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Thomas Bernhard An der Baumgrenze Erzählungen

Rowohlt

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Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Januar 1980 Copyright © 1969 by Residenz Verlag, Salzburg Umschlagentwurf Manfred Waller (Foto: Isolde Ohlbaum) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 14477 8

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Das Land war wie versunken in ein tiefes, musikalisches Denken. Robert Walser

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Der Kulterer

Je näher er dem Tag seiner Entlassung aus der Strafanstalt war, desto mehr fürchtete sich der Kulterer, zu seiner Frau zurückzukehren. Er führte ein in sich selbst eingeschlossenes und von seinen Mithäftlingen völlig unbeachtetes Dasein und vertrieb sich die freie Zeit, die in der Strafanstalt oft viel zu lang war, denn sie ar-beiteten vorschriftsmäßig nur fünf bis sechs Stunden im Tag an den Druckmaschinen, mit dem Aufschreiben von Einfällen oder, wie er dachte, ›geringfügigen Gedanken‹, die ihn bei-nahe ununterbrochen beschäftigten. Aus Lan-geweile, und weil er sonst hätte verzweifeln müssen, las er sich oft von ihm selber erdachte und aufgeschriebene kürzere Geschichten und Erzählungen vor, ›Die Katze‹ zum Beispiel oder ›Das Trockendock‹ oder ›Die Schwimmvögel‹, ›Die Hyäne‹, ›Die Verwalterin der Gutshofbesit-zerin‹, ›Das Totenbett‹. Meistens fielen ihm die-se Geschichten in der Nacht ein, und er mußte, um sie nicht zu verlieren, in der Finsternis auf-stehen und sich, während seine Zellengenossen schliefen, an den Tisch setzen und in eben die-ser ›furchtbaren Finsternis‹ das, was ihm einge-

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fallen war, notieren. Es kam auch vor, daß er so-fort ohne größere Vorbereitung eine ganze Ge-schichte bis zum Ende niederschreiben konnte, und er war froh darüber, denn seine Geschich-ten vertrugen es nicht, durch irgendeinen Zwi-schenfall abgebrochen zu werden; mußte er mit-ten in einer Geschichte aufhören, weil einer der drei Mithäftlinge, die mit ihm in der Zelle leb-ten, auf ihn aufmerksam geworden war und ihn brutal wegzischte vom Tisch, war die Geschichte verloren. Mit der Zeit aber hatte er eine so laut-lose Methode entwickelt, von seiner Pritsche aufzustehen und sich an den Tisch zu setzen, daß sie ihn, selbst wenn sie nicht allzu tief schliefen, nicht mehr bemerkten. Es gab kaum eine Nacht und in den letzten anderthalb Jah-ren überhaupt keine einzige mehr, in welcher er nicht von einem Einfall oder auch nur von einem Gedanken, von einem Hinweis auf einen Gedanken, aufgeweckt worden wäre. Er nannte sein Schreiben ›Mein Zeitvertreib‹, und es kam ihm, wie andern die Träume kommen, und es war ihm auch so zerbrechlich wie Träume. Seine Gespräche fing er meistens mit »Jaja, ich weiß –« an, und er sagte zum Beispiel »Jaja, ich weiß, es ist schwer …« oder »Jaja, ich weiß, das kann bös ausgehen …« oder »Jaja, ich weiß, Herr Aufseher …« Aber eigentlich redete er nie,

