstums-
wende | boschmann@fokus-wachstumswende.de
4 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
I. Politikvorschläge für eine Wirtschaft ohne Wachstum
Von: Miriam Boschmann | Gerolf Hanke | Elena Hofmann | Theresa Klostermeyer | Kai Kuhnhenn |
Dr. Steffen Lange | Wolfgang Lührsen
1. Gesamtpolitische Leitbilder
Mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von
1967 wurde ein „stetiges und angemessenes
Wirtschaftswachstum“ als Staatsziel der Bun-
desrepublik Deutschland festgeschrieben. Im
Zuge der Finanzkrise 2008 wurde mit dem Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz von 2009 versucht,
Wachstum zusätzlich zu fördern. Heute sind je-
doch viele Expert*innen der Meinung, dass weite-
res Wachstum mit den erhofften und tatsächlich
zu erwartenden Raten weder möglich („säkulare
Stagnation“) noch erstrebenswert ist.
Politikmaßnahmen, die ein stetiges Wachstum
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zum Ziel ha-
ben, stehen im Widerspruch zur ökologischen
Nachhaltigkeit und sind oft nicht an sozialer Ge-
rechtigkeit ausgerichtet. Wirtschaftliches Wachs-
tum hat sich über die Jahre hinweg in einen
Selbstzweck verwandelt, während die Lebens-
qualität und die Bedürfnisse der Bevölkerung aus
dem Blickfeld geraten sind. Zudem forciert die
Wachstumslogik in ökologischer Hinsicht eine
massive Ressourcenausbeutung, die zu irrepa-
rablen, langfristigen Schäden im Ökosystem und
zu problematischen Abhängigkeits- und Ausbeu-
tungsverhältnissen in der globalisierten Wirt-
schaft führt.
Der hohe Verbrauch natürlicher Ressourcen und
die damit zwangsläufig verbundenen Emissionen,
Abfallprodukte und Landschaftsveränderungen
sind die Hauptursache für das Überschreiten pla-
netarer Grenzen (Steffen et al. 2015), die eine
Gefährdung der Stabilität globaler Ökosysteme
signalisieren und somit der Menschheit die
existenzielle Lebensgrundlage entziehen. Eine
absolute und erhebliche Senkung des Ressour-
cenverbrauchs (und damit einhergehend der
Emissionen) bei zugleich wachsender Weltbevöl-
kerung und legitimen Wohlstandsansprüchen
unterversorgter Weltregionen ist notwendig, um
in Zukunft nachhaltig und gerecht innerhalb der
planetaren Grenzen zu wirtschaften.
Diese Herausforderung betrifft insbesondere die
frühindustrialisierten Länder des 'Globalen Nor-
dens', deren Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch um
ein Mehrfaches über dem global nachhaltigen
Maß liegt. Dabei wird auch Zeit eine knappe Res-
source: Je länger der bisherige, quantitative
Wachstumspfad verfolgt wird, umso massivere
politische Eingriffe werden erforderlich sein, um
das steigende Belastungsniveau und somit den
Umweltverbrauch wieder zu senken.
Die Anhänger*innen des „Green Growth“ sind bis-
her sowohl den theoretischen als auch den prak-
tischen Nachweis darüber, dass weiteres Wachs-
tum des BIPs unter Einhaltung der planetaren
Grenzen möglich ist, schuldig geblieben. Als
Beleg hierfür kann der ökologische Fußabdruck
der EU dienen, der mit 4,9 gha (Globalhektar) pro
Person und Jahr weit über dem Zielwert von 1,7
gha liegt (Global footprint network 2017). Zudem
liegen die Treibhausgasemissionen Deutschlands
trotz Energiewende auch pro Kopf weit über dem
europäischen Durchschnitt (European Environ-
ment Agency 2016).
Daher ist in den Ländern des 'Globalen Nordens'
eine wachstumsunabhängige Gestaltung der
5 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik notwendig,
um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Die
Politik sollte darauf ausgerichtet sein, dass ge-
meinnützige Bereiche (z.B. der Pflegesektor oder
der öffentliche Raum) wachsen und das Gemein-
wohl schädigende Bereiche (z.B. der Straßenver-
kehr) sinken.
Die Umgestaltung der Politik sollte deshalb durch
folgende Leitbilder geprägt sein:
1. Wirtschaftliches Wachstum als Staatsziel ist
durch Nachhaltigkeitsziele, die sich an dem
Konzept der Umweltgerechtigkeit orientieren,
zu ersetzen.
2. Alternative Wohlstandsindikatoren sollen das
BIP als Richtschnur für die Politik ablösen.
Das BIP hat sich, obwohl es ursprünglich nicht als
solcher vorgesehen war, als primärer Indikator für
den Wohlstand eines Staates etabliert. Aufgrund
seit langem bekannter Schwächen (positive
Berücksichtigung von Schäden, fehlende Berück-
sichtigung externalisierter Kosten oder unbe-
zahlter Reproduktionsarbeit, teilweisen Schät-
zungen) ist das BIP durch einen oder mehrere
Wohlstandsindikatoren zu ersetzen. Diese alter-
nativen Indikatoren (z.B. Nationaler Wohlfahrts-
index - NWI) sind regelmäßig auf regionaler und
nationaler Ebene zu berechnen und bei der
Planung und Umsetzung von Gesetzen zu berück-
sichtigen.
Allerdings ändern neue Indikatoren allein noch
nicht automatisch die Prioritäten der Politik, da
diese von Interessenvertretungen und Mächte-
verhältnissen beeinflusst werden. Auch gilt es zu
bedenken, dass eine ökonomische Inwertsetzung
von Natur in Form von „Naturkapital“ nicht unbe-
dingt zu mehr Wertschätzung und Schutz von
Ökosystemen führt. Daher ist zu empfehlen, dar-
über hinaus Methoden der Wertschätzung und
Wohlstandserfassung jenseits von Geldwerten zu
erarbeiten und einzuführen.
2. Umweltpolitische Rahmensetzungen
Es war eine der im Konsens getroffenen und
grundlegenden Feststellungen der Enquete-
Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqua-
lität“, dass die Grenzen unserer Erde auch die
Grenzen der Politik definieren (vgl. Bundestag
2013: 356 ff.). Bei der Gestaltung aller Politikin-
strumente kommt man somit nicht mehr umhin,
die planetaren Grenzen und lokalen Umweltüber-
lastungen ernst zu nehmen. Das Ziel eines nach-
haltigen, global gerechten Wirtschaftens kann mit
einer Reihe einzelner Politikmaßnahmen in je
unterschiedlichen Sektoren und in verschiedenen
politischen Arenen verfolgt werden (s. Abschnitt 3
bis 8). Einige grundsätzliche Vorschläge seien
vorangestellt:
a) Begrenzung des Ressourcen- und
Energieverbrauchs
Seit der industriellen Revolution im 18./19. Jahr-
hundert hat der Umweltverbrauch rasant zuge-
nommen. Dies steht in engem Zusammenhang
mit einer ebenfalls rasanten Steigerung der
Arbeitsproduktivität. Neue Produktionstechnolo-
gien wurden eingeführt. Diese haben auf der
einen Seite zu einem erhöhten Einsatz von physi-
schem Kapital und natürlichen Ressourcen
geführt. Auf der anderen Seite hatten sie einen ge-
ringeren Bedarf an Arbeit pro Wertschöpfungsein-
heit zur Folge. Eine zentrale Grundvoraussetzung
für diese Dynamik ist neben technologischen und
organisatorischen Innovationen die preiswerte
Verfügbarkeit von Rohstoffen, insb. von Energie.
6 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Eine zentrale Ursache für die (zu) billige Verfüg-
barkeit natürlicher Ressourcen ist die geringe
Besteuerung derselben bei zugleich starker Be-
steuerung des Produktionsfaktors Arbeit. Abhilfe
kann folglich die Verlagerung der Steuerlast von
Arbeit auf Ressourcenverbrauch schaffen (zur
steuerlichen Entlastung von Arbeit s. Abschnitt
4a.). Das Ausmaß der Ressourcenbesteuerung
muss dabei sukzessive soweit angehoben wer-
den, dass der Ressourcenverbrauch auf ein nach-
haltiges Maß zurückgeht. Eine ähnliche Wirkung
kann durch die absolute Deckelung bestimmter
Ressourcen bzw. Umweltbelastungen erzielt
werden.
Ressourcensteuern oder -deckel können sich
entweder direkt auf die Nutzung von Ressourcen
(fossile Energieträger, Rohstoffe, Flächen etc.)
oder indirekt auf die Belastung von Senken (Emis-
sionen, Gewässerbelastungen etc.) beziehen. Die
durch ökologische Steuern generierten Einnah-
men sollten zur Finanzierung der sozial-ökologi-
schen Transformation verwendet werden (s. Öko-
bonus in Abschnitt 4c). Erste Schritte können je
nach Kontext auf verschiedenen politischen Ebe-
nen gemacht werden. Mögliche Maßnahmen
sind:
1. Umweltschädliche und knappe Rohstoffe
möglichst im Boden belassen (in Deutschland
und weltweit), bereits extrahierte Rohstoffe
vollständig recyceln;
2. Festlegung verbindlicher Emissionsobergren-
zen für CO2 (kommunal, national, internatio-
nal) und wirksamer Sanktionen bei Nichtein-
haltung
3. Einführung einer CO2 -Steuer mit Zielwert 80€/t
CO2 (vgl. co2abgabe.de) als Alternative bzw.
Ergänzung zum ineffektiven europäischen
Emissionshandel;
4. Flächen- und Baumoratorien einrichten (wei-
tere Versiegelung/Bebauung von Flächen nur
bei gleichzeitiger Entsiegelung in gleichem
Umfang), wobei die Hierarchie im Naturschutz
(Vermeidung vor Minimierung vor Kompensa-
tion) zu achten und zu stärken ist.
b) Abbau umweltschädlicher Subventionen
Laut Umweltbundesamt gewährte Deutschland
allein auf Bundesebene im Jahr 2012 umwelt-
schädliche Subventionen in Höhe von mindes-
tens 57 Mrd. Euro, insbesondere in der Energie-
wirtschaft, im Verkehrssektor und in der Land-
wirtschaft (Umweltbundesamt 2016). Dadurch
werden umweltorientierte Politikmaßnahmen,
etwa im Bereich Klimaschutz, konterkariert und
internationale Vereinbarungen (wie insbesondere
die Agenda 2030) unterlaufen. Alle umweltschäd-
lichen Subventionen sind daher im Rahmen eines
ambitionierten Zeitplans abzubauen und in Maß-
nahmen der sozial-ökologischen Transformation
umzulenken. Dabei ist auf die sozial-gerechte
Ausgestaltung der Transformation zu achten.
Konkrete Beispiele finden sich in den folgenden
Abschnitten.
7 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
3. Unternehmen und Märkte
Es ist zentral für die Entwicklung der Wirtschaft,
welche Bedingungen auf den Märkten der Volks-
wirtschaften herrschen und welche Typen von
Unternehmen auf ihnen interagieren. Als ein
wichtiger Vorschlag für die Gestaltung von Märk-
ten in Postwachstumsökonomien wurde bereits
die Begrenzung der Nutzung von Natur, Ressour-
cen und Senken genannt (s. Abschnitt 2). Die ge-
nannten umweltpolitischen Maßnahmen, die die
Natur- und Ressourcennutzung für Unternehmen
verteuern bzw. erschweren, würden damit kos-
tenbedingte Benachteiligungen ökologisch han-
delnder Unternehmen im Wettbewerb abbauen.
Darüber hinaus müssen weitere Rahmenbedin-
gungen so gesetzt werden, dass ökologische, so-
ziale und demokratische Ausrichtungen von Un-
ternehmen unterstützt bzw. gegenteilige Ausrich-
tungen verhindert werden. Besonders sollte es
um die Förderung von lokal verankerten und
gesellschaftlich eingebetteten Unternehmen ge-
hen, die soziale Verantwortung übernehmen. In
diesen Umgestaltungsprozess sollten die in den
Betrieben Beschäftigten partizipativ eingebun-
den werden.
a) Unternehmensverfassung und -förderung
Die rechtlichen und steuerlichen Rahmenbeding-
ungen unserer Wirtschaft sind derzeit auf soge-
nannte shareholderorientierte Unternehmen
(insbesondere börsennotierte Kapitalgesellschaf-
ten) ausgerichtet. Diese Unternehmen nutzen
Gewinne vor allem für umsatzsteigernde Investiti-
onen und Dividendenzahlungen. Sie tragen damit
sowohl zu wirtschaftlichem Wachstum (durch die
hohen Investitionen) als auch zu steigender Un-
gleichheit bei (da Unternehmensbesitz sehr
ungleich verteilt ist). Sozial und ökologisch wirt-
schaftende Unternehmen haben es unter den ge-
genwärtigen Rahmenbedingungen hingegen
schwerer, da sie mit vielfältigen rechtlichen und
finanziellen Nachteilen konfrontiert sind (Ge-
bauer et al. 2017). Die Wirtschaftspolitik sollte
stattdessen darauf ausgerichtet werden, gemein-
wohlorientierte Unternehmen besserzustellen
und allen Unternehmen Anreize zu bieten, im
Sinne des Gemeinwohls zu wirtschaften.
