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Seminar: Konsum und soziologische Theorie
Dozent: Prof. Dr. Erhard Stölting Professur für Allgemeine Soziologie
Abgabedatum: 20.05.2005
Wie rational ist Konsum?
Hausarbeit
Name: Sven Sygnecka Matr. Nr.: 707054 Studiengang: VWL. soz. Richtung Semester: 9. Sem.
Anschrift: Patrizierweg 69 14480 Potsdam Telefon: 0331/6009887 E-Mail: sygnecka@rz.uni-potsdam.de
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
Inhaltsverzeichnis 0. Einleitung 1
0.1. Context 1
0.2. Content 2
1. Elemente von Konsumkonzeptionen 4
1.1. Rationalität 4
a. Abgrenzung zum Irrationalen 4
b. Soziale Rationalität 5
1.2. Konsum 6
1.3. Nutzen und Präferenzen 6
1.4. Handeln und Verhalten 8
2. Gary S. Beckers Konsumkonzept 9
2.1. Der ökonomische Ansatz 10
2.2. Die Haushaltsproduktionsfunktion 11
2.3. Produktionsfaktoren der Haushaltsproduktionsfunktion 12
2.4. Konsum bei Becker – ein Zwischenstand 15
3. Soziologische Ansätze als Kontrastfolien 16
3.1. Colemans Rational Choice 16
3.2. Bourdieus Ökonomie der Praxis 19
4. Zusammenfassung 23
Literaturverzeichnis 26
Zur Zitierweise
Die Quellen von wörtlichen Zitaten sind direkt hinter dem Zitat im Text angegeben, wobei bei
Autoren, von denen lediglich eine Quelle verwendet wurde, auf die Angabe der Jahreszahl
verzichtet wurde. Sinngemäße Zitate sind in den Fußnoten belegt.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
1
0. Einleitung Konsum ist assoziativ mit der bunten Warenwelt, bestehend aus dem Waren und deren Be-
werbung, verknüpft. Bei dem Versuch Konsum als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Ana-
lyse zu fassen gibt es zwei widerstreitende Thesen. Einerseits wird Konsum als Mittel zur
Bedürfnisbefriedigung modelliert, wobei das gegebene Budget nutzenmaximierend eingesetzt
wird. Andererseits gilt Konsum als Äußerung des Menschen als soziales Wesen, mit der er
seine gesellschaftliche Position reflektiert und reproduziert.
Welche Fragen bei der Überprüfung der Thesen geklärt werden müssen machen Luhmanns
Kategorien für die Unterscheidung funktional differenzierter Systeme deutlich. In der vorlie-
genden Arbeit wird die Verortung des Sinns von Konsum auf der Skala zwischen individuel-
ler und sozialer Referenz untersucht, dessen Programm zwischen rationaler Steuerung und
sozialer Determiniertheit gesucht und als Code zwischen Geld oder Nutzen unterschieden.
Dies gibt vielleicht ein Bild von der Mehrdimensionalität der scheinbaren Dichotomie der
eingangs aufgeführten Thesen. Annhand der Konsumkonzeptionen von Gary Becker, James
S. Coleman und Pierre Bourdieu soll der Verortung von Konsum entlang dieser Dimensionen
nachgegangen werden.
0.1. Context
Das Aufeinandertreffen von Soziologie und Ökonomie habe ich bisher durchaus als Quelle
anregender Impulse verstanden. Durch den unterschiedlichen Fokus auf das rationale Indivi-
duum einerseits und das soziale Wesen Mensch andererseits besteht fortwährend die Gefahr
von Missverständnissen gefolgt von Verstimmungen. Vernon W. Ruttan hat versucht dieses
Aufeinandertreffen zu systematisieren und hat dabei in Imperialismus, also die Ausweitung
des Einflusses auf andere Disziplinen, Kolonialismus, verstanden als „establishing colonies as
strategic locations in the periphery of foreign territory that can serve as a base for commercial
or intellectual interchange“ (Ruttan 8), und Kollaboration, als Überwindung der traditionellen
Grenzen hin zur Zusammenarbeit, unterschieden. Gary S. Becker, um den es hier im Kern
gehen soll, wird dabei als Anführer des „most ambitionous imperialist crusade“ (Ruttan 4)
bezeichnet. Was negativ besetzt scheint, sieht Ruttan (13) als Folge des Problems von Sozio-
logen „to overcome their often self paralyzing biases against other professionals and their
disciplines“. Gleichwohl zeigt sie aber Strategien auf, dieses Problem zu überwinden und die
Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu eröffnen. Dies ist notwendig, weil erstens die Soziolo-
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
2
gen versäumt hätten, entsprechende Gegenangriffe zu starten und weil es zweitens meist bei
schnellen Erfolgen der Imperialisten in „collecting the low hanging fruit“ (Ruttan 6) bleibt.
Unabhängig davon, ob Ruttans Unterscheidung bei der Einordnung und Bewertung Beckers
in die Sozialwissenschaften hilft, so gibt sie einen Hinweis auf einen möglicherweise unbeab-
sichtigten Verdienst Beckers, der darin besteht, die soziologischen Fragestellungen in die
Sprache der Ökonomen zu übersetzen1 und damit zum einen die Fragen als für die Ökonomie
relevant kenntlich zu machen und zum anderen einen Ansatz für die Verarbeitung zu liefern.2
In einer Arbeit über Bourdieu habe ich versucht solche Übersetzungsarbeit zu leisten.3 Die
„communication across disciplinary boundaries“ (Ruttan 10) ist allerdings nicht störungsfrei
und ausgewogen. Bei der Beschreibung struktureller Veränderungen im Gesundheitssystem
habe ich solche Störungen ausgemacht und exemplarisch beschrieben.4 Auch diese Arbeit soll
vermitteln und Wege für die Einbettung der Wirtschaftswissenschaft in ihr soziales Umfeld
aufzeigen.
0.2. Content
Die Arbeitshypothese lautet, dass es bei der Einbeziehung des Sozialen in die Wirtschaftswis-
senschaften ein Kommunikationsproblem gibt. Beckers formal gestützte Arbeit am ökonomi-
schen Ansatz, der Verhalten mit der Methode eines als-ob-Maximierers erklären will, wurde
in den 80er Jahren vom Soziologen Coleman begleitet, der Rational-Choice als Handlungs-
theorie erarbeitete und den formalen Teil auslagerte – so kommt er bis dahin ohne die An-
nahme des Maximierers aus. Was hat der gefeierte und kritisierte Becker aus dieser Zusam-
menarbeit mitgenommen und in seinen „analytical framework“ eingebaut? Worin unterschei-
den sich die beiden in ihrer Erklärung von Konsum nach diesen Implementierungen? In
seinem letzten Buch Accounting for tastes erkennt Becker: „Average person’s choice of con-
sumption […] depends on childhood and other experiences, social interactions, and cultural
influences” (Becker 1998: 3).
Die aus dieser Einsicht entwickelten Bausteine heißen Personalkapital, als Erweiterung des
kritisierten Humankapital-Begriffs, und Sozialkapital. Diese baut er in eine erweiterte Nutzen-
funktion ein, die die Wahl der konkurrierenden Einzelnen strukturiert. Bourdieu, der von einer
1 Im Sinne Luhmanns als Grenzstelle zwischen den Systemen, die das Rauschen aus der Soziologie für die Pro-gramme der Ökonomie nutzbar macht. 2 So auch Pies (1998: 16): „Nicht seine Außenwirkung, sondern seine Binnenwirkung ist von primärer Wichtig-keit.“. 3 Vgl. Sygnecka (2004). 4 Vgl. Sygnecka (2003).
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Ökonomie der Praxis als wahrhaften Gegenstand der Soziologie5 (im Vergleich Becker: Öko-
nomie des Alltags6) spricht, verwendet ähnliche Begriffe: kulturelles und soziales Kapital
werden in (Kampf)Felder eingebracht, um spezifische Interessen (illusio) zu verfolgen. Dies
wiederum wird durch erlernte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata strukturiert.
Auf den ersten Blick scheinen nicht nur die Begriffe sondern auch die Funktionszusammen-
hänge ähnlich. Gleichwohl geht die Literatur davon aus, Becker und Bourdieu würden nahezu
diametral gegeneinander stehen, und Bourdieu selbst sieht seine Arbeit als eine gegen den
Ökonomismus und „bestimmte, besonders hartnäckige Ökonomen wie Gary Becker“ (Bour-
dieu 1998b: 27).
Im ersten Teil werde ich ausführlich auf die den Konsumkonzeptionen zugrunde liegenden
Begriffe eingehen, die zum Teil verschieden besetzt werden. Manche Probleme bei der Arbeit
mit den verschiedenen Ansätzen entstehen daraus, dass die Begriffsinhalte des einen auf die
Begriffe des anderen angewendet werden. Im zweiten Teil werde ich den Ansatz Beckers mit
Fokus auf die Konsum-relevanten Teile darstellen und einer ersten kritischen Würdigung un-
terziehen. Im dritten Teil werde ich Colemans Ansatz als eine Art Folie darüber halten, um
wesentliche Unterschiede deutlich zu machen und Überblendungen und Überschneidungen zu
identifizieren. Bourdieus Begriffe sollen auf die Unterschiede zum späten Becker hin unter-
sucht werden, um zu prüfen, was von der Kritik an Beckers Ökonomismus bleibt. In der Zu-
sammenfassung im vierten Teil wird hinsichtlich des Konsums deutlich, dass Becker und
Bourdieu die Rolle der persönlichen Geschichte und des sozialen Umfelds bei individuellen
Wahlhandlungen ernst nehmen. Der große Unterschied besteht in der Bewertung der Rolle
rationaler oder vernünftiger Entscheidungen bei der Genese dieser Erfahrungen und des Um-
felds, also der Funktion von Gesellschaft.
