¨uber die darstellung von raumkurven durch ihre invarianten
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Mathematisches Institut
der
Bayerischen Julius-Maximilians-Universitat Wurzburg
Uber die Darstellung von
Raumkurven
durch ihre Invarianten
Diplomarbeit
von
Toni Menninger
aus Ballingshausen
Betreuer:
Dr. Johann Hartl, Prof. Dr. Helmut Pabel
Marz 1996 (erganzt August 2001)
Inhaltsverzeichnis
Einfuhrung 2
I. Praliminarien 9
1 Der Orientierte Euklidische Raum . . . . . . . . . . . . . . 9
2 Begleitbasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3 Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
II. Zur Theorie der Frenetkurven 20
4 Raumkurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
4.1 Kurve, Tangente, Bogenlange und Krummungsmaß 21
4.2 Tangentiale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
5 Frenetkurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
5.1 Frenetsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
5.2 (Un-)Eindeutigkeit der Frenetkrummungen . . . . . 35
6 Das Bishopsystem einer Raumkurve . . . . . . . . . . . . . 44
7 Zusammenhang zwischen Frenet- und Bishopsystem . . . . 50
1
INHALTSVERZEICHNIS 2
III. Spezielle Klassen von Raumkurven 58
8 Flachenkurven und spharische Kurven . . . . . . . . . . . 59
8.1 Die Darbouxbegleitbasis einer Flachenkurve . . . . 59
8.2 Spharische Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
8.3 Lokale Kurvengeometrie . . . . . . . . . . . . . . . 66
9 Explizit integrierbare Frenetkurven . . . . . . . . . . . . . 72
9.1 Geradlinige Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
9.2 Ebene Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
9.3 Boschungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
9.4 Kreisellinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Literaturverzeichnis 86
Einfuhrung
Ausgangspunkt dieser Arbeit war der Fundamentalsatz der Kurventheorie
fur den dreideimensionalen euklidischen Raum: durch zwei stetige Funk-
tionen ist eindeutig eine Raumkurve mit den vorgegebenen Funktionen als
Krummung und Torsion (als Funktionen der Bogenlange) – ihren skalaren
Invarianten – festgelegt. Die Fragestellung lautet nun: Wie kann aus den
vorgegebenen Krummungen moglichst viel Information uber die durch sie
definierte Kurve abgeleitet werden? Insbesondere, wann kann diese Kur-
ve explizit bestimmt werden? (dann bezeichnen wir sie als explizit inte-
grierbar). Dazu muß im allgemeinen ein System von linearen Differential-
gleichungen, den Frenetschen Ableitungsgleichungen oder den naturlichen
Gleichungen der Kurve, gelost werden (sie wurden 1847 von Frenet und
1851 unabhangig von Serret aufgestellt). Das generelle Verfahren zur
Losung linearer Differentialgleichungen hat den Nachteil, daß es unendlich
viele Integrationen erfordert. Lie (1882) und Darboux (1914, Ch. I-IV)
zeigten, daß die Losung der Frenetgleichungen aquivalent zur Losung einer
Riccatischen Differentialgleichung ist, die im allgemeinen nicht integrierbar
ist. Losungen der Frenetgleichungen in einer Reihe von Spezialfallen (bis
auf Integration) sind jedoch wohlbekannt. Schon Euler (1736) fand die
explizite Darstellung ebener Kurven aus ihrer Krummung. Hoppe (1862)
EINFUHRUNG 4
entwickelte einen Ansatz zur Reduzierung der Frenetgleichungen mittels
Integraltransformationen. Fur vier der einfachsten Falle gab er Losungen
an, ohne dabei auf ihre geometrische Interpretation einzugehen. Sie fuhren
auf ebene Kurven, Boschungslinien und Kurven konstanter Prazession, die
erst kurzlich von Scofield (1995) eingehend untersucht wurden. Weitere
Beispiele fur aus ihren Krummungen explizit angebbaren Kurvenklassen
wurden bisher nicht bekannt.
Neuere Ansatze von Hartl und Scofield haben dieses Bild vervollstandigt.
Hartl (1983) stellte fest, daß die linearen Frenet-Differentialgleichungen
(verallgemeinert auf den Rn) unter bestimmten Bedingungen durch Expo-
nentierung des Integrals uber ihre Koeffizientenmatrix losbar sind. Hartl
klarte, daß diese direkt integrierbaren Kurven genau die (Hyper)Boschungs-
linien im n-dimensionalen Raum sind. Im Dreidimensionalen fuhrt das auf
die bekannten Boschungslinien.
Scofield (1994) versucht, die Frenetgleichungen frontal anzugehen.
Er findet eine pragnante Neuformulierung des Problems unter Verwendung
von Integraloperatoren, auf deren Invertierung es nun ankommt. Scofield
zeigt auch, daß diese Methode praktisch anwendbar ist; er erhalt eine neue
Differentialgleichung, die in einem Sonderfall zwanglos zur Losung fuhrt,
namlich genau im Falle von Kurven konstanter Prazession. Allerdings sieht
diese Differentialgleichung in allen anderen Fallen hoffnungslos aus. Ob der
Ansatz mittels Integraloperatoren neue Ergebnisse bringen wird, bleibt
abzuwarten.
In dieser Arbeit wurde ein rein geometrischer Zugang gewahlt. Nir-
gends werden explizit Differentialgleichungen diskutiert. Die Uberlegung
ist folgende: Die drei bisher als explizit integrierbar erkannten Kurvenklas-
EINFUHRUNG 5
sen - ebene Kurven, Boschungslinien und Kurven konstanter Prazession -
sind dies aufgrund ihrer speziellen geometrischen Eigenschaften, genauer:
aufgrund bestimmter Eigenschaften ihrer Tangenten und Normalen. Die-
se Kurvenklassen sind als Glieder einer Folge aufsteigender Komplexitat
interpretierbar: Eine Boschungslinie hat ein ebenes Tangentenbild, das ei-
ner Kurve konstanter Prazession liegt wiederum auf einer Boschungslinie,
wahrend ihr Normalenbild eben ist. Allgemein werden Kurven mit ebenem
Normalenbild als Kreisellinien definiert; die Kurven konstanter Prazession
sind ein Sonderfall davon, bei dem gewisse Parameter konstant sind.
Insgesamt kann nach diesem Schema eine unendliche Folge von Kur-
venklassen definiert werden, deren erste Glieder ebene Kurven, Boschungs-
linien und Kreisellinien und deren Spezialfalle, die Kreise, Schraubenlinien
und Kurven konstanter Prazession, sind. In Abschnitt 7 wird dieses Prinzip
prazisiert und die Beziehung zwischen den aufeinanderfolgenden Kurven-
klassen geklart. Es zeigt sich, daß, ausgehend von der Eulerschen Losung
fur ebene Kurven, alle Folgekurvenklassen explizit integrierbar sind. Dabei
kommt die Verallgemeinerung einer Rekursionsformel von Bilinski (1955)
zur Anwendung, die den Ubergang von der Frenetbegleitbasis einer Kurve
zu der der Folgekurve beschreibt.
Hauptergebnis dieser Arbeit ist die Ermittlung expliziter Parameter-
darstellungen fur ebene Kurven, Boschungslinien und erstmals fur Krei-
sellinien nach der skizzierten Methode (Abschnitt 9). Die Vermutung liegt
nahe, daß die Kurvenklassen dieser Folge die einzigen sind, die durch end-
lich viele Integrationen aus ihren Krummungen bestimmbar sind.
In der dreidimensionalen Kurventheorie ist es weithin ublich, sich auf
wendepunktfreie Kurven zu beschranken. Auf diese Einschrankung wurde
EINFUHRUNG 6
hier jedoch verzichtet, denn die Theorie der Differentialgleichungen garan-
tiert die Existenz einer Losung der Frenetgleichungen auch dann, wenn
die vorgegebene Krummungsfunktion Nullstellen besitzt; vorausgesetzt ist
allein die Stetigkeit. Um aber Kurven mit Wendepunkten in die Analyse
dieser Arbeit einzubeziehen, brauchen wir eine Verallgemeinerung der Fre-
nettheorie, die es erlaubt, die bekannten Methoden auch auf solche Kurven
anzuwenden. Auf die Moglichkeit dieser verallgemeinerten Frenettheorie
wies zuerst Wintner (1956) hin, und Nomizu (1959) und Wong &
Lai (1967) bauten sie aus. Es zeigt sich, daß nicht alle Kurven in die
Frenettheorie einbezogen werden konnen und daß die von wendepunktfrei-
en Kurven her gewohnte Eindeutigkeit von Begleitbasis, Krummung und
Torsion verloren geht. Aber wichtige Kurvenklassen wie die hier unter-
suchten sind als Frenetkurven beschreibbar und besitzen charakteristische,
”naturliche“ Begleitbasen.
Die ausfuhrliche Darstellung der verallgemeinerten Frenettheorie nimmt
den gesamten Teil II in Anspruch. Einen zentralen Stellenwert nimmt da-
bei der Begriff der Begleitbasis ein, dem schon der vorbereitende 2. Ab-
schnitt gewidmet ist. Zunachst werden allgemeine Eigenschaften gewisser
tangentialer Begleitbasen betrachtet (Abschnitt 4). Die interessantesten
von ihnen sind die bekannten Frenetbegeitbasen (Abschnitt 5) und die
von Bishop (1975) eingefuhrten, die hier als Bishopbegleitbasen bezeich-
net werden (Abschnitt 6). Letztere zeichnen sich dadurch aus, daß ihre
Existenz schon unter schwachen Voraussetzungen gesichert ist, anders als
bei Frenetbegleitbasen.
Der Zusammenhang zwischen Frenet- und Bishopbegleitbasen (Ab-
schnitt 7) erweist sich in verschiedener Hinsicht als Schlussel. Zum einen
wird daraus die Rekursionsformel gewonnen, die u.a. die Losung der Fre-
EINFUHRUNG 7
netgleichungen fur Kreisellinien ermoglicht. Zum anderen bieten die Bi-
shopbegleitbasen einen besonders naturlichen Zugang zu einer Reihe wich-
tiger Probleme. So gewonnene Ergebnisse konnen dann in die Begriffe der
Frenettheorie ubertragen werden. Einige Anwendungen, insbesondere fur
spharische Kurven, werden in Abschnitt 8 gezeigt.
Spharische Kurven sind im allgemeinen nicht explizit integrierbar. Zu-
mindest ist die Eigenschaft, spharisch zu sein, aus den Invarianten ables-
bar. Eine umfassende notwendige und hinreichende Bedingung dafur, daß
eine Kurve spharisch ist, wurde erst von Wong (1967, 1972) formuliert.
Bishop (1975) erkannte, daß diese Bedingungen mit Hilfe von Bishopbe-
gleitbasen sehr leicht abzuleiten sind. Fast von selbst ergibt sich dann der
Satz uber die Gesamttorsion geschlossener spharischer Kurven.
I. Praliminarien
1 Der Orientierte Euklidische Raum
Thema dieser Arbeit sind Kurven im orientierten euklidischen Raum Rn.
In diesem Abschnitt werden einige wichtige Begriffe zusammengestellt und
die Notationen eingefuhrt.
Gegeben ist der Vektorraum Rn mit kanonischer Basis e1, . . . , en und
kanonischem Skalarprodukt 〈·, ·〉 mit den Eigenschaften
〈ei, ej〉 = δij, 〈aV + bW,X〉 = a〈V,X〉+ b〈W,X〉, 〈V,W 〉 = 〈W,V 〉
fur a, b ∈ R, V,W,X ∈ Rn, durch das der Vektorbetrag
|X| =√〈X,X〉 fur X ∈ Rn
definiert ist. Zugleich ist der Winkel Θ zwischen zwei Vektoren V,W er-
klart durch
cos Θ =〈V,W 〉|V ||W |
.
Die Menge der Einheitsvektoren bilden die Einheitssphare
Sn = X ∈ Rn+1∣∣ |X| = 1.
PRALIMINARIEN 10
Vektoren werden durch ihre kartesischen Koordinaten in Spaltenform be-
schrieben,
X = (x1, . . . , xn)t =n∑
i=1
xiei
(wo t Transposition bezeichnet). Dann ist 〈X, Y 〉 = X tY . Punkte werden
auf die gleiche Weise in Koordinaten geschrieben; eine strenge begriffli-
che Unterscheidung zwischen Punkten und Vektoren wird in dieser Arbeit
nicht gemacht. Wir schreiben
X ‖Y ⇔ die Vektoren X und Y sind linear abhangig, und
X ⊥ Y ⇔ 〈X, Y 〉 = 0 ⇔ die Vektoren X und Y sind orthogonal.
Das lineare Erzeugnis eines Vektortupels V1, . . . Vk ist
V1, . . . , Vk=
k∑
i=1
αiVi
∣∣ αi ∈ R, fur i = 1, . . . , k
und das orthogonale Komplement ist
V1, . . . , Vk⊥ = V ⊥1 ∩ . . . ∩ V ⊥
k = X ∈ Rn∣∣ X ⊥ Vi fur i = 1 . . . k.
Eine Orthonormalbasis (ONB) des Rn ist ein Vektortupel B1, . . . Bn mit
〈Bi, Bj〉 = δij.
Orthonormalbasen werden als Spaltentupel B = (B1, . . . Bn)t geschrieben
und mit ihrer orthogonalen Koordinatenmatrix B ∈ Rn×n identifiziert. Es
gilt BtB = I mit Einheitsmatrix I. Eine ONB B heißt positiv orientiert,
falls detB = +1.
Die Orthogonalen Matrizen mit Determinante +1 heißen auch eigentlich
orthogonal. Sie bilden die Gruppe
SO(n) = M ∈ Rn×n∣∣M tM = I ∧ detM = +1.
PRALIMINARIEN 11
Eine Abbildung X ∈ Rn 7→ MX ∈ Rn heißt Drehung, falls M ∈ SO(n).
Sie beschreibt den Ubergang von der kanonischen Basis auf die Basis mit
Koordinatenmatrix M . Eine Abbildung
α : Rn 7→ Rn, α(X) = X0 +MX (X0 ∈ Rn, M ∈ SO(n)),
eine Drehung, kombiniert mit einer Translation, heißt eigentliche oder ori-
entierungserhaltende Bewegung.
Ein beliebiger VektorX besitzt zur ONB B = (B1, . . . Bn)t die Darstellung
X =n∑
i=1
〈X,Bi〉Bi = BtX.
X ist der Koordinatenvektor von X bezuglich B:
X = (〈X,B1〉 . . . 〈X,Bn〉)t = BX.
Im R3, fur den wir uns hauptsachlich interessieren, ist zusatzlich das Vek-
torpodukt zweier Vektoren definiert. Fur eine beliebige positiv orientierte
ONB (B1, B2, B3)t gilt
B1 ×B2 = B3, B2 ×B3 = B1, B3 ×B1 = B2
und fur a, b ∈ R und V,W,X ∈ R3 ist
(aV + bW )×X = a(V ×X) + b(W ×X), V ×W = −W × V.
Schließlich gilt fur Vektoren X, Y ∈ R3
X ‖Y ⇐⇒ X × Y = 0.
Eine Gerade im R3 ist eine Punktmenge
g = x0+ S= x ∈ R3∣∣ x× S = x0 × S = const.,
PRALIMINARIEN 12
wobei S ∈ R3 \0 Richtungsvektor der Geraden und x0 ∈ R ein Punkt auf
ihr ist.
Eine Ebene im R3 ist eine Punktmenge
E = x0+ V,W= x0 +N⊥ = x ∈ R3∣∣ 〈x,N〉 = 〈x0, N〉 = const.,
wobei x0 ∈ R3 ein Punkt auf ihr, V und W zwei linear unabhangige
Richtungsvektoren und N ‖V × W 6= 0 ein Normalenvektor der Ebene
ist.
Eine Sphare schließlich mit Mittelpunkt m ∈ R3 und Radius R ∈ R+ ist
eine Punktmenge
SR,m = x ∈ R3∣∣ |x−m| = R.
Naturlich ist S2 = S1,0. Die Schnittmenge aus einer Sphare und einer Ebe-
ne wird, falls sie mehr als einen Punkt enthalt, als Kreislinie bezeichnet.
2 Begleitbasen
Das fur diese Arbeit wichtigste Hilfsmittel der Kurventheorie ist die Be-
gleitbasis. Ziel ist, einer Kurve in jedem Punkt eine an sie angepaßte ONB
anzuheften, die oft als’begleitendes Dreibein‘ bezeichnet wird. Zunachst
dient der Begriff nur zur Unterscheidung einer variablen von einer starren
Basis (etwa im Sinne von ‘moving frame’).
Definition 1 (Begleitbasis). Ein Vektortupel B1, . . . , Bn von Ck-Ein-
heitsvektorfeldern Bi : G 7→ Sn−1 (G ⊂ R eine offene Menge) heißt Ck-
Begleitbasis, falls die Komponenten fur jeden Parameterwert t ∈ G eine posi-
tiv orientierte Orthonormalbasis des Rn bilden. Die Begleitbasis wird mit der
PRALIMINARIEN 13
matrixwertigen Funktion
B : G 7→ Rn,B(t) = (B1(t), . . . , Bn(t))t
identifiziert mit B(t) ∈ SO(n) fur alle t aus G.
Die Ableitungen der Begleitbasisvektoren (falls k ≥ 1) konnen nun wieder
durch die Basis selbst ausgedruckt werden. Wir haben dann
B′ = B′Bt · B = (B′1, . . . , B
′n)t(B1, . . . Bn) · B.
Ausgeschrieben, erhalten wir so Ableitungsgleichungen der FormB1
...
Bn
′
=
(〈B′
i, Bj〉)
i=1...nj=1...n
·
B1
...
Bn
. (2.1)
Auf die Koeffizientenmatrix (mit Zeilenindex i und Spaltenindex j) dieser
Ableitungsgleichungen kommt es an.
Definition 2 (Ableitungsmatrix). Sei B = (B1, . . . , Bn)t eine C1-Be-
gleitbasis (k ≥ 1). Die Matrix
ΦB = B′Bt mit Eintragen Φi,jB = 〈B′
i, Bj〉
heißt Ableitungsmatrix der Begleitbasis B.
Nun ist
ΦB + ΦtB = B′Bt + BBt′ = (BBt)′ = I ′ = 0
wegen der Orthogonalitat. Daraus folgt
Lemma 1. Die Ableitungsmatrix einer C1-Begleitbasis ist schiefsymmetrisch.
PRALIMINARIEN 14
Umgekehrt legt eine schiefsymmetrischen Matrix eine im wesentlichen ein-
deutige Begleitbasis fest.
Lemma 2. Sei Φ : I 7→ Rn×n eine schiefsymmetrische Matrix mit stetigen
Koeffizientenfunktionen auf einem offenen Intervall I ∈ R, und sei t0 ∈ I
und B0 eine positiv orientierte ONB des Rn. Dann gibt es genau eine Rn-
Begleitbasis B mit ΦB = Φ und B(t0) = B0. Sie ist aus Φ und B0 als
Grenzfunktion der Picardschen Folge von Integraliterationen darstellbar:
B(t) = B0 +
∫ t
t0
Φ(σ1)B0dσ1 +
∫ t
t0
Φ(σ2)
∫ σ2
t0
Φ(σ1)B0dσ1dσ2 + · · ·
Beweis. Die lineare Differentialgleichung B′ = ΦB besitzt zu der vor-
gegebenen Anfangsbelegung B0 eine eindeutig bestimmte Losung in der
angegebenen Form, wie aus der Theorie der Differentialgleichungen be-
kannt ist. Die Losung B = (B1, . . . , Bn)t ist nun tatsachlich eine Begleit-
basis. Denn aus der Schiefsymmetrie von Φ folgt, daß alle Skalarprodukte
〈Bi, Bj〉 konstant sind:
〈Bi, Bj〉 ≡ 〈Bi(t0), Bj(t0)〉 ≡ δij.