Dies beinhaltet folgende Maßnahmen:
1. Reform des Aktiengesetzes, in der die Pflicht
zur Gewinnmaximierung aufgehoben und
stattdessen das Wohl der Stakeholder und die
Erhaltung von Gemeingütern verankert wer-
den (vgl. Bender/Bernholt 2017);
2. eigene oder erweiterte Rechtsform für demo-
kratisch-partizipativ ausgerichtete, nicht pri-
mär gewinnorientierte Unternehmen, welche
die Binnenlogik dieser Unternehmensformen
aufnimmt und zugleich den bürokratischen
Aufwand begrenzt (vgl. Reichel 2013 und Zen-
tralverband deutscher Konsumgenossen-
schaften 2016);
3. verpflichtende Ausrichtung an sozialen, öko-
logischen und regionalen Kriterien und Bevor-
zugung demokratisch partizipativ ausgerich-
teter Betriebe bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge, Immobilien und Flächen (Auswahl
bspw. Anhand eines einheitlichen Reporting-
Systems für o.g. Kriterien).
b) Produkt- und Werberegulierung
Unternehmen in Wachstumsökonomien müssen
auf einem Konkurrenzmarkt bestehen und rich-
ten daher ihr Handeln primär an der Generierung
von Gewinnen aus – worunter die Sinnhaftigkeit
oder Qualität der Produkte oft ins Hintertreffen
geraten. Dies mündet in Unternehmensstrategien
zur Steigerung der Nachfrage nach ihren Produk-
ten. Die Erhöhung der Nachfrage wird von
wachstumsorientierten Unternehmen durch eine
Kombination mehrerer Ansätze gesteigert, etwa
8 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
eine hohe Frequenz in der Markteinführung neuer
Produkte, die limitierte Verfügbarkeit von Einzel-
und Ersatzteilen oder die Begrenzung der Lebens-
dauer von Produkten (geplante Obsoleszenz).
Zum anderen wird der Absatz von Produkten und
insbesondere von neu eingeführten Angeboten
durch intensive Werbung befördert. Diese fördert
darüber hinaus die ökologisch schädliche Kon-
sum- und Wegwerfkultur und erschwert die Ent-
wicklung suffizienter Konsummuster Anstelle
eines möglichst hohen Produktabsatzes rückt der
Fokus von Unternehmen mit Postwachstumsan-
sätzen auf die Produktion ökologisch und funkti-
onal hochwertiger Produkte mit einer langen
Lebensdauer. Unternehmenspraktiken wie ein
weitgehender Verzicht auf Werbung, die Schaf-
fung von Reparaturmöglichkeiten und individu-
elle Beratungsangebote ermöglichen und unter-
stützen die gesellschaftliche Etablierung eines
suffizienten Lebensstils.
Um suffizienzorientierte Ansätze von Unterneh-
men zu fördern, können politische Weichenstel-
lungen insbesondere an fünf Stellschrauben an-
setzen:
1. Begrenzung von Anreizen und Möglichkeiten
der Platzierung von Werbung durch Aufhe-
bung der direkten Steuerabzugsfähigkeit von
Werbeausgaben;
2. Verbot von Außenwerbung im Gemeingut des
öffentlichen Raums (wie es bspw. in São
Paulo, Brasilien seit 2007 existiert) und stär-
kere Regulierung von Werbung in Medien,
insb. Fernsehen und Social Media;
3. reduzierter Mehrwertsteuersatz für Repara-
turleistungen (wie er bspw. in Skandinavien
bereits existiert);
4. Unterstützung der Produktion langlebiger und
reparabler Produkte durch eine signifikante
Verlängerung gesetzlicher Gewährleistungs-
und privater Garantiezeiten;
5. Stärkung von Reparaturmöglichkeiten, indem
Unternehmen in die Pflicht genommen wer-
den, Ersatzteile anzubieten und deren Nach-
bau durch Open-Source-Modelle zu ermögli-
chen;
6. Verbot des vorsätzlichen Einbaus minderwer-
tiger Ersatzteile (am Beispiel Frankreichs).
4. Arbeit und Soziales
Eine zentrale Aufgabe der Politik ist es, für die
Teilhabe aller an gesellschaftlichen Tätigkeiten
und gesellschaftlichem Reichtum zu sorgen. Bis-
her ist diese Teilhabe abhängig vom Wachstum,
da sowohl finanzielle soziale Absicherung als
auch gesellschaftliche Integration primär über
Lohnarbeit organisiert werden. Lohnarbeit wie-
derum ist – bei konstanten Arbeitszeiten – auf
Wirtschaftswachstum angewiesen, um den durch
permanente Produktivitätssteigerungen indu-
zierten Wegfall von Arbeitsplätzen ausgleichen zu
können. Diese Kopplung von Lohnarbeit, Siche-
rung und Teilhabe wird in Frage gestellt, wenn
wirtschaftliches Wachstum in Zukunft ausbleibt –
unabhängig davon, ob dies aufgrund bereits
stattfindender ökonomischer Mechanismen
(Stichwort Säkulare Stagnation) oder aufgrund
noch einzuführender, starker ökologischer Leit-
planken (s. Abschnitt 2) stattfindet. In einer Post-
wachstumsgesellschaft sollen hingegen mög-
lichst alle Menschen ökonomisch und gesell-
schaftlich teilhaben können – in höherem Maße
als es derzeit der Fall ist.
9 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
a) Neue Arbeitsplätze und
Arbeitszeitverkürzung
Auf der einen Seite wird für die nächsten Jahre
eine zunehmende Digitalisierung und Automati-
sierung in vielen Bereichen vorhergesagt. Dies
würde bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum
und gleichbleibenden Arbeitszeiten einen starken
Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeuten. Diese Ent-
wicklung wird durch Phänomene wie Commons-
based Peer Production und Sharing verstärkt, da
hierdurch wirtschaftliche Tätigkeiten zunehmend
außerhalb des Marktes stattfinden. Ob ein ökolo-
gisch orientierter Strukturwandel mit mehr mate-
riellen und sozialen Dienstleistungen anstelle von
Güterproduktion diese Effekte ausgleichen kann,
ist nicht sicher. Bei abnehmendem oder stagnie-
rendem Erwerbsarbeitsvolumen einer Gesell-
schaft jenseits des Wachstums könnte hingegen
die individuelle Arbeitszeit verkürzt werden, um
allen die Option auf Erwerb einerseits und eine
Work-Life-Balance andererseits zu ermöglichen.
Folgende Arbeitsmarktpolitiken können dies
fördern:
1. Eine Entlastung des Faktors Arbeit in den
Lohnnebenkosten (nicht in den Nettolöhnen)
insbesondere für niedrige und mittlere Ein-
kommen – v.a. durch eine anderweitige Finan-
zierung der Sozialversicherungssysteme
(bspw. durch höhere Besteuerung von Natur-
verbrauch, s. Abschnitt 2) und durch geringere
Steuern auf niedrige Einkommen;
2. finanzielle Anreize zur Einführung kurzer Voll-
zeit (ca. 30h) mit Lohnausgleich für untere und
mittlere Einkommen;
3. stärkere rechtliche Ansprüche auf Teilzeitar-
beit mit garantierten Rückkehrmöglichkeiten
und Job-Sharing.
b) Umverteilung
Eine verbreitete Annahme ist, dass durch eine
wachsende Wirtschaft alle profitieren: „A rising
tide lifts all boats“. Obgleich dies in den letzten
dreißig Jahren über weite Phasen nicht mehr der
Fall war, wird das Problem sozialer Ungleichheit
in einer nicht wachsenden Ökonomie potentiell
verstärkt. Denn wenn die bestehenden, Ungleich-
heit verstärkenden wirtschaftlichen Strukturen
nicht verändert werden, würden die Wohlhaben-
den in einer nicht mehr wachsenden Ökonomie
immer noch wohlhabender werden. Dies würde
gleichzeitig absolute Verluste für die unteren Ein-
kommensschichten unumgänglich machen.
Um die sozial-ökologische Transformation ge-
recht zu gestalten, bedarf es daher einer gere-
chten Umverteilung von Einkommen und Vermö-
gen. Zentrale Maßnahmen zur Stärkung der
sozialen Absicherung und gesellschaftlichen
Teilhabe unterer Einkommensschichten und
Nichterwerbspersonen, sowie des Erhalts von
Mittelschichten sind:
1. Erhöhung von Vermögens-, Kapitalertrags-
und Erbschaftssteuern auf nationaler und eu-
ropäischer Ebene, einschließlich einer Finanz-
transaktionssteuer;
2. Reform der Unternehmenssteuern auf interna-
tionaler bzw. europäischer Ebene, um Steuer-
wettbewerb zu vermeiden und das Steuerauf-
kommen zu erhöhen;
3. Erhöhung staatlicher Ausgaben für Bildung,
Gesundheit und Renten für untere Einkom-
mensschichten;
4. Ausbau eines solidarischen Sozialversiche-
rungssystems, in das alle Bürger*innen
entsprechend ihrer gesamten Einkommen
(Lohneinkommen und Kapitaleinkommen)
einzahlen.
10 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
c) Soziale Grundsicherung
Innerhalb des Postwachstumdiskurses wird über
verschiedene Modelle einer sozialen Grundsiche-
rung nachgedacht. Solche Erwägungen gewinnen
vor dem Hintergrund zunehmender Automatisie-
rung durch Digitalisierung nochmals erheblich an
Bedeutung. Die grundsätzliche Idee eines Bed-
ingungslosen Grundeinkommens (BGE) findet
daher viel Zuspruch. Beim BGE kommen die Argu-
mente zu Arbeit und Umverteilung zusammen:
Menschen, die ihre Erwerbsarbeit verlieren, wird
eine finanziell abgesicherte Existenzbasis ohne
Gesichtsverlust ermöglicht oder der Einstieg in
eine andere Tätigkeit erleichtert. Gleichzeitig
kann ein BGE eine sozial-ökologische Transfor-
mation unterstützen. Der freigesetzte Zeitwohl-
stand eröffnet ein Experimentierfeld für selbst-
gewählte Lebensstile jenseits der Wachstumstret-
mühle „mehr Erwerbsarbeit – mehr Stress – mehr
Kompensationskonsum“.
Die Einführung eines BGE (in einer Höhe, die wirk-
lich für eine Basissicherung reicht) würde eine
starke Veränderung der Arbeits- und Sozialpolitik
darstellen. Folgende erste Schritte können zu-
nächst parallel zum gegenwärtigen System sozia-
ler Sicherung gegangen werden:
1. Garantie eines ausreichenden Einkommens
auch bei Teilzeitarbeit durch armutsvermei-
dende soziale Sicherung (Anpassung beste-
hender lohnabhängiger Sicherungssysteme
oder schrittweiser Umstieg auf ein BGE);
2. Großräumige Modellversuche mit dem BGE,
Forschungsprogramme über die ökonomi-
schen, kulturellen und sozialen Auswirkungen;
3. Ausprobieren des Prinzips des individuellen
materiellen Rechtsanspruchs durch einen
Ökobonus. D.h., jede*r Bürger*in bekommt
eine Prämie ausgezahlt, die aus den Einnah-
men ökologischer Steuerungsinstrumente ge-
neriert wird (s. Abschnitt 2);
4. Entwicklung von Konzepten und Auszahlungs-
varianten (z.B. negative Einkommenssteuer)
und ihre versuchsweise und/oder sukzessive
Einführung.
5. Mobilität und Güterverkehr
Der Energieverbrauch sowie die CO2-Emmissio-
nen im Verkehrsbereich steigen ebenso wie der
Flächenverbrauch durch Verkehrsinfrastruktur in
Deutschland weiter an. Neben den damit verbun-
denen ökologischen Schäden führt besonders der
motorisierte Individualverkehr zu Gesundheits-
schäden durch Abgase und zu hohen Risiken für
Leib und Leben durch Unfälle. Laut statistischem
Bundesamt sind allein im Jahr 2016 in Deutsch-
land etwas mehr als 3200 Menschen bei Verkehrs-
unfällen ums Leben gekommen und fast 400.000
verletzt worden (Statistisches Bundesamt 2017).
Gleichzeitig nehmen Produktion und Kauf hoch-
motorisierter Pkw und die Anzahl von Flugreisen
zu. Ein Gegensteuern zu diesen Trends ist sowohl
im Nah-, Fern- sowie im Güterverkehr notwendig,
um ökologische und soziale Schäden zu ver-
ringern. Hierfür liegen eine Reihe von Vorschlägen
anderer Akteure vor (vgl. z.B. Wolf 2007, Bracher
et al. 2014, Erhard et al., 2014, Brand/Wissen
2017). Um eine Doppelung zu vermeiden, fokus-
sieren wir auf diejenigen verkehrspolitischen
Maßnahmen, die besonders starke wachstums-
kritische Bezüge herstellen.
11 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
a) Verkehrsvermeidung
Auch aus dem Blickwinkel des Postwachstums-
diskurses gilt es aus der Trias Vermeidung/Verla-
gerung/Effizienz alle drei Strategien zu verfolgen.
Der Fokus muss allerdings viel stärker als bisher
auf die Vermeidung von Verkehr gelegt werden.
Für einen nachhaltigen Verkehrssektor ist die
Reduktion des Verkehrs durch Siedlungs- und
Wirtschaftspolitik entscheidend, nicht jedoch z.B.
ein alleiniger Fokus auf der Durchsetzung von
Elektromobilität oder Wasserstoffantrieben.