5 Vgl. Bourdieu (1998b: 35). 6 Vgl. Becker / Becker Nashat.
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1. Elemente von Konsumkonzeptionen
1.1. Rationalität
Vernunft heißt im Kontext von Zweck-Mittel-Relationen Leidenschaften mit einer Wahl in
Handlungen zu übersetzen. Diese Wahl ist rational ”or supported by reason if it coheres with
what I prefer“ (Allingham 2). Eine notwendige Bedingung für diese Kohärenz ist, dass das
Ergebnis einer Handlung mindestens genauso gut ist wie das Ergebnis aller anderen mögli-
chen Handlungen. Die hinreichende Bedingung ist aber erst gegeben, wenn die Ergebnisse
konsistent sind, das heißt nach Allingham, dass den Ergebnissen ein Nutzen zuzuschreiben ist
und das Ergebnis meiner Handlung als das mit dem höchsten Nutzen zu identifizieren ist.
Wirkt sich meine Handlung auf Handlungen anderer aus und umgedreht, sind in einer Kette
unendlicher Antizipation der Handlungen des jeweils Anderen neue Anforderungen an eine
rationale Wahl gestellt, die unter anderem mit dem Instrumentarium der Spieltheorie bearbei-
tet wurden.7 Entscheidend für die Bedingungen von Rationalität ist weiterhin die Informati-
onslage. Der Nutzen kann bei unsicherer Umwelt auch ein erwarteter Nutzen sein, der wie-
derum mit Fragen des Risikos verbunden ist. Rationale Wahl bei bekannten Eintrittswahr-
scheinlichkeiten der Ergebnisse unterscheidet sich von Wahlhandlungen, bei denen selbst
diese Wahrscheinlichkeiten oder die Ergebnisse unbekannt sind. Die Folgen asymmetrischer
Informationsausstattung wurde in der Informationsökonomie untersucht.
a. Abgrenzung zum Irrationalen
Rationales Verhalten im ökonomischen Kontext ist die „konsistente Maximierung einer
wohlgeordneten Funktion, etwa einer Nutzen- oder Gewinnfunktion“ (Becker 1993: 167).
Wie Becker selbst bemerkt ist dagegen kritisch anzumerken, dass Präferenzen nicht wohlge-
ordnet seien. Bei Becker wird „jede Abweichung vom Prinzip der Nutzenmaximierung als
irrational bezeichnet: ein präzisere oder abgeklärtere Definition“ sei für seine Zwecke nicht
notwendig. Um eine Spanne des Irrationalen aufzumachen, verwendet er zwei Verhaltenswei-
sen als Pole einer Skala. Haushalte würden zum einen oft „als impulsiv, unberechenbar und
ständigen Launen unterworfen charakterisiert, während sie andererseits als unbeweglich, ge-
wohnheitsmäßig handelnd oder träge beschrieben werden“ (Becker 1993: 173).
7 Dort bedeutet individuelle Rationalität, dass jeder Spieler sich einen individuellen Nutzen sichert, der mindes-tens so hoch ist wie der Nutzen, den er aus eigener Kraft erreichen kann.
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Becker zeigt aber, dass im Rahmen der ökonomischen Preistheorie im Aggregat irrationales
Verhalten zu den gleichen Ergebnissen führt wie rationales, man also mit einer als-ob An-
nahme arbeiten könne8:
Nimmt man als realisierten Konsumpunkt nicht wie üblich den Tangentialpunkt
von Nutzenfunktion und Budgetgerade sondern den Mittelpunkt der Budgetgera-
den und lässt die Indifferenzkurve weg, bleibt die Schlussfolgerung der Preisthe-
orie, dass bei relativ höherem Preis eines Gutes die Nachfrage sinkt, erhalten.
Der Mittelpunkt lässt sich als Mittelwert aller Punkte interpretieren, die bei ir-
rationalen Konsumenten als Konsumpunkte zufällig gewählt werden würden und
damit auf der Budgetgeraden gleichverteilt sind.
„Positive Einkommens- und negative Preiseffekte erweisen sich als eine Folge von
Knappheit, nicht jedoch als Folge der Rationalität, da sie auch aus irrationalem Verhal-
ten resultieren“ (Pies 1998: 9). Rationalität ist für Becker also „nicht länger eine quasi natu-
ralistische Annahme über die Qualität der Bewusstseinsprozesse“ sondern „theoretisches, d.h.
prä-empirisches, Konstrukt, mit dessen Hilfe sich empirische Aussagen analytisch herleiten
lassen“. In einem ersten Schritt kann Becker bei seinen Untersuchungen auf die Frage ver-
zichten, ob „Verhalten bewusste, halb-bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrunde
liegen, ob es emotional oder traditional bestimmt wird usw.“ (Pies 1998: 9).
Damit wird die klassische Unterscheidung Webers zwischen den Idealtypen rationaler, wert-
rationaler, affektiver und gewohnheitsmäßiger Handlungen (Fararo 265) in einer Theorie für
nicht relevant erklärt, die immerhin ein Rahmen für die Erklärung allen menschlichen Verhal-
tens sein will.
Kann Parsons Reduktion der Weberschen Handlungstypen auf rationale (instrumentelle) und
nichtrationale (expressiv-moralisch) Handlungen weiter auf ersteres reduziert werden oder
muss „the social level as non-reducible“ (Fararo 269) angesehen werden? Becker meint, so-
lange die Reduktion eher zu einer Erweiterung des Erklärungsgehaltes führt, weil dadurch ein
schärfes Instrumentarium konstruiert werden kann, wäre sie zulässig.
b. Soziale Rationalität
Bei der social choice, als Unterpunkt des instrumentellen Rationalitätsbegriffs, „there are a
number of individuals, each of whom makes rational choices [...]“ und eine „social choice
rule specifies both the choices are made by society and the way in which these takes account
8 Vgl. Pies (1998: 8f)
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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of the preferences of the individuals in society“ (Allingham 4). Selbst in der social choice
liegt die Ebene der Rationalität also beim Individuum. „Konzepte sozialer Rationalität [hin-
gegen] orientieren […] auf die institutionellen Ausprägungen, auf die vergesellschaftenden
Bedingungen und Vorraussetzungen wie auf die sozialen Folgen des Handelns“ (Brentel 479).
Das Ziel, auf das soziale Rationalität abzielt, ist die Bestandserhaltung der Gesellschaft, mit-
hin die Reproduktion, die Begründung durch Funktion, die Abwehr von Gefahren, die Me-
chanismen der Integration usw.. Brentel versteht soziale Rationalität als „dialektisches Ver-
mittlungskonzept einer objektiven sozialen Vernunft“ – Konsum taucht in diesem Konzept
nur über die damit verbundene Produktionssphäre und ihrer für den Bestand von Gesellschaf-
ten inhärenten Gefahren für die natürliche Umwelt auf.
Wichtig für die vorgestellte Fragestellung ist aber die Verschiebung von einer maximierenden
Individualentscheidung auf eine Entscheidung der Gesellschaft über den Entscheidungsmodus
selbst. Es muss also gefragt werden, ob Nutzen die optimale Währung sozialer Systeme ist
und warum Effizienz das Kriterium von Märkten sein soll.9
1.2. Konsum
Konsum kann als der Erwerb von Marktgütern zum letztendlichen Verbrauch verstanden wer-
den. Konsum ist nicht nur als Mengeneinheit zu verstehen sondern als funktionales Element
im Wirtschaftssystem, mit entsprechender Bedeutung auch für die Gesellschaft. Für ersteres
ist er im Kreislauf aus Produktion und Konsum und dem gegenläufigen Kreislauf aus Ein-
kommen und Einnahmen platziert und für letzteres können soziale Distinktionen und die da-
mit verbundenen Wertbildungsprozesse über die Äußerlichkeit des Konsums10 vollzogen wer-
den.
1.3. Nutzen und Präferenzen
Eine Präferenz bezieht sich immer auf etwas, dass man bei Vorliegen der Präferenz etwas
anderem gegenüber vorzieht bzw. es bevorzugt. Geht man davon aus, das Menschen Ziele
haben, so haben sie eine Präferenz für diejenigen Dinge und Aktivitäten, die helfen, diesen
Zielen näher zu kommen. Wenn Dinge und Aktivitäten helfen den Zielen näher zu kommen,
haben sie einen bestimmten Nutzen.
9 Vgl. Favell (297). 10 Äußerlich deshalb, weil Konsum in der Öffentlichkeit stattfindet und was konsumiert wird/wurde ist meist auch sichtbar.
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Mit diesen Zielen sind mehrere Fragen verbunden: a) Gibt es ursprüngliche Ziele auf die
Handlungen letztendlich zurückgeführt werden können oder stehen Ziele und Mittel (Hand-
lungen) in keinem klaren hierarchischen Zusammenhang? b) Sind Ziele ubiquitär und stabil?
c) Sind die Ziele benennbar und ist dies notwendig, um Handeln und Verhalten zu erklären?
Becker unterscheidet in der ersten Frage in tieferliegende exogene Präferenzen und in Präfe-
renzen für Marktgüter, die endogen sind.11 In die endogenen Präferenzen fließen kulturelle
und ethische Werte mit ein, die tieferliegenden Präferenzen sind davon unbetroffen (Becker
1998: 16). Damit unterstützt er seine Arbeitshypothese der im Prinzip gleichen und stabilen
(tieferliegenden) Präferenzen. „Diese tieferliegenden Präferenzen beziehen sich auf grundle-
gende Aspekte des Lebens, wie Gesundheit, Prestige, Sinnenfreude, Wohlwollen oder Neid“
(Becker 1993: 4). Mit dieser Nennung ist allerdings nicht der Anspruch auf eine umfassende
Liste verbunden und auch nicht eine Bejahung der Notwendigkeit der Bennennung. Da beim
ökonomischen Ansatz Verhaltensänderungen auf Veränderungen der Restriktionen zurück-
geführt werden und Präferenzen lediglich das Verhalten bestimmen würden12, müssten die
stabilen Präferenzen nicht konkreter benannt werden.13 Ganz allgemein hätten Privathaushalte
„meist ihr privates Glück im Sinn“14 wenn sie „in ihrem Alltag ihren Nutzen maximieren“
(Friemel 80) und je „abstrakter die individuellen Ziele formuliert werden, desto leichter fällt
die Annahme, dass diese Präferenzen invariant und universell sind“ (Pies 1993: 99).