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wenn er nicht gefragt wurde, und er nahm so-fort Haltung an, als der Aufseher erschien, zu-erst nur angedeutet durch das Geräusch des Knüppels, der durch die Gänge zu poltern schien, dann durch die Stiefelschritte, immer bedeutungsvoller und größer und schließlich großmächtig über den Druckmaschinen. Dem Kulterer, der die aus der Druckmaschine her-ausfallenden Drucksorten abzuzählen, einzu-packen und zuzuschnüren hatte, war der Aufse-her sehr gewogen, denn zum Unterschied von den anderen, größtenteils renitenten Mithäft-lingen war er ein ruhiger Mensch, der, wie es schien, überhaupt keine Ansprüche stellte und sich strikt an alle Verordnungen und Befehle hielt und auch in Wahrheit wirklich mit allem zufrieden war, außer mit sich selbst. Und als der Aufseher zu ihm sagte, er solle sich nach Ar-beitsschluß bei ihm melden, weil ein Brief und ein Paket für ihn eingelangt seien – »auch ein Brief«, wurde ihm angekündigt –, sagte der Kul-terer, die Hände an die Schenkel anlegend: »Ja-ja, ich weiß, Herr Aufseher!« – »Schon gut!« meinte der Aufseher, dem nichts entging und der von allen gefürchtet war, von hoch oben herunter und schaute über den Kopf des Kulte-rer weg in den großen Druckereisaal hinein, in welchem die Maschinen und die Häftlinge

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längst verstummt waren, nur ab und zu muckte im Hintergrund, kaum wahrnehmbar, einer der Jüngeren, einer der Neueingewiesenen, auf. Der Kulterer hatte Angst, einer dieser Unvorsichti-gen könnte ausfällig werden, und er wünschte, daß das nicht der Fall sei. Eine solche Ausfällig-keit, etwa in dem Wort ›Schweinerei‹ gipfelnd, zog immer unmittelbare Strafverschärfung nicht nur für den, der sich einen solchen Ausdruck erlaubt hatte, sondern für die ganze Belegschaft nach sich. Sofort wurde dann die Arbeitszeit um mindestens eine Stunde verlängert, und es gab eine Reihe anderer sogenannter ›Zwangsverbo-te‹. Es wurden die Rundgänge außerhalb der Strafanstaltsmauern gestrichen und das Licht schon um halb acht ausgedreht anstatt erst um neun Uhr. »Wer ist zum Latrinendienst eingeteilt?« fragte der Aufseher. Es meldeten sich die drei dafür Bestimmten, darunter zwei von den Neuen. »Wir fangen heute eine Stunde früher an«, sagte der Aufseher. Er kontrollierte die Arbeit, ging von einem Mann zum andern, hatte aber an diesem Tage nichts auszusetzen. Sie könnten weiterarbeiten, meinte er, und die Maschinen, die in dem Augenblick, in welchem der Aufse-her hereingekommen war, sofort abgeschaltet worden waren, begannen wieder zu laufen, und

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das Geratter und Gestampfe, das so gedämpft wie nur möglich alles zum Beben brachte, er-füllte den absichtlich streng verdunkelten, ja in dieser Jahreszeit beinahe finsteren Raum. Zum Kulterer gewandt, meinte der Aufseher, daß dessen Haftzeit nun bald vorbei sei. Er, der Auf-seher, habe die Entlassung des Kulterer ›hart-näckig‹ befürwortet. Er sagte das deutlich und so laut, daß es alle hörten. Sie reagierten aber nicht darauf, waren in ihre Maschinen vertieft, in das pausenlos fließende Papier, und ein La-chen, das am anderen Ende des Saales aufflak-kerte, um gleich wieder zu verstummen, hatte wohl eine ganz andere Sache, nicht den Kulte-rer betroffen. »Jaja, ich weiß, Herr Aufseher«, sagte der Kulterer. Es war das eine großzügig eingerichtete Druk-kerei, in welcher sie alle möglichen Drucksorten herstellten, ausschließlich für staatliche Zwecke, für die Ministerien. Sämtliche Schulzeugnisfor-mate wurden hier gedruckt. Die Arbeit in der Druckerei, die direkt an das Anstaltsgebäude anschloß, ein absichtlich verfinsterter Neubau, bedeutete für die in ihr Beschäftigten einen Vorzug. Es gab in der Strafanstalt eine Menge primitiver, vielmehr schwer erträglicher Arbei-ten. Es war nicht ganz durchschaubar, nach wel-chen Gesichtspunkten man für die eine oder