Maßnahmen können in diesem Sinne sein:
1. Neuausrichtung und Ausbau des öffentlichen
Verkehrs durch Ausbau des ÖPNV (auch im
Hinblick auf digital unterstützte, modalüber-
greifende Mobilitätslösungen), kostenlo-
sen/günstigen ÖPNV, Vergesellschaftung der
Bahn und Bahninfrastruktur, Wiedereinfüh-
rung und Ausbau des Nachtzugverkehrs;
2. Beeinflussung der Pkw-Flottenzusammenset-
zung durch Abschaffung des Dienstwagenpri-
vilegs, Einführung eines Tempolimits;
3. Erhöhung der Attraktivität des Radverkehrs
durch Ausbau der Radverkehrswege, Schaf-
fung von Fahrradabstellmöglichkeiten, Bau
von durchgängigen Fahrradnetzen, kostenlo-
ser Radverleih und Förderung von Lastenrad-
kollektiven;
4. ordnungsrechtliche Reduzierung des motori-
sierten Individualverkehrs durch Einführung
autofreier Tage und Ausweitung autofreier
Zonen;
5. gerechte Übergangslösungen (just transition)
für Arbeiter*innen der motorisierten Mobili-
tätsindustrie schaffen.
b) Regionale Wirtschaftskreisläufe
Eine zentrale Idee aus Postwachstumsperspek-
tive ist die Förderung regionaler gesellschaftli-
cher und wirtschaftlicher Zusammenhänge. Hier-
mit sind keine „gated communities“, also ge-
schlossene, eingegrenzte Einheiten, gemeint,
sondern eine Regionalisierung von Güterkreisläu-
fen bei gleichzeitiger Offenheit für den Austausch
von Personen, Ideen und Kulturen (Open Loca-
lism). Eine verkehrsvermeidende Stadt-, Sied-
lungs- und Wirtschaftspolitik könnte durch fol-
gende Maßnahmen gestaltet werden:
1. Ausbau-Moratorium für den Straßenbau und
eine kritische Prüfung aller Projekte des Bun-
des; Einführung einer ökologischen Bilanzie-
rung für den Bundesverkehrswegeplan;
2. Parkraumverknappung;
3. Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe
(z.B. indem die öffentliche Auftragsvergabe an
ökologische und räumliche sowie soziale Kri-
terien gekoppelt wird);
4. Reform der Grunderwerbssteuer mit dem Ziel,
die Attraktivität des Grundstückskaufs in Neu-
erschließungsgebieten zu mindern und den
Kauf von Bestandsimmobilien zu fördern.
c) Internalisierung von Umweltkosten
Eine weitere zentrale Forderung ist die Internali-
sierung der Umweltkosten des Verkehrs über die
Anpassung und Einführung von Steuern sowie die
Abschaffung von Steuererleichterungen (s. Ab-
schnitt 2). Allerdings kann eine Verteuerung des
Verkehrs die Unterteilung in diejenigen (reichen)
Bevölkerungsteile, die sich Mobilität leisten kön-
nen und diejenigen (armen) Bevölkerungsteile,
deren Mobilität geringer ist, verschärfen. Um dies
zu verhindern, muss gleichzeitig der öffentliche
Verkehr sowie der nicht-motorisierte Individual-
verkehr ausgebaut, für alle Menschen zugänglich
und attraktiv gemacht werden.
Wir schlagen folgende Maßnahmen vor:
1. Reduktion des Flugverkehrs durch Erhöhung
der Luftverkehrssteuer und Abschaffung der
Steuerbefreiungen im Flugverkehr sowie der
Subventionierung von Regionalflughäfen;
12 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
2. Abbau der Subventionierung des motorisier-
ten Individualverkehrs und Güterverkehrs
durch Erhöhung der Energiesteuern, umwelt-
gerechte Revision der Kfz-Steuer, Einführung
ökologischer Citymaut und Besteuerung von
Schweröl.
Die zusätzlichen Einnahmen bzw. gesparten Aus-
gaben könnten z.B. zur Finanzierung des Ausbaus
des Radwegenetzes sowie für kostenlose Leih-
fahrräder verwendet werden. Auf diese Weise
würde auch die gesellschaftliche Akzeptanz dafür
erhöht werden.
6. Landwirtschaft und Ernährung
Landwirtschaft und Ernährung sind zentrale Le-
bens- und Wirtschaftsbereiche, die alle Menschen
betreffen. Landwirtschaft trägt einen noch größe-
ren Teil zum Klimawandel bei als der Verkehr (vgl.
BUND et al. 2013: 31; Goodland/Anhang 2009: 11),
hat weitreichende Umweltfolgen und ist beson-
ders stark von einer auf Wirtschaftswachstum
ausgerichteten Politik geprägt. Da die Landwirt-
schaft gleichzeitig für alle Menschen lebensnot-
wendig ist, ist eine ökologisch und sozial sowie glo-
bal gerecht gestaltete Agrarwende unabdingbar.
a) Massentierhaltung abschaffen
Insbesondere die industrielle Massentierhaltung
ist nicht artgerecht. Darüber hinaus produzieren
die so gehaltenen Tiere große Mengen an Schad-
stoffen, die den Klimawandel weiter vorantrei-
ben, die Biodiversität gefährden, die Böden über-
düngen und das Grundwasser verseuchen.
Die Futtermittel (vor allem Soja) für die Tiere in
der europäischen Landwirtschaft werden zum
größten Teil aus Südamerika und Afrika impor-
tiert. Dort werden sie von wenigen Groß-
konzernen meist als gentechnisch manipulierte
Monokulturen unter hohem Energie-, und Pestizi-
deinsatz produziert. Lokal ansässige Kleinbauern
und -bäuerinnen oder Indigene werden oft
unrechtmäßig und mit Gewalt von ihrem Land
vertrieben (Landgrabbing). Die Äcker werden der
lokalen Bevölkerung als Anbauflächen für Grund-
nahrungsmittel entzogen. So werden nicht nur
Ökosysteme (u.a. Regenwälder) vernichtet und
die Umwelt großflächig zerstört, sondern auch
fundamentale Menschenrechte missachtet und
demokratische Prinzipien verletzt.
Fast ein Drittel der weltweiten Getreideernte wird
an Tiere verfüttert, wobei ein Großteil der Nähr-
stoffe in dieser Nahrungskette für den Menschen
verloren geht. Der hohe Pro-Kopf-Konsum von
tierischem Eiweiß in den westlichen Industriena-
tionen und bei den globalen Mittelschichten über-
all geht also zu Lasten von Welternährung, Men-
schenrechten und planetarischen Grenzen.
Durch den Transport von Futtermitteln nach
Europa werden zudem große Mengen Treibstoff
verbraucht. Hierzulande wird das Kraftfutter u.a.
an Rinder verfüttert. Deren Mägen sind nicht auf
eine solch eiweißreiche Nahrung ausgerichtet
und produzieren daher zusätzliches Methan,
wodurch der Klimawandel weiter angeheizt wird.
Die hiesigen Märkte sind zudem längst gesättigt
mit tierischen Produkten, da deren Konsum und
Nachfrage in den letzten Jahren deutlich abge-
nommen haben. Dennoch wächst die Produktion
tierischer Nahrungsmittel in Deutschland weiter
an. Ein großer Teil landet in den Abfalltonnen der
Supermärkte und Privathaushalte oder wird ex-
portiert und gefährdet damit die kleinbäuerliche
13 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Landwirtschaft andernorts. Die industrielle Tier-
produktion ist somit nicht nur in vielfacher Hin-
sicht unethisch, sondern auch eine zentrale Frage
globaler Gerechtigkeit.
Investitionsbeihilfen der EU z.B. für Stallbauten,
die reduzierte Mehrwertsteuer für tierische Nah-
rungsmittel sowie der Produktionsüberschuss
führen zu künstlich verbilligten Preisen. Große
Mengen dieser Niedrig-Preis-Produkte werden
exportiert und zerstören Absatzmärkte für lokale
Erzeuger*innen im 'Globalen Süden'. Auf der
einen Seite werden also Futtermittel importiert,
deren Anbau im 'Globalen Süden' massive Prob-
leme verursacht. Auf der anderen Seite werden
die Tierprodukte aus Deutschland exportiert, was
sich wiederum negativ auf die Märkte in anderen
Ländern auswirkt.
Kaum ein Industriesektor ist so stark von Mono-
polen geprägt wie der Landwirtschafts- und
Lebensmittelsektor, in dem wenige große Kon-
zerne die Märkte dominieren und die Preise und
Konditionen diktieren. Eine Agrar- und Wachs-
tumswende ist daher nicht ohne ein Aufbrechen
dieser Monopolstrukturen umsetzbar.
Wichtige Maßnahmen für eine nachhaltigere Ag-
rarpolitik im Bereich der Tierhaltung sind:
1. Umlenkung von Subventionen für tierische
Produkte hin zu pflanzlichen;
2. Anpassung der Mehrwertsteuer: Senkung auf
7% für alle pflanzlichen Lebensmittel und
Erhöhung auf 19% für alle tierischen Produkte;
3. Bindung der Tierhaltung an die Fläche (Kreis-
laufwirtschaft);
4. Abschaffung der Privilegien im Baurecht für
große Ställe;
5. Regulierung der Nutzung von Futtermitteln:
Importverbot für Kraftfutter, insb. Soja;
6. Beschränkung der Anzahl der Tiere, die pro
Flächeneinheit gehalten werden dürfen;
7. klare und verbindliche Regeln für deutlich tier-
gerechtere Haltungsbedingungen, welche
dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes
gerecht werden, fühlenden Lebewesen kein
Leid zuzufügen.
b) Umstellung auf biologische und solidarische
Landwirtschaft
Der Anbau von Energiepflanzen steht in direkter
Konkurrenz zum Anbau von Nahrungs- und Fut-
termitteln, da die fruchtbaren Flächen begrenzt
sind. Das Agrarland, welches für den Anbau von
Energiepflanzen verwendet wird, muss also
früher oder später neu hinzugewonnen werden.
Daher ist zu erwarten, dass in den nächsten Jah-
ren natürliche Ökosysteme in Agrarland umge-
wandelt werden, um den zusätzlichen Land-
bedarf durch Energiepflanzen zu decken. Diese
Umnutzung würde große Mengen zusätzliches
Kohlendioxid freisetzen. (Searchinger et al. 2015).
Energiepflanzen stellen somit keine Lösung zur
Klimaproblematik dar, sondern verschärfen diese
zusätzlich.
Anstelle von Treibstoffgewinnung und Gewinn-
maximierung von Konzernen sollte die Landwirt-
schaft zum Ziel haben, die Ernährungssicherheit
der heute und zukünftig lebenden Menschen
weltweit zu gewährleisten. Alternative Konzepte
wie die Ernährungssouveränität oder die Agrar-
ökologie sollten Möglichkeiten zur Entfaltung
bekommen.
Die Arbeitsbedingungen in der Agrarindustrie
sind meist durch prekäre Werkverträge ge-
kennzeichnet. Zudem sind die Abläufe so stark
mechanisiert, dass nur wenige neue Arbeitsplätze
im Agrarsektor geschaffen werden, während jähr-
lich tausende von kleineren Agrarbetrieben auf-
geben müssen.
Für die politische Umsetzung der Agrarwende
schlagen wir als konkrete Maßnahmen vor:
1. Einhaltung von verschärften Umwelt- und So-
zialauflagen als Bedingung für jegliche Agrar-
subventionen;
14 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
2. Subventionsobergrenze für große Agrarunter-
nehmen;
3. Umschichtung der Direktzahlungen pro Fläche
durch die EU-Agrarpolitik hin zu Hilfen bei der
Umstellung der Betriebe auf ökologischen
oder bioveganen Landbau;
4. Förderung von gemeinschaftlichen Produkti-
onsformen wie Kooperativen in der solidari-
schen Landwirtschaft durch zusätzliche För-
dergelder und verbesserte rechtliche Rahmen-
bedingungen sowie Bevorzugung bei Verpach-
tung und Verkauf öffentlicher Flächen;
5. Schrumpfung des Anbaus von Energiepflanzen
zugunsten von Nahrungsmitteln;
6. faire Handelspolitik: die Erlaubnis zur Erhe-
bung von Schutzzöllen durch Länder des
'Globalen Südens' und zur Bevorzugung der
regionalen Absatzmärkte;
7. Förderung von Fruchtfolgen und Mischkultu-
ren statt Monokulturen.
c) Biologische und pflanzliche Ernährung
Entgegen dem aktuellen Stand der medizinischen
Forschung und den Empfehlungen der Welt-
gesundheitsorganisation wird in Schulen, Kitas
und anderen öffentlichen Einrichtungen noch im-
mer eine tierbasierte Ernährung propagiert und
überwiegend tierische Nahrungsmittel angebo-
ten. Lebensmittel aus ökologischem Anbau ste-
hen nur selten auf der Speisekarte. Diese Praxis ist
aus Gründen des Klima-, Umwelt-, Ressourcen-
und Tierschutzes nicht länger zeitgemäß.
Umsetzbare Maßnahmen wären:
1. Standardmäßiges Angebot pflanzenbasierter
Speisen aus ökologischem Anbau in allen
öffentlichen Einrichtungen (Vorbildfunktion);
2. Information über die Vorteile biologischer und
pflanzlicher Ernährung in Schulen und ande-
ren öffentlichen Einrichtungen;
3. Aufklärung der Verbraucher*innen über die
ökologischen, sozialen und gesundheitlichen
Nachteile des Fleischkonsums.