Martha Nussbaum sieht die stabilen und gleichen tieferliegenden Präferenzen nicht als gege-
ben an, erachtet aber die Formulierung und Akzeptanz einer solchen Liste als normativ erfor-
derlich. Sie formuliert zehn Fähigkeiten, die Gesellschaften ihren Bürgern ermöglichen soll-
ten, als essentielle Elemente eines menschlichen Daseins. Damit erhält sie quasi die Grundla-
ge einer sozialen Rationalität. und „Raum für Kritik am gesellschaftlichen Status quo“ (Nuss-
baum 331), den es nicht gibt, wenn der Ist-Zustand als Ergebnis marktkoordinierter Wahl-
handlungen interpretiert wird. Dann ist alles wie es ist, weil die Individuen es so wollten und
der Markt den optimalen Interessenausgleich geschaffen hat.
11 Für eine Diskussion der Unterscheidung der Präferenzen siehe Schramm (2004: 14, FN 47) und Rodberg (289). 12 Vgl. Pies (1993: 99, Fn 29). 13 So beschreibt er Benthams je fünfzehn elementaren Freuden und Leiden und Marshalls Nutzensfunktionsar-gumente Unterscheidung und Auszeichnung als Vorläufer seiner unten erläuterten Haushaltsproduktionsfunktion ohne zu erklären, warum er diese oder jene Präferenzen hinzufügt bzw. ausschließt. Vgl. Becker ( 1993: 153). 14 Für eine Ökonomie des Glücks vgl. Müller und Frey/Stutzer.
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1.4. Handeln und Verhalten
Gary Becker legt einen Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens vor, während Coleman
und Bourdieu ein Theorie der Handlung anvisieren. Um diese Ansätze vergleichen zu können
muss das Verhältnis dieser Begriffe geklärt werden.
Rolf Klima weist darauf hin, dass obwohl beide Begriffe zuweilen synonym verwendet wer-
den, Verhalten als der allgemeinere Begriff „jede Reaktion, jedes Sprechen, Denken, Fühlen
usw. [umfasst], gleichgültig ob das Individuum damit einen „subjektiv gemeinten Sinn“, eine
Absicht, einen Zweck usw. verbindet oder nicht“ (Klima 711). Handeln beinhaltet hingegen
eine „Intentionalität oder Zielgerichtetheit“ (Vanberg 263) und wird begrifflich wesentlich
bestimmt durch Parsons’ Auffassung von Handlung als „Moment des Verhaltens, das zielge-
richtet ist, in Situationen der Orientierung stattfindet, normativer Regelung unterliegt und der
Motivation des Akteurs folgt“ (Lüdtke 264). Wenn Handeln durch Intentionalität im Sinne
von einen Grund haben gekennzeichnet ist, so ist Verhalten durch Reize verursacht.15
Mit einem anderen Hintergrund schreibt Luhmann (272): „Bei der Unterscheidung von Ver-
halten und Handeln geht es um die Frage, ob Eigenbewegung ohne oder mit Rücksicht auf
den »gemeinten Sinn« beobachtet wird“ und kritisiert, dass Entscheiden im Begriff des Han-
delns meist mitgedacht wird. Seine Unterscheidung von Entscheiden und Handeln zielt darauf
ab, „ob der Sinn des Handelns nur verstanden oder zusätzlich als Wahl zwischen Alternativen
und nach Maßgabe von Kriterien auch beurteilt wird“ (Luhmann 272).
Beckers Begrifflichkeit ist insoweit konsistent, dass er menschliches Verhalten durch Reize
wie Preissenkungen gesteuert sieht. Die Konsumforschung unterstützt diese Herangehenswei-
se, indem sie einschätzt, dass das „Verhalten des Menschen […] oft und auch hinsichtlich
seines Konsumverhaltens durch Reiz-Reaktions-Beziehungen gesteuert“ (Kroeber-Riel /
Weinberg 654) wird. Dabei werden aber nicht nur Preissignale sondern auch die Beeinflus-
sung durch Werbung gedacht. Die Betrachtung von Konsum als Mittel zum Zweck, mithin als
Handlung wird aber abgelehnt: „Auch das Konsumentenverhalten ist nur bedingt rational und
von einer so verstandenen Souveränität weit entfernt“ (Kroeber-Riel / Weinberg 653). Kon-
sumentensouveränität und rationales Konsumverhalten, also Konsumhandlungen oder gar
Konsumentscheidungen, wären „metasprachliche Versteckspiele vor der Realität“ (Kroeber-
Riel / Weinberg 654) und dienen als Rechtfertigungsschema: erst wird beeinflusst und später
wird behauptet, die Wahl würde die Wünsche der Wählenden widerspiegeln.
15 Vgl. Graumann (22f)
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Die Annahme der Nutzenmaximierung wird bei Becker nicht als das bewusste Verfolgen ei-
nes Ziels gesehen, sondern ist der verallgemeinerbare Ausdruck der responses (Graumann
22). Auf die damit verbundenen Probleme wird weiter unten eingegangen. Bourdieu sieht als
Grundannahme der Soziologie, „dass in dem, was Akteure tun ein Grund waltet […], den es
zu finden gilt“ (Bourdieu 1998a: 140). Coleman versteht die Intentionalität Handelns als
Grundlage seiner Rational-Choice-Theorie, das (mathematische) Prinzip der Nutzenmaximie-
rung ist aber nur für die formale Darstellung notwendig.16
Ein Handlungsbegriff der die Herangehensweise aller Autoren umfasst, ist Gils Auffassung
von Handlung als “tatsächlich[e] Wirkungen von bewusst in den materiellen Gang der Dinge
eingreifenden Handlungssubjekten“ die „kollektiv, d.h. in kulturell und historisch geprägten
sozialen Handlungskontexten“ handeln. „Die schiefen Konnotationen, die mit den Begriffen
der Intervention, des Eingriffes und der Wirkung gegeben sind, verschwinden, wenn Hand-
lungen als Antworten oder Reaktionen auf symbolische Herausforderungen, auf Bitten, Fra-
gen, Befehle, Einladungen, Signale aus der Umwelt, oder aber auf die Normen und Erwartun-
gen, welche Traditionen, Konventionen und Gewohnheiten ausmachen, verstanden und beg-
riffen werden“ (Gil 34f). Damit wird der Mensch als soziales Wesen beschrieben, der will,
dass es ihm gut geht, dieses „gut gehen“ aber über die ständige Kommunikation mit dem so-
zialen Umfeld definiert. Diese Handlungen folgen dann dem, was ich oben als soziale Ratio-
nalität einzuführen versucht habe.
2. Gary S. Beckers Konsumkonzept Gary Becker fühlt sich seit dem College „von den Untersuchungsobjekten der Soziologen und
den Untersuchungsmethoden der Ökonomen angezogen“ (Becker 1993: 7). Mit der Disserta-
tion begann er letzteres auf ersteres anzuwenden und hat dies bis heute ausgebaut. Die Aus-
weitungen gingen in zwei gegensätzliche Richtungen. Zum einen hat er den ökonomischen
Ansatz auf immer mehr Sachverhalte (z.B. auf die Familie, Kriminalität, Diskriminierung,
Recht und Politik und Sucht) angewandt, was als Imperialismus nicht immer wohlwollend
wahrgenommen wurde. Zum anderen hat er soziologische Erkenntnisse in seinen Ansatz ein-
fließen lassen. Konstrukte wie seine Version von Sozialkapital entstanden nach jahrelanger
Zusammenarbeit mit dem Soziologen James Coleman, die Einführung von Humankapital
wurde von Pierre Bourdieu als unvollkommen kritisiert und später von Becker zum Personal-
kapital ausgebaut. Zum Verständnis von Konsum in Beckers Begriffsfeld sind beide Richtun-
16 Vgl. Coleman (23).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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gen der Ausarbeitung wichtig: das Konsumverhalten determinierende Größen wie Familie,
der politische Rahmen, das soziale Umfeld oder Sucht werden einerseits als Ergebnisse ratio-
nalen Handelns (im Sinne Beckers) dargestellt und somit in das ökonomische Feld hineinge-
zogen. Andererseits gelingt es Becker die persönlichen Erfahrungen und Dispositionen des
Einzelnen und die Einbindung des Einzelnen in sein soziales Umfeld in seine Analyse einzu-
beziehen. Die dabei auftretenden konzeptionellen Probleme werden im Folgenden über die
Darstellung der als wesentlich erachteten Komponenten von Beckers Erklärungsschema
besprochen.
2.1. Der ökonomische Ansatz
Die Ökonomie als Sozialwissenschaft ist nach Gary S. Becker nicht durch ihren Gegenstand
zu charakterisieren, sondern durch ihren ökonomischen Ansatz17. Der Gegenstand werde häu-
fig unnötig auf materielle Güter oder den Markt-Bereich beschränkt, die weiteste Definition,
nämlich die „Allokation knapper Mittel zur Verfolgung konkurrierender Ziele“ (Becker 1993:
2) würde zwar den Geltungsbereich hinreichend abdecken, das spezifische des ökonomischen
Ansatzes gehe daraus aber nicht hervor. Dieser Ansatz ist durch drei Punkte gekennzeichnet:
- Es wird nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt. Dabei „unterstellt der ökonomische
Ansatz nicht, dass die Entscheidungsträger sich notwendigerweise ihrer Maximierungsbe-
mühungen bewusst sind, oder dass sie in informativer Weise Gründe für die systemati-
schen Muster in ihrem Verhalten verbalisieren oder sonst wie beschreiben können“ (Be-
cker 1993: 6). Wie ich im Abschnitt über Rationalität beschrieben habe, hat Becker das
Bewusste durch die probabilitistische „Radikalisierung der Preistheorie“ (Pies 1998: 10)
ersetzt und damit eine als-ob-Rationalität eingeführt.