B bleibt auf dem ganzen Intervall kongruent; da der Anfangswert als ONB
gewahlt wurde, bleibt diese Eigenschaft erhalten. Auch die Orientierung
bleibt erhalten wegen der Stetigkeit der Determinante.
Korollar. Zwei auf einem Intervall definierte Begleitbasen mit der selben
Ableitungsmatrix unterscheiden sich hochstens durch eine Drehung.
Beweis. Seien B und B Begleitbasen mit ΦB = ΦB. Die beiden ONBen
B(t0) und B(t0) sind durch eine Drehung M ineinander uberfuhrbar, also
B(t0) = B(t0)M (Gruppeneigenschaft von SO(n)). Nun ist (BM)′ = ΦB ·
BM . BM hat die selbe Ableitungsmatrix und den selben Anfangswert wie
B. Nach Lemma 2 ist dann B ≡ BM .
PRALIMINARIEN 15
Bemerkung. In der Begleitbasisdefinition wurden auch unzusammenhan-
gende Definitionsmengen G zugelassen. Fur das Lemma muß naturlich
Zusammenhang vorausgesetzt werden. Im folgenden bezeichnet I immer
ein offenes Intervall.
Das Lemma konnte auch so formuliert werden: die 12n(n − 1) Koeffizi-
entenfunktionen der schiefsymmetrischen Ableitungsmatrix legen im we-
sentlichen eine Rn-Begleitbasis fest. Die in der Kurventheorie bevorzugte
Frenetbegleitbasis hat den Vorteil, daß alle bis auf n− 1 Koeffizienten ver-
schwinden.
3 Polarkoordinaten
Zu jedem nichtverschwindenden Vektor W ∈ R2 gibt es eindeutig be-
stimmte Polarkoordinaten r > 0 und ϕ ∈ [0; 2π[, so daß W = r · E(ϕ).
Dabei ist r = |W | als Betrag und ϕ als Polarwinkel zu interpretieren, den
W mit der positiven ersten Koordinatenachse einschließt, und E(ϕ) =
(cosϕ, sinϕ)t bezeichne den vom Winkel ϕ festgelegten Einheitsvektor.
Wir werden uns haufig die Darstellung zweidimensionaler Vektoren (bzw.
ebener Kurven) in Polarkoordinaten zunutze machen.
Definition 3 (Polarkoordinaten). Sei V =(
xy
): I 7→ R2 ein Vektorfeld.
Die stetigen Funktionen r und ϕ : I 7→ R heißen Polarkoordinaten von V ,
falls gilt: (x
y
)= r · E(ϕ) =
(r cosϕ
r sinϕ
)(3.1)
Wir bezeichnen ϕ als Polarwinkel und r als Polarabstand von V .
PRALIMINARIEN 16
Die Definition laßt bewußt auch negativen oder verschwindenden Polar-
abstand zu. Soweit moglich, sollen auch einem Vektorfeld mit Nullstellen
Polarkoordinaten zugeschrieben werden.
Fur die weitere Untersuchung fuhren wir die Drehmatrix
D(ϕ) =
cosϕ − sinϕ
sinϕ cosϕ
∈ SO(2).
ein, die die Drehung eines Vektors um den Winkel ϕ im positiven Drehsinn
(gegen den Uhrzeigersinn) vermittelt. Offensichtlich gelten die Beziehun-
gen:
D(ϕ) · E(ψ) = E(ϕ+ ψ)
D(ϕ) · D(ψ) = D(ϕ+ ψ)
D(π/2) ·(x
y
)=
(−yx
)Ist ϕ eine differenzierbare Winkelfunktion, so gilt:
E ′(ϕ) = ϕ′ · E (ϕ+ π/2)
D′(ϕ) = ϕ′ · D (ϕ+ π/2) .
Die Polarkoordinatengleichung (3.1) liefert mit Hilfe dieser Beziehungen
D(−ϕ) ·(x
y
)= rE(0) ⇔
(x cosϕ+ y sinϕ
−x sinϕ+ y cosϕ
)=
(r
0
)(3.2)
und es folgt
r2 = r(x cosϕ+ y sinϕ) = x · r cosϕ+ y · r sinϕ = x2 + y2. (3.3)
Ableitung der linken Gleichung von (3.2) ergibt
−ϕ′D(π/2)D(−ϕ)
(x
y
)+D(−ϕ)
(x′
y′
)=
(r′
0
)⇔ D(−ϕ)
(x′
y′
)=
(r′
ϕ′r
)⇒
PRALIMINARIEN 17
=⇒ rD(−ϕ)
(x′
y′
)=
(x y
−y x
)·(x′
y′
)=
(rr′
r2ϕ′
)⇒ −yx′ + xy′ = r2ϕ′.
(3.4)
Aus den Gleichungen 3.2, 3.3 und 3.4 erhalten wir das Lemma
Lemma 3. Sei(
xy
): I 7→ R2 ein Vektorfeld. ϕ : I 7→ R ist genau dann
zugehorige Polarwinkelfunktion, wenn gilt
x sinϕ = y cosϕ.
Durch den Polarwinkel sind bereits eindeutig Polarkoordinaten festgelegt, wo-
bei der Polarabstand durch
r = x cosϕ+ y sinϕ
gegeben ist. Es gelten die Beziehungen
r2 = x2 + y2 und, falls x, y, ϕ differenzierbar, ϕ′r2 = xy′ − yx′.
Bemerkung. Offensichtlich sind Polarkoordinaten nicht eindeutig fest-
gelegt. Sind (r, ϕ) Polarkoordinaten, so auch (r, ϕ + 2kπ) und (−r,
ϕ + (2k + 1)π) (fur k ∈ Z). Verschwindet die Vektorfunktion auf einem
gewissen Intervall, so ist der Polarwinkel im Innern dieses Intervalls sogar
vollig unbestimmt.
Andernfalls gilt eine eingeschrankte Eindeutigkeitsaussage.
Lemma 4. Sei V : I 7→ R2 ein Vektorfeld, das auf keinem ganzen Intervall
verschwindet, d.h. die Nullstellenmenge I0 = t ∈ I | V (t) = 0 enthalte
keine inneren Punkte. Wenn V Polarkoordinaten besitzt, dann ist der Pola-
rabstand bis aufs globale Vorzeichen und der Polarwinkel (mod π) eindeutig
bestimmt.
PRALIMINARIEN 18
Beweis. Seien (r, ϕ) und (r, ϕ) Polarkoordinaten von v, also rE(ϕ) =
rE(ϕ), so muß auf I \ I0 gelten
rD(−ϕ)E(ϕ) = r
(1
0
)⇒ E(ϕ− ϕ) =
r
r
(1
0
)⇒ sin(ϕ− ϕ) = 0.
Die auf I stetige Funktion sin(ϕ − ϕ) verschwindet auf einer dichten
Teilmenge von I, also verschwindet sie identisch auf ganz I. Daraus folgt
ϕ− ϕ = kπ und r = ±r.
Beispiel 1. Polarkoordinaten existieren nicht immer. Die Vektorfunktion(xy
): R 7→ R2 mit
x(t) =
te−1/t2 fur t 6= 0,
0 fur t = 0
y(t) =
te−1/t2 fur t < 0,
0 fur t ≥ 0,
ist C∞-differenzierbar, hat aber keine stetige Polarwinkelfunktion. Ihr Bild
ist eine im Nullpunkt geknickte Gerade, die beiden Halbgeraden schließen
den Winkel 34π ein. Nach dem Lemma mußte sich der Polarwinkel im
Nullpunkt um diesen Betrag (mod π) andern, also sprunghaft. Wurde
v auf einem ganzen Intervall verschwinden, dann hatte der Polarwinkel
allerdings Gelegenheit, sich kontinuierlich zu andern.
Es ist anschaulich klar, daß Probleme mit der Stetigkeit des Polarwinkels
nur in Nullstellen einer Kurve auftauchen. Ansonsten ist die Existenz von
Polarkoordinaten gesichert.
Lemma 5. Seien α und β skalare Ck-Funktionen auf einem offenen Intervall
I ⊂ R, die nirgends gleichzeitig verschwinden. Dann gibt es Ck-Polarkoordina-
ten r und ϕ fur(
αβ
). Sie sind im wesentlichen eindeutig (im Sinne von Lemma
4) und fur sie gilt
r = ±√α2 + β2 und (falls k ≥ 1) ϕ′ =
β′α− α′β
α2 + β2.
PRALIMINARIEN 19
Beweis. Wir setzen r :=√α2 + β2 (r ∈ Ck, da r > 0) und betrachten
den Einheitsvektor U := 1r
(αβ
). Sei ϕ0 der Polarwinkel zum Parameterwert
t0 ∈ I, also U = E(ϕ0), und t1 ∈ I ein anderer Parameterwert. Wahrend
der Parameter stetig von t0 nach t1 lauft, bewegt sich U stetig auf dem
Einheitskreis von U(t0) nach U(t1). Der dabei uberstrichene Gesamtwin-
kel (oder die auf dem Einheitskreis insgesamt zuruckgelegte Bogenlange,
wobei Bewegung in negativer Richtung auch negativ gewertet wird) sei
∆ϕt1 . Dann ist durch ϕ(t1) := ϕ0 + ∆ϕt1 eine stetige Polarwinkelfunkti-
on fur U definiert und damit sind (r, ϕ) Polarkoordinaten fur(
αβ
), fur die
die Eindeutigkeitsaussage von Lemma 4 gilt.1 Wir haben nun
α
r= cosϕ und
β
r= sinϕ.
Kosinus und Sinus sind lokal umkehrbar, ϕ also lokal durch einen Ast
von Arkuskosinus bzw. Arkussinus darstellbar und damit differenzierbar,
falls k ≥ 1. Die Formel fur ϕ′ folgt dann aus Lemma 3; sie garantiert die
Differentiationsordnung fur ϕ.
Bemerkung. Ist eine der Funktionen positiv, etwa α > 0, so ist naturlich
ϕ = arctan
(β
α
)ein Polarwinkel. Im allgemeinen kann ϕ aber nicht so einfach ausgedruckt
werden.
Mit Hilfe dieses Lemmas konnen wir insbesondere einen ebenen Einheits-
vektor bezuglich einer beliebigen (festen oder Begleit-)Basis durch den
1Eine andere Beweismoglichkeit fur diese wichtige Existenzaussage ware die Zu-
sammensetzung einer Polarwinkelfunktion mit Hilfe von lokalen, mod π eindeutigen
Polarwinkeln (analog Satz 11). Der hier gegebene Beweis folgt Wong & Lai (1967,
10). Andere Beweise bei Spivak (1979, Vol. II, 22 f.) und Chern (1957, Ch. 1, §3.2).
PRALIMINARIEN 20
Polarwinkel ausdrucken. Setzen wir T = αU1 +βU2, β2 +α2 = 1, so folgt
mit Lemma 5
Korollar. Jede Ck-Einheitsvektorfunktion T : I 7→ R2 ist als T = E(ψ) mit
einer Ck-Funktion ψ darstellbar. Bezuglich einer Ck-Begleitbasis (U1, U2)t des
R2 lautet ihre Darstellung
T = cos θU1 + sin θU2.
(U1, U2) wiederum kann als(E(ϕ), E(ϕ + π/2)
)geschrieben werden (θ und
ϕ sind ebenfalls Ck; es gilt dann ψ = θ + ϕ) und ihre Ableitungsgleichung
lautet (falls k ≥ 1) U1
U2
′
=
0 ϕ′
−ϕ′ 0
·
U1
U2
.
Die Basis beschreibt eine Drehung mit Winkelgeschwindigkeit ϕ′.
II. Zur Theorie der
Frenetkurven
4 Raumkurven
4.1 Kurve, Tangente, Bogenlange und Krummungs-
maß
Wir beginnen mit einer Zusammenstellung elementarer Definitionen und
Tatsachen der Kurventheorie im euklidischen Raum.
1. Eine parametrisierte Cr-Kurve ist eine Cr-Abbildung x : I 7→ Rn eines
offenen Intervalls I in den euklidischen Raum Rn. Ihr Bild x[I] heißt
Spur.
2. Ein Kurvenpunkt x(t0) einer parametrisierten Kurve heißt regular, falls
x in t0 eine nichtverschwindende Ableitung x(t0) 6= 0 besitzt. Eine para-
metrisierte C1-Kurve heißt regular, falls alle ihre Kurvenpunkte regular
sind.
THEORIE DER FRENETKURVEN 22
3. Ist x : I 7→ Rn eine regulare parametrisierte Cr-Kurve (r ≥ 1), so heißt
das Cr−1-Vektorfeld
T : I 7→ Sn−1, T =x
|x|
Tangentenvektor(feld) der parametrisierten Kurve. Ein Vektorfeld V :
I 7→ Rn heißt normal zur parametrisierten Kurve oder ein Normalen-
vektor von x, falls uberall T ⊥ V , und tangential, falls uberall T ‖V
ist.
4. Ist x eine regulare parametrisierte Kurve auf einem Intervall I, so heißt
die Funktion
s(t) :=
∫ t
t0
|x(τ)| dτ
fur beliebiges t0 ∈ I Bogenlange(nfunktion) von x. Sie mißt die Bo-
genlange der parametrisierten Kurve von einem festen Kurvenpunkt x(t0)
aus in der von der Parametrisierung festgelegten Orientierung.
5. Zwei parametrisierte Cr-Kurven x : I 7→ Rn und x : I 7→ Rn heißen
Cr-aquivalent, falls sie durch einen orientierungstreuen Cr-Diffeomor-
phismus µ : I 7→ I ineinander uberfuhrbar sind, d.h. x = x µ. Eine
Cr-Kurve ist eine Aquivalenzklasse [s 7→ x(s)] von regularen parametri-
sierten Cr-Kurven. Man beachte, daß dieser Kurvenbegriff Regularitat
(und damit Differenzierbarkeit) impliziert, anders als der Begriff’para-
metrisierte Kurve‘.
6. Fur jede regulare parametrisierte Cr-Kurve gibt es eine aquivalente Cr-
Parametrisierung x(s) nach ihrer Bogenlange s. Sie ist bis auf eine
Translation des Parameterbereichs eindeutig bestimmt. Deshalb kann
als Reprasentant einer Kurve stets ihre Bogenlangenparametrisierung
THEORIE DER FRENETKURVEN 23
gewahlt werden. Alle Kurvengroßen, die aus dieser Parametrisierung ge-
wonnen werden, sind stets invariant gegenuber Parametertransformatio-
nen.
7. Fur die Bogenlangenparametrisierung x(s) einer Kurve gilt
|x′(s)| ≡ 1 und T = x′
(der Strich bezeichnet hier wie im folgenden immer Differentiation nach
der Bogenlange). Umgekehrt ist durch Vorgabe eines Einheitsvektorfel-
des T (s) und eines Anfangspunktes x0 = x(s0) eine Kurve mit Tangen-
tialvektor T und Bogenlange s eindeutig festgelegt. Ihre Bogenlangen-
parametrisierung ist gegeben durch
x(s) = x0 +
∫ s
s0
T (σ)dσ. (4.1)
Wir beschranken uns ab jetzt auf Raumkurven im R3. Die Schreibweise
’γ : x = x(s) (oder kurzer γ : x(s)) ist eine Kurve‘ bedeutet, daß die
Raumkurve γ durch eine regulare Parametrisierung x : I 7→ R3 nach der
Bogenlange s gegeben sein soll.
Definition 4 (Krummungsmaß). Sei γ : x = x(s) eine C2-Kurve und
T = x′ ihr Tangentenvektor. Dann bezeichnen wir die stetige Funktion
κN : I 7→ R+0 , κN := |T ′| = |x′′|
als ihr Krummungsmaß. Ein Kurvenpunkt x(s0) mit κN(s0) = 0 heißt ein
Wendepunkt.
Lemma 6. Eine Raumkurve ist genau dann geradlinig, wenn ihr Krummungs-
maß verschwindet. Sie ist genau dann eben, wenn sie einen konstanten Nor-
malenvektor M 6= 0 besitzt.
THEORIE DER FRENETKURVEN 24
Beweis. Die Spur einer Kurve γ : x(t) liegt genau dann auf einer Geraden,
wenn x×R≡ const. fur einen Richtungsvektor R 6= 0 ⇔ T × R ≡
0 ⇔ T (t) ∈R fur alle t. Da R nur zwei Vektoren der Lange 1
enthalt und T stetig ist, ist das aquivalent zu T ≡ const., also κN ≡ 0.
Die Spur liegt genau dann auf einer Ebene, wenn fur einen festen Vektor
M 6= 0 gilt 〈x(s),M〉 ≡ const., also 〈T,M〉 ≡ 0, M ist Normalenvektor.
4.2 Tangentiale Systeme
Definition 5 (Tangentiale Begleitbasen). Sei γ : x = x(s), s ∈ I eine
Kurve. Eine Begleitbasis U : I 7→ R3×3, U = (U1, U2, U3)t heißt tangential
zu γ, falls U1 ≡ x′. Ist U differenzierbar mit Ableitungsmatrix
ΦU =
0 p3 −p2
−p3 0 p1
p2 −p1 0
,
so ist das stetige Vektorfeld
p(U) =
p1
p2
p3
=
〈U ′2, U3〉
〈U ′3, U1〉
〈U ′1, U2〉
der Koeffizientenvektor der Begleitbasis. Das Tupel (U , p(U)) aus tangen-
tialer C1- Begleitbasis und Koeffizientenvektor bildet ein tangentiales System
der Kurve.
Bemerkung. Mit DU :=∑3
i=1 piUi = U tp(U) kann die Ableitungsglei-
THEORIE DER FRENETKURVEN 25
chung auch als
U ′ = ΦUU = U tp(U)× U =
DU × U1
DU × U2
DU × U3
geschrieben werden (das gilt auch fur nichttangentiale C1-Begleitbasen).
Die Begleitbasis beschreibt momentan eine Drehung um die Achse DU
mit Winkelgeschwindigkeit |p|. Diese Momentandrehachse wird auch als
Zentrode und DU als der nicht normierte Drehvektor bezeichnet.
Definition 6 (Drehvektor). Ein stetiges Einheitsvektorfeld D : G 7→ S2
(G ⊂ R offen) heißt Drehvektor oder Zentrodenvektor der Begleitbasis U :
G 7→ R3×3, falls DU ‖D auf ganz G gilt mit DU = U tp(U).
Die Ableitungsgleichung lautet dann
U ′ = ωD × U mit ω := 〈D,DU〉.
Offensichtlich sind Zentrode und Drehvektor eindeutig bzw. bis aufs Vor-
zeichen eindeutig bestimmt, falls G zusammenhangend und die Begleitba-
sis nirgends stationar, d.h. p 6= 0 ist.
Die Relevanz der tangentialen Systeme und ihrer Koeffizienten fur die
Kurventheorie besteht in der Moglichkeit, sie zur Charakterisierung von
Kurven zu verwenden.
Satz 1 (Fundamentalsatz fur tangentiale Systeme). Seien ein steti-
ges Vektorfeld p : I 7→ R3, p = p(s), ein Parameterwert s0 ∈ I, ein Punkt
x0 ∈ R3 und eine positiv orientierte ONB U0 des R3 vorgegeben. Dann gibt
es eine eindeutig bestimmte C2-Kurve γ : x = x(s), s ∈ I und eine eindeutig
bestimmte Begleitbasis U auf I, die folgende Bedingungen erfullen:
THEORIE DER FRENETKURVEN 26
• x(s0) = x0 und U(s0) = U0,
• s ist Bogenlangenfunktion der Kurve,
• (U , p) ist tangentiales System der Kurve.
