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ZHAW Psychologisches Institut
Definitionen von Gesundheit – Folgen für die PraxisMontag, 25.2.2019, Welle 7 Bern
Psychische Gesundheit:Wie Paradigmen die Versorgung prägen
Prof. Dr. Agnes von Wyl
ZHAW Psychologisches Institut
Brief von Schiller an Goethe
Jena, den 7. September 1794
Mit Freuden nehme ich Ihre gütige Einladung nach W. an, doch mit der ernstlichen Bitte, dass Sie keinem einzigen Stück Ihrer häuslichen Ordnung auf mich rechnen mögen, denn leider nöthigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe lassen, und überhaupt wird es mir nie so gut, auch den Tag über auf eine bestimmte Stunde sicher zählen zu dürfen. Sie werden mir also erlauben, mich in Ihrem Hause als einen völlig Fremden zu betrachten, auf den nicht geachtet wird, und dadurch, dass ich mich ganz isoliere, der Verlegenheit zu entgehen, jemand anders von meinem Befinden abhängen zu lassen. Die Ordnung, die jedem andern Menschen wohl macht, ist mein gefährlichster Feind, denn ich darf nur in einer bestimmten Zeit etwas Bestimmtes vornehmen müssen, so bin ich sicher, dass es mir nicht möglich sein wird.Entschuldigen Sie diese Präliminarien, die ich nothwendigerweise vorhergehen lassen musste, um meine Existenz bei Ihnen auch nur möglich machen. Ich bitte bloss um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen.
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«La cura es el ser de la cultura.» Fernando Pages Larraya
Jede Kultur bringt die ihr entsprechenden Modelle des Menschen hervor. Was unter «Heilung» und «Heil» verstanden wird, ist ein Ausdruck der Kultur und charakterisiert auch die Kultur.
Nach Scharfetter, 1999
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Was erwartet Sie?
– Medizinisches Paradigma der Psychiatrie vs. antipsychiatrisches Paradigma
– Geschichte der Psychiatrie seit dem 18. Jh.– Wie zeigt sich das in der Versorgungsentwicklung?– Krankheitsbild Melancholie / Depression / Trauer
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Das medizinische Paradigma in der Psychiatrie1. Die Existenz von psychischen Krankheiten wird anerkannt
2. Krankheit bedeutet:– Infirmität (also nicht mehr können)– Dysfunktionalität (Versagen)– Leiden (ohne direktes absichtliches eigenes Verschulden)
3. Soziale Dimension von Krankheit:– Krankenrolle offeriert Privilegien und Verpflichtungen
4. Ethischer Kodex für Krankheit, für Kranke, für den Heiler, für die Gesellschaft:– Ist enthalten in der sozialen Dimension von Krankheit
5. Ursache und Entwicklung von Krankheiten:– Erklärungsmodelle und Theorien, die sich auch widersprechen können und
die wissenschaftlich überprüft werden können
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Medizinisches Paradigma vs. Antipsychiatrisches ParadigmaMedizinisches Paradigma– Es gibt psychische Krankheiten, mit der implizierten Zuteilung einer Krankenrolle
mit speziellen Privilegien aber auch impliziten Verpflichtungen
Antipsychiatrisches Paradigma– Psychische Krankheiten sind soziale Artefakte, Etikettierungen, um missliebige
Mitglieder der Gesellschaft auszustossen. – Ist damit der/die Betroffene auch verantwortlich für sein Handeln?– Vor allem in den 60er/70er Jahren viel diskutiert– Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 1961– Franco Basaglia: machte in den 60er und 70er Jahren auf die Zustände in den
italienischen «Irrenanstalten» aufmerksam und erwirkte 1978 in Italien die Abschaffung der psychiatrischen Anstalten