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andere Arbeit eingeteilt wurde. Man konnte aus einer Arbeitsgruppe in die andere versetzt wer-den. Man konnte zu schwererer oder dreckigerer oder schwererer und zugleich dreckigerer Arbeit abkommandiert werden, wenn man sich etwas zuschulden kommen ließ, wenn man die Erwar-tungen, die von Seiten der Aufsicht in einen ge-setzt worden sind, nicht erfüllte. Man konnte zu leichterer und zu angenehmerer, nicht so übel-riechender (wie in der Gerberei zum Beispiel) Arbeit eingeteilt werden, wenn man die in einen gesetzten Erwartungen erfüllte und sich in die Ordnung der Strafanstalt fügte. Zuerst aber, am Tag der Aufnahme in die Strafanstalt, wurden alle immer zu den angenehmeren Arbeiten ein-geteilt. Man kann sogar sagen, daß die Aufsicht in jeden Neueingewiesenen ein gewisses über einer bestimmten Grenze liegendes Vertrauen setzte. Dieses Vertrauen wurde von den meisten allerdings auf die gröblichste Weise verletzt und ausgenutzt. Den Vorzug, in der Druckerei zu bleiben oder in der Küche oder in der Schuh-macherei, in der Schneiderei, in der Kanzlei, konnten sich die allerwenigsten länger als nur eine ganz kurze Zeit erhalten. Dem Kulterer war es, weniger durch sein Geschick als einfach durch seine Unfähigkeit, sich aufzulehnen oder sich an irgendeinem Komplott zu beteiligen, an

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einer Verschwörung, die sämtliche letzten En-des immer gegen die Aufsicht gerichtet waren, gelungen, von Anfang an in der Druckerei zu bleiben. Wäre er auf die Idee gekommen, dar-über nachzudenken, hätte er feststellen können, daß er der einzige war, der einen so großen Zeitraum von eineinhalb Jahren in der An-staltsdruckerei überlebt hatte. Die ganze Zeit hatte es nie eine ihn betreffende Beschwerde gegeben, niemand in der Strafanstalt hatte sich jemals über ihn beklagt, weder von seiten der Aufsicht noch von Seiten der Häftlinge. Nie-mand war ihm jemals bös oder auch nur in An-sätzen schlecht gesinnt gewesen. Ohne daß er selbst wußte, wie das möglich gewesen ist, war er oft derjenige, welcher große Spannungen zwi-schen den Häftlingen und der Aufsicht, ja selbst offen zwischen den beiden Machtgruppen auf-tretende Feindseligkeiten schlichten konnte. Er selbst konnte sich einen solchen Einfluß seiner-seits auf derartige, oft fürchterliche, ihn entsetz-lich peinigende und bis an die äußerste Grenze des ihm Erträglichen getriebene Zustände am allerwenigsten erklären. Aber auch den andern war er bei solchen hie und da plötzlich auftre-tenden ›Ungeheuerlichkeiten‹, wie er diese ge-genseitigen Drohungen zwischen Aufsicht und Häftlingen bezeichnete, ein Rätsel; niemand

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fand an ihm auch nur das geringste Besondere, wenn man davon absieht, daß sie in ihm einfach einen bemerkenswert bescheidenen Menschen sahen. Unscheinbar, war er ihnen niemals lä-cherlich. So teilnahmslos sie ihm begegneten, sie hatten oft das Gefühl, ihm helfen zu müssen, wenn sie auch niemals wußten, wie helfen. Aber in diesem Gefühl enttäuschte er sie, denn er war ihnen allen, wie sie nach und nach, weil sie sich an ihn gewöhnt hatten, feststellen mußten, in beinahe jeder Beziehung, vor allem im Einfach-sten, wo es um gar nichts ging und das deshalb die größte Bedeutung hatte, weit überlegen. Es war merkwürdig: sie behandelten ihn, als wäre er nicht ganz ernst zu nehmen, und fühlten zu-gleich Hochachtung, wenn sie mit ihm in Be-rührung kamen. Aus der Lächerlichkeit, in der sie sich tummelten und die ihnen oft reichlich Gelegenheit gab, sich anzuschnauzen und ge-genseitig herunterzusetzen, wo gar nichts mehr herunterzusetzen war, in der Verzweiflung, die manchmal über sie alle die Oberhand bekam und sie rasend machte, erwachten sie oft durch ihn, der in der Dunkelheit des beinahe völlig verfinsterten Raumes stand und, zu ihnen ge-wandt, sagte: »Jaja, ich weiß –.« Wie sich in sol-chen Augenblicken selbst Männer schämten, die vor Kaltblütigkeit und Körperkraft strotzten