Beweis. Durch p ist eine schiefsymmetrische Koeffizientenmatrix nach
dem Schema von Definition 5 festgelegt, die zusammen mit U0 eine C1-
Begleitbasis U festlegt (Lemma 2). Deren erster Vektor U1 ist Tangenti-
alvektor einer C2-Raumkurve, deren Bogenlangenparametrisierung aus U1
und x0 eindeutig durch Integration (Gleichung 4.1) hervorgeht. Sie erfullt
offensichtlich die Bedingungen.
Analog zum Korollar zu Lemma 2 gilt das
Korollar. Durch ein stetiges Vektorfeld p auf einem Intervall I ist eine C2-
Kurve samt tangentialer Begleitbasis bis auf eine orientierungstreue Bewegung
(eine Drehung, kombiniert mit einer Translation) eindeutig festgelegt.
Naturlich kann eine Kurve viele tangentialen Systeme haben. Im R3 hangen
sie alle durch eine einfache Transformation zusammen.
Satz 2 (Transformation zwischen tangentialen Systemen). Sei
(U , p) ein tangentiales System einer C2-Kurve. Dann ist die Gesamtheit ihrer
tangentialen Systeme (U , p) der Kurve genau durch
U = Dt1(ϕ)U , p = Dt
1(ϕ) p+ ϕ′e1
gegeben, wobei ϕ eine beliebige differenzierbare Winkelfunktion ist und
D1(ϕ) =
1 0 0
0 cosϕ − sinϕ
0 sinϕ cosϕ
.
THEORIE DER FRENETKURVEN 27
Beweis. Offensichtlich sind die U nach Konstruktion ebenfalls tangentiale
Begleitbasen. Daß jede tangentiale Begleitbasis in der angegebenen Form
darstellbar ist, ist eine fur diese Arbeit zentrale Folgerung aus dem Lemma
uber die Existenz von Polarkoordinaten. Ist U = (U1, U2, U3)t, so hat jede
weitere tangentiale C1-Begleitbasis eine Darstellung (U1, U2, U3) mit U2 =
αU2 +βU3 und U3 = U1× U2 = −βU2 +αU3. Wegen (α, β) 6= 0 ist Lemma
5 anwendbar, es gibt eine C1-Funktion ϕ mit (α, β) = (cosϕ, sinϕ).
Ist nun U = Dt1(ϕ)U , so ergibt sich
U ′ =(Dt
1(ϕ)U)′
= D1(−ϕ)ΦU · D1(ϕ)U +D′1(−ϕ) · D1(ϕ)U =⇒
=⇒ ΦU = D1(−ϕ)ΦUD1(ϕ) +D′1(−ϕ)D1(ϕ).
Wir erhalten
ΦU =
0 p3 cosϕ− p2 sinϕ −p2 cosϕ− p3 sinϕ
∗ 0 p1 + ϕ′
∗ ∗ 0
,
wobei die Sternchen fur schiefsymmetrische Eintrage stehen. Das bedeutet
p1 = p1 + ϕ′ und
(p2
p3
)= Dt(ϕ)
(p2
p3
)wie behauptet.
Wenn ein tangentiales System bekannt ist, sind im Prinzip schon alle be-
kannt. Aber gibt es uberhaupt fur jede C2-Kurve tangentiale Systeme? In
einem spateren Abschnitt (Satz 11) wird die Existenz eines solchen gezeigt,
das i. A. aber nicht direkt konstruierbar ist. Folgendes Lemma zeigt, wie
unter Umstanden eines konstruiert werden kann. Dazu wird als’Keim‘des
Systems ein nirgends tangentiales Vektorfeld benotigt.
THEORIE DER FRENETKURVEN 28
Lemma 7. Sei γ : x = x(s), s ∈ I eine C2-Kurve und V : I 7→ R3 ein
nirgends tangentiales C1-Vektorfeld, d.h. x′ × V 6= 0 auf ganz I. Dann ist
(U1, U2, U3) mit
U1 := x′, U2 :=U1 × V
|U1 × V |, U3 := U1 × U2
eine tangentiale C1-Begleitbasis von x.
Beweis. Dies ist eine Anwendung des Schmidtschen Orthogonalisierungs-
verfahrens. Nach Voraussetzung und Konstruktion sind die Ui wohldefi-
nierte Einheitsvektoren, orthogonal, positiv orientiert und C1.
Bemerkung. Ebene Kurven (Lemma 6) besitzen einen konstanten Nor-
malenvektor und damit eine tangentiale Begleitbasis mit einer konstanten
Komponente. Eine C2-Kurve ist also genau dann eben, wenn es ein tangen-
tiales System mit zwei verschwindenden Koeffizienten gibt. Sie ist genau
dann geradlinig, wenn sie ein tangentiales System mit verschwindendem
Koeffizientenvektor besitzt.
Bei nichtebenen Raumkurven wird hochstens ein Koeffizient verschwinden.
Tangentiale Systeme, bei denen gerade ein Koeffizient verschwindet, sind
naturlich von besonderem Interesse. In den folgenden Abschnitten werden
alle Systeme dieser Art untersucht. Die Bedingung p2 ≡ 0 fuhrt auf die
Frenetsysteme.
5 Frenetkurven
5.1 Frenetsysteme
Die Aufgabe, ein tangentiales System einer Kurve zu konstruieren, ist im
R3 und in hoherdimensionalen Raumen keineswegs trivial (im Gegensatz
THEORIE DER FRENETKURVEN 29
zum R2). Nach Lemma 7 brauchen wir dafur ein differenzierbares, nir-
gends tangentiales Vektorfeld. Bei einer Flachenkurve (der Spezialfall ebe-
ner Kurven wurde schon erwahnt) kann dafur die Flachennormale langs
der Kurve gewahlt werden (s. Abschnitt 8.1). Ansonsten ist als Anhalts-
punkt nur die Tangentenfunktion T der Kurve gegeben. Ihre Ableitung
ist normal und kann als ‘Keim’ im Sinne des Lemmas gewahlt werden.
Das ist der wohl einzige sinnvolle Weg, ein tangentiales System fur ei-
ne Raumkurve aus ihrer Parametrisierung (also in intrinsischer Weise) zu
konstruieren. Er ist allerdings nur gangbar, wenn T ′ 6= 0 und T ′/|T ′| dif-
ferenzierbar ist, also zumindest fur C3-Kurven ohne Wendepunkte. Das
Ergebnis ist die intrinsische Frenetbegleitbasis der Kurve und fur sie ver-
schwindet der Koeffizient p2. Auf dieser Idee ist die klassische Frenettheo-
rie aufgebaut. In diesem Abschnitt wird dieser Zugang unter teilweisem
Verzicht auf Eindeutigkeit und intrinsischen Charakter auf Kurven mit
Wendepunkten verallgemeinert.
Definition 7 (Geradenstucke und gekrummte Bogen). Fur eine C2-
Kurve γ : x = x(s), s ∈ I mit Krummungsmaß κN erklaren wir die Bezeich-
nungen
• IN := s ∈ I∣∣ κN(s) 6= 0
• IW := s ∈ I∣∣ κN(s) = 0 = I \ IN
• IG :=IW
• IK := I \ IG =IN
Eine regulare Kurve heißt wendepunktfrei, falls IW = ∅, und geradenstuck-
frei, falls IG = ∅. Die Einschrankung der Kurve auf eine Zusammenhangs-
komponente von IG bzw. IK heißt ein Geradenstuck bzw. ein gekrummter
THEORIE DER FRENETKURVEN 30
Bogen der Kurve. Das Urbild eines Geradenstucks nennen wir ein Geradenin-
tervall.
Bemerkung. Die Menge IN ist offen. Sie ist das Urbild der Menge der
Nichtwendepunkte und ist komplementar zur abgeschlossenen Parameter-
menge der Wendepunkte IW . IN liegt dicht in IK (K steht fur’krumm‘).
Eine Kurve ist aus abzahlbar vielen gekrummten Bogen und Geradenstucken
zusammengesetzt.
Auf IN kann wie oben angedeutet eine Begleitbasis konstruiert werden.
Definition 8 (Intrinsische Kurvengroßen). Sei γ : x = x(s), s ∈ I
eine regulare C2-Kurve mit Tangentenvektor T . Wir definieren die Einheits-
vektorfelder
• NN : IN 7→ S2, NN := 1κNT ′ und
• BN : IN 7→ S2, BN := T ×NN . Es sei
• FN := (T,NN , BN)t.
Ist NN differenzierbar, so definieren wir weiter
• τN : IN 7→ R, τN := 〈N ′N , BN〉,
• ωN : IN 7→ R+, ωN :=√κ2
N + τ 2N und
• DN : IN 7→ S2, DN :=1
ωN
(τNT + κNB).
Wir bezeichnen NN und BN als intrinsische Haupt- bzw. Binormale der Kurve
und τN als ihre intrinsische Torsion.
Satz 3 (Ableitungsgleichungen von Frenet und Darboux). Sei γ :
x = x(s), s ∈ I eine C2-Kurve. Dann ist FN eine stetige Begleitbasis auf IN .
THEORIE DER FRENETKURVEN 31
Ist FN außerdem differenzierbar, so gelten auf IN die Ableitungsgleichungen2T
NN
BN
′
=
0 κN 0
−κN 0 τN
0 −τN 0
·
T
NN
BN
= ωN ·
DN × T
DN ×NN
DN ×BN
Beweis. Nach Konstruktion ist FN stetige Begleitbasis, denn T ⊥ T ′. κN
und τN sind nach Definition die Eintrage ihrer Ableitungsmatrix und DN
ist Drehvektor gemaß Definition 6.
Bemerkung. In der Definition der Begleitbasen wurden auch unzusam-
menhangende Parameterbereiche wie hier IN zugelassen. FN ist aber kei-
ne tangentiale Begleitbasis, da eine solche auf dem gesamten Intervall I
definiert sein muß (sonst wurde sie die Kurve nicht mehr ganz charakteri-
sieren).
FN ist nur fur wendepunktfreie Kurven uberall definiert. Auch in anderen
Fallen gibt es aber Begleitbasen mit denselben Eigenschaften (tangentialer
Basisvektor und p2 ≡ 0).
Definition 9 (Frenetsysteme).
a) Ein tangentiales System (F , p(F)) einer Raumkurve heißt Frenetsystem
der Kurve, falls p2(F) ≡ 0. F ist eine Frenetbegleitbasis der Kurve
und ihre stetigen Koeffizienten κ := p3 und τ := p1 heißen Krummung
und Torsion bzw. die Frenetschen Krummungen des Frenetsystems. Wir
bezeichnen außerdem ωL := |p| =√κ2 + τ 2 als Lancretsches Krum-
mungsmaß des Systems.
2Aufgestellt 1847 von Frenet und 1851 unabhangig von Serret. Den rechten Teil
der Gleichung fand Darboux.
THEORIE DER FRENETKURVEN 32
b) Ein Drehvektor eines Frenetsystems heißt Darbouxvektor.
c) Eine Kurve heißt Frenetkurve, falls sie ein Frenetsystem besitzt.
Bemerkung. Ein Darbouxvektor existiert i. A. nicht, wenn ωL Nullstellen
hat. Sonst ist der Darbouxvektor
D = ± 1
ωL
(τT + κB).
Diese Frenetkurvendefinition geht auf Wintner (1956), Nomizu (1959)
und Wong & Lai (1967) zuruck. Nomizu und Wong & Lai definieren als
Frenetkurve eine Kurve mit einer Begleitbasis, die die Frenetgleichungen
erfullt, ahnlich wie in der hier verwendeten Definition.
Wintner definierte eine regulare C2-Kurve in aquivalenter Weise als Fre-
netkurve, wenn sie eine C1-Binormale gemaß folgender Definition besitzt.
Definition 10 (Haupt- und Binormale). Sei eine C2-Kurve mit Tan-
gentialvektor T gegeben.
• Ein Normaleneinheitsvektorfeld N : I 7→ S2 heißt Hauptnormale der
Kurve, falls die Tangentenableitung uberall kollinear zu ihm ist: T ′ ‖N .
• Ein Normaleneinheitsvektorfeld B : I 7→ S2 heißt Binormale der Kurve,
falls die Tangentenableitung uberall orthogonal zu ihm ist: T ′ ⊥ B.
Lemma 8. Eine regulare C2-Kurve ist genau dann eine Frenetkurve, wenn sie
eine C1-Hauptnormale oder eine C1-Binormale besitzt. Ihre Frenetbegleitbasis
besteht genau aus der Tangente, einer Hauptnormalen und einer Binormalen.
Beweis. Ist (T,N,B) eine Frenetbegleitbasis, so ist wegen p2 = 0 〈T ′, B〉=
0 ⇒ T ′ ⊥ B und T ′ ‖N . N ist Hauptnormale und B ist Binormale. Ist
N eine C1-Hauptnormale einer Kurve, so ist naturlich (T,N, T ×N) eine
Frenetbegleitbasis und analog fur B.
THEORIE DER FRENETKURVEN 33
Bemerkung 1. Frenetsysteme werden kunftig in der Form (F , κ, τ) ge-
schrieben mit F = (T,N,B)t. Wir haben dann
κ = 〈T ′, N〉 und τ = 〈N ′, B〉.
Bemerkenswert sind auch die Beziehungen:
κ2 = 〈T ′, T ′〉 = κ2N , ω2
L = 〈N ′, N ′〉, τ 2 = 〈B′, B′〉.
Die drei Funktionen sind also Maße fur die momentane Veranderung des
Normalenraums N,B , der rektifizierenden Ebene T,B und
des Schmiegraums T,N .
Bemerkung 2. Naturlich ist eine wendepunktfreie C3-Kurve eine Frenet-
kurve mit Frenetbegleitbasis FN und Krummungen κN , τN .
Bemerkung 3. Ebenso sind ebene C2-Kurven Frenetkurven, da ihr kon-
stanter Normalenvektor (normiert auf die Lange 1) als Binormale gewahlt
werden kann. Die Torsion des so definierten Frenetsystems verschwindet.
Bemerkung 4. Eine Frenetkurve ist mindestens von der Ordnung C2.
Die sonst ubliche Voraussetzung C3 ist aber nicht notwendig; schon eine
C2-Kurve kann eine C1-Begleitbasis haben (vgl. Hartman & Wintner
(1959), S. 770-774).
Die Satze der klassischen Theorie gelten, soweit sie allein aus den Fre-
netgleichungen gefolgert wurden, auch fur verallgemeinerte Frenetkurven.
Uber die wendepunktfreien Kurven hinaus kann jetzt eine Vielzahl weite-
rer Kurven in die Frenettheorie einbezogen werden. U. a. sind die ebenen
Kurven bruchlos in die Theorie der Raumkurven integrierbar; weitere Bei-
spiele von Frenetkurven werden am Ende des nachsten Abschnitts und in
8.1 erwahnt.
THEORIE DER FRENETKURVEN 34
In der verallgemeinerten Frenettheorie gilt eine erweiterte Version des Fun-
damentalsatzes der Kurventheorie. Sie bestatigt die Nutzlichkeit des Fre-
netkurvenbegriffes.
Satz 4 (Fundamentalsatz der Frenettheorie). Durch zwei beliebige
stetige, reelle Funktionen κ = κ(s) und τ = τ(s) auf einem offenen Intervall
I ⊂ R ist eine Frenetkurve mit κ und τ als Krummungen und Bogenlange s
bis auf eine orientierungstreue Bewegung eindeutig festgelegt.
Beweis. Dies ist ein Spezialfall von Satz 1. Naturlich ist die durch p =
(τ, 0, κ)t als Koeffizientenvektor festgelegte Kurve eine Frenetkurve.
In der klassischen Theorie wird dieser Satz in abgeschwachter Version for-
muliert, indem κ als positiv und differenzierbar vorausgesetzt wird.3 Dies
entspricht der Beschrankung auf wendepunktfreie C3-Kurven. Unter die-
ser Einschrankung ist umgekehrt Existenz und Eindeutigkeit der Frenet-
begleitbasis und der Krummungen gewahrleistet. In dieser Formulierung
bleibt aber die Frage offen, welche Bedeutung die Losungen der Frenetglei-
chungen haben, die man erhalt, wenn man eine beliebige stetige Funktion
3So bei Blaschke & Leichtweiß (1973, 43); Brauner (1981, 97); Do Carmo
(1983, 16 f. und 241 f.); Laugwitz (1968, 18 ff.); Stoker (1969, 65 f.). Norden (1956,
92) und Spivak (1979, Vol. II, 45) fordern fur κ Positivitat, aber nur Stetigkeit. Als Be-
grundung fur die Beschrankung gibt Spivak (ebd., 63 f.) die Kurve von Beispiel 2 unten,
die keine Frenetkurve ist, an. Blaschke (1921, 21) laßt beide Einschrankungen weg;
erst in der Bearbeitung von Leichtweiß wurden sie eingefugt. Allerding gibt Blaschke,
ebenso wie Kommerell & Kommerell (1931, 39) die Kehrwerte der Krummungen
vor, so daß Wendepunkte auch in der ursprunglichen Version implizit ausgeschlossen
werden. Strubecker (1964, §§15-16) fordert κ 6≡ 0 und stetig; Duschek & Mayer
(1931, 50) und Struik (1957, 29) setzen explizit nur Stetigkeit voraus.
THEORIE DER FRENETKURVEN 35
κ als Krummung vorgibt. Die Antwort ist nun klar: Diese Losungen ent-
sprechen genau der Klasse der Frenetkurven.4
5.2 (Un-)Eindeutigkeit der Frenetkrummungen
Im Unterschied zur klassischen Theorie haben wir nicht mehr eine vorgege-
bene Frenetbegleitbasis, sondern mussen im Zweifelsfall erst eine suchen.
Es stellt sich daher die Frage nach Existenz und Eindeutigkeit von Frenet-
begleitbasis und -krummmungen.
Beispiel 2. Nicht jede”vernunftige“ Kurve ist eine Frenetkurve. Sei
f(t) :=
e−1/t2 fur t < 0
0 fur t ≥ 0.
Dann ist
γ : x = x(t) =(t, f(t), f(−t)
)t, t ∈ I
eine C∞-Kurve, aber keine Frenetkurve.5 Die Kurve, die nicht zufallig
stark an Beispiel 1 erinnert, besteht aus zwei ebenen gekrummten Bogen.
4Fast in keinem der gangigen Lehrbucher wird die Lucke zwischen dem eingeschrank-
ten Fundamentalsatz und den weitergehenden Moglichkeiten, die aus der Theorie der
Differentialgleichungen folgen, diskutiert. Wahrscheinlich ist es ohne den begrifflichen
Rahmen der verallgemeinerten Frenetkurve schwierig, mit den theoretisch existieren-
den Losungen fur ’κ beliebig‘etwas anzufangen. Einzig Stoker (1969) stellt die Frage,
“What about κ = 0?” (S. 67 f.) Er nennt ein Beispiel, das zeigen soll, daß, entgegen
dem oben bewiesenen Satz, verschiedene Raumkurven dieselben Krummungen haben
konnen, wenn κ = 0 zugelassen ist. Tatsachlich sind die Kurven in seinem Beispiel aber
durch eine Drehung ineinander uberfuhrbar, verletzen also nicht den Satz.5Die Beispielkurve wird auch bei Nomizu (1959, 111) und Spivak (1979, Vol. II, 63
f.) angefuhrt.
THEORIE DER FRENETKURVEN 36
Im Wendepunkt x(0) wechselt sie sprunghaft von der x1/x2- auf die x1/x3-
Ebene: die Schmiegebene verandert sich unstetig. Der linke Grenzwert der
Hauptnormalen liegt auf der x2-, der rechte auf der x3-Achse. Solche Un-
stetigkeiten kommen bei Frenetkurven nicht vor. Die geforderte Existenz
einer stetigen Hauptnormale impliziert namlich, daß die’Hauptnormalen-
raum‘-Abbildung
NN : IN 7→ P2, NN(s) :=T ′(s)=NN(s)
auf ganz I stetig fortsetzbar ist (analog fur den Binormalenraum).