- Es gibt „Märkte, die mit wechselnder Effizienz die Handlungen der verschiedenen Betei-
ligten [...] so koordinieren, dass sie mit einander in Einklang gebracht werden“ (Becker
1993: 3). Diese Koordinierungsmechanismen funktionieren über Instrumente wie Preise
und entsprächen dem, was in der Soziologie als Struktur bezeichnet wird.
- Es gibt stabile Präferenzen. Diese Präferenzen „beziehen sich auf grundlegende Aspekte
des Lebens wie Gesundheit, Prestige, Sinnenfreude, Wohlwollen oder Neid“ und stehen
nicht immer „in festen Relationen zu Marktgütern und -leistungen“ (Becker 1993: 4).
17 Für eine Unterscheidung dessen, was als „ökonomisch“ bezeichnet werden kann, siehe Schramm (2004: 12ff). Er trennt eine materielle (Vorteilsinhalte, Präferenzen, „Tastes“) von der formalen Ebene (Orientierung an Kos-ten) und stellt auf der materiellen Ebene Eigennutzinteressen moralische Interessen gegenüber.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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Mit diesem drei Annahmen im Gepäck sollen nun „(scheinbare) Verhaltensanomalien als rati-
onale Anpassungsreaktionen an einen veränderten Möglichkeitsraum“ (Pies 1998: 17) rekon-
struiert werden. Der Möglichkeitsraum wird durch „monetäre und nicht-monetäre Restriktio-
nen“ (Pies 1998: 16) begrenzt und das Anpassungsverhalten orientiert sich an Kosten im Sin-
ne von Opportunitätskosten18.
Weil eine Verhaltensänderung als Reaktion auf eine veränderte Restriktion gewertet wird,
kann die soziale Wirklichkeit nur als „methodisch kontrollierte ‚pragmatische Reduktion’ von
Komplexität“ betrachtet werden. „Der Ökonomische Ansatz ist […] nichts anderes als ein
Zurechnungsverfahren. […] Der entscheidende Punkt ist, dass innerhalb dieses Analysever-
fahrens sämtliche Theorie-Elemente ihre vorgängige – lebensweltliche, phänomenologische
usw. – Plausibilität verlieren. Ihre methodische Berechtigung beziehen sie […] als theoreti-
sche Konstrukte“ (Pies 1998: 20f).
Mit der Konstruktion eines solchen Möglichkeitsraums sind einige Probleme verbunden. Ers-
tens kann man einen solchen Raum geschickt auf die Hypothese der Nutzenmaximierung hin
konstruieren. Dann bleiben zwar die Präferenzen stabil, dies aber nur deshalb weil man die
passenden Faktoren in das Gleichungssystem eingefügt hat, das dann zum prognostiziertem
Ergebnis führt. Zweitens wird die Implementierung der hier als nicht-monetäre Restriktionen
bezeichneten Sachverhalte als bloße Beschränkung kritisiert. So sieht Schramm (2005: 18)
beispielsweise Moral als „attraktive Größe“, die weniger eine Restriktion ist als ein Anreiz.
„Die Intensität des jeweiligen moralischen Interesses und daher auch die Anreizintensität von
Moral tritt empirisch allerdings in äußerst unterschiedlichen Dosierungen auf, paktiert mit
teilweise recht unterschiedlichen Inhalten, und ist insgesamt kontingent.“
2.2. Die Haushaltsproduktionsfunktion
Herkömmlicherweise wird in den Wirtschaftswissenschaften der Nutzen maximiert, den Indi-
viduen direkt aus am Markt erworbenen Gütern ziehen. Becker erkennt aber, dass „consump-
tion and other activities have a major social component partly because they take place in pub-
lic” (Becker 1998: 12). Anders als Veblen, der diesen Fakt als conspicous consumption be-
schrieben hat, will ihn Becker systematisch in seine Theorie einarbeiten. Diesen Schritt voll-
zieht er mit einer Haushaltsproduktionsfunktion. Der Nutzen wird jetzt nicht mehr direkt
durch Marktgüter („Güter und Leistungen, die sie [die Menschen] auf dem Markt kaufen“
18 „Der Nutzenmaximierende […] wählt die am höchsten bewertete Alternative. […] Die Kosten der Wahl […] werden durch den – nicht realisierten – Nutzen dieser nächstbesten Alternative, die Opportunitätskosten wieder-gegeben“ (Pies 1993: 96).
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(Becker 1996: 52) erzielt, sondern durch die Produktion im Nichtmarkt-Bereich, also zu Hau-
se. „Diese Neuformulierung verwandelt die Familie von einem passiven Maximierer des Nut-
zens aus Marktkäufen zu einem aktiven Maximierer, der auch im großen Umfang mit Produk-
tions- und Investitionsaktivitäten befasst ist” (Becker 1996: 54). In dieser Produktion fließen
Marktgüter ein, müssen aber unter Aufwendung von Zeit und mit Fähigkeiten zu Zielgütern
(Im Orginal: „commodity objects of choice“ (Schweers Cook 193)) kombiniert werden.19 In
den so produzierten Nutzen gehen also das monetäre Einkommen, die Zeit und das technische
Niveau des Produktionsprozesses ein.20
Streng genommen kommt Becker dabei in Konflikt mit der oben beschriebenen Auffassung
von Konsum als Umwelt der Produktion. Es entsteht eine neue Logik: „An die Stelle nutzen-
stiftender Marktgüter treten nutzenstiftende Zielgüter, d.h. produktive Konsumaktivitäten“
(Pies 1998: 19). Die Grenze zwischen Konsum und Produktion wird eingerissen. Theoretisch
werden jetzt auf Märkten Zwischengüter gehandelt, die dann in die private Produktion einge-
hen. Der Endnutzer produziert selbst für seinen Endbedarf, Konsum kehrt zurück in den
Schoß der Familie.21 Unternehmen stellen nur noch dazu notwendige Zwischenprodukte zur
Verfügung. Deshalb haben die nutzenstiftenden commodities (im Gegensatz zu den Marktgü-
tern goods) lediglich einen Schattenpreis, der den Opportunitätskosten, gemessen in den
commodities, die in der Zeit nicht produziert werden konnten, entspricht.
Der Output von Produktionsprozessen ist in der klassischen Ökonomie ist eine Funktion vom
eingesetzter Arbeit, Kapital und Boden. Die Faktoren werden gewinnmaximal so eingesetzt,
dass die Kosten einer weiteren Einheit des Faktors gleich dem Ertrag aus dem Mehreinsatz
sind. In der Produktion der Zielgüter gibt es nun andere Faktoren. Arbeit entspricht nun der
Zeit, die die Individuen investieren. Zum Sachkapital, das den Marktgütern entspricht, treten
nun eine Vielzahl anderer Kapitalsorten, auf die ich im folgenden eingehe.
2.3. Produktionsfaktoren der Haushaltsproduktionsfunktion
Sozialkapital als Argument der Nutzenfunktion entspricht dem „aggregate consumption of a
good by members of the same social group“ (Becker/Murphy 2000: 12) und beeinflusst den
19 Da also Nutzen produziert wird, und in Produktion verschiedene Kapitalsorten einfließen, verwenden Be-cker/Murphy auch social and habit capital für sozialen Druck und Gewohnheit. 20 Becker/Murphy bezeichnen die dafür verwendete Variable E als Umweltvariable, wobei darunter eher die persönlichen Fähigkeiten in der Kombination von Zeit und Gütern zu verstehen sind. In einem vorherigen Kapi-tel wird E auch als Humankapital bezeichnet, was durch seine an den Träger gebundene Eigenschaft, diese In-terpretation unterstützt. Siehe auch (Pies 1998: 11), dort wird E als „Konsumtechnologie, über die ein Haushalt verfügt“ bezeichnet. 21 Vgl. Bourdieu (1998b: 26f). Dort rekonstruiert Bourdieu die Familie als Ursprung des Modells aller Aus-tauschbeziehungen, das aber auf „Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Ökonomieprinzip“ beruht.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
13
Nutzen, den jemand aus einem Gut ziehen kann. Sozialkapital in Beckers Sinne „ist der öko-
nomische Ausdruck dafür, dass rationales Verhalten durch die Erwartungen der Umwelt [...]
zumindest mitbestimmt wird“ (Pies 1998: 24). Diese Beeinflussung funktioniert durch den
komplementären Zusammenhang von Sozialkapital und den betreffenden Gütern (genauer:
den commodities) in der Nutzenfunktion: „An increase in a person’s social capital increases
her demand for goods and activities that are complements to the capital and reduces the de-
mand for those that are substitutes” (Becker 1998: 13).22 Rodberg (287) unterscheidet von
diesem indirekten Effekt von Sozialkapital den direkten Effekt, dass „[f]or example, a strong
social network may valued in itself.“ Für andere Kapitalsorten bestehe aber die Möglichkeit
des Verfalls, wenn es nicht mit Gütern oder Aktivitäten kombiniert wird.23
Die Nachfrage nach einem Gut ist nun abhängig von individuellen Größen wie dem Einkom-
men, gesamtwirtschaftlichen Größen wie dem Preisniveau und gruppenspezifischen Größen
wie dem Sozialkapital bzw. dem Gesamtkonsum des Gutes durch die Gruppe. Individuelle
Größen wirken sich (bis jetzt) nur dann merklich auf das Verhalten aus, wenn sich diese Grö-
ße bei vielen oder der Mehrheit in der Gruppe ändert. Der Prozess ist exponentiell in dem
Maße wie einzelne Gruppenmitglieder die komplementären commodities nachfragen und da-
mit das Sozialkapital der anderen Gruppenmitglieder bezüglich dieses Gutes erhöhen. Diesen
Effekt nennen die Autoren den social multiplier.