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und denen man kein wie immer geartetes Ge-fühl zugetraut hätte! Man könnte diese Gedan-ken auf die Spitze treiben und behaupten, der Kulterer habe oft und oft eine schwere Körper-verletzung, ja einen Mord verhindert. So inmit-ten von Schmutz und versauertem Idealismus, inmitten von Schweinerei, Verleumdung und Habsucht, bildete er ein Gegengewicht. Wenn sie sich prügelten – oft konnte er, dem ein sol-cher Anblick entsetzlichen Schmerz verursachte, es nicht verhindern –, schien es, als wäre nur das Viehische lebensfähig und alles andere krankhaft und unzüchtig. Da sah er tief ins Verpfuschte hinein, das ausweglos, auf barbari-sche Weise unfähig war, mit sich fertig zu wer-den. Wie sie impulsiv in ihrer geistesgestörten Bewußtlosigkeit an eine Zertrümmerung der Elemente dachten in ihrer von vornherein fest-stehenden Niederlage, fühlte er, abseits ste-hend, qualvoll. Es war ihm immer der Umstand zugute ge-kommen, anspruchslos zu sein. Er hatte wohl, wie jeder Mensch, in sich selbst oft das Bedürf-nis gehabt, seine Existenz zu verbessern, sich aus gewissen, auch ihm beengt vorkommenden Zuständen zu befreien; aber um den Preis selbst der geringsten Gewalttätigkeit wollte er sich nicht auch nur die leiseste Spur aus sich heraus

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und irgendwohinein drängen, in eine Errun-genschaft, die ihm, wie er instinktiv fühlte und also glaubte, einfach nicht zustand. Er hatte zeitlebens einen kleinen, ja, von außen gesehen, völlig unbedeutenden, verschwindenden, lächer-lichen Raum zur Verfügung gehabt, diesen Raum aber versuchte er immer sorgfältig auszu-füllen, und waren es mit der Zeit schließlich auch nur mehr seine einsam da und dort am Himmel hängenden Träume gewesen, mit wel-chen er Raum und Zeit seiner Person auszufül-len, ja inständig auszuschmücken befähigt war. Wie hold das zur Vernunft gewordene Schicksal einem einfältigen Menschen ist, hätte man an ihm studieren können. Er verlangte so wenig, daß es jeden andern erschreckt hätte. Und so sparsam sein Haushalt war, so reichlich Gele-genheit fand er, davon der Umwelt, die ihm manchmal wie jedem Menschen ungeheuerliche Ausmaße annehmen konnte, durchaus fühlba-res, glaubhaftes, zweckmäßiges, ja überzweck-mäßiges Material zu verschenken. Sein Verstand war nicht groß und auch nicht tiefer als der Verstand seiner Umgebung, ja ganz im Gegen-teil, sein Verstand reichte nicht einmal an die Außenbezirke der anderen heran; aber zum Unterschied von diesen, die ihn oft überwältig-ten, war sein Verstand der gründlichste. Das ist,