Eine Frenetbegleitbasis existiert also nicht immer, und wenn sie existiert,
ist sie i. A. nicht eindeutig.
Beispiel 3. Es gibt Frenetkurven mit unendlich vielen verschiedenen Fre-
netbegleitbasen. Ein regulares Geradenstuck ist Frenetkurve. Ist (N1, N2)
eine feste ONB des konstanten Normalraumes T⊥ der Kurve, so daß die
Basis F0 = (T,N1, N2)t positiv orientiert ist, so haben die Frenetbegleit-
basen gerade die Form F = Dt1(ϕ)F0 (ϕ eine C1-Funktion) mit Koeffi-
zientenvektor p(F) = ϕ′e1, also κ = 0 und τ = ϕ′ (Satz 2).
In diesem Beispiel hat die”Torsion“ keinerlei geometrische Bedeutung fur
die eigentliche Kurve. Sie beschreibt die Geschwindigkeit, mit der die Nor-
malenvektoren um die Tangente rotieren, und kann vollig beliebig sein.
Die Frenetschen Krummungen sind in diesem Fall keine echten Invarian-
ten der Kurve wie in der klassischen Theorie. Es konnte immerhin sein,
daß es unter den verschiedenen Begleitbasen und Torsionen eine spezielle
gibt, die gegenuber den anderen aufgrund intrinsischer Eigenschaften der
Kurve ausgezeichnet ist. Es wurde nahe liegen, Geradenstucken die Torsion
THEORIE DER FRENETKURVEN 37
Null zuzuschreiben. In der Tat hat Wintner (1956, §§1-4) diese Losung
vorgeschlagen. Er nahm an, daß jeder Frenetkurve eindeutige und stetige
Krummungen zugeschrieben werden konnten, indem einfach κ ≡ κN und
auf Geradenstucken τ ≡ 0 gesetzt werden.
Gegenbeispiele widerlegen diese Annahme.
Beispiel 4. Wir betrachten eine Variante von Beispiel 2. Der Wendepunkt
an der Stelle t = 0 werde zu einem ganzen Intervall [0, a] verlangert, auf
dem die Kurve geradlinig verlauft. Sie besteht dann aus zwei ebenen ge-
krummten Bogen mit einem Geradenstuck dazwischen. Diese so modifi-
zierte Kurve ist eine Frenetkurve. Ebene Bogen sind wie schon erwahnt
Frenetkurven. Wir konnen eine Frenetbegleitbasis F fur beide Bogen defi-
nieren und diese auf das Geradenstuck fortsetzen. Das geht nach folgendem
allgemeinen Prinzip: F(0), F(a), τ0 und τa werden jeweils durch die Grenz-
werte dieser Großen in 0 und a erklart (im Beispiel τa = τ0 = 0). Wegen
T (0) = T (a) gibt es einen Winkel ϕa mit F(a) = Dt1(ϕa)F(0). Sei nun ϕ
eine auf [0, a] definierte, im Innern differenzierbare Funktion mit
ϕ(0) = 0, ϕ(a) = ϕa, lims→0
ϕ′(s) = τ0 und lims→a
ϕ′(s) = τa. (5.1)
Dann ist F mit der Fortsetzung
F∣∣[0,a]
:≡ Dt1(ϕ)F(0) (5.2)
eine Frenetbegleitbasis der ganzen Kurve. Auf dem Geradenstuck ist die
Situation wie in Beispiel 3, und der Ubergang an den Endpunkten ist
nach Konstruktion differenzierbar. Auf ]0, a[ ist p = ϕ′e1 und auf den
gekrummten Bogen p = (τ, 0, κ)t, wobei κ(0) = κ(a) = 0 und τ und ϕ′
an den Endpunkten die selben Grenzwerte haben.
THEORIE DER FRENETKURVEN 38
Diese Konstruktion ist fur jedes Geradenstuck einer Frenetkurve moglich,
und ϕ kann beliebig gewahlt werden, wenn nur die Festlegungen 5.1 und
5.2 erfullt sind. Daraus folgt:
Satz 5 (Frenetkurven mit Geradenstucken). Eine Frenetkurve, die
Geradenstucke enthalt, besitzt unendlich viele verschiedene Frenetsysteme.
Insbesondere ist es i. A. unmoglich, die Torsion auf Geradenstucken Null
zu setzen. Die Kurve von Beispiel 4 kann als Flugbahn eines Punktes ver-
anschaulicht werden, an den die Frenetbegleitbasis als Dreibein geheftet
ist. Der Punkt kommt im Parameter 0 mit einer Hauptnormalen paral-
lel zur x2-Achse an und verlaßt das Geradenstuck mit der Hauptnorma-
len in x3-Richtung. Auf ]0, a[ muß sich das Dreibein um 90 um die x1-
Achse drehen, und die Torsion ist die Winkelgeschwindigkeit, also sicher
nicht verschwindend. Unter den unendlich vielen Moglichkeiten, die Dre-
hung zu realisieren, ist keine in irgend einer Weise vor den anderen ausge-
zeichnet. Frenetbegleitbasis und Torsion einer Kurve mit Geradenstucken
sind wirklich uneindeutig. Wong & Lai (1967, 9) haben daher den Be-
griff Pseudotorsion vorgeschlagen, um dieser Uneindeutigkeit Rechnung
zu tragen. Konsequenterweise mußte man eigentlich sogar von Pseudo-
krummung, Pseudohauptnormale etc. sprechen.
Allerdings herrschen zumindest auf gekrummten Kurvenbogen recht klare
Verhaltnisse.
Lemma 9. Zwischen einem Frenetsystem ((T,N,B)t, κ, τ) einer Frenetkurve
und ihren intrinsischen Großen gelten die Beziehungen
N∣∣IN
= εNN , B∣∣IN
= εBN , κ∣∣IN
= εκN , τ∣∣IN≡ τN , ωL
∣∣IN≡ ωN ,
wobei ε : IN 7→ −1,+1 eine auf jeder Zusammenhangskomponente von IN
konstante Vorzeichenfunktion ist.
THEORIE DER FRENETKURVEN 39
Beweis. N und NN sind beide Einheitsvektoren und ihre Richtung ist auf
IN durch T ′ 6= 0 festgelegt. Also nimmt die Funktion ε := 〈N,NN〉 nur die
Werte ±1 an. ε ist stetig und diskret, muß also auf jeder zusammenhangen-
den Menge konstant sein und damit auch differenzierbar. Dann ist auch
NN = εN auf IN differenzierbar (N wurde ja C1 vorausgesetzt) und τN
wohldefiniert. Weiter ist (jeweils auf IN) B = T ×N = T × εNN = εBN
und κ = 〈N, T ′〉 = 〈εNN , T′〉 = εκN . Schließlich ist τ = 〈N ′, B〉 =
〈εN ′N , εBN〉 = +τN und ωL =
√κ2 + τ 2 =
√κ2
N + τ 2N = ωN .
Daraus folgt, daß die Torsion einer Frenetkurve auf jedem gekrummten
Bogen eindeutig bestimmt ist. Es gilt sogar:
Satz 6 (Frenetkurven ohne Geradenstucke). Eine geradenstuckfreie
Frenetkurve besitzt ein bis aufs Vorzeichen von Haupt- und Binormale und
Krummung eindeutig bestimmtes Frenetsystem. Insbesondere ist ihre Torsion
eindeutig bestimmt.
Beweis. Seien N und N C1-Hauptnormalen. Die Funktion ε := 〈N, N〉
ist stetig differenzierbar. Auf IN existieren Funktionen ε, ε, so daß N =
εNN und N = εNN (Lemma 9), die auf jeder Zusammenhangskomponente
von IN konstant ±1 sind. Also ist ε∣∣IN
= εε und ε′∣∣IN≡ 0. IN liegt nach
Voraussetzung dicht im Definitionsbereich I, und aus Stetigkeitsgrunden
ist ε konstant +1 oder −1, demnach N ≡ ±N . Naturlich ist dann auch
B ≡ ±B, κ ≡ ±κ und τ ≡ +τ .
Bemerkung. Die Torsion ist somit zumindest auf gekrummten Bogen ei-
ne echte Invariante, die Krummung aber nur fast. Zwar ist der Betrag der
Krummung, der ja mit dem Krummungsmaß κN ubereinstimmt, eindeutig,
er genugt aber nicht zur vollstandigen Charakterisierung einer Kurve; denn
THEORIE DER FRENETKURVEN 40
Vorzeichenwechsel der Krummung zeigen eine Anderung der Krummungs-
richtung an und sind nicht zu vernachlassigen. Lassen wir eine stetige
Funktion κ mit Vorzeichenwechseln zusammen mit einer anderen Funkti-
on τ eine Kurve charakterisieren (gemaß Fundamentalsatz 4), so erhalten
wir fur (|κ|, τ) eine vollig andere Kurve, fur (−κ, τ) dagegen dieselbe. Es
ist also nicht moglich, gemaß der Annahme von Wintner (s.o.) jeder Fre-
netkurve eine nichtnegative Krummung zuzuschreiben. Bei Kurven mit
Geradenstucken ist die Situation wiederum unubersichtlicher. Es kann in
diesem Fall unendlich viele verschiedene Krummungen geben, denn das
Vorzeichen von κ kann auf jedem gekrummten Bogen jeweils unabhangig
variiert werden, und unter ihnen gibt es i. A. keine bevorzugte Wahl.
In der klassischen Theorie bilden Krummung und Torsion einer wende-
punktfreien Kurve ein vollstandiges Invariantensystem einer Kurve. In der
Verallgemeinerung gilt das noch mit einer kleinen Einschrankung fur ge-
radenstuckfreie Kurven. Allgemein bilden sie zwar eine vollstandige, aber
keine invariante Charakterisierung der Kurve: verschiedene Paare von Fre-
netschen Krummungen konnen zu verschiedenen Begleitbasen derselben
Kurve gehoren.
Satz 7 (Aquivalenz von Frenetschen Krummungen). Zwei Paare ste-
tiger Funktionen (κ, τ) und (κ, τ) sind genau dann Frenetsche Krummungen
derselben Kurve, wenn es eine C1-Funktion θ gibt mit
κ sin θ = 0, κ cos θ = κ und θ′ = τ − τ.
Beweis. Ist p = (τ, 0, κ)t Ableitungsvektor eines Frenetsystems, so hat
jeder andere Ableitungsvektor p nach Satz 2 die Form
p1 = τ + θ′,
p2
p3
=
cos θ sin θ
− sin θ cos θ
0
κ
THEORIE DER FRENETKURVEN 41
mit einer C1-Funktion θ. Die Bedingung
(p1, p2, p3)!= (τ , 0, κ)
fuhrt dann auf obige Beziehungen.
In der Beziehung zwischen verschiedenen Frenetkrummungspaaren spie-
len die Torsionsintegrale eine wichtige Rolle. Bei der Untersuchung von
Geradenstucken (Beispiele 3 und 4) stellte sich das Torsionsintegral langs
eines Geradenstucks als der Winkel, um den sich die Begleitbasis dreht,
heraus. Bis auf ein ganzzahliges Vielfaches von π ist dieser Winkel durch
die Kurve offensichtlich eindeutig festgelegt. Wir bezeichnen diesen Win-
kel als Torsionswinkel und stellen seine intrinsische Eigenschaft allgemein
fest.
Definition 11 (Torsionswinkel). Sei τ Torsion einer Frenetkurve auf I
und G ⊂ I ein Intervall. Die Gesamttorsion ΛG und der Torsionswinkel ΛπG
der Kurve entlang G sind durch
ΛG :=
∫G
τ(s) ds, ΛπG = ΛG (mod π)
definiert.
Satz 8 (Der Torsionswinkel als intrinsische Große). Der Torsions-
winkel ΛπG einer Frenetkurve ist eine intrinsische Große der Kurve, falls die
Endpunkte des Intervalls G nicht in einem Geradenintervall liegen. Insbeson-
dere sind der Torsionswinkel einer Frenetkurve entlang eines Geradenstucks
und der Torsionswinkel Λπγ := Λπ
[a,a+L] (mit a /∈ IG) uber einer geschlossenen
Kurve γ der Lange L eindeutig bestimmt.
Beweis. Sind τ und τ Torsionen der selben Frenetkurve, dann gibt es
nach Satz 7 eine Funktion θ mit κ sin θ = 0 und θ′ = τ − τ . Auf IN gilt
THEORIE DER FRENETKURVEN 42
dann sin θ = 0 ⇒ θ = kπ. Aus Stetigkeitsgrunden gilt das sogar auf dem
Abschluß IN = I \ IG. Fur s0 und s1 aus dieser Menge folgt dann
Λπ[s0,s1] − Λπ
[s0,s1] =
∫ s1
s0
(τ(s)− τ(s))ds (mod π) =
=
∫ s1
s0
θ′(s) ds (mod π) = θ(s1)− θ(s0) (mod π) ≡ 0 (mod π).
Naturlich konnen fur s0 und s1 auch die Endpunkte eines Geradenintervalls
gewahlt werden.
Zu klaren ist noch, daß der Torsionswinkel einer geschlossenen Kurve wohl-
definiert ist. O. B. d. A. sei eine geschlossene Kurve der Lange L als L-
periodische Parametrisierung x auf R gegeben (eine andere Parametri-
sierung kann periodisch auf R fortgesetzt werden). Da ein Geradenstuck
nicht geschlossen ist, ist IN 6= ∅ und fur beliebige a, b ∈ IN (b > a) gilt
Λπ[a,b] = Λπ
[a+L,b+L]. Das folgt aus x∣∣[a,b]≡ x
∣∣[a+L,b+L]
und dem intrinsischen
Charakter des Torsionswinkels. Dann ist weiter
Λπ[a,a+L] − Λπ
[b,b+L] = Λπ[a,b] + Λπ
[b,b+L] − Λπ[a+L,b+L] − Λπ
[b,b+L] = 0.
Also ist der Torsionswinkel einer geschlossenen Kurve unabhangig von
der Wahl des Anfangspunktes, sofern dieser nicht in einem Geradenstuck
liegt.
Bemerkung. Eine ebene Kurve besitzt ein Frenetsystem mit verschwin-
dender Torsion; also verschwindet auch generell der Torsionswinkel auf
zulassigen Intervallen. Insbesondere gilt: Die Torsion verschwindet auf al-
len gekrummten Bogen und der Torsionswinkel verschwindet auf jedem
Geradenstuck. Diese Bedingungen sind auch hinreichend dafur, daß ir-
gendwelche Krummungen (κ, τ) zu einer ebenen Kurve gehoren. Denn ver-
schwindender Torsionswinkel auf einem Geradenstuck ist aquivalent dazu,
THEORIE DER FRENETKURVEN 43
daß die Schmiegebene in den Endpunkten die gleiche ist; die Kurvenbogen
liegen also alle in der gleichen Ebene.
Das Aquivalenzkriterium wurde erstmals von Wong & Lai (1967) ange-
geben und durch elementare Rechnung bewiesen. Sie formulierten auch die
Aussage fur den Torsionswinkel, fur geschlossene Kurven sogar mod 2π;
dies wurde bedeuten, daß alle Frenetsysteme die selbe Periodizitat aufwei-
sen (vom Verhalten auf Geradenstucken abgesehen). Dem ist nicht so. Eine
geschlossene Frenetkurve der Lange L mit einem Geradenstuck besitzt so-
wohl ein 2L-periodisches Frenetsystem, bei dem Haupt- und Binormale
nach jedem vollen Durchlauf das Vorzeichen wechseln, als auch ein L-pe-
riodisches. Die Gesamttorsionen beider Systeme unterscheiden sich um π,
deshalb ist der Satz nur modulo π richtig. Fur geradenstuckfreie Kurven ist
naturlich die Gesamttorsion intrinsisch, da ja die Torsion selber intrinsisch
ist.
Zum Schluß dieses Abschnitts uber Existenz und (Un)Eindeutigkeit von
Frenetsystemen mochte ich noch einen schonen Satz von Nomizu (1959),
der im folgenden allerdings nicht weiter gebraucht wird, zitieren (ohne
Beweis):
Satz 9 (Analytische Kurven). Jede (regulare) analytische Kurve ist eine
Frenetkurve. Falls sie nicht geradlinig ist, sind ihre Wendepunkte allesamt
isolierte Punkte und das Frenetsystem ist bis auf ein Vorzeichen eindeutig
bestimmt.
THEORIE DER FRENETKURVEN 44
6 Das Bishopsystem einer Raumkurve
Tangentiale Systeme mit verschwindendem Koeffizienten p2 wurden als
Frenetsysteme untersucht. Der Fall p3 ≡ 0 fuhrt auf die selbe Situation nur
mit anderer Numerierung. Im folgenden betrachten wir den verbleibenden
Fall p1 ≡ 0.
Definition 12 (Bishopsystem). Ein tangentiales Sytem (B, p(B)) einer
Kurve γ : x := x(s), s ∈ I heißt Bishopsystem, falls der erste Koeffizient p1
des Ableitungsvektors verschwindet. B =: (T,M1,M2)t heißt Bishopbegleit-
basis der Kurve und die stetige parametrisierte Kurve
k : I 7→ R2, k =
(p2
p3
)=
(〈M ′
2, T 〉〈T ′,M1〉
)heißt Normalenentwicklung des Systems.
Bemerkung 1. Die Ableitungsgleichungen eines Bishopsystems
((T,M1,M2)t, (k1, k2)
t) sehen dann so aus:T
M1
M2
′
=
0 k2 −k1
−k2 0 0
k1 0 0
·
T
M1
M2
.
Bemerkung 2. Es gilt |k| = |T ′| = κN , also entspricht die Null-
stellenmenge der Normalenentwicklung genau der Wendepunktmenge der
Kurve. Insbesondere sind Geradenstucke durch k ≡ 0 gekennzeichnet.
Die Normalenkomponenten einer Bishopbegleitbasis haben tangentiale Ab-
leitungen. Solche Normalenfelder, die hier als relativ parallel bezeichnet
werden, sind nicht nur zur Konstruktion von Bishopsystemen nutzlich,
sondern auch fur die Untersuchung von Parallelkurven.
THEORIE DER FRENETKURVEN 45
Definition 13 (Relativ parallel).
1. Ein C1-Normalenfeld entlang einer Kurve heißt relativ paralleles Norma-
lenfeld (RPNF) der Kurve, falls seine Ableitung tangential ist.
2. Zwei C1-Kurven heißen Parallelkurven, falls sie diffeomorph aufeinan-
der bezogen werden konnen so, daß die Normalebenen beider Kurven in
entsprechenden Punkten ubereinstimmen. Das heißt, es gibt C1-Para-
metrisierungen x(t), x(t) fur die beiden Kurven, so daß fur alle Para-
meterwerte gilt
x(t) + x(t)⊥ = x(t) + x(t)⊥.
Bemerkung. Normalenfelder mit tangentialer Ableitung und daraus kon-
struierte Begleitbasen wurden m. W. erstamls von Bishop (1975) ausfuhr-
lich untersucht. In der Literatur (vgl. Blaschke 1921) tauchen sie aber
schon im Zusammenhang mit sogenannten Krummungsstreifen auf. Ist
E(s) ein Vektorfeld langs einer regularen Kurve γ : x(s), so ist durch
R(s, v) := x(s) + vE(s) eine Regelflache definiert. Sie ist eine Torse, al-
so in die Ebene verbiegbar, falls die Torsenbedingung det(E,E ′, T ) = 0
erfullt ist. Dies ist sicher der Fall, wenn fur E ein RPNF gewahlt wird.
Die so definierte Torse wird als Krummungsstreifen bezeichnet.
Satz 10 (Parallelkurven). Zwei C1-Kurven γ : x = x(s), s ∈ I und
γ : x = x(s) sind genau dann Parallelkurven, wenn es ein RPNF M auf I
zu γ gibt, so daß die parametrisierte Kurve x := x + M regular und C1-
aquivalent zu x ist.