Als Untergruppe von Sozialkapital entwickelt Becker Kulturkapital (Becker 1998: 16), auf
das die Individuen wegen Kontrollmechanismen wenig Einfluss haben. Die endogenen Präfe-
renzen für bestimmte Güter würden durch das Kulturkapital beeinflusst. Dieses Kapital würde
aber als Restriktion in der Nutzenfunktion genauso wirken, wie andere Kapitalsorten auch.
Als zweite Kapitalsorte wird das Personalkapital eingeführt. Als Summe aller bisher ge-
machten Erfahrungen fließt diese Kapitalsorte ebenfalls in die Nutzenfunktion ein. Diese Ka-
pitalsorte ist der Überbegriff für mehrere Untergruppen: Humankapital, das von Bourdieu
zurecht als unvollständig kritisiert wurde, als Fähigkeiten und Fertigkeiten; Gewohnheitskapi-
tal (Becker/Murphy) als Erfahrungen mit bestimmten Prozessen, die bei Änderung des Ver-
haltens erst wieder erworben werden müssten; Konsumkapital, das die Fähigkeiten beschreibt,
aus bestimmten Gütern24 einen Nutzen zu ziehen und Vorstellungskapital25 als die Fähigkeit,
22 Wenn also ein Fußballspieler neue Freunde findet, die auch Fußball spielen, so steigert das den Nutzen, den er aus der Aktivität Fußballspielen ziehen kann. Das Substitut Handball wird weniger „nachgefragt“. Hier ist ein funktionaler Zusammenhang erkennbar, bei bestimmten Moden hingegen ist die soziale Kategorie „Anerken-nung“ implizit. 23 Vgl. Rodberg (288). 24 Damit gibt es also für jedes Gut eine entsprechendes Kapitalsorte.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
14
die Zukunft zu antizipieren26. Bei dem Versuch, mehr Restriktionen menschlichen Verhaltens
darzustellen, entstehen sehr spezielle Kapitalsorten, die jeweils unterschiedlich wirken und so
die Nähe zu allgemeinen Begriffen verlieren. Wird diese Vorgehensweise „taken literally as a
model of real humans we would need to posit an enormous amount of stocks interrelated in a
myriad of ways” (Rodberg 288). Allgemein spiegelt der Kapitalstock wieder, dass die unter-
schiedlichen Lebensläufe zu unterschiedlichen Reaktionen auf eine veränderte Umwelt füh-
ren, und enthalten in unterschiedlicher Stärke die Möglichkeit, die Akkumulation der einzel-
nen Kapitalsorten in Hinblick auf zu erreichende Nutzenniveaus zukünftiger Situationen aus-
zurichten. Personalkapital als „mentales, geistiges Kapital einerseits und Gesundheitskapital
andererseits“ verknüpft „die periodischen Nutzenmaximierungsanstrengungen des modellier-
ten Individuums intertemporal“ (Pies 1998: 23) und so entstehen „Pfadabhängigkeiten perso-
naler Entwicklung“ (ders.).
Der Mechanismus ist allerdings komplex und vielschichtig27 und es ist theoretisch fraglich, ob
das Instrument des als-ob rational Handelnden hier aussagekräftig ist.28 Becker packt alle
Verhaltensweisen in ökonomische Begriffe, formuliert die wesentlichen Erkenntnisse als An-
nahmen29, um diese Begriffe und Annahmen durch die formale Maximierungsmaschine lau-
fen zu lassen. Man kann die beobachteten Phänomene30 nun als Ergebnis rationalen Verhalten
bei konstanten Präferenzen „erklären“ - warum beispielsweise Jugendliche öfter fanatische
Musikfans sind, weiß man deshalb noch lange nicht. Das will Becker ja auch nicht, es handelt
sich ja um lebensweltlich abgekoppelte theoretische Konstrukte (siehe letzter Absatz in 2.1.a),
sondern die Anwendung des Preismechanismus’ soll theoretisch fundiert sein. Selbst das ge-
25 Im Orginal „imagination capital“ (Becker 1998: 11). 26 Rodberg sieht viele Restriktionen als „believed constraints“ (288) oder „subjective beliefs“ (291) an, die un-terschiedlich ausfallen und gegenwärtige Nutzen und „choices“ beeinflussen. 27 Wenn es beispielsweise um das Zielgut Musikgenuss geht, steigert Musikkapital den Nutzen, der aus einer Zeiteinheit Musikgenuss gezogen werden kann. Vgl. Becker (1996: 53ff). Die Produktion von Musikgenuss erfolgt durch Einsatz von Zeit (zum Musik-Hören) und musikbezogenem Humankapital, das wiederum eine Funktion des Musikkapitals (als Ergebnis des bisherigen Musikgenusses) und musikbezogener Bildung ist. Mu-sikgenuss wird produziert und konsumiert. Produktion und Konsumption sind zuerst eine Einheit und später geht die Produktion der Vorperiode (als Musikkapital, das Teil des musikbezogenen Humankapitals ist) in den Kon-sum der Folgeperioden ein. Humankapital- und Musikkapitalakkumulation können nun auf das Ausmaß des gewünschten zukünftigen Musikgenusses hin maximiert werden. 28 Ein Einwand wäre die ex-post-Konstruktion der Wirklichkeit bzw. die Theoretisierung des gesunden Men-schenverstandes auf folgende Art und Weise: Zwischen zwei Punkten wird ein Gasse aus Restriktionen so ge-baut, dass die „schnellste“ Verbindung zwischen den beiden Punkten am Ende der Logik des rationalen Kon-struktes entspricht. Nur dadurch, dass das Zweck-Mittel-Analyseschema erlaubt, die Mittel so auszuwählen, dass eine derartige Konstruktion möglich ist, ist ja noch kein theoretischer Gewinn zu verbuchen. 29 Für das Beispiel Musikgenuss: Bildung fördert Musikgenuss, wer viel Musik gehört hat, wird mehr Freude an Musik haben, usw. 30 Für das Beispiel: erhöhter Musikkonsum in der Jugend, weil die so gesammelten Erfahrungen mit Musik den späteren Genuss von Musik erhöhen und so die Zeit fürs Musikhören relativ effektiv eingesetzt ist.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
15
lingt aber nur mit nachgeschobenen und zudem unplausiblen Annahmen.31 Hier deutet sich
bereits an, was Favell im Zusammenhang mit Coleman als Überdehnung des Rational-
Choice-Ansatzes bezeichnet.32 Swedberg (5) verweist auf Hirschmans Kritik der Tautologie
des Interessen-Begriffs und schlussfolgert: „If too much weight is put on the notion of inte-
rest, it will brake.“33
Zudem sind die Begriffe, die im Laufe der Zeit ausgearbeitet wurden mit unterschiedlichen
Bedeutungen, zumindest was Umfang und Spezifizierung angeht, besetzt. Oft definiert nur ein
Nebensatz die Bedeutung des Begriffes. Vielleicht braucht es nicht mehr, vielleicht wird die
Lektüre grundsätzlicherer Literatur vorrausgesetzt – Bourdieu, bei aller Komplexität der Dar-
stellung, geht hier befriedigender vor. Konsumkapital und Humankapital bleiben Begriffe, die
nicht nur den „theorieästhetischen Ansprüchen moralisch sensibler Zeitgenossen“ (Pies 1998:
35) nicht entsprechen, sondern auch nicht nachhaltig konzeptualisiert erscheinen.
2.4. Konsum bei Becker – ein Zwischenstand
Konsum stiftet also indirekt Nutzen34, indem die Konsumgüter mit Zeit und Fähigkeiten in
der Haushaltsproduktion zu Zielgütern kombiniert werden. In die Nutzenfunktion gehen
Sachverhalte wie Gewohnheit, Kultur, Position und Lebenslauf, Konsum- bzw. Produktions-
verhalten der sozialen Umwelt und Bildung als Restriktionen ein. Innerhalb des durch die
Restriktionen begrenzten Möglichkeitenraums wird rationales Verhalten als „Analysesche-
ma“ (Pies 1993: 92) verwendet und Verhalten als Nutzenmaximierung interpretiert. Als Kos-
ten (Preise) werden Opportunitätskosten (oder Schattenpreise) betrachtet, die nicht in Geld
bemessen werden.
Während für Heirat und Nachbarschaft gelten möge, dass Becker und Murphys überspannen-
des Thema sein mag, dass „social interactions must be understood in the (potentially implicit)
market context in which they occour“ (Jones 576) wird der Konsum von Gütern von diesen
31 Zum Beispiel wird nachgeschoben: „Es ist möglich, dass mit zunehmendem Alter der Bestand an Musikkapi-tal schrumpft“ Becker (1996: 58). Warum sollte der aber abnehmen, wenn das Kapital doch über die Zeit akku-muliert wird? 32 Vgl. Favell (294). 33 Auf meine E-Mail Anfrage “[…] I have read your article “Bourdieus Advocacy of Interest…” in the Economic Sociology Newsletter, Vol. 4.2.. There you have cited Hirschman and Isay in the matter of the danger of tautol-ogy, concluding that “If too much weight is put on the notion of interest, it will brake.” I intuitivly agree but I am hardly able to justify that. Why does a theory that seems to cover reality in a great extent has to be tautologic?“ antwortete Swedberg “[…] the idea is that […] if you have a complex world Y and X allegedly causes most of it, you do not say very much when you say that X causes it except for that X=Y. So you need to be able to differen-tiate - which you do not do if you say that X causes most of Y. Becker has the same problem.”. 34 Vgl. Becker (1993: 153): „Hebt man hervor, dass es beim Konsum eines Marktgutes um eine Verwendung bei der Produktion eines grundlegenden Gutes geht, so ergeben sich Einsichten in die Art des durch dieses Marktgu-tes gestifteten Nutzen.“.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
16
Autoren jedoch umgedreht als wirtschaftliche Interaktionen in einem sozialen Kontext ver-
standen. Wenn aber der soziale Kontext als Häufung von Marktsituationen verstanden wird
und Gesellschaft als „soziale Veranstaltung zur Knappheitsbewältigung konzeptualisiert“
(Pies 1993: 100) wird, ist die soziale Einbettung des Konsums doch nur eine Zwischenstufe
zur totalen Ökonomisierung. „The real moment of choosing is ... the choice of comrades and
way of life“ zitieren Becker und Murphy Mary Douglas zusammenfassend (Becker/Murphy
23). Diese Wahlhandlungen sind nicht Gegenstand dieser Arbeit, es ist aber festzuhalten, dass
sie entscheidende Determinanten der Beckerschen Konsumtheorie sind.