7. Demokratie und gesellschaftliche Partizipation
In Zeiten sinkenden Vertrauens in Politik und De-
mokratie, immer weiter wachsender sozialer Un-
gleichheit und erstarkendem Rechtspopulismus
sind solche Politikmaßnahmen notwendig, die zu
mehr Demokratie und gesellschaftlicher Partizi-
pation beitragen. Dafür muss unsere Politik mehr
auf die Bedürfnisse der Menschen, nicht nur hier
und heute, sondern auch zukünftiger Generatio-
nen und Menschen in anderen Regionen der Welt,
ausgerichtet sein.
a) Stärkung demokratischer Strukturen und
Verfahren
Das bestehende politische System ist stark durch
kurzfristiges Denken sowie durch eine weitge-
hende Externalisierung sozialer und ökologischer
Kosten geprägt. Die Festschreibung der „Nachhal-
tigkeit“ als Staatsziel in Artikel 20a GG, dass der
Staat auch in Verantwortung für die nachfolgen-
den Generationen die natürlichen Lebensgrund-
lagen schützt, hat nicht ausreichend zur Erhal-
tung der Umwelt geführt. Daher ist eine „Lobby“
für zukünftige Generationen notwendig.
Wir schlagen folgende Politikmaßnahmen vor:
1. Promotion des Artikel 20a GG von einem
Staatsziel zu einem – einklagbaren – Grund-
recht auf Nachhaltigkeit;
2. Einrichtung eines „Zukunftsrats“, der ein Veto-
recht bei nichtnachhaltigen Vorhaben erhält;
15 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
3. Etablierung einer Ombudsperson für die Inte-
ressenvertretung künftiger Generationen.
b) Regulierung und Einschränkung von
Lobbyismus
Politik im Interesse von einzelnen Wirtschafts-
akteuren durch Lobbyarbeit, intransparente Par-
teispenden, Nebeneinkünfte und Wechsel von
Politiker*innen in die Wirtschaft zeigen das Aus-
maß von Lobbyismus und Lobbyverflechtungen
in Deutschland. Problematisch daran ist, dass
wirtschaftliche Akteure, die weder demokratisch
legitimiert noch dem Gemeinwohl verpflichtet
sind, einen starken Einfluss auf politische Ent-
scheidungen ausüben. Mehr Transparenz bzw.
Rechenschaftspflicht, Regulierungen und Ein-
schränkungen von Lobbyismus sind ein wichtiger
Schritt für mehr soziale Gleichheit, Nachhaltigkeit
und eine stärker an den Bürger*innen orientierte
Interessenvertretung.
Wir schlagen folgende Politikmaßnahmen vor:
1. Verpflichtendes Lobbyregister;
2. dreijährige Karenzzeit, in der ein Wechsel von
Politiker*innen in Lobbytätigkeiten generell
verboten ist;
3. transparentere und kontrollierte Regulierung
der Parteienfinanzierung;
4. keine Beschäftigung externer Mitarbeiter*
innen aus der Wirtschaft in den Ministerien
(Lobbycontrol 2016).
c) Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft
Um die Interessen der Bürger*innen mehr im
Blick zu haben, braucht die organisierte Zivil-
gesellschaft (gemeinnützige Nichtregierungsor-
ganisationen/NRO, Gewerkschaften, Sozialver-
bände) eine stärkere Stimme in der Politik. Wir
schlagen deshalb vor:
1. Das Verbandsklagerecht für gemeinnützige
NRO (im Tier-, Natur-, Umwelt- und Verbrau-
cherschutz, usw.) auf Bundesebene auswei-
ten;
2. mehr Rechtssicherheit für politische Willens-
bildung: Die Abgabenordnung muss so geän-
dert werden, dass die politische Willens-
bildung durch zivilgesellschaftliche Organisa-
tionen den angemessenen Rechtsrahmen
erhält und alle entsprechenden Ziele als
gemeinnützig anerkannt werden (Allianz
Rechtssicherheit für politische Willensbildung
2017);
3. Bevorzugung von gemeinnützigen Organisa-
tionen bei Vermietung und Verkauf öffentli-
cher Gebäude;
4. gesellschaftliches Engagement erleichtern:
z.B. ehrenamtliches Engagement für Men-
schen fördern, die Sozialleistungen beziehen,
Steuervergünstigungen für Ehrenamt.
16 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
8. Finanzmärkte
Das Finanzsystem intensiviert die exzessive
Wachstumsdynamik, in welcher sich das gesamte
Wirtschaftssystem befindet. Um den materiellen
Ressourcenverbrauch der Ökonomie zu reduzie-
ren, ist die Schrumpfung der Wertebene zentral.
Eine Entkopplung der Wertebene (Wachstum des
BIP) und der stofflichen Ebene ist nicht in ausrei-
chendem Maße möglich. Die Auswirkungen des
globalen Finanzsystems auf Gesellschaft, politi-
sche Sphäre, Umwelt und Soziales sind somit
enorm. Es braucht weitreichende Veränderungen,
die über kleine Reformen innerhalb des bestehen-
den Systems hinausgehen. Zwar handelt es sich
hierbei um ein globales Problemfeld, nichtsdes-
totrotz muss sich die Bunderegierung mit ihrem
weitreichenden Einfluss für eine Veränderung
massiv einsetzen (vgl. Passadakis/Schmelzer
2011).
a) Verkleinerung, Entflechtung und
Stabilisierung des Finanzsektors
Es muss zu einer drastischen Reduktion des ge-
samten Finanzsektors kommen. Besonders rein
spekulative Zwecke und die Anhäufung von For-
derungen an erst zukünftig zu erwirtschaftende
Werte müssen durch strikte Regulierungen zu-
rückgedrängt werden. Ganz grundsätzlich müsste
das nach Anlageangeboten suchende, überschüs-
sige private Kapital durch eine solidarische Um-
verteilungspolitik gemindert werden.
Folgende weitere Maßnahmen sind notwendig:
1. Verbot von Kreditausfallversicherungen, Deri-
vaten, Verbriefungen, den gesamten außer-
bilanziellen Geschäften und des außerbörs-
lichen Handels, Hedgefonds, Privaten Equity
Fonds und reinem Investmentbanking;
2. Schließung von Steueroasen und Schattenfi-
nanzplätzen;
3. Trennung der Geschäfts- und Investmentban-
ken (Trennbankensystem);
4. Entflechtung und Verkleinerung der übergro-
ßen „Too big to fail“-Banken;
5. Einführung einer Finanztransaktionsteuer;
6. eine demokratisch kontrollierte Aufsichtsbe-
hörde, die alle Finanzprodukte daraufhin
prüft, ob sie sozial und ökologisch sinnvoll
oder gefährlich sind;
7. demokratisch kontrollierte Ratingagenturen,
die soziale und ökologische Risiken in ihre Be-
wertungen einbeziehen;
8. Festsetzung einer höheren Eigenkapitalquote;
9. Einführung einer Mindesthaltefrist für Aktien
und andere Finanzprodukte von mindestens
einer Sekunde;
10. mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht
der Europäischen Zentralbank (EZB) gegen-
über Parlamenten (vgl. Peukert 2017; Passa-
dakis/Schmelzer 2011).
b) Investitionen in öffentliche Hand
Investitionen stellen einen zentralen Faktor im
Schrumpfungsprozess der Wertebene dar. Die
Investitionen für den notwendigen sozial-ökolo-
gischen Ausbau der gemeinwohlorientierten Teile
der Ökonomie, für kollektive öffentliche Güter
und für die Entschärfung bestehender sowie zu-
künftiger Zerstörungen können dem Ziel hoher
Renditen nicht gerecht werden. Dies gilt auch für
den Rückbau von nicht sozialen und ökologischen
Infrastrukturen sowie für die notwendigen, mas-
siven finanziellen Transfers für den 'Globalen
Süden'. Öffentlichen Investitionen kommt daher
eine Schlüsselrolle zu. Hierfür braucht es Institu-
tionen, die in den Prozess von Investition und
Desinvestition eingreifen:
1. Demokratisch kontrollierte, föderale, öffentli-
che Bankinstitute, die lokal, regional oder
national operieren;
17 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
2. Sonderfonds, die den sozial-ökologischen Um-
bau in bestimmten Sektoren mit organisieren;
3. steuerfinanzierte Investitionsprogramme, die
die Einnahmen sozial-ökologisch lenken;
4. wirtschaftsdemokratische Verfahren wie
bspw. regionale Investitionsräte, die die be-
dürfnisorientierte Verteilung der zu investie-
renden Überschüsse kontrollieren;
5. eine demokratisch kontrollierte Aufsichts-
behörde, die mittels eines Finanz-TÜVs alle
Finanzprodukte auf ihre Umwelt- und Sozial-
verträglichkeit hin prüft;
6. öffentliche, demokratisch kontrollierte Ratin-
gagenturen, die soziale und ökologische Risi-
ken in ihre Bewertungen einbeziehen (vgl.:
Schmelzer/Passadakis 2011).
Zentral ist zudem die Problematisierung der zu-
nehmenden Ökonomisierung aller Lebensberei-
che. Es sollten Schritte hin zu einer verstärkten
De-Monetarisierung bzw. De-Kommodifizierung
durch die staatliche bzw. kommunale Bereitstel-
lung kostenloser sozialer Infrastruktur vorgenom-
men werden. So kann dem Geld die Möglichkeit
des starken Einflusses genommen werden, über
Leben und die Verwendung von Lebenszeit zu
entscheiden.
Autor*innen:
Miriam Boschmann
Projektleitung Fokus Wachstumswende
boschmann@fokus-wachstumswende.de
Gerolf Hanke
Vorstandsmitglied beim Förderverein Wachstumwende
und bei der Vereinigung für Ökologische Ökonomie
gerolf.hanke@posteo.de
Elena Hofmann
Projektmitarbeiterin beim Deutschen Naturschutzring
elena.hofmann@dnr.de
Theresa Klostermeyer
Referentin beim Deutschen Naturschutzring
theresa.klostermeyer@dnr.de
Kai Kuhnhenn
Referent beim Konzeptwerk Neue Ökonomie
k.kuhnhenn@knoe.org
Dr. Steffen Lange
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung
steffen.Lange@ioew.de
Wolfgang Lührsen
BUND Hamburg
wolfgang.luehrsen@bund.net
18 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
II. Kommunikationswege für eine Wachstumswende
Die Kritik an der Wachstumsideologie und Vor-
schläge in Richtung neuer, wachstumsunab-
hängiger Wohlstandsmodelle tasten tief veran-
kerte Überzeugungen an. Ein grundlegendes
neues Denken und Handeln, das auf ein veränder-
tes gesellschaftliches Selbstverständnis abzielt,
erfordert auch neue Kommunikationswege,
Strukturen und Gewohnheiten. Deshalb gilt es,
Formate und Narrative zu finden, die alte Formen
nicht einfach mit anderen Inhalten füllen, son-
dern Form und Inhalt gemeinsam verändern. Aus
diesem Grund widmet sich das folgende Plädoyer
der Relevanz neuer und vor allem positiv besetz-
ter Erzählformate und Praxisbeispiele. Der zweite
darauf folgende Text identifiziert Strukturen und
Zwänge innerhalb der Medienbranche, die hin-
derlich sind, um wachstumskritische Haltungen
und Informationen zu vermitteln. Anschließend
folgen Beispiele für kreative Kommunikationsfor-
mate. Zuletzt werden einige grundlegende Über-
legungen angeführt, wie die in dieser Broschüre
dargelegten gesellschaftlichen Zielsetzungen
effektiv in den politischen Prozess eingebracht
werden können.
1. Ein Plädoyer für neue Kommunikationsformate
Von: Annette Jensen
Artenschwund, Klimawandel, 60 Millionen Ge-
flüchtete weltweit, Finanz- und Verschuldungs-
krisen, wachsende Ungleichheit, Kriege, Ressour-
cenverbrauch, Atommüll – an Informationen über
globale Megakrisen herrscht kein Mangel. Klar ist
auch: Der ökologische Fußabdruck des deut-
schen Durchschnittsbürgers ist viel zu groß. Die
Bewohner*innen Deutschlands verursachen jähr-
lich jeweils mehr als neun Tonnen CO2. Klimaver-
träglich sind aber maximal zwei Tonnen pro
Erdenbürger*in. Jedes Jahr wandert der Tag, an
dem die Menschheit rechnerisch so viel Natur ver-
braucht hat, wie binnen eines Jahres nachwach-
sen kann, im Kalender weiter nach vorne. 2016
war der Erdüberlastungstag bereits am 8. August
erreicht.
Auf Kosten anderer Menschen, kommender Gene-
rationen und der Natur zu leben, lässt sich im
Prinzip nur durch Verdrängung ertragen. Die
Probleme sind so umfassend und komplex, dass
Ohnmachtsgefühle, Fatalismus und Ignoranz weit
verbreitet sind. Obwohl offensichtlich ist, dass die
vielfältigen Krisen durch die Wachstumsnotwen-
digkeit des Wirtschaftssystems (mit-)verursacht
sind, scheint es unmöglich, etwas grundsätzlich
daran zu ändern: Erwerbsarbeit und soziale
Sicherung hängen heute davon ab – und damit
die Existenzgrundlage der meisten Bürger*innen.
Zwar sind Sachinformationen über die extrem
bedrohlichen Entwicklungen ohne Zweifel eine
notwendige Voraussetzung für Veränderungen,
die weg vom Abgrund führen. Doch Fakten rei-
chen nicht aus, um notwendige Handlungen aus-
zulösen. Einen wichtigen Hinweis dafür liefert die
Kognitionsforschung, die die Bedeutung von
Frames (Deutungsrahmen) für unsere politische
Meinungsbildung und unser Engagement heraus-
gearbeitet hat (Wehling 2016). So steht ein Zu-
kunftsbild, das sich auf „weniger CO2“ und „weni-
ger Müll“ fokussiert, nicht nur in der Gefahr, als
moralischer Verzichtsappell wahrgenommen zu
werden. Der Frame „Reduzierung“ signalisiert
19 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
auch das Zurückfahren von Aktivitäten – also Pas-
sivität. Weit verbreitet ist ebenfalls die Hoffnung,
dass kluge Ingenieur*innen schon technische
Lösungen finden würden und Verhaltensände-
rungen damit überflüssig werden.