Beweis. Ist M RPNF zu γ, so haben die parametrisierten Kurven x und
x in entsprechenden Punkten gleiche Normalebenen. Die Tangential- und
THEORIE DER FRENETKURVEN 46
damit auch die Normalraume stimmen uberein wegen ˙x = αx 6= 0. M ist
normal, also ist x = x+M ∈ x+ x⊥ ⇒ x+ x⊥ = x+M + x⊥ = x+ ˙x⊥.
Sind umgekehrt zwei Parallelkurven γ : x(t) und γ : x(t) gegeben mit
x(t)+x(t)⊥ = x(t)+x(t)⊥, so ist x(t) ‖ x(t) ⇒ M := x−x hat tangentiale
Ableitung zu beiden Kurven und die Normalenraume stimmen uberein.
Offensichtlich ist M dann selbst normal und damit ein RPNF.
Parallelkurven haben also die interessante Eigenschaft, daß sie in entspre-
chenden Punkten parallele Tangenten haben und die Verbindungsstrecke
dazwischen auf beiden Kurven senkrecht ist.6
Wir bemerken einige Eigenschaften der RPNFs.
Lemma 10. Sei eine C2-Kurve mit Tangentialvektor T gegeben; M und M1
seien relativ parallele Normalenfelder (RPNFs). Dann gilt:
a) |M | ≡ const.
b) 〈M,M1〉 ≡ const.
c) Sind c, c1 reelle Konstanten, so ist M := cM + c1M1 wieder relativ
parallel.
d) M := T ×M ist wieder relativ parallel.
Beweis. M ′ ist tangential ⇒ 〈M,M ′〉 ≡ 0 ⇒ 〈M,M〉 ≡ const. Genauso
ist 〈M,M1〉 ≡ const.
6Zuweilen werden Kurven auch als Parallelkurven bezeichnet, wenn nur die Tangen-
ten parallel, d.h. ihre Tangentenbilder kongruent sind. In diesem Sinne ware ein RPNF
einer Kurve, aufgegaßt als parametrisierte Kurve, sogar selbst Parallelkurve (falls re-
gular).
THEORIE DER FRENETKURVEN 47
Linearkombinationen von RPNF sind naturlich wieder RPNF, denn die
Ableitungen der Summanden sind alle tangential.
Zu (d): M′= (T ×M)′ = T ′ ×M + T ×M ′ = T ′ ×M. Da T ′ und M
beide normal sind, muß das Kreuzprodukt tangential und M daher relativ
parallel sein.
RPNFs haben also konstante Lange und schließen untereinander feste
Winkel ein. Außerdem legt ein RPNF zugleich eine Bishopbegleitbasis fest.
Lemma 11. Sei γ : x(s) eine C2-Kurve mit Tangentenvektor T und M 6≡ 0
ein RPNF.
a) Mit M1 := M/|M | und M2 := T × M1 ist (T,M1,M2)t eine
Bishopbegleitbasis der Kurve.
b) Ist M0 ein Normalenvektor im Punkt x(s0), so gibt es genau ein RPNF
M der Kurve mit M(s0) = M0, namlich
M := |M0| · (cosϕ0M1 + sinϕ0M2),
wobei fur ϕ0 der durch T orientierte Winkel zwischen M0 und M1(s0)
zu wahlen ist.
Beweis. a) M1 und M2 sind RPNFs nach Lemma 10, c) und d) und
erganzen T nach Konstruktion zu einer Begleitbasis.
b) M ist gemaß Lemma 10 c) RPNF und ϕ0 wurde so gewahlt, daß
M(s0) = M0. Ist M ein weiteres RPNF mit M(s0) = M0, so ist die Dif-
ferenz wieder relativ parallel und folglich |M − M | ≡ const. = |M(s0) −
M(s0)| = 0. Daraus folgt die Eindeutigkeit.
THEORIE DER FRENETKURVEN 48
Nach diesem Lemma sind die RPNFs einer Kurve und damit ihre Bishop-
begleitbasen bis auf die Wahl eines Anfangswertes eindeutig bestimmt —
falls es uberhaupt welche gibt. Erfreulicherweise ist die Existenz schon
unter schwachen Voraussetzungen gesichert.
Satz 11 (Existenz und Fast-Eindeutigkeit des Bishopsystems).
Jede C2-Kurve besitzt ein Bishopsystem. Ist ((T,M1,M2)t, k) ein Bishopsy-
stem, so ist die Gesamtheit der Bishopsysteme ((T,M1,M2)t, k) genau durch(
M1
M2
)= Dt(ϕ0) ·
(M1
M2
)und k = D(−ϕ0) · k
gegeben mit einem Winkel ϕ0 ∈ R. Insbesondere ist die Normalenentwicklung
bis auf eine ebene Drehung eindeutig bestimmt.
Beweis. Wir zeigen zunachst, daß es differenzierbare und nichtverschwin-
dende RPNFs lokal gibt. Diese konnen stetig zusammengesetzt werden,
denn es wurde ja gezeigt, daß aus einem lokalen RPNF ein weiteres kon-
struiert werden kann, das irgendeinen vorgegebenen Wert annimmt. Schließ-
lich erfullt dieses zusammengesetzte RPNF die Differenzierbarkeitsforde-
rung. Das ist eine Konsequenz aus der Eindeutigkeit.7 Aus dem RPNF
kann dann eine Bishopbegleitbasis konstruiert werden (Lemma 11). Die
Beziehungen zwischen verschiedenen Bishopsystemen folgen direkt aus
Satz 2.
1. Schritt. Die Kurve sei γ : x(s), s ∈ I mit Tangentenvektor T . Fur jeden
Parameterwert s1 gibt es eine Umgebung, auf der eine lokale C1-Begleit-
basis konstruiert werden kann. Dazu wahlen wir einen Vektor V , der in s1
nicht tangential ist. Dann ist V auf einer ganzen Umgebung nicht tangen-
tial (wegen T ×V 6= 0 auf einer Umgebung). Wir konnen die Konstruktion
7Der Beweis folgt der Skizze von Bishop (1975).
THEORIE DER FRENETKURVEN 49
von Lemma 7 anwenden. Dabei bleibt die Differentiationsordnung der Tan-
gente erhalten.
2. Schritt. Aus jeder lokalen Begleitbasis U kann eine Bishopbegleitbasis
gleicher Ordnung konstruiert werden. Ist p1 der erste Koeffizient von p(U),
so ist U := Dt1(ϕ)U mit ϕ(s) = −
∫ s
s0p1(σ) dσ Bishopbegleitbasis. Denn
nach Satz 2 ist p = Dt1(ϕ)p+ ϕ′e1 ⇒ p1 = p1 + ϕ′ ≡ 0.
3. Schritt Wir haben nun eine Uberdeckung von I mit offenen Intervallen,
auf denen jeweils RPNFs existieren. Daraus konnen wir zunachst auf je-
dem kompakten Teilintervall ein C1-RPNF konstruieren, denn wir konnen
uns dann auf eine endliche Teiluberdeckung beschranken. Auf den endlich
vielen Teilstucken wird je ein lokales RPNF so ausgewahlt, daß benach-
barte RPNF jeweils in einer gewissen Nahtstelle ubereinstimmen. Dann
stimmen sie wegen der Eindeutigkeit sogar auf der ganzen offenen Schnitt-
menge uberein und die Zusammensetzung ist differenzierbar. Sei nun (Kn)
eine Folge kompakter Intervalle mit Kn → I fur n→∞ und Kn ⊂ Kn+1.
Es gibt eine Folge von RPNFs Mn : Kn 7→ R3 mit Mn+1
∣∣Kn≡Mn. Somit
kann auf ganz I ein globales, differenzierbares RPNF definiert werden.
Naturlich charakterisiert auch die Normalenentwicklung ebenso wie die
Frenetschen Krummungen eine Kurve eindeutig bis auf eine eigentliche
Bewegung. Das ist eine direkte Folgerung von Satz 1.
Satz 12 (Fundamentalsatz fur Normalenentwicklungen). Eine ebe-
ne, stetige parametrisierte Kurve k : I 7→ R2, k = k(s) ist Normalenentwick-
lung einer bis auf eine eigentliche Bewegung eindeutig bestimmten C2-Kurve,
deren Bogenlangenfunktion s ist.
Die Fasteindeutigkeit des Bishopsystems rechtfertigt es, die Normalenent-
wicklung als ein die Kurve charakterisierendes Invariantensystem aufzu-
THEORIE DER FRENETKURVEN 50
fassen; invariant zwar nur bis auf eine Drehung, aber das heißt ja nur, daß
wir von der Lage in der Ebene fast ganz absehen konnen. Bei den Fre-
netkrummungen haben wir im Fall der Geradenstuckfreiheit eine ahnliche
Situation: (κ, τ), aufgefaßt als Kurve, ist bis auf Spiegelung an der ersten
Koordinatenachse eindeutig.
7 Zusammenhang zwischen Frenet- und Bi-
shopsystem
Aufgrund der Existenz der Bishopbegleitbasis konnen andere Systeme, ins-
besondere Frenetsysteme, durch das Bishopsystem (B, k) dargestellt wer-
den. Mit dem Ansatz F = Dt1(ϕ)B erhalten wir aus Satz 2 die Darstellung
p1(F) = ϕ′,
(p2(F)
p3(F)
)= Dt(ϕ)k.
Das heißt, (κ, τ) sind Frenetkrummungen der Kurve genau dann, wenn sie
die Bedingungen
τ = ϕ′ und k = D(ϕ)
(0
κ
)= κ
(− sinϕ
cosϕ
)= κE(ϕ+ π/2)
erfullen (fur differenzierbares ϕ). Dann ist ϕ− π/2 genau ein Polarwinkel
und κ der zugehorige Polarabstand von k. Da eine feste Drehung fur die
Normalenentwicklung irrelevant ist, folgt
Satz 13 (Umrechnung zwischen Frenet- und Bishopsystem). Eine
C2-Raumkurve ist genau dann eine Frenetkurve, wenn ihre Normalenentwick-
lung k eine differenzierbare Polarwinkelfunktion besitzt. Ist (B, k) ein Bisho-
psystem der Kurve mit k = rE(ϕ), so ist ein Frenetsystem gegeben durch
(F , κ, τ) mit
F = Dt1(ϕ)B, κ = r, τ = ϕ′.
THEORIE DER FRENETKURVEN 51
Ist umgekehrt (F , κ, τ) ein Frenetsystem einer Frenetkurve, so ist ihr Bisho-
psystem (B, k) gegeben durch
B = D1(ϕ)F , k = κE(ϕ+ π/2), ϕ(s) = ϕ0 +
∫ s
s0
τ(t)dt = ϕ0 + Λ[s0,s]
(fur ϕ0 ∈ R und s0 ein beliebiger Parameterwert).
Bemerkung. Die meisten Uberlegungen des Abschnitts 5.2 konnen auch
direkt aus diesem Satz gefolgert werden. Insbesondere sagt Lemma 4, daß
die Polarkoordinaten der Normalenentwicklung dann fasteindeutig sind,
wenn ihre Nullstellenmenge, also IN , keine inneren Punkte hat. Daraus
folgt direkt der Satz 6 uber die Fasteindeutigkeit der Frenetkrummungen
einer geradenstuckfreien Kurve.
Nach dem Satz ist die Gesamttorsion auf einem Intervall als die Verande-
rung des Drehwinkels zwischen Bishopbegleitbasis und Frenetbegleitbasis
zu interpretieren. Das hat bemerkenswerte Konsequenzen fur die Parallel-
kurven einer geschlossenenen Kurve γ : x(s).
Ist M ein RPNF, so ist die Parametrisierung x + M genau dann re-
gular, wenn uberall 〈T ′,M〉 6= 1 (wegen 〈T ′,M〉 = −〈T,M ′〉). Im all-
gemeinen brauchen regulare Parallelkurven nicht zu existieren. Fur die
Einschrankung auf ein kompaktes Intervall ist aber der Wertebereich der
Normalenentwicklung beschrankt; eine Skalierung mit einem geeigneten
konstanten Faktor bildet sie in das Innere des Einheitskreises ab, und
dann liefert jedes so skalierte Einheits-RPNF eine regulare Parallelkur-
ve. Insbesondere besitzt jede geschlossene Kurve regulare Parallelkurven.
Es uberrascht vielleicht, daß diese Parallelkurven i. A. nicht geschlossen
sind. Sicher sind alle Parallelkurven einer geschlossenen Kurve genau dann
geschlossen, wenn ein periodisches RPNF existiert. Dessen Periodizitat
THEORIE DER FRENETKURVEN 52
hangt nun bei Frenetkurven vom Torsionswinkel und von der Periodizitat
des Frenetsystems ab.
Es wurde schon bemerkt, daß das Frenetsystem einer geschlossenen Kurve
nicht periodisch zu sein braucht. Es gibt sogar geschlossene Frenetkurven
der Lange L, fur die kein L-periodisches Frenetsystem existiert. Beispiel
ist eine Schleife auf einem Mobiusband mit genau einem Wendepunkt. Es
ist allerdings leicht zu sehen, daß zumindest ein 2L-periodisches Frenet-
system existiert. Dann erhalten wir bei verschwindendem Torsionswinkel
eine geschlossene Parallelkurve, aber auch dann, wenn der Torsionswinkel
ein rationaler Bruchteil von 2π ist.
Satz 14 (Bishopsystem einer geschlossenen Kurve). Eine geschlos-
sene Frenetkurve der Lange L besitzt ein 2L-periodisches Frenetsystem. Ihr Bi-
shopsystem ist genau dann 2L-periodisch, wenn ihr Torsionswinkel verschwin-
det; es ist periodisch, wenn ihre Gesamttorsion ein rationaler Bruchteil von 2π
ist.
Beweis. Wir nehmen wieder an, daß die Kurve γ durch eine L-periodi-
sche Parametrisierung x : R 7→ R3 gegeben ist; sei x(0) = x(L) Nicht-
wendepunt. Es gibt dann eine ganze ε-Umgebung U(0), auf der die Kurve
wendepunktfrei ist, und fur s ∈ U ist N(s) = ±N(s + L), wenn N eine
Hauptnormale ist. Wenn wir deshalb N von [0, L[, evt. mit umgekehr-
tem Vorzeichen, auf [L, 2L[ fortsetzen, so ist der Ubergang bei L glatt.
Definieren wir fur s ∈ [0, L[ und k ∈ Z
N(s+ 2kL) := N(S) und N(s+ (2k + 1)L) := ±N(s),
so ist dann N eine 2L-periodische Hauptnormale und durch sie ist ein Fre-
netsystem derselben Periodizitat festgelegt. Die Torsion in diesem System
ist sogar L-periodisch.
THEORIE DER FRENETKURVEN 53
Sei jetzt F eine solche Frenetbegleitbasis. Die Bishopbegleitbasis ist dann
durch B = D1(ϕ)F gegeben. Sie ist 2L-periodisch genau dann, wenn
B(0) = B(2L) (wegen der Eindeutigkeit bei vorgegebener Anfangsbele-
gung). Nun folgt
B(0) = B(2L) ⇔ ϕ(0) = ϕ(2L) (mod 2π) ⇔ Λ[0,2L] = 0 (mod 2π) ⇔
⇔ 2Λ[0,L] = 2kπ ⇔ Λπγ = 0.
Allgemein wird das Bishopsystem einer geschlossenen Kurve in jedem
Durchlauf um den Torsionswinkel (bzw. um π plus den Torsionswinkel)
gegenuber der ursprunglichen Position gedreht. Ist dieser Winkel ein ra-
tionaler Teil des Vollwinkels, so wird es nach entsprechend vielen Umlaufen
in die Anfangsposition zuruckkehren.
Korollar. Sei γ1 : x(s) = x(s) + M(s) Parallelkurve einer geschlossenen
Kurve γ : x(s) der Lange L. Dann ist γ1 genau dann geschlossen, wenn der
Torsionswinkel von γ ein rationaler Bruchteil von 2π ist. Wenn insbesondere
der Torsionswinkel verschwindet, so entspricht ein Umlauf von γ genau einem
oder zwei Umlaufen von γ.
Bemerkung. Ahnliche Uberlegungen wie fur die Parallelkurven lassen
sich auch uber Krummungsstreifen (s. Bemerkung zu Def. 13) anstellen.
Zunachst folgt aus dem Existenzsatz, daß durch jede Kurve, ggf. nach Ein-
schrankung auf ein kompaktes Intervall, ein regularer Krummungsstreifen
positiver Breite gelegt werden kann. Der Torsionswinkel einer geschlosse-
nen Kurve verschwindet genau dann, wenn der Krummungsstreifen sich
nach einem Kurvenumlauf schließt. In dieser Form wurde die Aussage von
Fenchel (1934) bewiesen.
THEORIE DER FRENETKURVEN 54
Beispiel 5. Bisher bleibt unklar, welche Werte der Torsionswinkel ei-
ner geschlossenen Kurve uberhaupt annehmen kann. Sicherlich gibt es ge-
schlossene Kurven mit verschwindendem Torsionswinkel, darunter die ebe-
nen Kurven. Es gibt auch welche mit nichtverschwindendem Torsionswin-
kel. Als Beispiel betrachten wir eine Kurve auf einem Kreiszylinder, die aus
einer Windung einer Schraubenlinie und einem Stuck einer Mantellinie zu-
sammengesetzt ist. Die Ecken an den Endpunkten der Schraubenwindung
werden abgerundet, so daß eine glatte Kurve γ1 entsteht. Uber die Gesamt-
torsion dieses Gebildes laßt sich zunachst nichts sagen. Sei nun γn analog
wie γ1 aufgebaut, nur mit genau nWindungen der selben Ganghohe und ei-
nem entsprechend verlangerten Geradenstuck. Insbesondere soll die Form
der Abrundung genau identisch sein. Da die Lange des Geradenstucks die
Gesamttorsion nicht beeinflußt, ist Λγn = Λγ1 + (n − 1)Λ, wobei Λ die
Gesamttorsion einer Schraubenwindung ist. Sie hangt von der Wahl des
Schraubparameters ab (Λ = 2π sin Θ, wobei Θ der Winkel ist, den die
Schraubenlinie mit einer Lotebene der Schraubachse einschließt). Offen-
sichtlich ist es moglich, durch geeignete Wahl von Θ und n geschlossene
Kurven mit beliebigem Torsionswinkel und nicht geschlossenen Parallel-
kurven zu konstruieren.
Bisher wurde der Zusammenhang zwischen Bishop- und Frenetsystem ei-
ner Kurve hergeleitet. Nun ist jedes Frenetsystem zugleich Bishopsystem
einer anderen Kurve und umgekehrt. Durch Umstellen der Begleitbasis
kann erreicht werden, daß statt des ersten Koeffizienten des Ableitungs-
vektors (Bishopsystem) der zweite Koeffizient (Frenetsystem) verschwin-
det. Ist ((T,M1,M2)t, (k1, k2)
t) Bishopsystem einer Kurve, so ist etwa
((M2, T,M1)t, k1, k2) ein Frenetsystem. Es definiert eine Frenetkurve γ1 :
x(s) =∫ s
s0M2(σ)dσ mit Hauptnormale T . Genauso laßt sich ein Frenet-
THEORIE DER FRENETKURVEN 55
system zu einem Bishopsystem umschreiben. Als Tangente fungiert im
neuen System die Hauptnormale des alten. Da aus dem Bishopsystem ei-
ner Frenetkurve wiederum in ihr Frenetsystem umgerechnet werden kann,
ergibt sich so eine Methode, um von einem Frenetsystem auf das einer
verwandten Kurve uberzugehen.