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abgesehen von Größe und Willenskraft jedes Verstandesvolumens, entscheidend. Auf das Rechnen mit Gedanken, vergleichbar der Addition und der Subtraktion, war er ei-gentlich zuerst im Gefängnis gekommen. Auf das zerlegbare, unendlich dem Geist und dem Gefühl und der reinen Vernunft entziehbare Spiel mit ganz klar bezeichneten ›Unbekann-ten‹. Der Gedanke, der ihm plötzlich über Nacht zum Begriff, zur einzigen Existenz und wahren Freiheit geworden war, ermöglichte ihm, mit sich fertig zu werden nach dem großen Unglück, das über ihn gekommen war im Zuge eines Verbrechens, das er wie in radikaler selbstmörderischer Bewußtlosigkeit begangen hatte. Auf einmal war er, der sich längst verlo-ren geglaubt hatte, nicht mehr ›tödlich‹ gewe-sen. Die Erfindung des Gedankens im Men-schen erschien ihm als das kostbarste Geschenk, das es gibt. Die Welt war ihm da, von diesem entscheidenden Augenblick an, eine von Kon-zentration und genau abgegrenztem Bewußt-sein einfach durchforschbare reinigende Un-endlichkeit. Erst jetzt, von da an, hatte es für ihn einen Boden unter den Füßen gegeben, ei-nen Himmel über der Erde, eine Hölle, die Umdrehung einer Weltachse ohne Beispiel. Auf Vermutungen hinter Wahrnehmungen waren

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plötzlich Ansätze eigener Zielsetzung gefolgt; Wirkungen beruhten plötzlich tatsächlich auf Ursachen. Auf einmal hatte es das, was auch er ›Hierarchie‹ nannte, gegeben. Anarchie schalte-te sich, wie er dachte, von selbst, links und rechts seines Weges, aus. Und er entdeckte auf den Stützpfeilern der Mathematik die Poesie, die Musik, die alles zusammenhält. In den letzten Tagen vor seiner Entlassung, die sich qualvoll auf sein Herz und auf seinen Verstand legte, ohne ihn aber erdrücken zu können, und die auf seinem Gesicht ihren men-schenunwürdigen Ausdruck fand, versuchte er den Kontakt mit den Mithäftlingen, und oft auf rührende Weise, wie er sich wünschte, ein für allemal und für immer, zu festigen. Alle Hand-lungen und Versuche seinerseits waren von dem Wort ›Abschied‹ veranlaßt. Er redete jetzt Män-ner an, die er nie angeredet hatte, die sich nie-mals um ihn auch nur im geringsten geküm-mert hatten, ja, für die er überhaupt nichts bedeutete, für die er gar nicht da war. Von wo er Feindseligkeit zu verspüren meinte, in diese Richtung ging er mit Freundlichkeiten hinein, etwas gutzumachen, das ihm selbst völlig unklar war. Es ging ihm darum, keinen Zweifel über seine ›guten Gedankengänge‹, seine Mithäftlin-ge betreffend, eigentlich alles betreffend, offen-

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zulassen. »Jaja, ich weiß …«, sagte er, und sie hörten ihm zu. Am Abend in der Zelle versuchte er sie nach-denklich zu machen, um ihnen seine Geschich-ten vorlesen zu können. Sie taten ihm nach und nach den Gefallen und hörten ihn an; es war selbstverständlich, daß ihnen seine Geschichten, seine ›Fabeln‹, seine Gedanken zuerst nicht ge-fallen konnten; sie konnten sich nichts darunter vorstellen, auch keinen Bruchteil seiner Vorstel-lung. Manchmal erhaschten sie aber jetzt schon ein Bild, und es gefiel ihnen, aber meistens zwangen sie sich, aufmerksam zu sein, sich nicht merken zu lassen, wie sehr er sie langweilte. »Komisch«, sagte einer von ihnen, »wie du das siehst.« Und er antwortete: »Jaja, ich weiß …«, und ein anderer sagte: »Das gefällt mir, das mit dem Bierkrug.« Und der dritte, der Stumpfsin-nige, meinte: »Ich verstehs nicht, aber es ist gut.« – »Gut?« fragte ihn der Kulterer. »Du meinst gut?« – »Der Affe, was hat er denn ge-macht, nachdem sie ihn betrogen hatten?« wur-de der Kulterer gefragt. »Er ist tot herunterge-fallen vom Baum«, sagte der Kulterer. Er schrieb nur traurige Geschichten. Manchmal fielen ihm äußerst lustige ein, über die er selbst la-chen mußte, aber aufschreiben konnte er sie nicht. Nie war ihm auch nur eine einzige lustige