Was bei alledem nicht entsteht, sind Bilder einer
wünschenswerten Zukunft, in der es die „Kinder
einmal besser haben werden“. Vorstellungen
eines guten Lebens sind in der Lage, das Engage-
ment von Menschen anzuregen und ihre Phanta-
sie zu beflügeln, was sie selbst zu einem Umsteu-
ern beitragen können. Vielfältige Experimente,
Suchbewegungen und ein reger Austausch über
dabei gemachte Erfahrungen könnten angesichts
der Komplexität der heutigen Probleme geeigne-
ter sein als das Aufstellen von globalen Master-
plänen um Veränderungen in Richtung einer
enkeltauglichen Zukunft voranzutreiben. Die
Aufgabe der Politik besteht darin, förderliche
Rahmenbedingungen - quasi den Humus – für
solche dezentralen, modularen, vielfältig vernetz-
ten Entwicklungen zu organisieren. Der Kompass
für diesen Prozess muss nicht neu erfunden
werden. Zum einen geht es darum, die planetaren
Grenzen einzuhalten, zum anderen geht es um die
Werte, die in den ersten Artikeln des Grundgeset-
zes festgeschrieben sind. Die 17 UN-Ziele für
nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) beschrei-
ben die vielfältigen Themenfelder, auf denen gea-
ckert werden muss.
Was bedeutet das für die Bereitstellung und Ver-
breitung von Informationen? Kritik am Bestehen-
den und Fakten reichen nicht aus, um uns einer
enkeltauglichen Zukunft näher zu bringen. Er-
gänzt werden müssen sie um konstruktive,
lösungsorientierte Informationen, die sowohl den
Rahmen einer zukunftsfähigen, ökologisch trag-
fähigen Lebensweise beschreiben als auch um
Beispiele und konkrete Schritte, die in diese Rich-
tung weisen. Ein wünschenswertes Ziel kann
wesentlich mehr positive Energie und Phantasie
freisetzen als die Konzentration auf die destrukti-
ven Entwicklungen der Gegenwart – zumal jeder
Versuch dagegen vorzugehen sofort den Wider-
stand von Lobbygruppen hervorruft und so am
Ende häufig nur fragwürdige Kompromisse dabei
herauskommen.
Nichts ist überzeugender als das gelebte Bei-
spiel, das belegt, dass etwas funktioniert. Überall
auf der Welt haben Menschen angefangen, Pro-
jekte und Betriebe aufzubauen, die sich an ande-
ren Kriterien ausrichten als im Kapitalismus
üblich: Kooperation statt Konkurrenz, Bedarfs-
statt Geldorientierung, Open Source statt
Patente, Orientierung an den Prinzipien der Kreis-
laufwirtschaft der Natur statt an Ressourcen-
verbrauch in Form einer Einbahnstraßen-
Sackgassenwirtschaft. Diese Initiativen sind viel-
fältig, kleinteilig, oft regional angepasst und häu-
fig auch untereinander vernetzt. Sie suchen keine
Lösungen für die ganze Welt, sondern orientieren
sich an den Wünschen und Bedarfen der Beteilig-
ten und ihrer Umgebung. Gerade hierin lassen
sich vielfältige Elemente einer klimaschonenden,
ressourcensparenden, gesundheitsfördernden
und bodenverbessernden Ökonomie entdecken.
Wachsen diese Strukturen in modularer Form,
könnten sie immer mehr an Bedeutung gewinnen
– vor allem, weil sie durch den hohen Grad an
Selbstbestimmung und Identifikation lustvoll für
die Beteiligten und damit attraktiv für Nach-
ahmer*innen sind. Solche Motivationen könnten
dem Klimaschutz viel mehr Unterstützung verlei-
hen als der bisher dominante Diskurs, der stark an
einer bürokratischen Berechnungs- und Grenz-
wertperspektive ausgerichtet ist.
Aktive sind bereits auf allen Ebenen zu finden – in
Dörfern und Städten, unter Armen und Wohlha-
benden, in der Verwaltung und der Zivilgesell-
schaft, in Betrieben, Initiativen, Selbsthilfegrup-
pen und Netzwerken. Damit wird auch der zent-
rale Gedanke der 17 UN-Entwicklungsziele greif-
barer: „Niemand soll zurückgelassen werden.“
20 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Anders gesagt: Es kommt auf jede und jeden an –
und das nicht als passive*r Empfänger*in von Al-
mosen oder Hilfsprogrammen, sondern als Mitge-
stalter*in. Die Aussicht, sich an wünschenswerten
Entwicklungsprozessen beteiligen und die je eige-
nen Kompetenzen und Erfahrungen einbringen
zu können, regt Selbstdenken und Verantwor-
tungsübernahme an und stärkt die Demokratie.
Zur Verbreitung solcher Ansätze bedarf es nicht in
erster Linie klassischer Medien wie Zeitungen,
Zeitschriften und Fernsehsender, deren nach-
richtliche Themenauswahl sich überwiegend an
Kriterien wie Aktualität von Ereignissen, Kritik an
politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen,
spektakulären Bildern, Beteiligung von Promi-
nenten, Exklusivität und Skandalisierbarkeit aus-
richtet. Vielmehr erscheint es sinnvoll, neue
Formen, Formate und Verbreitungswege für
derartige Informationen über Projekte und inno-
vative Ansätze zu suchen. Warum nicht in den
Wartebereichen von Einwohnermeldeämtern
oder Arbeitsagenturen Videos zeigen? In Rathäu-
sern oder Kulturzentren könnten langsam rotie-
rende Ausstellungen hängen, bei denen jede
Woche ein neues gutes Beispiel hinzukommt und
ein schon seit längerer Zeit gezeigtes verschwin-
det. Auch Comics, Bildergeschichten und Exkur-
sionen, Betriebs- und Schulausflüge oder Vernet-
zungstreffen, neuartige Messen oder Datenban-
ken könnten sinnvoll sein, um die Verbreitung
entsprechender Informationen zu unterstützen.
2. Beispiele für kreative Kommunikationsformate
Eine kurze Geschichte der Erde
Es ist etwa 4.600.000.000 Jahre her, dass die Erde entstanden ist. In der Anfangszeit landeten noch viele Meteo-
riten auf unserem Planeten, inzwischen passiert das äußerst selten – und so kommt kein neues Material auf die
Erde.
Irgendwann entstanden die ersten Mikroben. Nach und nach wurde das Leben immer vielfältiger und bunter.
Was in der belebten Natur passiert ist eine Art permanentes Upcycling: Vorhandenes Material wird allein mit Hilfe
der Sonnenenergie immer und immer wieder genutzt und ständig umgebaut. Dabei entstehen zunehmend kom-
plexe Wesen und Lebensräume. Müll gibt es nicht: Was das eine Wesen ausscheidet, ist Existenzgrundlage für
andere. Das Wasser bleibt in dieser vernetzten Kreislaufwirtschaft immer sauber. Schon seit etwa 3.300.000.000
Jahren funktioniert das so und kann deshalb wohl als erfolgreich gelten.
Die menschliche Wachstumswirtschaft existiert dagegen erst seit etwa 150 bis 200 Jahren. Sie ist aufgebaut nach
dem Prinzip „Einbahnstraße-Sackgasse“: Kohle, Öl, Metalle und Mineralien werden ausgegraben, zu Produkten
verarbeitet und nach der Nutzungsphase sind sie Müll, der für andere Wesen oft hochgradig giftig ist. Auch Was-
ser ist inzwischen in vielen Regionen lebensbedrohlich verschmutzt. Viele Tier- und Pflanzenarten sind bereits
ausgestorben, und so verschwinden auch die Lebensgrundlagen für andere – ein rasanter Downcyclingprozess.
Der menschliche Produktions- und Verbrauchsprozess läuft immer schneller und schneller ab und verwandelt in
zunehmendem Tempo Rohstoffe in Müll. Dass das auf Dauer nicht funktionieren kann, versteht jede*r Grund-
schüler*in. So weiterzumachen wie bisher heißt nicht nur, dass bald kein Material mehr auffindbar sein wird, um
neue Smartphones zu bauen. Die Vergiftung von Wasser, Boden und Luft vernichtet auch die Lebensgrundlagen
von Pflanzen und Tieren - und damit von uns selbst.
Kurzum: Sich die Natur untertan machen zu wollen, war keine besonders schlaue Idee. Sie sollte möglichst
schnell begraben werden. Die einzige Möglichkeit für die Menschheit, auch längerfristig dabei zu sein, besteht in
der Kooperation mit der Natur. Das muss keineswegs das Ende von Wachstum und Erfindergeist bedeuten. Die
Natur hat schließlich seit 3.300.000.000 Jahren vorgemacht, dass bei einer kleinteiligen und regional angepass-
ten Wirtschaftsweise sowohl Biomasse als auch Vielfalt ständig zunehmen können. Auch ist die Natur extrem
erfinderisch, wie Giraffe, Pimpinelle, Blutegel, Schaumzikade, Ahorn, Hallimasch und Grottenmolch belegen, um
nur einige Mitbewohner*innen zu nennen.
Die Natur wird überleben – sie ist kreativ. Ob die Menschheit längerfristig dabei sein wird, ist unsere Entschei-
dung.
21 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Autorin: Annette Jensen
Journalistin und Autorin
annette.jensen@t-online.de
3. Die Medien vom Wachstum befreien
Von: Anja Humburg | Annette Jensen | Ute Scheub |
Leonie Sontheimer | Nina Treu
Die vielfältige Debatte über eine Wachstums-
wende findet keinen Einzug in die Medienland-
schaft. Es gibt zwei Möglichkeiten mit diesem
Mangel umzugehen. Wünschenswert wäre, wenn
die etablierten Medien eine veränderte, auf die
weiter unten aufgeführten Fallstricke und Prob-
leme einer Wachstumswende abgestimmte
Berichterstattung anstreben würden. Es gibt aber
auch eine andere Strategie und zwar neue,
eigene Medien zu schaffen, die selbst die Logik
des wachstumsbasieren Wirtschaftens verlassen
und Prinzipien wie Solidarität, Commoning und
Dezentralität praktizieren.
Die AG Medien-Kommunikation der Zivilen En-
quete identifizierte drei Fallstricke, an denen die
Berichterstattung über die Debatte der Wachs-
tumswende in den etablierten Medien scheitert
und die hier als Diskussionsaufschlag dargestellt
werden:
Erstens verschließt die Medienlogik selbst oft-
mals Türen. Strukturelle Faktoren wie Platz, Zeit
und Geld schränken eine tiefgehende und umfas-
sende Berichterstattung über das komplexe
Thema Wachstum ein. Etablierte Formate und Re-
geln, führen beispielsweise dazu, dass Haltungen
und Werte der Schreibenden nicht explizit thema-
tisiert werden. Die typischen Nachrichtenfakto-
ren wie Anlass, Aktualität, Relevanz usw. werden
vom Wachstumsthema nicht immer bedient und
werden zum Ausschlusskriterium für die Bericht-
erstattung über die Wachstumswende. Die Medi-
ensprache selbst ist eingenommen beziehungs-
weise kolonialisiert von Wachstumsgedanken.
Wirtschaftliches Wachstum wird in der Regel als
etwas Gutes dargestellt beziehungsweise nicht
hinterfragt.
Zweitens ist die in der Medienberichterstattung
abgebildete Faktenbasis völlig unzulänglich. Teil-
weise bestehen unter Medienschaffenden essen-
tielle Wissenslücken über Wachstumsabhängig-
keiten und Wachstumszwänge. Es fehlt an Wissen
FUTURZWEI.Stiftung Zukunftsfähigkeit
Bei Futurzwei finden sich Geschichten des Gelingens aus dem deutschsprachigen Raum, die zeigen, dass heute
schon anderes Wirtschaften möglich ist. Die Beispiele sind vielfältig und stellen Menschen, Projekte und Betriebe
vor. Gerade weil die Beteiligten „ganz ihr Ding“ machen, sind sie hochmotiviert. https://futurzwei.org/
Das reicht von Architekt*innen, die mit Strohballen bauen (Humburg 2012) über die Putzfrau, die allergisch auf
Chemikalien reagierte und deshalb in ihrer Küche ein Rote-Bete-Putzmittel entwickelt hat (Jensen 2012) bis zum
Aussteiger bei Vattenfall, der jetzt kleine Stromproduzent*innen und -abnehmer*innen organisiert (Scheub
2012a). Ein türkischstämmiger Schuster in Berlin repariert jeden Treter (Gräf 2014), ein Chemiker stellt die Grund-
lagen seiner Profession auf den Kopf (Jensen 2013).
Wie man die Erde immer fruchtbarer macht und damit zugleich das Klima schützt, zeigen Winzer im Wallis
(Scheub 2012b). Wie man Altherrenüberzeugungen zum Privatauto überwindet, zeigen Studierende, die eine
neue Form von Carsharing entwickelt haben (Jensen 2017). Nicht alles gelingt – und kann doch ein Erfolg sein, so
wie der Versuch, die Basler Mensa auf vegetarisch umzustellen (Hansen 2017).