Definition 14 (Vorganger- und Folgekurve). Seien γ1 : x1(s) und
γ2 : x2(s) C2-Kurven. γ2 heißt Folgekurve von γ1 und γ1 Vorgangerkurve
von γ2, falls der Tangentenvektor von γ1 Hauptnormale von γ2 ist (bezogen
auf die Parametrisierung nach der gemeinsamen Bogenlangenfunktion s).
Bemerkung. Eine Kurve γ hat genau dann Vorgangerkurven, wenn sie
Frenetkurve ist. Ist sie geradenstuckfrei, so sind es bis auf eine Translation
genau zwei Vorgangerkurven, die sich nur in der Orientierung unterschei-
den. Sonst sind es unendlich viele verschiedene Vorgangerkurven. Sie sind
genau dann wieder Frenetkurven, wenn es fur die Frenetkrummungen von
γ Polarkoordinaten mit differenzierbarem Polarwinkel gibt; das folgt aus
Satz 13, denn das Frenetsystem von γ entspricht einem Bishopsystem der
Vorgangerkurve. Eine Schar von Folgekurven existiert immer; sie sind Fre-
netkurven und ihre Tangenten sind relativ parallel zu γ.
Satz 15 (Ubergang von Vorganger- zu Folgekurve). Zwischen den
Frenetsystemen einer Frenetkurve γ1 und einer Folgekurve γ2 besteht folgen-
der Zusammenhang:T2
N2
B2
=
0 − cosϕ sinϕ
1 0 0
0 sinϕ cosϕ
T1
N1
B1
,
(κ2
τ2
)= κ1
(cosϕ
sinϕ
),
wobei ϕ(s) = ϕ0 +
∫ s
s0
τ1(σ)dσ
THEORIE DER FRENETKURVEN 56
fur ein gewisses ϕ0 ∈ R. Die BinormaleB1 = sinϕT2+cosϕB2 der Vorganger-
kurve ist Darbouxvektor des Frenetsystems der Folgekurve.
Beweis. Ist ein Frenetsystem von γ1 gegeben, so ist ein Bishopsystem
nach Satz 13 gegeben mit ((T1,−T2, B2)t, k), wobei(
−T2
B2
)= D(ϕ)
(N1
B1
), k = κ1E(ϕ+ π/2)
und ϕ wie im Satz. Dann ist ((T2, T1, B2)t, κ1 cosϕ, κ1 sinϕ) ein Frenetsy-
stem einer Folgekurve. Mit N2 := T1 folgen die behaupteten Beziehungen.
Ist umgekehrt ein Frenetsystem von γ2 gegeben mit einem differenzierba-
ren Polarwinkel der Krummungen, so ist ein Frenetsystem einer Vorganger-
kurve gemaß den Fomeln bestimmbar.
κ1B1 = τ2T2 + κ2B2 ist der nicht normierte Drehvektor der Begleitbasis
von γ2 (Definition 6), also ist B1 ihr Drehvektor. Ihre Drehgeschwindigkeit
ist κ1, und es ist κ21 = ω2
L.
Der Ubergang auf eine Vorgangerkurve ist genau dann moglich, wenn die
Krummungen in Polarkoordinatendarstellung mit differenzierbarem Po-
larwinkel gegeben sind. Der Polarabstand (im Satz κ1), zugleich Drehge-
schwindigkeit des Frenetsystems, ist betragsgleich mit dem Lancretsches
Krummungsmaß ωL =√κ2 + τ 2 (Definition 9). Folgerichtig konnte er
auch als Lancretsche Krummung ω des Frenetsystems bezeichnet werden.
Ist ωL 6= 0, so verschwinden die Krummungen eines Frenetsystems nicht
gleichzeitig und Lemma 5 ist anwendbar. Wir erhalten dann folgende For-
meln fur das Frenetsystem der Vorgangerkurve:
Korollar. Sei (T,N,B) eine C2-Frenetbegleitbasis einer Kurve mit Krummun-
gen κ, τ und nichtverschwindender Lancretscher Krummung ωL. Dann ist
THEORIE DER FRENETKURVEN 57
((N,C,D)t, ω, µ) mit
ω = ωL =√κ2 + τ 2, µ =
κτ ′ − κ′τ
κ2 + τ 2sowie
D =1
ω(τT + κB) und C =
1
ω(τB − κT )
Frenetsystem der Vorgangerkurve mit Tangentenvektor N .
Bemerkung 1. Hartl (1993) gibt eine Zerlegung der Darboux-Drehung
einer Kurve (fur den wendepunktfreien Fall) in zwei ebene Drehungen an.
Die Winkelgeschwindigkeit einer dieser Drehungen ist gerade (in der Be-
zeichnung des Korollars) die Torsion µ der Vorgangerkurve. Daraus wird
gefolgert, daß die Gesamttorsion der Folgekurve einer (wendepunktfrei-
en) geschlossenen Kurve (mod 2π) verschwindet. Dieser Befund laßt sich
auch folgendermaßen herleiten: Die Frenetbegleitbasis (T,N,B)t einer ge-
schlossenen wendepunktfreien Kurve ist periodisch und daher auch die der
Vorgangerkurve. T ist RPNF zur Vorgangerkurve, also genau dann peri-
odisch mit der selben Periode, wenn deren Gesamttorsion 0 (mod 2π) ist
(das folgt analog aus dem Beweis von Satz 14).
Bemerkung 2. Die Voraussetzungen des Korollars sind insbesondere fur
das Frenetsystem einer wendepunktfreien C4-Kurve erfullt. Der Tangen-
tenvektor einer wendepunktfreien Kurve ist selbst Ortsvektor einer re-
gularen Kurve; die Vorgangerbegleitbasis ist dann gerade die Frenetbe-
gleitbasis der Tangente, allerdings nicht nach deren Bogenlange parametri-
siert. Um die Krummungen des Tangentenbildes zu erhalten, mußte nach
ihrer Bogenlange sT abgeleitet werden, wobei dsdsT
= 1κN
.
Aus einem Frenetsystem einer Kurve kann mit den Formeln des Satzes
eine unendliche Folge von Folgekurven samt Frenetsystemen konstruiert
THEORIE DER FRENETKURVEN 58
werden. Geht man von einer wendepunktfreien C∞-Kurve aus, so liefert
das Korollar außerdem eine unendliche Folge von Vorgangerkurven; sie
sind wegen ω > 0 wieder wendepunktfrei. Bilinski (1955, 1963) gab
diese Folge an und bemerkte, daß alle nur aus den Frenetgleichungen
abgeleiteten Satze der Kurventheorie fur alle Begleitbasen dieser Folge
gelten; so besteht eine einfache Moglichkeit, aus bekannten Satzen neue
zu gewinnen. In Abschnitt 9 wird von dieser Methode vor allem in um-
gekehrter Richtung Gebrauch gemacht, indem von einer Kurve auf die
Folgekurve geschlossen wird, um die Frenetgleichungen in einigen Spezi-
alfallen zu integrieren. Denn wenn fur Krummungen κ, τ die Losung der
Frenetgleichungen bekannt ist, so liefert der obige Satz die Losung fur die
Krummungen κ cos∫τ ds, κ sin
∫τ ds und allgemein fur alle Folgekurven.
Umgekehrt sind die Frenetgleichungen einer Kurve integrierbar, wenn die
einer ihrer Vorgangerkurven integrierbar sind. In der Tat sind die wenigen
bekannten Beispiele fur integrierbare Kurvenklassen gerade die Folgekur-
ven ebener Kurven (deren Integrabilitat seit 1736 bekannt ist). Satz 15
stellt diese Ergebnisse somit in den adaquaten Zusammenhang.
III. Spezielle Klassen von
Raumkurven
8 Flachenkurven und spharische Kurven
8.1 Die Darbouxbegleitbasis einer Flachenkurve
Das klassische Instrument der dreidimensionalen Kurventheorie sind die
Frenetinvarianten Krummung und Torsion (invariant mit den in Teil II
ausgefuhrten Einschrankungen). Typischerweise wird nach dem Zusam-
menhang zwischen den Frenetkrummungen (oder anderen, aus diesen ab-
geleiteten Großen wie etwa Gesamtkrummung und -torsion) und lokalen
oder globalen geometrischen Eigenschaften einer Kurve gefragt. In diesem
Abschnitt werden geometrische Eigenschaften mit Hilfe des Bishopsystems
und der Normalenentwicklung (der Bishopinvariante) analysiert. Der Zu-
sammenhang zwischen Normalenentwicklung und elementarer Kurvengeo-
metrie ist so eng, daß einige Probleme auf diesem Weg wesentlich direkter
angegangen werden konnen als mit den Mitteln der Frenettheorie, darun-
ter insbesondere die Charakterisierung spharischer Kurven. Die so gewon-
nenen Ergebnisse werden dann mit Hilfe von Satz 13 in die Begriffe der
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 60
Frenettheorie ubertragen.
Zunachst betrachten wir Flachenkurven. Ihnen kann mit Hilfe der Flachen-
normale in naturlicher Weise eine Begleitbasis zugeordnet werden.
Definition 15 (Darbouxbegleitbasis). Sei eine C2-Kurve γ mit Tan-
gentialvektor T auf einer regularen C2-Flache gegeben; deren Flachennormale
entlang der Kurve sei N , und weiter wird der Seitenvektor S := N × T
definiert. Offensichtlich ist (T, S, N)t eine tangentiale Begleitbasis der Kurve,
die Streifen- oder Darbouxbegleitbasis. Durch sie ist das Darbouxsystem der
Flachenkurve definiert. Die Koeffizienten ihres Ableitungsvektors p werden als
• Geodatische Krummung κg := p3 = 〈T ′, S〉
• Normalkrummung κn := −p2 = 〈T ′, N〉 und
• Geodatische Torsion τg := p1 = 〈N ′, S〉
bezeichnet. Eine C2-Kurve auf einer regularen C2-Flache heißt
• Geodatische, falls κg ≡ 0,
• Asymptotenlinie, falls κn ≡ 0,
• Krummungslinie, falls τg ≡ 0.
Es folgt sofort, daß die Flachennormale entlang einer Geodatischen eine
Hauptnormale, entlang einer Asymptotenlinie eine Binormale und entlang
einer Krummungslinie relativ parallel ist. Ein Spezialfall sind Flachen mit
konstantem Normalenvektor, also Ebenen. Bei ihnen verschwinden Nor-
malkrummung und Geodatische Torsion, ebene Kurven sind also sowohl
Krummungs- als auch Asymptotenlinien.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 61
Satz 16 (Geodatische, Asymptoten- und Krummungslinien).
16.1 Eine Geodatische auf einer regularen C2-Flache ist eine Frenetkurve; die
Flachennormale entlang der Kurve ist Hauptnormale. Die Darbouxbe-
gleitbasis ist zugleich Frenetbegleitbasis mit der Normalkrummung und
der geodatischen Torsion als Frenetkrummungen.
16.2 Eine Asymptotenlinie auf einer regularen C2-Flache ist eine Frenetkurve;
die Flachennormale entlang der Kurve ist Binormale der Kurve, und die
zugehorigen Frenetschen Krummungen stimmen gerade mit den geodati-
schen Krummungen uberein.
16.3 Das Darbouxsystem einer Krummungslinie auf einer regularen C2-Flache
ist ein Bishopsystem der Kurve. Insbesondere ist die Flachennormale
langs der Krummungslinie relativ parallel.
Korollar. Der Torsionswinkel einer geschlossenen Krummungslinie auf einer
regularen C2-Flache ohne Selbstdurchdringungen ist 0.
Beweis. Ein Flache, die frei von Selbstdurchringungen ist, hat in jedem
Flachenpunkt genau eine Tangentialebene. Die Flachennormale langs einer
geschlossenen Kurve der Lange L andert nach jedem Durchlauf hochstens
das Vorzeichen, ist also zumindest 2L-periodisch. Im Fall einer geschlosse-
nen Krummungslinie ist also das Bishopsystem 2L-periodisch, und dann
verschwindet der Torsionswinkel (Satz 14).
Bemerkung 1. Ein Darbouxvektor einer Frenetkurve erzeugt eine Tor-
se, auf der die Kurve Geodatische ist. Sie heißt rektifizierende Flache und
ist die Einhullende der rektifizierenden Ebenen. Wird sie in die Ebene
verbogen, so erscheint die ursprungliche Kurve als Geradenstuck (’rekti-
fiziert‘). Das ist leicht daran zu sehen, daß die Erste Grundform dieser
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 62
Flache nicht von der Krummung abhangt (sondern nur von der Gesamt-
torsion). Bei Kurven mit Wendepunkten ist die rektifizierende Flache i. A.
nicht regular.
Bemerkung 2. Jede Kurve ist Krummungslinie auf ihrem Krummungs-
streifen; dies erklart die Bezeichnung fur die von einem RPNF einer Kurve
erzeugte Torse (s. Bemerkung zu Def. 13). Auch durch jede geschlossene
Kurve laßt sich ein regularer und lokal injektiver Krummungsstreifen le-
gen. Er ist entweder geschlossen oder durchdringt sich selbst. Deshalb gilt
die Aussage des Korollars nicht, wenn Selbstdurchdringung zugelassen ist.
8.2 Spharische Kurven
Der Satz ermoglicht es, fur spezielle Flachenkurven Frenet- oder Bishop-
begleitbasen explizit zu finden. Insbesondere sind alle ebenen und sphari-
schen Kurven Krummungslinien. Die Bestimmung ihrer Bishopsysteme
fuhrt zu einer uberraschend einfachen Charakterisierung spharischer Kur-
ven.
Satz 17 (Charakterisierung ebener und spharischer Kurven).
17.1 Eine C2-Kurve ist genau dann eben, wenn ihre Normalenentwicklung auf
einer Ursprungsgeraden liegt.
17.2 Eine C2-Kurve liegt genau dann auf einer Sphare mit Radius R, wenn
ihre Normalenentwicklung auf einer Geraden mit Abstand 1/R vom Ur-
sprung liegt. Der Radialvektor ist RPNF der Kurve.
Beweis. 1. Die Kurve liege auf einer Ebene mit Einheitsnormalenvek-
tor E. Wegen E ′ = 0 ist er RPNF und kann zu einer Bishopbegleitbasis
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 63
erganzt werden, und eine Koordinate der zugehorigen Normalenentwick-
lung verschwindet, sie liegt also auf einer Koordinatenachse. Ist umgekehrt
eine Kurve auf einer Ursprungsgeraden als Normalenentwicklung gegeben,
so kann sie durch eine Drehung auf eine Koordinatenachse verlegt wer-
den. Die zugehorige Kurve besitzt also eine Bishopbegleitbasis mit einem
konstanten Normalenvektor M . Dann liegt sie in einer Ebene. (Lemma 6).
2. Die Kurve γ : x(s) liege auf einer Sphare mit Radius R und Mittelpunkt
m. Fur den Radialvektor xm := x −m gilt x′m = T und 〈xm, xm〉 = R2
⇒ 〈T, xm〉 = 0 ⇒ xm ist RPNF. M := 1Rxm ist ein Einheits-RPNF. Ei-
ne Koordinate der zugehorigen Normalenentwicklung hat den konstanten
Wert 1R, sie liegt also auf einer Geraden mit diesem Abstand vom Ur-
sprung.
Sei umgekehrt eine geradlinige Normalenentwicklung k gegeben. Sie ist
durch eine Drehung in die Form (k1, 1/R)t uberfuhrbar, die zugehori-
ge Raumkurve besitzt also ein Einheitsnormalenvektorfeld M mit M ′ =
1RT .Dann erfullt x = RM erfullt die Gleichung x′ = T ; γ : x(s) ist
also eine spharische Kurve mit Normalenentwicklung k. Jede andere Kur-
ve mit der selben Normalenentwicklung unterscheidet sich nur durch eine
Bewegung.
Bemerkung. Daraus folgt, daß spharische Kurven wendepunktfrei sind.
Korollar. Eine C2-Kurve ist genau dann geradlinig bzw. liegt auf einer Kreis-
linie mit Radius ρ, wenn ihre Normalenentwicklung konstant ist und k ≡ 0
bzw. |k| = ρ−1.
Beweis. Der erste Teil wurde schon bei der Definition der Normalenent-
wicklung bemerkt. Nach dem Satz liegt eine Kurve mit k ≡ const., |k| =
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 64
ρ−1 genau in der Schnittmenge einer Ebene und unendlich vieler Kugeln
mit Radius ≥ ρ. Diese Schnittmenge ist ein Kreis mit Radius ρ.
Hieraus ergeben sich wichtige Konsequenzen fur geschlossene spharische
Kurven.
Satz 18 (Geschlossene ebene und spharische Kurven). Sei γ : x(s)
eine ebene C2- oder spharische C3-Kurve. Sie sei geschlossen mit Gesamtlange
L. Dann existieren L-periodische Frenet- und Bishopsysteme der Kurve, und
alle Parallelkurven sind geschlossen, wobei ein Umlauf von γ genau einem
Umlauf jeder Parallelkurve entspricht.
Beweis. Im ebenen Fall ist die Ebenennormale sowohl Binormale als auch
RPNF. Sie ist konstant, also auch L-periodisch. Eine spharische C3-Kurve
ist wendepunktfrei, besitzt also ein intrinsisches Frenetsystem, das die sel-
be Periodizitat wie die Kurvenparametrisierung aufweist. Der Radialvek-
tor langs der Kurve ist RPNF (Satz 17) und naturlich ebenso periodisch.
Korollar. Die Gesamttorsion jeder geschlossenenen spharischen C3-Kurve ist
Null.
Beweis. Wegen der Wendepunktfreiheit ist die Gesamttorsion definiert.
Aus dem vorherigen Satz und Satz 14 folgt, daß ihr Wert nπ (n ∈ Z) ist.
Nun ist die Normalenentwicklung k der Kurve eine Nichtursprungsgerade.
Sie liegt ganz in einer Halbebene des R2. Der Wertebereich eines Polarwin-
kels ϕ von k liegt dann offensichtlich in einem offenen Intervall der Lange
hochstens π. Fur zwei Parameterwerte s1 und s2 gilt dann wegen Satz 13
|ϕ(s1)− ϕ(s0)| = |Λ[s0,s1]| < π. Dann ist die Gesamttorsion 0.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 65
Bemerkung. Diesen Satz beweist auch Fenchel (1934). Nach einem
Satz von Scherrer (1940) sind Ebene und Kugel die einzigen Flachen,
auf denen jede geschlossene Kurve verschwindenden Torsionswinkel bzw.
Gesamttorsion hat.
Wir leiten nun aus der Charakterisierung spharischer Kurven durch ihre
Normalenentwicklung die Bedingungen fur ihre Frenetkrummungen her.
Satz 19 (Spharische Kurven). Fur eine C3-Kurve γ : x(s), s ∈ I sind
aquivalent:
i.) γ ist spharisch mit Kugelradius R.
ii.) Die Normalenentwicklung von γ liegt auf einer Geraden im Abstand 1/R
vom Ursprung.
iii.) γ ist Frenetkurve mit Krummungen κ, τ , und fur beliebiges s0 ∈ I gibt
es gewisse Konstanten A und B mit(A cos
∫ s
s0
τ(σ)dσ +B sin
∫ s
s0
τ(σ)dσ
)κ(s) ≡ 1. R =
√A2 +B2.
iv.) γ ist Frenetkurve mit Krummungen κ 6= 0, κ = ρ−1 und τ und es
existiert eine C1-Funktion f(s), so daß gilt
ρ′ = fτ und f ′ + ρτ = 0. R =√ρ2 + f 2.