Ich bin auf konzeptionelle Probleme der Modellierung von Restriktionen im Zweck-Mittel-
Schema und bei den verschiedenen Kapitalsorten eingegangen. In den folgenden Abschnitten
soll untersucht werden, welchen Weg soziologische Ansätze bezüglich dieser Probleme gehen
und wie dort Konsum in den sozialen Kontext eingebunden wird.
3. Soziologische Ansätze als Kontrastfolien
3.1. Colemans Rational Choice
James S. Colemann hat mit der Rational-Choice-Theorie die ökonomische Allgemeine
Gleichgewichtstheorie zum Allgemeinen Sozialen Gleichgewicht generalisiert. Coleman hofft
durch die Zugrundelegung der zielgerichteten Handlung auf Teilhabe der Soziologie an einem
Austausch zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, die dieses Menschenbild bereits
verwenden.35 Ihn treibt die gleiche Vermutung, die auch Becker formuliert: Das Verstehen
einer Handlung hieße, die Gründe des Handelnden zu verstehen und wenn viele Handlungen
irrational erscheinen würden, dann nur, weil „die Betrachter nicht die Sichtweise des Akteurs
entdeckt“ (Coleman 22) hat.
Die Sozialtheorie Colemans will soziale Tatsachen durch andere soziale Tatsachen erklären,
wobei die sozialen Tatsachen zwei Makro-Ebenen darstellen, die durch eine Mikroebene, das
rationale Individuum, verbunden sind. Dazu benutzt er, wenn auch isoliert, den formalen Ap-
parat der Ökonomie. Fararo (272) sieht die Rational-Choice-Theorie als „umbrella theory“,
was als eine Art idealisierter Kernbestandteil verstanden werden kann, dessen Erklärungskraft
mit Erweiterungen gestärkt wird.36
Das „showing how the macro level phenomena could be explained on the basis of micro
mechanisms“ (Fararo 271) erfolgt in drei Schritten. Während im ersten Schritt gefragt wird 35 Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Beispielsweise hat Coleman mit Becker zusammen Seminare gehalten. 36 Vgl. zur Begründung: Coleman (39)
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
17
„how the actor’s preferences depend upon social position and how the actor’s possible choices
depend upon situational opportunities“ (ders. 271) wird im zweiten Schritt untersucht, welche
Handlung durch die zuvor untersuchte Situation und Präferenzstruktur „logically implied“ ist.
Die aggregierte Menge der so prognostizierten bzw. hergeleiteten Handlungen ergibt im drit-
ten Schritt das zu erklärende Makro-Phänomen.
Auch Beckers Ansatz wird als „mikrofundierte Makroanalyse“ (Pies 1993: 100) beschrieben.
Der erste Schritt der positionsbezogene Präferenzen und situationsbezogene Möglichkeiten
feststellt wird hier als „Situationsanalyse“ bezeichnet, die „die jeweils situationsrelevanten
Ziele und Mittel spezifiziert“ (Pies 1998: 20). Da Stabilität und relative Gleichheit von Präfe-
renzen aber sehr stark betont werden, muss hier das Verhältnis zwischen situationsbezogenen
Zielen, Geschmäckern und statischen Präferenzen beachtet werden. Ziele können als Operati-
onalisierungen der Präferenzen verstanden werden, oder anders gesagt: Ziele sind auf Präfe-
renzen reduzierbar.
Allerdings behandelt auch Becker Phänomene, die sich auf die Präferenzen auswirken und
sieht die Grenzen, in denen sich Handlungsmöglichkeiten ergeben. Die „systematische[n]
Rationalitätshindernisse und Rationalitätsblockaden“ von denen Brentel (495) spricht können
zum Teil durch das Integrieren in die Nutzenfunktion als Gegenstand rationaler Kalkulation
einbezogen werden. Indem er sie in die individuellen Nutzenfunktionen einbaut, könnte man
sagen, dass er die analytische Trennung Colemans aufhebt. Zutreffender dürfte aber die Un-
terscheidung sein, dass es bei Becker expliziter – schließlich ist dies ja der Ausgangspunkt
seiner Arbeit – eine Rückkopplung von der Individualebene zur ersten Makroebene gibt.
Auf der Mikroebene geht es dann darum, „values of ressources and the power of actors in the
system of action“ (Fararo 264) zu verbinden. Dazu modelliert Coleman in einem minimalen
System „Akteure und Dinge, über die sie Kontrolle ausüben und an denen sie irgendein Inte-
resse haben“ (Coleman 34), wobei das Interesse später formal in einer spezifischen Nutzen-
funktion definiert wird. Die Interessen können, wie das Interesse nach sozialer Anerkennung,
individuellen Ursprungs sein oder sind, wie die Erfüllung der Rollenerwartungen, sozial kon-
trolliert.37 Wie bei Becker gehen soziale Aspekte hier ebenfalls in die Nutzenfunktionen ein.
Dadurch, dass das Interesse oft nicht mit der Kontrolle über Ressourcen übereinstimmt, wer-
den die Akteure über Transaktionen zu einem System. Coleman nimmt nicht wie Becker ein-
fach einen Markt an, auf dem das Recht auf Kontrolle über die Ressourcen getauscht wird.
Erstens verwendet er „einen weiter gefassten Begriff von Austausch“ (Coleman 36) und
37 Vgl. Fararo (278).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
18
zweitens weist Fararo (278) darauf hin, dass die Verteilung der Rechte auf Kontrolle über
bestimmte Ressourcen insofern als normativer bzw. legitimer Aspekt gesehen werden, als sie
durch die Akzeptanz und die Stützung durch andere Akteure entstehen.
Die Ressourcen Colemans sind Güter, Ereignisse oder Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kennt-
nisse. Terminologisch werden die Untergruppen durch die Handlungen, die mit ihnen verbun-
den sind, sowie durch die Art und Weise, wie die Rechte an der Kontrolle der Ressourcen
übertragen werden, unterschieden. Der Markt als Handlungssystem kennzeichnet alle „Aus-
tauschbeziehungen in einem Austauschsystem, wobei aber die Übertragung des Rechts auf
Kontrolle über eigene Handlungen ausgeschlossen wird“ (Coleman 44). Kennzeichnend für
diesen Bereich ist die Abwesenheit von Herrschaftsbeziehungen. Der Markt ist damit ein Be-
ziehungssystem, indem Rechte oder Ressourcen übertragen werden und damit nur ein kleiner
Teil des Feldes, indem zielgerichtete Handlungen möglich sind. Auch Becker will sich in sei-
nen ökonomischen Erklärungen nicht auf den Markt beschränken lassen (Becker 1993: 5),
blendet aber Herrschaftsbeziehungen aus und diskutiert vor allem Handlungen in Beziehungs-
systemen und fällt somit genau in den von Coleman als „Markt“ bezeichneten Bereich. Zu-
dem verwendet er Preise und andere Steuerungsinstrumente des Marktes für seine Erklärun-
gen38 und sieht die Existenz von Märkten als Element des ökonomischen Ansatzes. Während
Becker also den Marktbegriff über den in der Ökonomie üblichen Bereich ausdehnt, integriert
Coleman diesen Markt systematisch in die Menge der Handlungssysteme mit zielgerichteten
Handlungen als Grundlage. Deutlich wird der eingeengte Betrachtungsbereich, der entsteht,
wenn man wie Becker Marktmechanismen auf soziales Leben anwenden will, im Mangel ei-
ner Konzeption von Kontrolle und Macht. Kontrolle ist bei Becker keine Kategorie. Hier wird
von verfügbaren Mitteln ausgegangen, die zuvor akkumuliert wurden. Der Kampf um Kon-
trolle, auf den Bourdieu detaillierter eingeht, zeichnet ein deutlicheres Bild als die harmoni-
sche Vorstellung der Marktlösung.
Durch die Generalisierung des Rational-Choice-Ansatzes wurde bisher deutlich, welche Wir-
kungszusammenhänge Becker ausblendet (Kontrolle und deren Legitimation) und in welchem
Zusammenhang einer Sozialtheorie dessen Erklärungsansatz gesehen werden kann. Die Co-
lemansche Referenz erlaubt es aber auch, die grundlegenden Probleme der Rational-Choice-
Theorie unabhängig von der speziellen Konzeption Beckers zu sehen.
38 Vgl. Becker (1993: 3).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
19
Die erste Grenze der Rational-Choice-Theorie ist nach Favell die Erklärung des Selbst. Wäh-
rend im Rational-Choice-Paradigma das Selbst traditionell als „behavioral black box“ (Favell
294) gilt, sind für den Soziologen Coleman die Sozialisationsprozesse („how individuals co-
me to have the preferences they have“ (Favell 294)) von größtem Interesse. Seinen Weg der
Annäherung, die Konzeption der rationalen Organisation auf die Konstitution des Selbst an-
zuwenden, sieht Favell (295) als „unconstructive and disappointing direction. […] It simply
has to be admitted that the rational choice project is incomplete at this point.“ Becker unter-
nimmt mit der Endogenisierung von Präferenzen einen Versuch, die Grenze zu überwinden,
was ich an verschiedenen Stellen besprochen habe.