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Geschichte der Psychiatrie 18. Jh.18. Jahrhundert: Epoche der Aufklärung– Hospitäler, z.B. Hôpital général Salpêtrière in Paris– Mischung aus Armenhaus, Gefängnis, Obdachlosenasyl, Waisenhaus und
psychiatrischer Klinik– Anstrengung, Psychiatrie als medizinische Wissenschaft zu etablieren– Psychiatrische Patienten als Personen ernst nehmen– PatientInnen aus Dunstkreis von Hexenglaube und aus ihrer gesellschaftlichen
Randposition herauslösen– «Befreiung der Geisteskranken aus ihren Ketten»– Deskriptive Nosographie: Krankheitsbeschreibungen psychiatrischer Störformen– «Therapeutische» Verfahren: z.B. Drehstuhl
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Geschichte der Psychiatrie 19. Jh.19. Jahrhundert– Fachdisziplin Psychiatrie entsteht, erste psychiatrische Anstalten– «Romantische Psychiatrie» vorwiegend im deutschen Sprachraum: Interesse
am Unverständlichen und Unvernünftigen– Nosologie wurde wichtig: Versuch, Krankheitseinheiten zu entdecken,
voneinander abzutrennen, in Beziehung zu setzen– Konzept der Einheitspsychose: es gibt nur eine psychische Störung vs. viele
verschiedene Psychosen
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts:– Naturwissenschaftliche Fortschritte: Neuroanatomie– Behandlung: erstmals «talking cure»
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Geschichte der Psychiatrie 20. Jh.Erste Hälfte 20. Jahrhundert– Um 1900: Emil Kraepelin mit seiner bis heute dominierenden Nosologie – Später: Diagnostiksysteme: ICD der WHO und DSM der American Psychiatric
Association: verbesserten internationale Übereinstimmungen der Diagnosen– Anstaltspsychiatrie: heilender und pflegender Lebensraum, abgeschottet zwar,
aber human– Integration der Psychotherapie in die Psychiatrie
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Geschichte der Psychiatrie zweite Hälfte 20. Jh.Psychopharmaka– Entdeckung psychotroper Wirkung zahlreicher Substanzen in den 50er Jahren
Sozialpsychiatrie: ab 60er/70er Jahre– Heilende Wirkung psychiatrischen Engagements ausserhalb der Anstalten– Abbau von Psychiatriebetten– Eher ideologiegeleitet und z.B. auf die Einführung der IV angewiesen– Hintergrund: Antipsychiatrie / Bio-psycho-soziales Modell
Integrierte Versorgung: z.B. ab 2001 Region Winterthur (ipw)– Psychiatrieversorgung wird versachlicht, evidenzbasiert, datengelenkt– Besser, flexibler und umfassender organisiert– «Balanced Care» von allen möglichen Settings und Prozessen zwischen
ambulant und stationär
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21. JahrhundertBiologische Psychiatrie– Neurowissenschaften im Zentrum der Forschung – Körper in Bezug auf Krankheitsursache und Behandlungsansatz wichtig
Ökonomische Perspektive– Ökonomische Perspektive bestimmt weiterhin die Behandlung
Stärkung der Patientenrolle- Empowerment
Entstigmatisierung- Psychotherapeutische Behandlungen sind selbstverständlicher geworden (z.B.
Akzeptanz von Burnout)
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Anstalts-ära
Sozial-psychiatrie
Integrierte Psychiatrie
«Revolutionsstufen» der PsychiatrieversorgungTalbott JA: Deinstitutionalization, emergency services and the third revolution in mental health services in the United States. 1998Talbott JA, Hales RE (Ed.): Administrative Psychiatry, 2001 (2nd Ed.)
Versorgungsentwicklung Kanton Zürich
Andreae, 2010
www.ipw.zh.ch | 13Andreae Schizophrenie-Versorgung 25.05.2013
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Bette
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Fälle
Versorgungsentwicklung Kanton Zürich
Einwohner ZH in Tsd.