Beweis. (i) ⇒ (ii): Satz 17
(ii) ⇒ (iii): Fur die geradlinige Normalenentwicklung k = (k1, k2)t gibt es
einen festen Winkel Θ mit 〈k,E(Θ)〉 = d = R−1 ⇒ Ak1 + Bk2 = 1 mit
R2 = A2 + B2. Nun ist k = κE(ϕ) mit ϕ =∫τ ds, wobei die Integrati-
onskonstante eine Drehung bewirkt. Das ist die Aussage.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 66
(iii) ⇒ (iv): Mit C = (A,B)t und ϕ =∫τ ds haben wir κ〈C,E(ϕ)〉 =
1 ⇒ κ 6= 0 und ρ = 〈C,E(ϕ)〉. Dann ist ρ′ = τ〈C,E(ϕ + π/2)〉. Wahle
f = 〈C,E(ϕ+ π/2)〉 ⇒ ρ′ = fτ und f ′ = τ〈C,E(ϕ+ π)〉 = −ρτ . Schließ-
lich ist ρ2 + f 2 = 〈C,C〉 = R2.
(iv)⇒ (i): Sei (T,N,B)t Frenetbegleitbasis der Kurve mit diesen Krummun-
gen. Betrachte die parametrisierte Kurve m : I 7→ R3 mitm = x+ρN+fB
und die Funktion Q auf I mit Q = 〈x − m,x − m〉 = ρ2 + f 2 = R2. Es
ergibt sich m′ = T + fτN + ρ(−κT + τB)− ρτB − τfN ≡ 0 und ebenso
Q′ ≡ 0, also liegt γ auf einer Kugel mit Mittelpunkt m und Radius R.
Bemerkung. Fur eine C4-Kurve mit τ 6= 0 ist (iv) aquivalent zur Bedin-
gung (ρ′
τ
)′
+ ρτ = 0, R =
√ρ2 +
(ρ′
τ
)2
. (8.1)
In der Literatur wird haufig nur diese eingeschrankt gultige Charakteri-
sierung spharischer Kurven genannt. Erst Wong (1963) entwickelte die
vollstandige Charakterisierung (iv) und leitete daraus, basierend auf ei-
ner Entdeckung von Breuer und Gottlieb, (iii) ab (Wong (1972)).
Bishop (1975) bemerkte (ii) und erkannte den Zusammenhang mit (iii).
8.3 Lokale Kurvengeometrie
Wir kommen noch einmal auf den bemerkenswert direkten Zusammen-
hang zwischen Normalenentwicklung und Kurvengeometrie zuruck. Satz
17 zeigt, wie die Normalenentwicklung die Kurve quasi in niedrigerer Di-
mension widerspiegelt. Eine Normalenentwicklung, die auf einer geknick-
ten Geraden liegt mit der Knickstelle im Ursprung (wie in Beispiel 1)
reprasentiert eine Kurve, die aus Bogen auf verschiedenen Ebenen besteht
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 67
wie in Beispiel 2 bzw. 4. Das ist eine Anwendung der Normalenentwicklung
auf Kurven, die mit den Mitteln der Frenettheorie nicht erfaßbar sind.
Ist die Normalenentwicklung eine außerhalb des Ursprungs geknickte Ge-
rade, so geht die Kurve von einer ebenen in eine spharische oder von
einer Kugel auf eine andere uber, wobei sie evt. ein Stuck geradlinig oder
kreislinig verlauft. In regularen Punkten der Normalenentwicklung einer
Kurve konnen wir ihre Tangente als Normalenentwicklung einer ebenen
oder spharischen Beruhrkurve interpretieren. Das fuhrt zu einer schonen
Methode zur lokalen Kurvenanalyse.
Definition 16 (Oskulation). Sei γ : x(s) eine C3-Raumurve und S ei-
ne Gerade, Ebene, Kreis oder Sphare. Wir sagen, die Kurve oskuliert S im
Kurvenpunkt x(s0), falls sie in diesem Punkt eine Kurve γ von 3. Ordnung
beruhrt, d.h. fur γ gibt es eine Parametrisierung x = x(s), so daß gilt
x(i)(s0) = x(i)(s0) fur i = 0 . . . 3.
Ein Kurvenpunkt x0 heißt
• Wendepunkt hoherer Ordnung, falls x in x0 eine Gerade oskuliert;
• Scheitel, falls die Kurve in x0 einen Kreis oskuliert;
• Gewohnlicher Wendepunkt, falls er Wendepunkt ist und die Kurve in x0
genau eine Ebene oskuliert;
• Henkelpunkt, falls x0 kein Wendepunkt ist und x dort eine Ebene osku-
liert;
• ordentlicher Punkt, falls die Kurve in x0 genau eine Kugel oskuliert,
namlich ihre oskulierende Kugel.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 68
Bemerkung. Eine Kurve beruhrt in jedem Punkt genau eine Gerade,
namlich ihre Tangente. Ein Wendepunkt hoherer Ordnung oskuliert al-
so genau die Tangente. Falls die Kurve genau eine Ebene oskuliert, so
ist dies ihre Schmiegebene. Ein Scheitel ist zugleich Henkelpunkt, aber
kein ordentlicher Punkt, da die Kurve dort beliebig viele Kugeln osku-
liert. Es gibt naturlich nur einen Schmiegkreis 3. Ordnung; gabe es zwei,
so mußten sich die beiden Kreislinien ebenfalls von so hoher Ordnung
beruhren (Beruhrung zwischen Kurven ist offensichtlich eine Aquivalenz-
relation), und dann stimmen sie uberein.
Ein Wendepunkt ist sicher nicht ordentlich, denn jede Beruhrkurve 2. Ord-
nung in einem solchen hat dort ebenfalls einen Wendepunkt, ist also nicht
spharisch. Auch ein Henkelpunkt ist nicht ordentlich; das wird im folgen-
den Satz bewiesen.
Satz 20 (Lokale Kurvengeometrie). Sei γ : x(s) eine regulare C3-
Raumkurve mit Normalenentwicklung k = (k1, k2)t, Krummungsmaß κN ,
Krummungsradius ρ = 1/κN und intrinsischer Torsion τN . Fur einen Kur-
venpunkt x0 = x(s0) gilt:
a) x0 ist Wendepunkt hoherer Ordnung ⇐⇒ k = 0 ∧ k′ = 0 ⇐⇒
κN = 0 ∧ κ′N = 0.
b) x0 ist Scheitel ⇐⇒ k 6= 0∧k′ = 0 ⇐⇒ κN 6= 0 ∧ κ′N = 0 ∧ τN = 0.
Der Radius des Schmiegkreises ist r = 1/|k| = ρ.
c) x0 ist Gewohnlicher Wendepunkt ⇐⇒ k = 0 ∧ k′ 6= 0 ⇒ κN = 0.
d) x0 ist Henkelpunkt ⇐⇒ k 6= 0 ∧ k2k′1 = k1k
′2 ⇐⇒ κN 6= 0 ∧ τN =
0.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 69
e) x0 ist ordentlicher Punkt ⇐⇒ k 6= 0 ∧ k2k′1 6= k1k
′2 ⇐⇒ κNτN 6= 0.
Der Radius der oskulierenden Kugel ist
R =
√k′1
2 + k′22
|k1k′2 − k2k′1|=
√ρ2 +
(ρ′
τN
)2
(alle Funktionen an der Stelle s0 ausgewertet).
Beweis. Sei Tk(s0) := k(s0)+ k′(s0) der (in singularen Punkten
degenerierte) Tangentialraum von k im Parameterwert s0 und B die Bi-
shopbegleitbasis von γ. Durch die Festlegungen
x(s0) = x(s0), B(s0) = B(s0), k(s) = k(s0) + sk′(s0)
in einer Umgebung von s0 ist eine Kurve γ : x(s) eindeutig festgelegt (Satz
12). γ hat mit γ in x(s0) nach Konstruktion Beruhrung 3. Ordnung und
die Normalenentwicklung von γ liegt in Tk(s0), also ist die Spur von γ
Teil einer Geraden bzw. eines Kreises, einer Ebene oder Sphare gemaß der
Charakterisierung von Satz 17. Daraus gewinnen wir die Kriterien fur die
Normalenentwicklung. Die fur die Frenetkrummungen folgen dann durch
die Beziehungen
k = κNE(ϕ), ϕ′ = τN , k′ = κ′NE(ϕ) + κNτNE(ϕ+ π/2) (8.2)
aus Satz 13. Im Einzelnen (im Folgenden sind wieder alle Funktionen an
der Stelle s0 auszuwerten):
x0 ist Wendepunkt hoherer Ordnung ⇐⇒ Tk = 0 ⇐⇒ k = 0 ∧ k′ =
0 ⇐⇒ x′′) = 0 ∧ x′′′ = 0 ⇐⇒ κN = 0 ∧ κ′N = 0. Das Krummungsmaß
ist in einem Wendepunkt hoherer Ordnung differenzierbar, da die rechts-
und linksseitigen Differenzenquotienten gegen 0 konvergieren.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 70
x0 ist Scheitel ⇐⇒ T = k0 6= 0 ⇐⇒ k(s0) 6= 0 ∧ k′(s0) = 0(8.2)⇐⇒
κN(s0) 6= 0 ∧ κ′N = 0 ∧ τN = 0. Die Bedingungen fur Gewohnliche
Wendepunkte folgen genau so leicht.
x0 ist Henkelpunkt ⇐⇒ k 6= 0 ∧ Tk ist Ursprungsgerade. Letzteres ist
aquivalent zu
〈D(π/2)k, k′〉 = 0 ⇐⇒ k2k′1 = k1k
′2.
Mit den Gleichungen 8.2 erhalten wir
〈D(π/2)k, k′〉 = 〈κNE(ϕ+ π/2), κ′NE(ϕ) + κNτNE(ϕ+ π/2)〉 = κ2NτN .
und daraus folgt wegen κN 6= 0 die Bedingung τN = 0.
x0 ist genau dann ein ordentlicher Punkt, wenn Tk eine Gerade mit posi-
tivem Abstand vom Ursprung ist. Bedingung dafur ist k′ 6= 0 und
d =|〈D(π/2)k, k′〉|
|k′|> 0 ⇐⇒ k1k
′2 6= k2k
′1
(8.2)⇐⇒ κNτN 6= 0.
Dann ist
R2 =1
d2=
〈k′, k′〉〈D(π/2)k, k′〉2
=κ′N
2 + κ2Nτ
2N
κ4Nτ
2N
=ρ′2
τ 2N
+ ρ2
(denn κ′N2 = ρ′2κ4
N).
Korollar. Jeder Punkt einer C3-Raumkurve ist entweder Wendepunkt, Hen-
kelpunkt oder Ordentlicher Punkt.
Bemerkung 1. Eine Kurve ohne Wende- und Henkelpunkte ist genau
dann spharisch, wenn der Radius der oskulierenden Kugel konstant ist.
Das ist aquivalent zu der Bedingung (8.1), die im Anschluß an Satz 17
genannt wurde. Eine Kurve mit Henkelpunkten kann diese Bedingung in
allen ordentlichen Punkten erfullen, ohne spharisch zu sein. Sie geht dann
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 71
beliebig oft von einer Kugel auf eine andere uber, und ihre Normalenent-
wicklung besteht aus entsprechend vielen Strecken, die miteinander Ecken
bilden. Das erklart, warum diese Bedingung unzureichend ist.
Bemerkung 2. Der Mittelpunkt der Schmiegkugel in ordentlichen Punk-
ten ist durch
m = x− R
|k′|(k′1M1 + k′2M2)
gegeben, wenn ((T,M1,M2)t, (k1, k2)
t) ein Bishopsystem ist. Es ist leicht
nachzurechnen, daß m konstanten Abstand R von der im Beweis verwen-
deten spharischen Kurve γ hat. In Frenetbegriffen ist
m = x+ ρNN +
(ρ′
τN
)′
BN
(Beweis etwa durch Konstruktion einer spharischen Schmiegkurve, die
(8.1) erfullt).
Es ist zu vermuten, daß der Begriff der Bishopbegleitbasis auf den Rn
verallgemeinerbar ist und der Existenzsatz von Abschnitt 6 auch allge-
mein gilt. Eine C2-Kurve im Rn ist dann durch eine Normalenentwicklung
im Rn−1 charakterisiert; bei einer Kurve, die in einem affinen Unterraum
oder einer Sphare liegt, wird sich die Dimension entsprechend reduzieren.
Die Schmiegebenen an die Normalenentwicklungen sind ahnlich interpre-
tierbar wie eben fur R3 ausgefuhrt. Es wird hier darauf verzichtet, diesen
Gedanken weiter zu verfolgen. Das wurde, ebenso wie die Verallgemeine-
rung der Frenettheorie auf hohere Dimensionen, den Rahmen dieser Arbeit
sprengen.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 72
9 Explizit integrierbare Frenetkurven
In diesem letzten Abschnitt werden die einfachsten Kurvenklassen unter-
sucht, deren Parametrisierungen bis auf Integration explizit aus ihren Fre-
netkrummungen bestimmbar sind. Ausgehend von der bekannten Losung
fur ebene Kurven werden mit den in Abschnitt 7 entwickelten Mitteln die
Folgekurven der ebenen Kurven, die Boschungslinien, und deren Folge-
kurven, die Kreisellinien, behandelt. Prinzipiell sind auch alle Folgekur-
ven noch hoherer Ordnung in dieser Weise darstellbar. Der Vollstandigkeit
halber werden fruhere Ergebnisse wiederholt und auch der triviale Fall der
geradlinigen Kurven einbezogen.
9.1 Geradlinige Kurven
Satz 21 (Charakterisierung der geradlinigen Kurven). Fur eine re-
gulare Raumkurve γ : x(t) sind aquivalent:
i.) γ ist geradlinig.
ii.) Der Tangentialvektor von γ ist konstant, T ≡ T0.
iii.) γ besitzt ein konstantes tangentiales System.
iv.) Die Normalenentwicklung von γ liegt im Ursprung.
v.) γ ist Frenetkurve mit Frenetkrummung κ ≡ 0.
vi.) Die Bogenlangenparametrisierung von γ ist gegeben durch
x(s) = x0 + s · T0 mit x0 ∈ R3, T0 ∈ S2.
Beweis. Alle Aussagen sind offensichtliche Folgerungen aus Lemma 6.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 73
9.2 Ebene Kurven
Satz 22 (Charakterisierung der ebenen Kurven). Fur eine C2-Kurve
γ sind aquivalent:
i.) γ ist eine ebene Kurve.
ii.) γ besitzt ein konstantes Normalenvektorfeld N0 6= 0.
iii.) Das Tangentenbild von γ liegt auf einem Großkreis.
iv.) Die Normalenentwicklung von γ liegt auf einer Ursprungsgeraden.
v.) γ ist Frenetkurve und besitzt ein Frenetsystem mit τ ≡ 0.
vi.) γ ist Frenetkurve mit verschwindender Torsion auf jedem ihrer Bogen
und verschwindendem Torsionswinkel auf jedem Geradenstuck.
Beweis. (i)⇔ (ii): IstN0 6= 0 Ebenennormale, so gilt 〈x(s), N0〉 = const.⇔
〈T,N0〉 = 0 (s. Lemma 6.) (ii) ⇔ (iii): T (s) ∈ N⊥0 fur alle s ⇔ das
Tangentenbild liegt in der Schnittmenge von Sphare und einer Ursprungs-
ebene, also auf einem Großkreis. (ii) ⇔ (iv), (v): Eine konstante Nor-
male, auf Lange 1 normiert, hat sowohl tangentiale als auch normale Ab-
leitung (namlich 0) und ist deshalb sowohl RPNF als auch Binormale.
Es existieren ein Bishop- und ein Frenetsystem mit k1 ≡ 0 bzw. τ ≡ 0.
Die Normalenentwicklung ist also eine Ursprungsgerade (s. Satz 17). Ist
umgekehrt die Normalenentwicklung auf einer Ursprungsgerade, so kann
k1 durch eine Drehung zum Verschwinden gebracht werden, dann gibt es
ein konstantes RPNF. Verschwindende Torsion impliziert analog die Exi-
stenz einer konstanten Binormalen. (v) ⇒ (vi): Klar. (vi) ⇒ (iv): Seien
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 74
Frenetkrummungen κ, τ einer Kurve gegeben. Dann ist die Normalenent-
wicklung k = κE(ϕ − π/2) mit ϕ(s) = ϕ0 + Λ[s0,s] (Satz 13). Dabei soll
κ(s0) 6= 0 sein (gibt es kein solches s0, so ist die Kurve geradlinig, also auch
eben). Nun ist ϕ(s) (mod π) = ϕ0 (mod π) fur jedes s mit κ(s) 6= 0, also
liegt die Menge k(s)∣∣ κ(s) 6= 0 auf einer Ursprungsgeraden, wahrend
k(s)∣∣ κ(s) = 0 = 0. Die Normalenentwicklung liegt also auf einer
Ursprungsgeraden.
Korollar. Sei γ eine ebene C2-Kurve mit Tangente T und Ebenennormale
E, |E| = 1. Dann ist (T,N,B)t mit
B = E und N = B × T
zugleich Frenet- und Bishopbegleitbasis von γ.
Sind nun Krummungen κ = κ(s) und τ ≡ 0 gegeben, so wissen wir, daß sie
zu einer ebenen Kurve gehoren. Ist fur ihre Frenetbasis ein Anfangswert
B0 = (T0, N0, B0)t gegeben, so ist B0 ≡ const. und T (s) ∈T0, N0 liegt
auf einem Großkreis. Wir konnen dann die ebene Begleitbasis (T,N)t in
Polarkoordinaten schreiben (hier wird wieder von Lemma 5 und Korollar
Gebrauch gemacht) in der Form(T
N
)= Dt(Ω)
(T0
N0
).
Dann ist (T
N
)′
=
0 Ω′
−Ω′ 0
(T
N
)und es folgt sofort Ω′ = κ. Integration uber
T (s) = cosΩ(s)T0 + sinΩ(s)N0
liefert dann die wohlbekannte Losung der naturlichen Gleichungen fur ebe-
ne Kurven von Euler (1736) (hier bezogen auf die Basis B0):
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 75
Satz 23 (Losung der Frenetgleichungen fur ebene Kurven). Sind
die stetigen Funktionen κ = κ(s), s ∈ I 3 0 und τ ≡ 0 als Frenetkrummungen
einer Raumkurve gegeben, so ist ihre Bogenlangenparametrisierung gegeben
durch
x(s) =
∫ s
0cosΩ(σ)dσ∫ s
0sinΩ(σ)dσ
0
, Ω(s) =
∫ s
0
κ(σ)dσ.
9.3 Boschungslinien
Definition 17 (Boschungsvektor). Ein stetiges Vektorfeld V : I 7→ S2
heißt Boschungsvektor, falls es mit einem festen Vektor E (|E| = 1), der
Boschungsrichtung, einen konstanten Boschungswinkel Θ ∈ ]0, π[ einschließt
(cos Θ = 〈V,E〉 ∈ ]− 1,+1[ ).
Bemerkung. Ein konstanter Vektor V0 ist naturlich Boschungsvektor
bezuglich jeder Boschungsrichtung E, E = ±V0 ist jedoch nicht zugelas-
sen. Fur nicht konstanten Boschungsvektor sind Boschungsrichtung und
-winkel bis aufs Vorzeichen eindeutig bestimmt.
Lemma 12. Fur ein C1-Einheitsvektorfeld V sind aquivalent:
i.) V ist Boschungsvektor.
ii.) V schließt mit einer festen Geraden einen konstanten Winkel ein.
iii.) V schließt mit einer festen Ebene einen konstanten Winkel ein.
iv.) Das Bild von V liegt auf einem Kreis.
v.) V ist RPNF einer ebenen Kurve.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 76
Beweis. (i)⇔ (ii) klar.
(i)⇒ (iii): Sei 〈V,E〉 = cos Θ = const. 6= ±1. Dann ist V = cos ΘE +
sin ΘE1, wobei E1 = 1sin Θ
(V −cos ΘE) ein Einheitsvektorfeld in der Ebene
E⊥ ist. Nun ist E1 die Richtung der orthogonalen Projektion von V in E⊥,
und 〈V,E1〉 = sin Θ = const. 6= 0, also ist der Winkel zwischen V und E⊥
konstant.