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Geschichte gelungen. Warum gelingt mir keine lustige Geschichte? hatte er sich oft und oft ge-fragt. Eine Geschichte mit einem Luftballon zum Beispiel, mit einem hemdsärmeligen Ma-trosen, mit einem Trampolin, mit einem Karus-sell? Jetzt, weil es ja nur noch ein paar Tage bis zu seiner Entlassung waren, sagten sie, daß er ruhig auch in der Nacht schreiben könne, es störe sie nicht. Das freute ihn, daß er sie von jetzt an nicht mehr zu hintergehen brauchte. »Es ist furchtbar, wenn ich nicht schreiben kann«, sagte er. Sie meinten, er könne, wenn er wolle, die Kerze anzünden zum Schreiben. Er aber antwortete ihnen, daß er sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt habe, in der Dunkelheit zu schreiben. »Mir fallen auch nur, wenn es finster ist, meine Geschichten ein«, sagte er. Sie wun-derten sich, wieviel er im Laufe der Haftzeit ge-schrieben hatte. Einer kramte den großen Pack Papier, den der Kulterer unter seiner Pritsche aufbewahrt hatte, hervor und begann mehrere Geschichten, die alle sorgfältig numeriert und zugeschnürt waren, unter ihnen zu verteilen. Sie sollten sie lesen, meinte er. Warum sie nicht schon früher auf die Idee gekommen seien, die Geschichten des Kulterer zu lesen, es sei viel-leicht doch eine Abwechslung, die eine oder andere Geschichte würden sie sicher verstehen.

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Der Kulterer sagte, daß er sich freue, daß sie sich jetzt für seine Geschichten interessierten, wo sie doch niemals dafür auch nur das gering-ste Interesse gezeigt hätten, im Gegenteil. »Es war euch immer lästig«, sagte er, »wenn ich ge-schrieben habe oder wenn ich euch nur etwas von meinen Geschichten erwähnt habe …« Er sagte das in einem sie alle rührenden Ton. »Wenn es nur eine Geschichte ist, die euch allen gefällt!« sagte er. Aber auch, nachdem sie es ihm erlaubt hatten, sich in der Nacht an den Tisch zu setzen, um zu schreiben, tat er das so lautlos, daß sie gar nichts davon merkten. Oft war es nur der Wunsch ›Es soll von einem Haus handeln‹, der ihn aufstehen und sich hinsetzen ließ, oft auch nicht einmal ein solcher Gedanke, sondern nur ein einziges Wort, das Wort ›Rübe‹ zum Beispiel, das Wort ›Altar‹, das Wort ›Huf‹. Alle Wörter hatten für ihn dieselbe Bedeutung, etliche aber versenkten ihn von allem Anfang an tief in eine geheimnis-volle Finsternis, in das Paradies einer Grund-farbe und in Zahlen und Ziffern, in Vorausset-zung für Geschriebenes. Nicht zuletzt kamen ihm die Zucht und die Unzucht der Zucht der Strafanstalt für seine Gedanken, ja für alles, zu-gute. Er fürchtete, in Freiheit, der Sträflings-kleider entledigt, nichts mehr schreiben zu kön-