22 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
über vorhandene Alternativen, etwa den Com-
mons. Lösungen werden häufig zu kleinteilig
dargestellt. Doch nicht immer ist es fachliches
Wissen, das fehlt. Die vorhandene Berichterstat-
tung zeugt von einer Vermenschlichung bezie-
hungsweise Naturisierung der Wirtschaft. Eine
wiederkehrende, verzerrende Wirtschaftssprache
(z.B. „Märkte beruhigen“) verhindert den Blick auf
grundlegende Wirtschaftszusammenhänge. Es
dominieren wachstumsfreundliche Argumenta-
tionsmuster, zum Beispiel „Wachstum schafft Ar-
beitsplätze“. „Wachstum" erfährt eine positive
Konnotation, die sehr geschickt anschließt an die
menschliche Naturerfahrung des Wachstums, die
im Gehirn positiv verankert ist. Wachstum bedeu-
tete ursprünglich Pflanzenwachstum, Paradies,
Hülle und Fülle und Erntesegen. Würde man
„Wirtschaftswucherung“ schreiben, würden die
neuronalen Frames in unserem Hirn weit weniger
positiv antworten.
Die Auswirkungen von Wirtschaftswachstum auf
Umwelt und soziale Gerechtigkeit werden oft
nicht erkannt, was zu einer Fragmentierung der
Ursachen und der Lösungsansätze führt. Wachs-
tum und der Ausstieg aus dem Wachstum sind
komplex. Doch diese Komplexität geht in der
Berichterstattung unter. Wiederholt unterstellen
Autor*innen der Degrowth-Debatte fehlende Be-
weise, was häufig in der Forderung mündet, dass
die Degrowth-Ansätze erst im Großen bewiesen
werden müssen, um ernstgenommen zu werden.
In diesem Kontext erfahren die sozialen Bewe-
gungen als treibende Akteure der Wachstums-
wende eine negative Darstellung in der Bericht-
erstattung, die ihre Wirkmächtigkeit und ihre
gesellschaftliche Aufgabe verkennt. Zudem gibt
es immer noch einen starken Klimafokus in der
Berichterstattung. CO2 ist der dominierende Indi-
kator, der im Angesicht zahlreicher Umweltprob-
leme jedoch zu einer extremen und gefährlichen
Verkürzung und Verzerrung der Lage führt.
Drittens scheitert die Berichterstattung über die
Wachstumswende an dem Umgang mit Werten
und ihrer gesellschaftlichen Relevanz. So wird
etwa die Schmerzhaftigkeit, die ein ernstgenom-
mener Transformationsprozess auch mit sich
bringen wird, ausgeblendet und die potentiellen
Verlierer*innen des Wandels nicht dargestellt.
Schnell gleitet die Berichterstattung ins Moralisie-
ren. Zeigefinger-Manier und der Ökodiktatur-
Vorwurf werden häufig als K.O.-Kriterien aufge-
führt, statt genau zwischen verschiedenen
Verantwortungsbereichen und Ebenen von Ge-
rechtigkeit zu differenzieren. „Öko“ und
„Degrowth“ werden immer noch als Verzichtsde-
batte geführt, was zu einer negativen Darstellung
der Alternativen führt. Die gesellschaftspolitische
Visionslosigkeit spiegelt sich auch in den Medien
wider, statt die existierende Diversität abzubil-
den. Auch in der Berichterstattung zur Wachs-
tumswende herrscht eine Konzentration auf
bestimmte Milieus und damit eine fragmentierte
Wahrnehmung durch bestimmte Bevölkerungs-
gruppen vor.
Aus den drei Fallstricken „Medienlogik“, „Fakten-
basis“ und „Werte“ folgt ein grundsätzlicher Zwei-
fel daran, ob etablierte Medien überhaupt in der
Lage sind, anders über die Wachstumswende zu
berichten. Sie zeigen sich selbst als Teil der
industriell-kapitalistischen Gesellschaft und be-
fördern damit die Existenz eines wachstumsdo-
minierten Systems. Ein Neudenken auch der jour-
nalistischen Arbeit, ähnlich der politischen oder
der Erwerbsarbeit, ist notwendig. Wie sieht Medi-
enarbeit unter transformativen Bedingungen
aus? Welche journalistischen Fähigkeit werden
gebraucht, um wachstumsbefreit zu arbeiten?
Aus den Fragen ergeben sich einige grundlegende
Schlussfolgerungen:
1. Der Blick auf die Alternativprojekte braucht
die Verbindung zu einer größeren gesell-
schaftlichen Perspektive und muss in eine
solche eingebettet werden.
23 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
2. Die Akteure der Wachstumswende haben
viele Verbindungen zu anderen gesellschaft-
lichen Debatten und stehen in einem Kontext
mit anderen sozialen Bewegungen. Die
Transformation kommt aus der Zivilgesell-
schaft. Mittlerweile gibt es in allen gesell-
schaftlichen Bereichen Menschen, die
Degrowth voll und ganz mittragen (z.B. in
Ministerien oder Kirchen).
3. Neue Kommunikationswege und -formate
sind erforderlich. Die gängige Kommunika-
tion muss von wachstumsabhängigem Den-
ken dekolonialisiert werden.
4. Medienmacher*innen tragen die Verantwor-
tung, wachstumsunabhängig zu berichten.
Dazu gehört es auch, Komplexitäten und Un-
sicherheiten darzustellen und zu übersetzen.
Konkret ergeben sich einige Maßnahmen, um die
Medienarbeit in der Wachstumswende zu er-
möglichen:
❖ Ein Handbuch über technische und inhaltli-
che Fallstricke und Trugschlüsse aus der
status-quo-Berichterstattung und mögliche
Umgangsformen, die diese entkräften und
journalistische Alternativen aufbauen. Das
Handbuch sollte Medienschaffenden als
open source zur Verfügung gestellt werden.
❖ Entwicklung von kurzen Texten und Videos
zur Kommunikation in die Öffentlichkeit
nach dem Vorbild "story of stuff" (www.
storyofstuff.org) - wie beispielsweise eine
„story of (de)growth“
❖ Eine Plattform mit Kernargumenten und gra-
fischen Darstellungen, die die Akteursland-
schaft und die Debatte der Wachstumswende
darstellen und die notwendige „Überset-
zungsleistung“ erbringt.
❖ Weiterbildungsveranstaltungen für Journa-
list*innen.
❖ Ein Austausch zwischen klassischen Wirt-
schaftsredaktionen und Degrowth-Journa-
list*innen.
❖ Aufhänger wie G20-Gipfel-Treffen oder Ar-
beitslosenstatistiken identifizieren und nut-
zen, um ihre Wachstumsbezüge darzustellen
und andere Argumentationsmuster aufzu-
zeigen.
Dies ist ein Beitrag dazu, eine gesellschaftliche
Debatte über eine vielfältige und dringend erfor-
derliche Wachstumswende zu führen, in der auch
Medienschaffende und Journalist*innen nicht
fehlen dürfen. Bislang ist ihre Stimme kaum hör-
bar. Tragfähige Ansätze für eine andere journalis-
tische Arbeit können nur im gemeinsamen Dialog
mit Akteuren aller gesellschaftlicher Bereiche ent-
wickelt werden.
Autorinnen:
Anja Humburg
Journalistin
humburg@posteo.de
Annette Jensen
Journalistin und Autorin
Annette.Jensen@t-online.de
Ute Scheub
Journalistin und Autorin
ute.scheub@t-online.de
Leonie Sontheimer
Journalistin | Collectext
leonie.sontheimer@posteo.de
Nina Treu
Konzeptwerk Neue Ökonomie
n.treu@knoe.org
24 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
4. Kommunikation in die Politik
Von: Jana Holz
Das Feld der Postwachstumspolitik greift ein in
unterschiedliche Ressorts und Zuständigkeiten
der Politik. Das macht die Kommunikation nicht
einfach, doch ist auch eine große Gruppe von ver-
schiedenen Akteuren potenziell adressierbar – je
nach konkretem Politikvorschlag und damit ein-
hergehendem Ziel. Daraus ergibt sich die Frage:
„Wie können zivilgesellschaftliche Akteure
wachstumskritische Inhalte und entsprechende
Politikvorschläge effektiv in den politischen Pro-
zess einspeisen?“
Die Ergebnisse der folgenden Überlegungen sol-
len als Anregung zum Weiterdenken, Weiterhan-
deln und Weitermachen verstanden werden und
eine Kommunikation zwischen Zivilgesellschaft
und Politik hin zu einer Postwachstumspolitik er-
möglichen. Dabei sind zentrale Fragen:
❖ Was sind die Kernbotschaften, worin be-
steht Einigkeit (sowohl innerhalb der ver-
schiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure
als auch zwischen Zivilgesellschaft und Poli-
tik)?
❖ Was sind die Ziele der Kommunikation, wel-
che strategischen Überlegungen leiten sich
daraus ab?
❖ Wer ist die adressierte Zielgruppe?
❖ Welche Organisationen stehen hinter dem
Projekt?
❖ An welche politischen Prozesse und Pro-
jekte lässt sich anknüpfen?
❖ Welche Form von Lobbying ist dem Thema
und dem Ziel angemessen?
Lobby-Strategien könnten darin bestehen, Irri-
tationen auszulösen, persönliche Gespräche mit
Politiker*innen und Verwaltungsmitarbeitenden
in den Ministerien zu führen, diese Netzwerke
systematisch auszubauen, Möglichkeiten des
Austausches zu schaffen, konkrete und kleine
Vorschläge auszubuchstabieren und wissen-
schaftlich zu untermauern sowie darzustellen
oder ganz konkret hier und jetzt Postwachstums-
wahlprüfsteine zu formulieren. Zivilgesellschaft-
liche Organisationen könnten gemeinsam das
nötige „Hintergrundrauschen“ erzeugen, sodass
die Themen und Fragen der Wachstumswende
medial und öffentlich hörbar werden. In jedem
Fall gewinnt man in einer Allianz aus zivilgesell-
schaftlichen Akteuren an Schlagkraft. Zusammen
könnten externes Hintergrundrauschen und
interne Gespräche politische Weichen stellen.
Darüber hinaus könnte die Einbettung der wachs-
tumskritischen Aspekte in eine größere Kam-
pagne z.B. zu einer Agrar- oder Verkehrswende
diesen zu breiterer Wahrnehmung in der Öffent-
lichkeit sowie zu deren besserem Verständnis
verhelfen.
Die Zielgruppen des Lobbying sind so vielfältig
wie die möglichen Kernbotschaften. Die Verwal-
tungen und Ministerien in Bund und Ländern kön-
nen ebenso Ansprechpartner*innen sein wie Par-
lamentarier*innen und Fraktionen, politische
Stiftungen und sog. Vorfeldorganisationen (Ver-
bände etc.).
Als nächste mögliche Schritte könnten die „Poli-
tikvorschläge für eine Wirtschaft ohne Wachs-
tum“ (s. Abschnitt 1) nach verschiedenen The-
menbereichen (Schneidewind 2013) systemati-
siert werden um auszuloten, ob und inwiefern
bezüglich der einzelnen Vorschläge Einigkeit oder
eine Vielzahl von Perspektiven vorherrschen. So
könnte definiert werden, für welche Politikvor-
schläge (z.B. Staatsziel verändern oder andere
Indikatoren für Wohlstand einführen) mit einigen
wachstumskritischen Akteuren gemeinsam
Lobby gemacht werden kann. Insbesondere der
Nachhaltigkeitsdiskurs der letzten 25 Jahre kann
beim Lobbying für eine Wachstumswende
hilfreich sein. Hier lassen sich „Dos and Don'ts“
25 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
absehen. Dieses wäre ein weiteres Vorhaben, wel-
chem hier aus Platzgründen jedoch leider keine
Rechnung getragen werden kann.
Auch hier ist die zielgruppenspezifische Kommu-
nikation zentral, sowie möglichst positiv ausge-
richtete Grundbotschaften, die sich auf Begriffe
wie Lebensqualität oder sozial-ökologische
Transformation beziehen. So kann die Geschichte
des Wachstums anders erzählt werden: Wachs-
tum sollte peu à peu nicht mehr als etwas nur
Positives, sondern abhängig vom Kontext auch
mit seinen möglichen negativen Auswirkungen
auf Mensch und Natur kommuniziert werden. So
kann eine Gegenerzählung entstehen.
Autorin:
Jana Holz
Projektmitarbeiterin Fokus Wachstusmwende
holz@fokus-wachstumwende.de
© Theobald | LAG 21 NRW
26 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
III. Ausblick: Eine, zwei, viele Enquete-Kommissionen?
Wie müsste eine adäquate und Erfolg versprechende Nachfolge-Enquete zur Enquete-
Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ aussehen?
Von: Hermann Ott | Martina Eick | Rudolf Janke
Vorbemerkungen
Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bun-
destages sind einzigartige Einrichtungen im
Schnittfeld von Politik, Wissenschaft und Gesell-
schaft. Mit ihrer hälftigen Besetzung durch Mit-
glieder des Bundestages und Sachverständige
sind sie vielfach bewährte Instrumente um neue
Themen aufzugreifen, diese für den politischen
Raum nutzbar zu machen und konfliktbehaftete
Politikfelder zu diskutieren. Im Idealfall werden
im Zusammenspiel einer Vielzahl gesellschaft-
licher Akteure akzeptable Lösungen für politische
Herausforderungen erarbeitet. Vielen Enquete-
Kommissionen ist dies allerdings nicht gelungen
und sie sind ohne große gesellschaftliche oder
politische Resonanz geblieben. Dies bedeutet al-
lerdings nicht dass sie vergeblich waren: In der
Energiepolitik brauchte es z.B. mehrere Enquete-
Kommissionen in Bund und Ländern über einige
Jahrzehnte, ehe die Abkehr von der atomaren
und fossilen Energieerzeugung Eingang in den
Mainstream fand.