Das zweite Problem ist der versteckt normative Punkt des Ansatzes. Eine bestimmte Hand-
lungalternative als optimal zu beschreiben enthält eine Empfehlung für diese Handlung. Dass
die Optimalität aber nur in Hinblick auf eine isolierte Zielstellung gegeben ist und diese Ziel-
stellung exogenisiert ist muss immer hervorgehoben werden. Das Zustandekommen der „self-
identified currencies“ (Favell 298) ist eine Schlüsselfrage, zu der die Rational-Choice-Theorie
nicht vorstoßen kann. Außerdem impliziert die Annahme der als-ob-Rationalität (insofern sie
überhaupt als solche konzipiert ist), dass die optimalen Ergebnisse eben auch durch bewusste
kalkulatorische Maximierung des eigenen Nutzens zu erreichen sei. Damit wird diese Art des
Handelns gegenüber anderen gemeinschaftlich-traditionellen Handlungsanweisungen ein
normativer Vorsprung gegeben.
Ein möglicher Ansatz für die Erklärung der Entstehung der spezifischen Währungen könne,
so Favell, der Begriff des sozialen Kapitals sein, den Becker und Coleman zumindest an-
schneiden. Der im folgenden hinzugezogene Pierre Bourdieu hat diesen Begriff tiefer ausge-
arbeitet. Neben der Möglichkeit diese Idee zu besprechen soll der französische „Soziologe der
feinen Unterschiede“ mit dem scheinbar gleichen Ansatz eines nutzenorientiertem Indivi-
duums39 eine weitere Kontrastfolie liefern, um ein schärferes Bild vom Erklärungsbereich
Beckers zu erhalten.
3.2. Bourdieus Ökonomie der Praxis
Bourdieu und Becker verbindet in ihrer Arbeit die Einmischung in aktuelle Fragen der Politik
und der Gesellschaft, die jeweils sehr kontrovers diskutiert wurden. Becker, der seinen öko-
nomischen Ansatz auf allerhand lebensweltliche Fragen angewandt hat, wurde von Bourdieu
39 Seine Theorie des Handelns bezeichnet er ja als „praktische Vernunft“ (Bourdieu 1998), alles Handeln sei demnach als „auf Wahrung oder Mehrung spezifischer Formen von Kapital“ ausgerichtet zu verstehen (Bourdieu 1992: 112).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
20
wegen seiner deduktiven Epistemologie kritisiert40 während sich Bourdieu selbst in den letz-
ten Jahren seiner Laufbahn auf „Exkursionen ins politische Feld“ begeben hat, die „sich nicht
immer erkennbar auf Argumente stützen konnten, die vor dem Hintergrund solider soziologi-
scher Forschungsergebnisse formuliert worden waren“ (Schwingel 9).
Ein Punkt, an dem Bourdieu als soziologische Referenz des ökonomischen Ansatzes dienen
könnte, ist der Begriff des Interesses oder der Illusio, den Bourdieu verwendet, um zu zeigen,
dass er von spezifischen Interessen spricht, „die beim Funktionieren von historisch eingrenz-
baren Feldern zugleich vorausgesetzt und produziert werden“ (Bourdieu / Wacquant 148).
Allerdings wendet sich Bourdieu scharf gegen die Beschreibung seiner Theorie als ökono-
mistisch, weil sie sich gerade „gegen eine solche Reduktion aller Praxisformen auf das Öko-
nomische richtet“ (Bourdieu / Wacquant 148). Das spezifische Interesse, die Illusio, bedeutet,
„einem bestimmten sozialen Spiel zugestehen, dass das was in ihm geschieht, einen Sinn hat,
und dass das was bei ihm auf dem Spiel steht, wichtig und erstrebenswert ist“ (dies.: 148),
und ist das Gegenteil von Indifferenz. „Was in der illusio als Selbstverständlichkeit erlebt
wird, erscheint demjenigen, der diese Selbstverständlichkeit nicht teilt, weil er am Spiel nicht
beteiligt ist, als Illusion“ (Bourdieu 1998a: 143). Bourdieu versteht den Begriff Interesse als
„etwas vollkommen anderes […] als das transhistorische, universelle Interesse der utilitaristi-
schen Theorie, also die unbewusste Verallgemeinerung jener Form von Interesse, die von der
kapitalistischen Wirtschaftsform erzeugt und vorrausgesetzt wird. Dieses Interesse ist alles
andere als anthropologisch invariant; vielmehr ist es historisch willkürlich, eine historische
Konstruktion, die nur ex post durch historische Analyse und durch die empirische Beobach-
tung erkannt und nicht a priori von einer fiktiven und ganz offensichtlich ethnozentrischen
Auffassung vom »Menschen« schlechthin abgeleitet werden kann“ (Bourdieu / Wacquant
148). Übereinstimmend stellt Schramm (2004: 12) fest: „Es ist empirisch eine Pluralität in-
haltlich unterschiedlicher Interessen in Rechnung zu stellen. Individuelle oder kollektive Ak-
teure nehmen unterschiedliche Dinge als Vorteil wahr.“ Wie ich gezeigt habe, konzipiert Be-
cker, wenn auch mit Mängeln, mit dem Personalkapital genau diese historischen, aus dem
Lebenslauf und dem Umfeld hervorgegangenen Interessen als einfache Präferenzen, ohne
unbedingt – weil methodisch nicht erforderlich – die tieferliegenden Präferenzen zu beschrei-
ben. Mit Martha Nussbaum habe zudem eine Verfechterin der Formulierung universeller Inte-
ressen angeführt.
40 Vgl. Convert (2).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
21
Auch die verwendeten Begriffe wie Kapital und Markt für ähnliche Sachverhalte (Heirat, so-
ziales Umfeld) legen einen Vergleich Beckers ökonomischen Ansatzes mit Bourdieus Öko-
nomie der Praxis nahe. Bourdieu bringt gegen diesen Vergleich drei weitere Kritikpunkte vor,
die eine Kritik der ökonomischen Orthodoxie sind, mit der er eben nichts gemein habe als „ein
paar Wörter“ (Bourdieu / Wacquant 150). Weil Gary Beckers Ansatz aber eben nicht der öko-
nomischen Orthodoxie entspricht, gehen diese Kritikpunkte zum Teil an Becker vorbei.41 Der
erste Kritikpunkt am Ökonomismus ist, dass dieser „nur das materielle Interesse und das
bewusste Streben nach Maximierung finanzieller Profite anerkennt“ (Bourdieu / Wacquant
151). Das aber macht Becker gerade nicht und sein Bestreben ist gerade, menschliches Ver-
halten zu erklären, dass sich nicht in materiellen oder finanziellen Auszahlungen nieder-
schlägt. Sein Schritt der Haushaltsproduktion löst sich von der Vorstellung, der Nutzen resul-
tiere aus Konsumgütern. Der zweite Kritikpunkt lautet: „Die orthodoxe Ökonomie sieht da-
von ab, dass die Praktiken auch aus anderen als […] der bewussten Nutzenmaximierungen
entspringen und dennoch einer ökonomischen Logik folgen können“ (Bourdieu 1998a: 150).
Auch hier trifft die Kritik Becker nicht, denn die setzt eben nicht voraus, dass die Akteure
ihres Verhaltens bewusst sind.42 Damit kann Becker auch das Argument entkräften, die Rati-
onalität sei „begrenzt, weil man nur über begrenzte Informationen verfügt und weil der
menschliche Geist gattungsspezifisch begrenzt ist“ (Bourdieu / Wacquant 160). Auch der
dritte Kritikpunkt, dass „der menschliche Geist sozial begrenzt ist, sozial strukturiert, […]
das heißt in den Grenzen des Kategoriensystems [eingesperrt ist], das er seiner Bildung ver-
dankt“ (Bourdieu / Wacquant 160) trifft nicht in voller Breite zu. Becker versucht diese Struk-
turen als Restriktionen bzw. Argumente in den Nutzenfunktionen zu modellieren. Diese
Strukturen selbst beschreibt er aber als Folge rationalen Verhaltens. Auf diese Rückkopplung,
die ich in der Unterscheidung Beckers und Colemans herausgearbeitet habe, trifft die Kritik
zu. Die Kritik, die Bourdieu an Becker formulieren kann, beruht auf dem Vorteil, die Disposi-
tionen nicht als Ergebnis individueller Kalkulation zu betrachten, sondern „in reference to the
system they form“ (Convert 2) und damit einzubeziehen, dass Investitionen in bestimmte Ka-
pitalsorten je nach Position und Lebenslauf unterschiedliche Profitraten mit sich bringen. Eine
Änderung der Zusammensetzung der Kapitalsorten (also deren Verhältnis zueinander), die
entscheidend für die Stellung im sozialen Raum ist, kann nur unter bestimmten Umständen
Gegenstand individueller Kalkulation sein.43
41 Für die Begründung der Zurückweisung des Utilitarismus siehe auch Bourdieu (1998: 143f). 42 Vgl. Friemel (80) 43 Vgl. Sygnecka (2004: 10f).
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
22
Diese Kritik korrespondiert mit dem als Ethnozentrismus beschrieben Einwand, den Bourdieu
aus einer Analyse der Genese des ökonomischen Feldes heraus entwickelt. Die „Übersteige-
rung der Kapitalvermehrung zur »Pflicht«“ und der „Kult des Individuums“ (Bourdieu 1998b:
33) seien Kennzeichen der amerikanischen Gesellschaft und kein Diktum.44 Deutlich wird der
Unterschied auch in der Auffassung von Gesellschaft selbst. Bourdieus Feststellung, „das
wichtigste aller Merkmale der Gesellschaften, in denen die ökonomische Ordnung »eingebet-
tet« ist, besteht für die gegenwärtigen Gesellschaften in der Form und Kraft ihrer staatlichen
Tradition“ (Bourdieu 1998b: 33) die zum „makroökonomischen Schrittmacher wird, der dazu
beträgt, die Stabilität und Berechenbarkeit des ökonomischen Feldes zu sichern“ (Bourdieu
1998b: 34) differiert doch deutlich von der Auffassung von Gesellschaft als „soziale Veran-
staltung zur Knappheitsbewältigung“ (Pies 1993: 100).