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nen, nichts mehr denken zu können; er fürch-tete, dann, im wilden Ausgesetztsein des Entlas-senseins, nichts mehr zu sein. Er fühlte förm-lich, wie das Phantastische dieser Wunder, das er sich in seiner Ohnmacht erfunden hatte, von einem Augenblick auf den andern zerstört sein würde, plötzlich, mit dem ersten Schritt aus der Strafanstalt hinaus. Wie klar waren hier, in der Finsternis, mitten im niedergehaltenen Men-schentum, das durch seine Maßregeln kaum zu atmen wagte, die Konturen aller Begriffe! Wie klar war hier selbst das Entfernteste, Widerwil-ligste, Eigenwilligste, Ungreifbarste! Wie unver-kennbar das sonst so Trübe der unvollendeten Ahnung, das vom Gehirn fallengelassen wird, weil es als unendlich unentdeckt gilt, immer da-für gegolten hat. Wie leicht erschloß sich hier das sonst von Mühsal und Instinktlosigkeit ge-mein Erdrosselte! Wie zaghaft konnte man hier, in der Abgeschiedenheit der ebenen Finster-landschaft, die völlig ohne naturfremde Geräu-sche und Gerüche war, denken! Wie hier alles zu-sammen vertrauensvoll fühlen! Wie etwas wahr sagen, was sonst nur als Lüge gilt! Wie die Ver-zweiflung besiegen! Er dachte: Ich kann hier etwas vorbringen, das in der Außenwelt men-schenunwürdig ist! Und mit welcher tollkühnen Verschwiegenheit! Es ist ein Verhältnis zum Licht

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und zur Finsternis hier, zu meiner Gotteswelt, das nur hier Wahrheit beanspruchen kann. Gehe ich fort, ist es tot. Und er hätte, wäre er nicht der verschlossenste Mensch gewesen, eben der schweigsamste aller Häftlinge, fortwährend vor sich hinsagen können, deutlich genug, um sich selbst und alles zutiefst zu verletzen: »Ich gehe fort und töte mich, ich gehe hinaus und töte mich …« Aber es ist sinnlos, sagte er sich. Er nahm jetzt Abschied von den Gebäuden. Wie schön und vollendet gehorsam empfand er auf einmal, viel stärker als die ganzen Jahre, die Linienführung der Mauern. Man sieht deutlich, daß es sich um ein Kloster handelt, sagte er sich. Tatsächlich war die Strafanstalt jahrhun-dertelang ein Mönchskloster gewesen. Es ist ja kein Unterschied zwischen einem Kloster und einer Strafanstalt, dachte er; der Unterschied vielleicht, daß das Kloster ein freiwilliges, die Strafanstalt aber ein unfreiwilliges Gefängnis ist; das eine erlegt man sich auf und kann es jeder-zeit, wann man will, wieder verlassen, in das an-dere wird man zwangsweise eingesperrt, und man kann es nicht, wann man will, verlassen. Er entdeckte die Harmonie der Unebenheiten des Mauerwerks, das charaktervolle Altertum der Giebel und Simse, die noble Großzügigkeit der Treppen. Das alles war ihm vorher niemals so

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ins Bewußtsein gekommen und fiel sicher kei-nem außer ihm auf. Die sanften Schwünge der Fensterabschlüsse! In der Kapelle, die er die ganzen anderthalb Jahre tagtäglich in der Frü-he zur Messe aufgesucht hatte, schaute er plötz-lich mit seinen ›neuen Augen‹. Und erst das Ar-beitsgerät, das im Hof an den Wänden hing, im Schuppen auf dem Boden lag, die vielen alter-tümlichen Rechen und Gabeln und Sensen! Er hatte es immer geliebt, im Sommer auf die Wie-sen und Felder zu gehen. Doch empfand er die wärmere Jahreszeit hier immer schmerzlicher als Herbst und Winter. Man ist zu gemein unter der Knute des Aufsehers unter der Sonne! sagte er sich. Und das Lachen der Bauersfrauen, das man von den Höfen herüber hört, ist ein furchtbarer Abgrund. Im Winter bleiben ja auch die Tore geschlossen, und nur die Holzarbeiter-gruppe verläßt die Strafanstalt durch den rück-wärtigen Ausgang in den nahen Wald. In der Holzarbeitergruppe hatte er nie gearbeitet, da-für war er zu schwach. Die jungen Leute dräng-ten sich natürlich immer in die Holzarbeiter-gruppe hinein, sie dachten an Flucht. Aber es ist noch keinem gelungen, zu fliehen, dachte er. Selbst wenn man entkommt, wird man erwischt, gefaßt, und alles ist noch viel schlimmer. Auf-lehnung ist Größenwahn, dachte er. Auflehnung