Eintritte Schizophrenie
Betten Kliniken
Betten Wohnheime
www.ipw.zh.ch | 14
0100200300400500600700800900
Betten
1982 1992 2000 2007 2011
F0 F1 F2 F3 F4-6 Rest
Betten/Dx Psych. Kliniken Kanton Zürich 1982-2011
Schizophrenie
Affektive Störungen
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www.ipw.zh.ch | 16Andreae Schizophrenie-Versorgung 25.05.2013
2010Schizophrenie (F20)and. psychot. Stör. (F21-29)
Affektive Stör. (F3)
Neurot., Pers. Stör. etc. (F4-9)Hirnorg. Stör. (F0)
Alkoholabh. (F10)
Abhäng. and. Subst. (F11-19)
Versorgungsentwicklung Kanton Zürich
Lay, B., Nordt, C., Rössler, W.,: Schizophrenia Research 2007 / Kenndaten Gesundheitdirektion ZH 2010 / Psyrec 2010
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Hopitalisierungen aufgrund psychischer Erkrankungen, 2012–2016
ZHAW Psychologisches Institut 18
PatientInnen in ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen, 2006-2016
ZHAW Psychologisches Institut 19
Konsultationen in der ambulanten Spitalpsychiatrie, 2006-2016
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Aristoteles– Melancholie, Leidensform besonders
begabter Menschen – Krankheit der grossen Seele
Mittelalter– Augustinus und Thomas von Aquin– Abwertung der Melancholie– Risiko der weltlichen Verführung – Mönchskrankheit
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Melancholie, Depression, Trauer I
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Renaissance– Goldenes Zeitalter der
Melancholie– Aristotelischer Gedanke des
melancholischen Genius
Albrecht Dürer, Melancholia I (1514)
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Melancholie, Depression, Trauer II
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Reformation– Luther schätzte nicht das untätige
Herumsitzen
Lucas Cranach d.Ä. 1532
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Melancholie, Depression, Trauer III
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Melancholie, Depression, Trauer IVEpoche der Vernunft / Aufklärung (17./18. Jahrhundert)– Negative Bewertung der Melancholie– Zweite Hälfte 18. Jh.: grosse Wissenschaftsbegeisterung– Melancholisch sein bedeutet unvernünftig sein– Begriff Depression: schottischer Arzt Villiam Cullen (1710 – 1790)
19. Jahrhundert– Fachdisziplin Psychiatrie entsteht– Nosologie: Depression eher als Stimmung des Patienten und weniger
Störungsbegriff– Friesinger: Melancholie als Vorstufe des Wahnsinns
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Rodin, Der Denker, 1880-1882
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Melancholie, Depression, Trauer V20. Jahrhundert– Emil Kraepelin (1856 – 1926) prägte Begriff des manisch-depressiven
(zirkulären) Irrseins– Freud: Trauer und Melancholie sind verwandt– Ab 1939: Elektroschocks zur Behandlung von Depressionen– Ab Ende der 50er Jahre: Antidepressiva
Neuzeit– Depression als die Epidemie des 21. Jahrhunderts?– Begriff Burn-Out: weniger stigmatisiert– Stigmatisierung psychischer Probleme hat abgenommen, man getraut sich, zum
Arzt oder Psychotherapeuten zu gehen– Psychopharmaka als Optimierung: Leistungsfähigkeit ist wichtig
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Ist Trauer eine psychische Erkrankung?DSM-V (APA 2013)– Pathologische Trauerreaktion ist kein eigenes Diagnosekriterium– Aufhebung des Ausschlusskriteriums von Trauer bei der Depressionsdiagnose- Trauernde mit depressiven Symptomen können bereits 2 Wochen nach dem Tod
eines nahestehenden Angehörigen eine Depressionsdiagnose erhalten
ICD-10: F43.28– Verlängerte Trauerreaktion kann als Anpassungsstörung kodiert werden
(F43.28)
ICD-11-Vorschlag– Aufnahme der komplizierten Trauer als eigenständiges diagnostisches Kriterium
(Maercker et al. 2013) und somit als psychische Erkrankung
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Medikamentöse Behandlung von TrauerStudie von Lacasse & Cacciatore:– Sample: 88 Eltern, deren Kinder bei der Geburt starben– n=70, d.h. 79% wurden Antidepressiva verschrieben– n=18, d.h. 20% wurden Benzodiazepine bzw. Schlafmittel verschrieben– Die Medikamente wurden nach kurzer Zeit verschrieben:
– 32% innerhalb von 48 Stunden– 44% innerhalb einer Woche– 75% innerhalb eines Monats
J.R. Lacasse & J. Cacciatore (2014). Prescribing of psychiatric medication to bereaved parentsfollowing perinatal/neonatal death: an oberservational study. Death Studies, 0, 1-8.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Prof. Dr. Agnes von Wyl
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte WissenschaftenDepartement Angewandte PsychologiePsychologisches Institut
Pfingstweidstrasse 96Postfach 707CH-8037 ZurichTel. +41 58 934 83 33
agnes.vonwyl@zhaw.chwww.zhaw.ch/psychologie/pi
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