(iii) ⇒ (iv): Es gibt wieder eine Darstellung V = cos ΘE+sin ΘE1, wobei
E Ebenennormale und E1 der Einheitsvektor der orthogonalen Projektion
von V in die Ebene ist (falls die ortogonale Projektion 0 ist, ist V konstant;
dann ist (iv) ohnehin erfullt). Insbesondere ist der Abstand von V zur
Ebene konstant cos Θ; V liegt also auf einer Parallelebene, die die Sphare
in einem Kreis schneidet.
(iv) ⇒ (i): V liegt auf einem Kreis, ist also insbesondere eben. Dann gilt
〈V,E〉 = const. fur die Ebenennormale E.
(i) ⇒ (v): Sei 〈V,E〉 = cos Θ 6= ±1. Dann ist |V × E| = | sin Θ| 6= 0
und T = 1sin Θ
V × E liegt wegen T ⊥ E auf einem Großkreis, ist also
Tangente einer ebenen Kurve γ (Satz 9.2). Wegen V ′ ⊥ V und V ′ ⊥ E
ist V ′ ‖T , also RPNF zu γ. (v) ⇒ (i): Sei (T,N1, N2)t Bishopbegleitbasis
einer ebenen Kurve mit N1 = const.. Jedes RPNF hat dann die Form
V = cosϕ0N1 + sinϕ0N2, und es ist 〈V,N1〉 = cosϕ0.
Definition 18 (Boschungslinien). Eine regulare C2-Kurve heißt Boschungs-
linie (allgemeine Schraubenlinie oder Helix), falls ihr Tangentialvektor Bo-
schungsvektor ist.
Bemerkung. Ebene Kurven sind Boschungslinien mit Θ = π/2.
Satz 24 (Charakterisierung der Boschungslinien). Sei γ : x(s) eine
C2-Kurve mit Tangentenvektor T und D ein konstanter Einheitsvektor 6= ±T .
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 77
Dann sind aquivalent:
i.) γ ist Boschungslinie mit Boschungsrichtung D und Boschungswinkel Θ.
ii.) γ ist Geodatische auf einer von D erzeugten Zylinderflache .
iii.) γ ist Folgekurve einer ebenen Kurve in D⊥ .
iv.) γ besitzt eine Binormale, die Boschungsvektor ist.
v.) γ besitzt ein Frenetsystem mit einem konstanten Darbouxvektor D.
vi.) Es gibt Frenetkrummungen κ, τ der Kurve, fur die gilt
τ = cot Θκ mit festem Winkel Θ.
Beweis. (i) ⇒ (ii): Sei Z(s, v) = x(s) + vD eine Zylinderflache. Es ist
Zs = T und Zv = D. Fur die Flachennormale N gilt dann N ‖T ×D 6= 0
und wegen T ′ ⊥ D,T ′ ⊥ T ist T ′ ‖ N . Dann ist γ Geodatische auf der
Zylinderflache.
(ii) ⇒ (iii): Die Ebenennormale auf der Zylinderflache, die Hauptnormale
von γ ist, liegt in D⊥, also auf einem Großkreis. Also gibt es eine ebene
Vorgangerkurve von γ in D⊥.
(iii) ⇔ (v): Die ebene Vorgangerkurve besitzt eine konstante Binormale.
Diese ist Darbouxvektor des Systems von γ. Umgekehrt ist ein konstanter
Darbouxvektor Binormale der Vorgangerkurve.
(iii) ⇒ (vi): Ist γ geradlinig, so ist (vi) mit κ = τ = 0 erfullt. Ansonsten
gibt es, da wir fur die Vorgangerkurve verschwindende Torsion annehmen
konnen, nach Satz 15 eine Darstellung(
κτ
)= ω
(cos ϕ0
sin ϕ0
)mit cosϕ0 6= 0. Mit
Θ = π/2− ϕ0 ist die behauptete Beziehung erfullt.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 78
(vi) ⇒ (iv): Sei (T,N,B)t Frenetbegleitbasis mit Krummungen wie ange-
geben. Setze D := cos ΘT + sin ΘB. Dann ist
D′ = cos ΘκN − sin Θ cot ΘκN = 0 ⇒ D = const.
Sowohl T als auch B sind also Boschungsvektoren mit Boschungsrichtung
D.
(iv) ⇒ (i): Die Binormale B sei Boschungsvektor. Dann ist sie RPNF einer
ebenen Kurve mit Tangente N (Lemma 12), und T = N ×B ist ebenfalls
RPNF dieser ebenen Kurve, also ebenfalls Boschungsvektor.
Korollar. Sei γ eine C2-Boschungslinie mit Tangente T , Boschungsrichtung
D und -winkel Θ ∈ ]0, π[. Dann ist eine Frenetbegleitbasis (T,N,B)t von γ
gegeben durch
B :=1
sin ΘD − cot ΘT, N :=
1
sin ΘT ×D
mit τ = cot Θκ.
Bemerkung. Die Zylinderflache einer Boschungslinie ist gerade ihre rek-
tifizierende Flache (s. Abschnitt 8.1).
Das Kriterium, daß die Krummungen einer Boschungslinie in konstantem
Verhaltnis zueinander stehen, wurde 1802 von Lancret (1805) gefunden.
Die Umkehrung wurde erst 1848 von Bertrand bewiesen, nachdem Pui-
seux 1842 den Spezialfall der Kurven konstanter Krummung und Torsion,
das sind die gewohnlichen Schraubenlinien auf Kreiszylindern, geklart hat-
te.8
8Vgl. Scheffers (1901, 224); Enneper (1882, 72)
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 79
Seien nun Krummungen κ = κ(s), τ = cot Θκ(s) gegeben. Wir ermit-
teln die Parametrisierung der zugehorigen Boschungslinie. Ein moglicher
Ansatz (mit der Boschungsrichtung in x3-Richtung) ware
T =
sin Θ cosΩ
sin Θ sinΩ
cos Θ
analog zum Ansatz bei den ebenen Kurven; denn T liegt auf einem Kreis.
Wir gehen einen etwas anderen Weg unter Verwendung von Satz 15. Wir
haben (κ
τ
)=
κ
sin Θ
(sin Θ
cos Θ
)=
κ
sin ΘE(π/2−Θ).
Die ebene Vorgangerkurve hat nach Satz 15 Krummungen
ω =1
sin Θκ, µ = 0
und eine Frenetbegleitbasis (N,C,D)t mit
D = D0,
(N
C
)= Dt(Ω)
(N0
C0
), Ω(s) =
∫ s
0
ω(σ)dσ
gemaß den fur ebene Kurven gefundenen Formeln. Satz 15 liefert dann fur
die Begleitbasis der Boschungslinie (wir setzen ϕ0 = π/2−Θ):
T = sinϕ0D0 − cosϕ0C = cos ΘD0 + sin Θ(sinΩN0 − cosΩC0),
B = cosϕ0D0 + sinϕ0C = sin ΘD0 + cos Θ(cosΩC0 − sinΩN0),
N = cosΩN0 + sinΩC0.
Ist ein Anfangswert (T0, N0, B0)t der Begleitbasis vorgegeben, so brauchen
wir nur noch D0 = sin ΘT0 + cos ΘB0, C0 = sin ΘB0− cos ΘT0 zu setzen.
Im folgenden geben wir eine Koordinatendarstellung bezuglich der Basis
(−C0, N0, D0)t.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 80
Satz 25 (Losung der Frenetgleichungen fur Boschungslinien).
Seien κ = κ(s) und τ = cot Θ · κ als stetige Funktionen auf einem Intervall
I, 0 ∈ I, gegeben mit einem Winkel Θ ∈ ]0, π[. Eine Bogenlangenparametri-
sierung der von κ und τ als Frenetkrummungen festgelegten Boschungslinie
ist gegeben durch
x(s) =
sin Θ
∫ s
0cosΩ(σ)dσ
sin Θ∫ s
0sinΩ(σ)dσ)
cos Θs
, Ω(s) =1
sin Θ
∫ s
0
κ(σ)dσ.
Die zugehorige Frenetbegleitbasis lautet
T =
sin Θ cosΩ
sin Θ sinΩ
cos Θ
, N =
− sinΩ
cosΩ
0
, B =
− cos Θ cosΩ
− cos Θ sinΩ
sin Θ
.
Bemerkung. Fur κ = const. erhalten wir Schraubenlinien auf Kreiszy-
lindern. Sie sind durch konstante Krummung und Torsion charakterisiert.
9.4 Kreisellinien
Definition 19. Eine C2-Frenetkurve heißt Kreisellinie, falls sie einen Bo-
schungsvektor als Hauptnormale besitzt.
Satz 26 (Charakterisierung der Kreisellinien). Fur eine C2-Kurve γ
sind aquivalent:
i.) γ ist Kreisellinie.
ii.) Eine Hauptnormale von γ ist Boschungsvektor mit Boschungswinkel Θ ∈
]0, π[.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 81
iii.) Es gibt ein Frenetsystem von γ mit einem Boschungsvektor als Darboux-
vektor.
iv.) γ ist Folgekurve einer Boschungslinie mit Boschungswinkel Θ ∈ ]0, π[.
v.) Es gibt ein Frenetsystem von γ mit Krummungen
κ = ω cosϕ, τ = ω sinϕ, ϕ′ = cot Θω
mit stetiger Funktion ω und Konstanter cot Θ.
Beweis. (i) ⇔ (ii) n. Def. (ii) ⇔ (iv): Die Hauptnormale ist Tangen-
te einer Vorgangerkurve, die Boschungslinie ist. Umgekehrt ist die Tan-
gente einer Boschungslinie Hauptnormale ihrer Folgekurve. (iv) ⇔ (iii):
Die Vorgangerkurve ist nach Satz 18 genau dann Boschungslinie, wenn
sie einen Boschungsvektor als Binormale besitzt. Diese ist Darbouxvektor
der Folgekurve. (iv) ⇔ (v): Die Vorganger-Boschungslinie hat Krummun-
gen ω, cot Θω. Satz 15 liefert dann (v). Umgekehrt hat eine Kurve mit
Krummungen dieser Form eine Boschungslinie als Vorgangerkurve.
Bemerkung. Kreisellinien sind in der Literatur selten diskutiert9 und
bisher offenbar nicht benannt worden. Sie zeichnen sich gemaß (iii) da-
durch aus, daß die vom Darbouxvektor festgelegte Momentandrehachse
ihrer Frenetbegleitbasis mit festem Winkel um eine feste Achse rotiert.
Das erinnert etwas an die geneigte Drehachse eines Kreisels. Ist die Win-
kelgeschwindigkeit ω auch noch konstant, so sprechen wir mit Scofield
von Kurven konstanter Prazession. Boschungslinien sind Kreisellinien mit
Θ = π/2.
9Bilinski (1963, 293) formulierte die Charakterisierung (v).
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 82
Seien nun stetige Krummungen
κ = ω cosϕ, τ = ω sinϕ, ϕ(s) = ϕ0 + cot Θ
∫ s
0
ω(σ)dσ
auf einem Intervall I (0 ∈ I) vorgegeben. Die Vorgangerkurve ist eine
Boschungslinie mit Krummungen ω und µ = ϕ′ und Frenetbegleitbasis
(T1, N1, B1)t wie in Satz 25. Nach Satz 15 ist dann T = − cosϕN1+sinϕB1
die Tangente der gesuchten Kreisellinie, also
T =
cosϕ sinΩ − cos Θ sinϕ cosΩ
− cosϕ cosΩ − cos Θ sinϕ sinΩ
sin Θ sinϕ
, Ω(s) = Ω0 +1
sin Θ
∫ s
0
ω(σ)dσ.
Die Integrationskonstante Ω0 wurde in den Satzen 23 und 25 weggelassen;
sie bewirkt nur eine Drehung des Koordinatensystems. Wahlen wir nun
Ω0 := ϕ0
cosΘ, so haben wir ϕ = cos ΘΩ. Das fuhrt zu einer relativ einfachen
Parametrisierung.
Satz 27 (Losung der Frenetgleichungen fur Kreisellinien). Seien
die stetigen Krummungen
κ = ω cosϕ, τ = ω sinϕ, ϕ(s) = ϕ0 + cot Θ
∫ s
0
ω(σ)dσ
(ω stetig, Θ ∈ ]0, π/2[) auf einem Intervall I (0 ∈ I) vorgegeben; λ1 :=
1 − cos Θ, λ2 := 1 + cos Θ. Dann ist folgendermaßen eine Parametrisierung
des Tangentialvektors der durch sie definierten Kreisellinie gegeben:
T =1
2
λ2 sinλ1Ω + λ1 sinλ2Ω
−λ2 cosλ1Ω − λ1 cosλ2Ω
2 sin Θ sin(cos Θ ·Ω)
, Ω(s) =ϕ0
cos Θ+
1
sin Θ
∫ s
0
ω(σ)dσ.
Integration uber T liefert eine Bogenlangenparametrisierung der Kreisellinie.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 83
Bemerkung. Die regularen Teilbogen des Tangentenbildes (bei Wende-
punkten ist T singular) sind spharische Boschungslinien. Denn die Haupt-
normale der Kurve ist auch Tangente des Tangentenbildes.
Wir untersuchen nun noch den Spezialfall ω = const., also Kurven, deren
Zentrode mit konstanter Geschwindigkeit ω um eine feste Achse rotiert.
Dann ist auch µ = ϕ′ = cot Θ · ω konstant. Wir schließen die Falle ω = 0
(Geradenstuck) und µ = 0 (Schraubenlinie) aus und beschranken uns auf
ω > 0. Setzen wir α :=√ω2 + µ2 = ω/ sin Θ, so erhalten wir
cos Θ =µ
α, sin Θ =
ω
α, λ1 =
α− µ
α, λ2 =
α+ µ
α, Ω(s) = αs.
Die Integrationskonstante bei Ω bewirkt nur eine Phasenverschiebung und
kann weggelassen werden. Dann ist die Tangente
T (s) =1
2α
(α+ µ) sin(α− µ)s+ (α− µ) sin(α+ µ)s
−(α+ µ) cos(α− µ)s− (α− µ) cos(α+ µ)s
2ω sinµs
elementar intergierbar. Vereinfachen wir hier (in Abweichung zu den obi-
gen Bezeichnungen) mit λ1 := α − µ und λ2 := α + µ, so erhalten wir
folgende von Scofield (1995) gefundene Losung:
Satz 28 (Kurven konstanter Prazession). Seien Krummungen
κ = ω cosµs, τ = ω sinµs mit Konstanten ω > 0, µ 6= 0 vorgegeben. Mit
α :=√ω2 + µ2, λ1 = α− µ, λ2 = α+ µ und λ := λ2/λ1 ist dann
X(s) =
x
y
z
= − 1
2α
λ cosλ1s+ λ−1 cosλ2s
λ sinλ1s+ λ−1 sinλ2s
2ωµ cosµs
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 84
Links: Das Tangentenbild, eine spharische Boschungslinie mit Kuspen, einer
Kurve konstanter Prazession. Rechts die zugehorige Kurve konstanter Prazes-
sion mit ω = 15, µ = 8 und cos Θ = 8/17. Sie ist geschlossen. Aus Scofield
(1995).
eine Bogenlangenparametrisierung der durch κ und τ definierten Kurve kon-
stanter Prazession. Sie liegt auf einem einschaligen Hyperboloid mit der Glei-
chung
x2 + y2 − µ2
ω2z2 = 4
µ2
ω4
und ist genau dann geschlossen, wenn µ/α rational ist. Die zugehorige Fre-
netbegleitbasis (T (s), N(s), B(s)) ist gegeben durch
1
2α
λ2 sinλ1s+ λ1 sinλ2s
−λ2 cosλ1s− λ1 cosλ2s
2ω sinµs
, 2
ω cosαs
ω sinαs
µ
,
λ1 cosλ2s− λ2 cosλ1s
λ1 sinλ2s− λ2 sinλ1s
2ω cosµs
.
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 85
Beweis. Zur Geschlossenheit: Die Vorgangerkurve ist Schraubenlinie mit
Krummungen ω, µ; ihr Frenetsystem ist periodisch. Ein Vergleich mit den
Formeln von Satz 25 ergibt fur die Periodenlange L = 2π/α und fur die Ge-
samttorsion∫ L
0µ ds = 2πµ/α. Die Tangente der Kreisellinie ist RPNF zur
Schraubenlinie. Sie und damit das ganze Frenetsystem der Kreisellinie ist
genau dann periodisch, wenn µ/α rational ist (Satz 14 ist hier anwendbar,
obwohl die Schraubenlinie selbst nicht geschlossen ist). Die Parametrisie-
rung der Kreisellinie schließlich hat offensichtlich die selbe Periodizitat wie
ihr Tangentenvektor.
Bemerkung. Die Konstante α wirkt lediglich als linearer Skalierungsfak-
tor. Eine Kurve konstanter Prazession ist schon durch den Boschungswin-
kel Θ der Vorgangerkurve bis auf Ahnlichkeit eindeutig festgelegt.
Die naturlichen Gleichungen der Kurven konstanter Prazession wurden
im wesentlichen schon von Hoppe (1862) gelost, ohne daß er dies weiter
ausgefuhrt hatte. Satz 28 wurde erstmals von Scofield (1995) formuliert
und durch geometrische Analyse bewiesen. Er verwendet eine bekannte
Parametrisierung fur spharische Boschungslinien als Ansatz fur das Tan-
gentenbild.
Scofield (1994) entwickelt eine Methode zur Bearbeitung der Frenet-
differentialgleichungen durch Invertierung von Differentialoperatoren und
zeigt ihre Anwendbarkeit auf Kurven konstanter Prazession. Er gewinnt
u.a. die folgende interessante Differentialgleichung (Theorem 4):
ω2µξ′′′ − (ω2µ)′ξ′′ + (ω4µ− κ′′τ ′ + κ′τ ′′)ξ′ + ω3µ
(ω
µ
)′
ξ = 0
Dabei sind κ = ω cosϕ, τ = ω sinϕ die Krummungen der gesuchten Kurve
und ω, µ = ϕ′ die der Vorgangerkurve. Der Fall µ = 0 muß naturlich
SPEZIELLE KURVENKLASSEN 86
ausgeschlossen werden. Insbesondere sind Boschungslinien ausgeschlossen.
Bei Kreisellinien mit ωµ
= const. fallt der letzte Term weg, wir haben dann
ξ′′′ − µ′
µξ′′ +
(α2 + 3
µ′2
µ2− µ′′
µ
)ξ′ = 0
mit α2 = ω2 + µ2. Auch diese vereinfachte Gleichung wirkt nicht sehr
einladend. Erheblich einfacher wird sie aber im Spezialfall der Kurven
konstanter Prazession mit µ′ = 0. Dann bleibt ubrig
ξ′′′ = −α2ξ′.
Mit Hilfe der Losungen dieser Differentialgleichung gelingt es in der Tat,
die obige Parametrisierung der Kurven konstanter Prazession zu ermitteln.
Nach Bestimmung geeigneter Integrationskonstanten fur die Komponenten
ξi ist eine Tangentenparametrisierung nach Scofield etwa durch
t1(s) = 1−∫ s
0
κ(σ)ξ1(σ)dσ,
t2(s) =
∫ s
0
κ(σ)ξ2(σ)dσ,
t3(s) =
∫ s
0
κ(σ)ξ3(σ)dσ
gegeben. Es scheint so, daß dieser Ansatz mittels Differentialoperatoren
genau fur Kurven konstanter Prazession zur Losung fuhrt, wahrend die
Anwendung auf Kreisellinien schwierig sein durfte. Bei allen anderen Kur-
ven sind die Frenetgleichungen noch komplexer. Ich vermute deshalb, daß
die explizit integrierbaren Frenetkurven genau die Folgekurven der ebenen
Kurven sind.
Literaturverzeichnis
Aufsatze
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