In diesem vorgelagertem Punkt besteht der einzige wesentliche inhaltliche Unterschied zwi-
schen Bourdieus „allgemeiner Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis“ (Bourdieu 1997:
51) und der „situativen Zweckrationalität“ (Pies 1993: 95) Beckers. Ansonsten scheint mir in
vielen Punkten Bourdieus Aufmerksamkeit für Becker an einem bestimmten Punkt geendet zu
haben, während Becker meines Wissens in keinem seiner Texte Bourdieu als Quelle angibt.
Mit der Schnittmenge überschneiden sich auch die theoretischen Probleme. In Bourdieus
Konzept des Habitus „findet sich die Position eines strukturgeleiteten Utilitarismus verwirk-
licht, der das bewusste Nutzenkalkül ausschließt und alle Motivation zur Verbesserung oder
Stabilisierung der sozialen Position aus einer dispositionellen Konditionierung herleitet“ (Jan-
ning 132). Dabei stößt Bourdieu aber auch auf das Anfangsproblem der Herkunft der Disposi-
tionen: „Die Annahme eines einheitlichen, stabilen, in der Vergangenheit geprägten Habitus
erweist sich als hochproblematisch.“ Weil auch die Felder dynamisch sind und sich aus den
durch sie strukturiertren Handlungen immer wieder reproduzieren müssen und dabei Verände-
rungen erfahren (also strukturiert werden), kann der Einzelne „immer weniger auf vergangene
Erfahrungen und Prägungen zurückgreifen“ (Heidenreich 237). Was also, wenn nicht das
„Kalkül oder die kalkulierende Vernunft“ noch der „historisch herausgebildete Habitus […]
bewirkt, dass man normalerweise jeden Tag, ohne zu überlegen, aufsteht, um zur Arbeit zu
gehen, so, wie man es gestern getan hat und morgen tun wird“ (Bourdieu 1998b: 31)?
44 Hier findet sich wieder der Anschluss an die Argumentation Brentels in Abschnitt 1.1.b.
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4. Zusammenfassung Gary Becker tritt mit dem Anspruch an, menschliches Verhalten zu erklären. Genau wie Co-
leman und Bourdieu legt er dabei individuelle Wahlhandlungen zugrunde. Diese Wahlhand-
lungen beschränken sich bei Becker auf Alternativen innerhalb eines durch Restriktionen be-
schränkten Möglichkeitenraums, bei Bourdieu auf Alternativen, die über erworbene Wahr-
nehmungs-, Denk- und Handlungsmuster erkannt werden. Colemann sieht die Auswahl der
Möglichkeiten zwischen denen die Akteure wählen können durch die soziale Situation einge-
grenzt. Zumindest Bourdieu und auch Becker gehen davon aus, dass diese individuellen
Wahlhandlungen nicht als bewusst maximierend verstanden werden dürfen.
Becker modelliert für Konsumhandlungen Sozial- und Personalkapital, das zusammen mit
dem Einkommen einen großen Teil dessen abdeckt, was Bourdieu mit sozialem, kulturellem
und ökonomischen Kapital beschreibt. Jeweils ist die Kapitalausstattung für die Konstruktion
des Möglichkeitenraums entscheidend. Colemans Modellierung dieser persönlichen Ressour-
cen wurde in dieser Arbeit nicht weiter untersucht, sie gilt als wenig ausgearbeitet. Becker
wendet den Begriff Kapital, wie es bei tiefer gehender Lektüre auch bei Bourdieu auffällt, auf
eine solche Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen an, dass es schwer fällt, diese Begriffe als
Teil einer Konzeption zu verstehen. Der Kapitalbegriff an sich sowie die Anordnung und das
Verhältnis der Unterarten bleiben unscharf.
Versteht man die engere Konzeption von Konsum als individuelle Wahlhandlung innerhalb
ein Möglichkeitenraums, so kann man bei den drei behandelten Autoren zumindest von einem
ähnlichen Ansatz sprechen. Dies könnte für Ökonomen und Soziologen bzw. für die Anhän-
ger der einen oder anderen Theorie Anlass sein, diese Gemeinsamkeit gemäß Colemans Idee
der umbrella theory als Ausgangspunkt für die Diskussion der daran anknüpfenden bzw. der
vorgängigen Theoriebausteine zu verstehen. Das Verständnis von Konsum bietet sich somit
als „Forschungsmasse“ an, aus der sich die Konzeption einer sozialen Ökonomie formen
lässt.
Dieser ersten optimistischen Bilanz stehen Differenzen im Vorgehen und in den Grundan-
nahmen gegenüber.
- Beckers deduktive Vorgehensweise wird von Bourdieu kritisiert und die starke Formalisie-
rung von Coleman isoliert und von Bourdieu kategorisch ausgeschlossen.
- Inhaltlich herrscht Uneinigkeit über die Kriterien, die den Wahlhandlungen zu Grunde
liegen. Beckers Additiv zu den tieferliegenden und unveränderlichen Präferenzen, die en-
dogenen tastes, kommen Bourdieus Begriff der illusio nahe, unterscheiden sich aber in
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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dem Punkt, dass die Determinanten der tastes von Becker als Gegenstand individueller
Wahlhandlungen konzipiert werden. Dieser Rückkopplung auf die erste strukturierende
Makro-Ebene durch Becker steht eine doppelte Betonung der Wirkung dieser auf die Mik-
ro-Ebene durch Bourdieu gegenüber.
- Weiterhin besteht Dissens über die Anwendung welcher Rationalität auf welchen Bereich.
Für Märkte ist Effizienz und die Maximierung persönlicher Gewinne anerkannte Logik
und Währung. Die Übertragung auf gesellschaftliche Prozesse wird als Problem gesehen,
das nicht abschließend geklärt ist. Dies ist jedoch notwendig, wenn die soziale Dimension
innerhalb einer kohärenten Theorie für die Erklärung von Konsumverhalten berücksichtigt
werden sollen.
Auf diese Fragen muss eine Antwort gefunden werden, wenn man die fruchtbaren Ergebnisse
der drei Ansätze zusammenführen will. Heuristisch kann natürlich eine Strategie der Umge-
hung dieser Fragen gewählt oder der logische Beweis der Unvereinbarkeit erbracht werden.
Ein beiden Fällen beraubt man sich aber der Chance, die weitergehenden Ansätze der einzel-
nen Autoren zu vereinen.
Für Becker wäre als fruchtbare „Erweiterung“ die Konstruktion der Haushaltsproduktions-
funktion zu nennen, die trotz der zeitlichen Verschmelzung von Produktion und Konsum im
herkömmlichen Sinne eine genauere Beschreibung der Generierung eines wie immer gearte-
ten Nutzens bietet. Erst die Kombination von Zeit, Marktgütern, Fähigkeiten und Erfahrun-
gen, so Becker, ermöglicht den Konsum, stiftet Nutzen, hilft Menschen, ihren Zielen näher zu
kommen bzw. befriedigt Bedürfnisse.
Coleman kann durch die Einbeziehung der Kategorien Kontrolle und Macht das Zerrbild ei-
nes herrschaftsfreien Funktionierens von Gesellschaft über Marktmechanismen, wie es bei
Becker implizit ist, korrigieren und den Markt als Teil gesellschaftlicher Interaktions- bzw.
Kommunikationsprozesse darstellen.
Bourdieus Darstellung der gesellschaftlichen Differenzierungen als (Kampf)felder knüpft an
Colemans Ansatz an. Außerdem bringt Bourdieu mit der illusio eine ausgereiftere Konzeption
von Zielen, Geschmäckern, endogenen Präferenzen oder Interessen ein als sie bei Becker vor-
liegt. Interessen konstituieren bei Bourdieu das Feld und bestimmen die Preise und die Ein-
sätze , sind also gleichzeitig Motivation und Restriktion. Drittens ist die wissenschaftshistori-
sche Perspektive Bourdieus hilfreich, um die ökonomische Rationalität persönlichen Nutzens
als spezifische Rationalität einer Situation mit besonderen Bedingungen zu verstehen.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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Was allen drei Autoren nicht umfassend gelingt, ist die Erklärung der Entstehung des Selbst.
Becker nimmt schlicht fixe Präferenzen an und führt die Konstruktion der als-ob-Rationalität
ein. Auch Coleman wird ein Scheitern dieses Projektes attestiert. Bourdieu, der mit dem Habi-
tus-Konzept zumindest einen Ansatz liefert, wird vorgehalten, dass bei in immer höherer Fre-
quenz von wechselseitiger Strukturierung von Handlung und Feld in der Vergangenheit er-
worbene Dispositionen immer schlechter auf aktuelle Strukturen anwendbar wären. Becker
bietet hier als Lösung die Beschränkung auf die Beschreibung von Verhaltensänderungen an.
Dies ist aber dann nicht befriedigend, wenn bestehende Verhältnisse analysiert werden sollen.
Stellt man sich also die Ansätze von Becker, Coleman und Bourdieu als farbige Folien vor, so
gibt es, wenn man sie übereinander legt, Übereinstimmungen, dissonante Überblendungen
und Flächen, die nur von ein oder zwei Folien belegt werden. Ich glaube, es lohnt sich, mit
den Folien zu arbeiten und so neue Muster und Formen zu erhalten, die helfen das Zusam-
menspiel von Ökonomie und Gesellschaft zu verstehen und so die Perspektive einer sozialen
Ökonomie zu stärken.
Sygnecka: Wie rational ist Konsum?
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