Deshalb konnte auch nicht erwartet werden, dass
die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohl-
stand, Lebensqualität“ (WWL, Deutscher Bundes-
tag 2013), die den Anstoß für die Gründung der
„Zivilen Enquete“ und für das unterstützende
Projekt „Fokus Wachstumswende“ bildete, alle
Fragen der „Wachstumsproblematik“ lösen
würde. Eher im Gegenteil war von vorneherein
klar, dass der gesellschaftliche und politische Pro-
zess ein langer werden würde. Es ist demnach
keine Überraschung, dass viele Fragen offen
geblieben sind. Deshalb könnte es sinnvoll sein,
einige dieser Fragen durch den nächsten Bundes-
tag (bzw. auch weitere) erforschen zu lassen. Die
Themen einer Folge-Enquete sollten hoch rele-
vant für die Wachstums- und Wohlstandsfrage
sein, eine echte Chance auf Verwirklichung haben
und schließlich auch erfolgreich bearbeitet wer-
den können.
Diese Kurzanalyse soll der Vorbereitung einer
möglichen Initiative für den nächsten Bundestag
dienen, denn erst dieser wird darüber entschei-
den. Allerdings kann durchaus auch vor der Wahl
schon mit einzelnen Abgeordneten über mögliche
Initiativen nach der Wahl gesprochen werden
(dazu mehr am Schluss). Im Folgenden sollen zu-
nächst kurz die Bedingungen für den Erfolg von
Enquete-Kommissionen analysiert werden. An-
schließend wird anhand dieser Kriterien unter-
sucht, welche Themenfelder im Nachgang der
Enquete WWL Erfolg versprechend vom nächsten
Bundestag nach den Wahlen im September 2017
eingesetzt werden können.
Kriterien für erfolgreiche Enquete-Kommissionen
Es gibt eine erfreuliche Anzahl von Enquete-Kom-
missionen der letzten zwei Jahrzehnte die, ge-
messen an ihrem Ergebnis und ihrer Wirkung für
Politik und Gesellschaft, als erfolgreich angese-
hen werden. Darunter fallen zum Beispiel die
Klima-Enquete zum Schutz der Erdatmosphäre
(1987-1990), die Bioethik/Medizin-Enquete (2000-
2005), die Enquete zur Zukunft des bürgerschaft-
lichen Engagements (1999-2002) sowie die En-
quete zur Kulturpolitik in Deutschland (2003-
2007).
27 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Bei der Durchsicht fällt auf, dass eine Hauptbedin-
gung für den Erfolg oder Misserfolg von Enquete-
Kommissionen eine weitgehend einvernehmliche
Arbeitsweise ist: Wenn eine Verabschiedung des
Endberichts im Konsens aller Fraktionen gelingt,
so ist dies ein Indikator für eine fruchtbare Zu-
sammenarbeit und die beste Voraussetzung für
eine gesellschaftliche Akzeptanz bzw. die politi-
sche Weiterführung dieses Konsenses. Umge-
kehrt gilt, dass im Normalfall ein im Wesentlichen
streitiger Bericht keine Wirkung entfalten wird
(wie bei der Enquete-Kommission zur Globalisie-
rung der Weltwirtschaft von 1999-2002).
Im Falle der Enquete „Wachstum, Wohlstand, Le-
bensqualität“ ist die Bilanz gemischt (Soetebeer
2014): Der Großteil des Berichts ist streitig verab-
schiedet worden und die allgemeine Wirkung des-
halb gering. Allerdings zeichnet sich der Teilbe-
richt 3, also die Frage nach der Entkopplung von
Wirtschaften und Ressourcenverbrauch, durch
ein hohes Maß an Konsens in der Analyse aus (Ott
2013). Dieser Konsens wirkt weiter und wird durch
viele beteiligte Mitglieder auch weiter getragen.
Nicht zuletzt sind auch die „Zivile Enquete“ und
das Projekt „Fokus Wachstumswende“ ein Ergeb-
nis dieses Prozesses (bzw. eines fehlenden Folge-
prozesses in Bundestag und Bundesregierung).
Demgemäß stellt sich die Frage, welche Beding-
ungen ein einvernehmliches Ergebnis begünsti-
gen. Förderlich ist natürlich zunächst eine Einset-
zung der Kommission im Konsens bzw. durch eine
Mehrheit. Das Recht zur Einsetzung einer Enquete
ist gemäß §56 der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages ein Minderheitenrecht: Be-
reits ein Viertel der Mitglieder des Bundestages
kann eine Einsetzung erzwingen. Da die Größe der
Kommission und ihre Ausstattung jedoch von der
Mehrheit des Bundestages bestimmt wird, ist eine
Einsetzung mit großer Mehrheit des Hauses die
Regel. Bei der Enquete WWL wurde die grundsätz-
liche Entscheidung für eine solche Kommission
von Bündnis 90/Die Grünen und SPD getroffen
(also zusammen mehr als ein Viertel der Abgeord-
neten), danach allerdings der Antrag den Vorstel-
lungen der Regierungsfraktionen CDU/CSU und
FDP angepasst (weil sonst die Kommission mit
einer Minimalbesetzung von neun bzw. achtzehn
Mitgliedern hätte auskommen müssen). Insofern
war zwar die Einsetzung einvernehmlich erfolgt
(auch die Fraktion Die Linke hätte zugestimmt,
wenn man sie gelassen hätte). Das Hauptinte-
resse lag jedoch eindeutig bei der Opposition,
was die Verhandlungen von Beginn an geprägt
hat (vgl. Ott 2013). Für eine Erfolg versprechende
Folgekommission wäre es deshalb sinnvoll, einen
Themenbereich zu wählen, dessen Bearbeitung
von allen Fraktionen unterstützt wird.
Neben einer klaren Aufgabenstellung des Einset-
zungsbeschlusses ist eine möglichst große Nähe
des Themas zum ‚normalen’ politischen Prozess
hilfreich, unter anderem weil dies eine bessere
mediale Resonanz ermöglicht. Je höher die
gesellschaftliche und politische Anteilnahme,
desto größer ist auch die Chance auf einen guten
Abschluss. Sie ist auch wichtig, um fähige Abge-
ordnete anzuziehen, weil Parlamentarier*innen
darauf angewiesen sind, mit ihrer Arbeit auch
wahrgenommen zu werden. Nicht zuletzt ist für
den Erfolg einer Enquete auch die mentale Ein-
stellung der Mitglieder entscheidend – ob also bei
den Mitgliedern ein Erkenntnisinteresse und ein
Bedürfnis nach Kooperation bestehen oder nicht.
Gemeinsamkeiten müssen nach vorne gestellt
werden und die Erarbeitung der Themen sollte
diskursiv und nicht konfrontativ erfolgen. Diese
Einstellungen und Arbeitsweisen werden in ho-
hem Maße durch die Vorsitzenden gestärkt oder
abgeschwächt – eine Kommission sollte daher
möglichst von unabhängigen, starken und aus-
gleichenden Vorsitzenden geführt werden.
28 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Eine neue Enquete „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
qualität“?
Unter der Annahme, dass in der Enquete-Kom-
mission der letzten Legislaturperiode nicht alle
Fragen bezüglich des Komplexes „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ geklärt worden sind,
wäre zu untersuchen, welche Fragen dieses The-
menfeldes noch einmal vertiefend oder sogar
zum ersten Mal vom nächsten Bundestag erörtert
werden sollten. Zunächst jedoch muss eine
einfache Frage geklärt werden: Wäre es nicht
sinnvoll, durch eine neue Enquete mit ähnlichem
Auftrag diesen Komplex noch einmal untersuchen
zu lassen?
Die Antwort lautet vermutlich „ja“, wenn man den
Begriff ‚sinnvoll’ auf die grundsätzliche Sinnhaf-
tigkeit einer solchen Untersuchung anwendet. Al-
lerdings wären die Aussichten auf Einsetzung ei-
ner echten Folgekommission (anders als es z.B.
im Falle der Kommission zum Schutz der Erd-
atmosphäre von 1990 der Fall gewesen ist) nicht
besonders rosig, denn die Grundbedingungen
haben sich entscheidend geändert. 2010 war die
Welt noch geschockt von der Finanzkrise, in der
sich vormals unzerstörbar geglaubte Finanz-
Institutionen plötzlich als extrem verwundbar
erwiesen hatten. Dies führte einerseits zu einem
gewissen Zweifel an den wirtschaftlichen Grund-
lagen unserer Zivilisation. Auch meldeten sich
grundsätzliche Zweifel am ungebrochenen Fort-
schrittsglauben (insbesondere bei der SPD).
Andererseits hatte die Banken- und Finanzkrise
auch zu einer gewissen Beunruhigung hinsicht-
lich anderer, als sicher geltenden Systeme ge-
führt: die ökologischen Krisen bedrohten nach
Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen nicht nur die
wirtschaftliche, sondern auch die Lebensgrund-
lage unserer Spezies Mensch insgesamt. Aus die-
ser Gemengelage an Interessen ist die Enquete
1 Eine Zusammenstellung der offenen Forschungsfra-
gen (ebenso wie eine ‚best of’ – Zusammenstellung
von 150 Seiten des Enquete-Berichts) findet sich auf
WWL entstanden. Mittlerweile allerdings (und
auch schon bei Abschluss des Berichts 2013) ist
‚Ruhe’ eingekehrt, business-as-usual, die Angst ist
gewichen und „Wachstum“ wieder zum Mantra
der Politik geworden – in Deutschland, Europa
und global.
Als nächstes wäre deshalb zu untersuchen, ob
nicht statt des gesamten Themenkomplexes
gewisse Teilbereiche des Wachstums- und Wohl-
standsthemas durch eine neue Enquete-Kommis-
sion weitergeführt werden könnten und sollten.
Eine Einschränkung der Themenbreite muss nicht
schlecht sein, denn eine Schwierigkeit der En-
quete WWL bestand ja gerade in der ungeheuren
Vielfalt und Komplexität des Themas.
Im Folgenden werden mögliche Themenfelder für
eine zukünftige Enquete kurz erörtert: Ressour-
cenpolitik, die Zukunft der sozialen Sicherungs-
systeme sowie die Zukunft der Arbeit. Auch eine
Enquete zum Finanz- und Geldssystem wurde in
der Arbeitsgruppe diskutiert, ist jedoch als sehr
unwahrscheinlich nicht ausgearbeitet worden.
Eine Enquete zur Ressourcenpolitik?
Bei den in der „Zivilen Enquete“ versammelten
Menschen stehen die externen Grenzen des
Wachstums im Vordergrund. Es soll demnach zu-
erst gefragt werden, ob vielleicht eine Enquete
zum Thema „Ressourcenpolitik“ erfolgreich lan-
ciert werden könnte. Die Enquete „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ hat in diesem Be-
reich zumindest in der Analyse der Problematik
eine sehr gute Vorarbeit geleistet, an die ohne
Probleme angeknüpft werden könnte (Ott 2013,
2014). Auch offene Fragestellungen sind detail-
liert benannt (Deutscher Bundestag 2013, S. 406f,
416, 430, 454, 514f).1
Hier würden die Themen „planetare Grenzen“, die
Verfügbarkeit von Ressourcen, die Chancen einer
der Webseite des Autors: https://hermann-e-
ott.de/cms/category/wachstum-wohlstand/.
29 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
circular economy, Suffizienz und die Regionalisie-
rung von Stoffkreisläufen angesprochen und es
bestünde mithin ein direkter Bezug zur Post-
wachstumsdebatte. Auch könnte unmittelbar an
reale wirtschaftliche Prozesse wie die Verfügbar-
keit von kritischen Rohstoffen und dem bevorste-
henden Strukturwandel im Bereich der fossilen
Energieerzeugung und deren Nutzung ange-
knüpft werden. Ferner agieren in diesem Bereich
starke zivilgesellschaftliche Akteure, die das
Thema auf die Tagesordnung setzen und für einen
starken medialen Widerhall sorgen könnten.
Allerdings ist im Moment die Sensibilität von
Öffentlichkeit und Politik für das Ressourcen-
thema nicht besonders ausgeprägt: Der Ölpreis
hält sich auf relativ hohem Niveau aber steigt
nicht und die Aufregung um so genannte ‚kriti-
sche’ Rohstoffe hat sich weitgehend gelegt. Inso-
fern fehlt es im Moment an politischen Debatten,
an die angeknüpft werden könnte. Allerdings
könnte, abhängig von der Zusammensetzung des
nächsten Bundestages, eine starke Minderheit
eine solche Enquete nichtsdestotrotz durchset-
zen. Es käme demnach darauf an, nach der Wahl
eine entsprechende Formulierung bereits in ei-
nen Koalitionsvertrag zu schreiben oder, im Falle
eines Minderheitsantrags, eine entsprechende
‚Koalition der Willigen’ zu schmieden. Dies könnte
schon in dieser Legislaturperiode mit möglicher-
weise interessierten Abgeordneten beginnen.
Eine Enquete zur Zukunft der sozialen Sicherungssys-
teme?
Im Folgenden sollen zwei mögliche Themen für
eine Folge-Enquete vorgestellt werden, die sehr
ähnlich sind und im Grunde dieselbe Problematik
von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus be-
leuchten: Die Zukunft der sozialen Sicherungssys-
teme und die Zukunft der Arbeit. Beide sollen kurz
skizziert werden und beide sind gleichermaßen
geeignet als Kandidaten für eine Enquete des
nächsten Bundestages.
Die „Zukunft der sozialen Sicherungssysteme“
behandelt eines der zentralen Themen jedweder
Postwachstumsagenda. Denn eine Politik jenseits
des Wachstums wird – ganz abgesehen von der
Grundschwierigkeit sich ein solches Wirtschafts-
system vorzustellen – häufig vor allem deshalb als
praktisch unmöglich eingeschätzt, weil die sozia-
len Sicherungssysteme ohne ökonomisches
„Wachstum“ (also Wachstum des Bruttoinlands-
produkts, BIP) nicht finanzierbar seien. Die Ab-
koppelung des Sozialsystems von Konjunktur
und BIP ist deshalb auch zentrale Voraussetzung
jeder Postwachstumspolitik. Hier hat die Enquete
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eine
ernsthafte Auseinandersetzung vermieden.
Gleichzeitig herrscht auch unabhängig von der
Wachstumsfrage ein großer Problemdruck, da die
Grenzen des bisherigen Umlagesystems schon
seit vielen Jahren sichtbar sind: Zusätzlich zum
demographischen Wandel, wo z.B. in der Renten-
kasse immer weniger Arbeitnehmer*innen immer
mehr Empfänger*innen bedienen müssen, wo die
Kosten der deutschen Einheit im Wesentlichen
aus den Sozialkassen finanziert worden sind,
kommen immer stärker die Herausforderungen
der „Industrie 4.0“ in den Blick.
Die zunehmende Roboterisierung der manuellen
Arbeit (Stichwort: autonom fahrender Lieferver-
kehr) und die ‚Algorithmisierung’ geistiger Arbeit
in den staatlichen und privaten Verwaltungen, im
Journalismus und sogar in der Wissenschaft wer-
den zu einer Gefahr für den sozialen Frieden in
bisher nicht vorstellbarer Weise. Ideen wie die des
bedingungslosen Grundeinkommens werden
heute auch von Unternehmer*innen und eher
wirtschaftsnahen Kommentator*innen ins Spiel
gebracht, ebenso eine mögliche Finanzierung
über eine Maschinensteuer. Aus all diesen Grün-
den ist das allgemeine Interesse an diesem
Thema bei allen Parteien bzw. Fraktionen groß. Es
mögen unterschiedliche Motive und Lösungsvor-
stellungen hinter diesem Interesse stehen, aber
diese können sich im Einsetzungsbeschluss für
30 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
eine Enquete sehr gut wiederfinden. Gleichzeitig
ist gesichert, dass eine Befassung mit diesem
Thema immer genügend Bezüge zum täglichen
Politikgeschäft aufweist und insofern reizvoll für
Parlamentarier*innen ist. Die gesellschaftlichen
bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure sind zahl-
reich und zum Teil sehr einflussreich, was für eine
große Resonanz in der Gesellschaft sorgen würde.
Als negativ könnte sich auswirken, dass die De-
batte um die sozialen Sicherungssysteme hoch-
gradig ideologisch besetzt ist und deshalb in Ge-
fahr gerät, in den Sog aktueller politischer Debat-
ten hineingezogen zu werden. Die Nähe zur aktu-
ellen Politik hätte deshalb neben dem positiven
Impuls für die Einrichtung einer solchen Enquete
auch negative Aspekte hinsichtlich der Erfolgs-
chancen. Auch ist die internationale Dimension
nicht so einfach zu erschließen – allerdings zeich-
nen sich Enquete-Kommissionen selten durch
einen globalen Blickwinkel aus, auch die Enquete
WWL war hier keine Ausnahme. Insgesamt spricht
also sehr viel dafür, dass eine solche Enquete-
Kommission nicht nur eine Minderheit finden
würde um sie einzurichten, sondern sogar von der
Mehrheit der zukünftigen Fraktionen im Deut-
schen Bundestag befürwortet würde.
Eine Enquete zur Zukunft der Arbeit?
Sehr ähnliche Argumente können auch für und
wider eine Enquete zur „Zukunft der Arbeit“ ange-
führt werden: Für die Möglichkeit einer Einrich-
tung durch den Bundestag sprechen der hohe
Problemdruck durch die rasanten technischen
Entwicklungen, die enge Anbindung an aktuelle
politische Debatten, die Gefahr der Arbeitslosig-
keit großer Teile der Erwerbsbevölkerung und ein
damit evtl. einhergehender zunehmender Rechts-
populismus und Nationalismus sowie das große
Interesse starker und gut vernetzter gesellschaft-
licher Akteure (Gewerkschaften, Arbeitgeber*
innenvereinigungen, Sozial- und Wohlfahrtsver-
bände). Hinzu kommt die Nähe zu realen gesell-
schaftlichen Entwicklungen und einem funda-
mentalen Wertewandel, wie er sich im Wunsch
nach Entschleunigung, besserer Vereinbarkeit
von Familie und Beruf und einer Aufwertung von
Care- und Familienarbeit etc. ausdrückt.
Auch von Seiten der Ökologie bzw. des Ressour-
censchutzes besteht ein hohes Interesse an der
gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, zum
Beispiel bei der Frage ob weniger Arbeit zu mehr
Autarkie, zu weniger Produktion, weniger Materi-
aldurchsatz und evtl. zu suffizienteren Lebens-
stilen führt, wie es von manchen Postwachstums-
denker*innen postuliert wird. Hinsichtlich der
Sozialpolitik ist die Frage nach der Arbeit nur die
Kehrseite der Medaille – auch die Zukunft der so-
zialen Sicherungssysteme müsste bei der Frage
nach der Zukunft der Arbeit mitgedacht werden
(wie umgekehrt übrigens auch). Die philosophi-
sche, gesellschaftspolitische und nicht zuletzt re-
ligiöse und spirituelle Rahmung dieser Fragen
(„Wie wollen wir leben? Wodurch bekommen wir
Anerkennung und Wertschätzung?“) würden für
eine lebhafte gesellschaftliche Debatte von er-
heblicher Relevanz sorgen.
Als negativ könnte sich erweisen, dass auch für
diese Enquete die Komplexität und Vielschichtig-
keit der Materie eine Herausforderung wäre.
Natürlich könnte die Fragestellung – ebenso bei
den Sozialsystemen – präzisiert werden. Anderer-
seits darf die Fragestellung nicht zu eng geführt
werden – es sollte z.B. vermieden werden, nur die
eher ‚technischen’ Aspekte zu behandeln, son-
dern gerade auch die Frage nach dem ‚Sinn’ von
Arbeit zu stellen. Es gilt, wie bei der vorherigen
Fragestellung auch, dass dieses Thema stark
ideologisch besetzt ist, was eine kooperative Her-
angehensweise erschwert. Der Bezug zu den
ökologischen Fragen müsste sehr deutlich im Ein-
setzungsbeschluss hergestellt werden.
31 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
Schlussfolgerungen
Es bestehen also gute Voraussetzungen dafür,
dass der nächste Bundestag eine Enquete-
Kommission zur Zukunft der sozialen Sicherungs-
systeme oder zur Zukunft der Arbeit einsetzen
könnte. Die Themen sind ‚heiß’, der Problem-
druck ist hoch, die gesellschaftlichen Akteure sind
zahl- und einflussreich und fast alle zukünftigen
Fraktionen werden ein großes Interesse an der
Lösung mancher einschlägiger Fragen haben.
Zwischen den beiden Komplexen ist eine Ent-
scheidung schwierig, jedoch haben die Verfas-
ser*innen eine Präferenz für eine Enquete zum
Thema ‚Arbeit’, verstanden in einem umfassen-
den Sinne auch als Frage nach dem Sinn des Ar-
beitens und dem was Wohlstand und Gutes Leben
auszeichnet (über den Bericht der Bundesregie-
rung zur Lebensqualität in Deutschland hinaus,
vgl. Bundesregierung 2016).
Ein Kompromiss könnte auch in der Verbindung
beider Themen bestehen (mit dann natürlich
noch deutlicherer Komplexität). Mit einer derarti-
gen Kommission bestünde in jedem Fall die
Chance, eine große Leerstelle der Enquete
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ zu
füllen, Wachstumszwänge zu mindern und die Ge-
sellschaft insgesamt resilienter gegen zu erwar-
tende externe Schocks zu machen.
Eine Enquete zur Ressourcenpolitik erscheint im
Moment nicht sehr aussichtsreich, wenn sich
nicht im nächsten Jahr der Problemdruck extrem
erhöht. Allerdings bestünde hier die Chance einer
fraktionsübergreifenden Allianz, die nach der
Wahl auf eine Aufnahme einer Ressourcen-
Enquete in den Koalitionsvertrag drängt oder das
Thema als oppositionellen Minderheitenantrag in
den Bundestag bringt.
In jedem Fall aber gilt, dass diese Enquete-
Kommissionen nicht von allein kommen werden,
sondern Treiber innerhalb des Bundestages brau-
chen. Es sind also Gespräche schon vor der Wahl
angezeigt, um die Chancen für die verschiedenen
Modelle auszuloten und die Abgeordneten zu sen-
sibilisieren. Die Wahrscheinlichkeit zur Einset-
zung erhöht sich signifikant, wenn es gelänge, die
Fraktionsspitzen für eine solche Idee zu gewin-
nen. Dies gilt natürlich vor allem nach der Wahl
und bei der Verhandlung des Koalitionsvertrages.
Doch auch vor der Wahl kann in vielen Fällen
schon mit einiger Sicherheit abgeschätzt werden,
wer von den Mitgliedern einer Fraktionsführung
auch im nächsten Bundestag bzw. der Fraktions-
spitze sein wird. Diese sollten bereits sehr kurz-
fristig auf die Idee einer Enquete zur Zukunft der
Arbeit angesprochen werden.
Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission zur
Ressourcenpolitik, zur Zukunft der Arbeit oder
der sozialen Sicherungssysteme würde der Bun-
destag wieder zu einer Plattform werden, auf der
zentrale Zukunftsfragen unserer Gesellschaft
öffentlich verhandelt werden können. Wo also
gestritten, geforscht und sich vielleicht auch geei-
nigt wird. Gleichzeitig würde dies einem weiteren
Ziel der Zivilen Enquete und dieser Broschüre ent-
gegenkommen, nämlich die Anliegen wichtiger
und jüngerer Teile der Gesellschaft an einer Wirt-
schaft jenseits der Wachstumszwänge in die Poli-
tik zu tragen. Und weniges braucht unsere Demo-
kratie mehr als eine bessere Verzahnung von
Gesellschaft und Politik. In diesem Sinne dient
das Ringen um die bessere Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung nicht nur der Erhaltung
unserer Lebensgrundlagen, sondern auch der
Stärkung des sozialen und politischen Zusam-
menhalts unserer Gesellschaft.
Autor*innen:
Hermann Ott | Wuppertal Institut |
hermann.ott@wupperinst.org
Martina Eick | Umweltbundesamt |
martina.eick@uba.de
Rudolf Janke | Liberia Freunde e.V.
32 POSTWACHSTUMSPOLITIK – WOHLSTAND UND LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE
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© Theobald | LAG 21 NRW
Impressum
Entstanden im Projekt „Fokus Wachstumswende“: www.fokus-wachstumswende.de
im Rahmen der „Zivilen Enquete Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
Veröffentlicht im Juli 2017
Herausgeber: Förderverein Wachstumswende e.V. | c/0 Andreas Siemoneit | Schlesische Straße 32 | 10997 Berlin
www.wachstumswende.org | info@wachstumswende.de
Projektverantwortliche und V.i.S.d.P.: Miriam Boschmann | boschmann@fokus-wachstumswende.de
Ansprechpartner für die Zivile Enquete: Prof. Dr. Hermann Ott | hermann.ott@wupperinst.org
Redaktion: Miriam Boschmann, Jana Holz, Nora Lust, Prof. Dr. Hermann Ott
Autor*innen2:
Miriam Boschmann
Martina Eick
Gerolf Hanke
Elena Hofmann
Jana Holz
Anja Humburg
Rudolf Janke
Theresa Klostermeyer
Kai Kuhnhenn
Dr. Steffen Lange
Wolfgang Lührsen
Nora Lust
Prof. Dr. Hermann Ott
Dieses Projekt wurde gefördert durch das UBA und BMUB.
Die Verantwortung für den Inhalt dieserVeröffentlichung liegt bei den Autor*innen.
2 An der Erarbeitung der Inhalte der Broschüre haben weitaus mehr Menschen mitgewirkt, als hier als Autor*innen genannt werden.
Die hier genannten Personen sind nur diejenigen, die die Beiträge zu dieser Broschüre verfasst haben. Die Autor*innen haben das
Papier in ihrer persönlichen Eigenschaft verfasst. Die Inhalte des Papiers stimmen daher nicht automatisch mit der offiziellen Mei-
nung der Organisationen überein. Viele weitere Mitglieder des Netzwerks haben durch Feedback an dem Papier mitgewirkt. Hier
werden jedoch nur die Hauptverfasser*innen namentlich aufgelistet.
Graphische Gestaltung: Laura Theuer, Jana Holz
Copyright: © Fokus Wachstumswende
Druck: DDZ Digital-Druck-Zentrum GmbH
Berlin | Juli 2017
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