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führt unweigerlich in doppelten Schmerz. Auf dem mittäglichen Rundgang entdeckte er ein Tellereisen, das im Schuppen lag, eine große Seltsamkeit! Mit solchen Tellereisen fangen sie seit Jahrhunderten das Raubtier, dachte er. Wie kommt dieses Tellereisen hierher? Wahrschein-lich, sagte er sich, legen sie es zeitweise aus, denn es gibt Wölfe in dieser Gegend. Man hörte sie in der kalten Jahreszeit in der Nacht, der Sturm schlägt ihnen aufs Maul. Man hört sie immer wieder. Der Kulterer dachte, der Aufse-her läßt uns immer ein paar Minuten länger auf dem Hof, als die Vorschrift es will. Er ist groß und breit gewachsen und schlägt blitzartig zu. Sie nennen ihn alle ›die Gummiwurst‹, weil er oft den Knüppel benützt, um sich Gehör zu ver-schaffen, Rechtmäßigkeit. Er liebt es, in ange-spannten Hosen zu patrouillieren, hat nie ge-brüllt. Nie hat auch nur einer unter ihnen den Aufseher brüllen hören. Kurze, halblaute Wör-ter, das ist er. Er kann seine Kappe nicht leiden, aber er muß sie aufhaben, die Vorschrift sagt, daß er die Kappe aufhaben muß. Er sagt oft: »Infame Bestien!«, und er liebt die Wortzusam-menstellung: »Das ist ja ein fatales Mißver-ständnis, Schweinehunde!« An dem Abend, an welchem er das Paket aus-gepackt hatte, das von seiner Frau geschickt

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war, das letzte in einer Reihe von Paketen, die alle immer das gleiche enthielten – Fleisch, But-ter, Zeitungen, Socken –, und das er mehrere Tage nicht angeschaut hatte, er fürchtete sich nämlich vor dem Auspacken, genauso wie vor dem Lesen des Briefes, er hatte immer Angst davor gehabt, vor dieser Mißstimmung, in die ihn das Auspacken solcher Pakete und das Le-sen solcher Briefe immer hinuntergestürzt hat-te, vor dieser Schambildung in ihm, die sich fürchterlich auf seine Gedankenwelt auswirken konnte, seine Vorwurfswelt entzünden, tagelan-ge verzweifelte Einfallslosigkeit in ihm hervor-rufen konnte, hatte er überraschenderweise eine Geschichte mit dem Titel ›Logik‹ geschrieben, eine Meditation, die er dann am Morgen, nach-dem er noch ein paar Stunden geschlafen hatte, von ihr angenehm überrascht, seinen Zellenge-nossen vorgelesen hatte. »Was ist denn das Wort ›Logik‹ für ein Wort?« hatte er die Mithäftlinge, bevor er noch mit dem Vorlesen seiner Ge-schichte begonnen hatte, gefragt. Keiner konnte ihm antworten. »Was bedeutet das Hauptwort ›Logik‹?« Sie schwiegen. »Gestern«, sagte er, »hätte auch ich auf diese verwirrende Frage kei-ne Antwort gewußt, aber heute weiß ich sie; hört zu, das, was ich jetzt vorlese, ist die Antwort auf meine Frage, was das Wort, was das Hauptwort

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›Logik‹ ist, was für eine Bedeutung es hat.« Er las seine Geschichte vor, und er war erstaunt, wie ruhig seine Zuhörer waren. Er durfte sich nicht verleiten lassen, zu glauben, sie seien er-griffen gewesen, aber er war sehr glücklich. Anfänglich hatte er gebebt, wenn man die Zel-lentür hinter ihm verriegelt hatte; wenn auch keine Auflehnung in ihm gewesen war, so hatte er sich doch jedesmal in einer ungeheuer getre-tenen Verfassung befunden. Das Wort ›Wider-rede‹ stand ihm früher bei solcher Gelegenheit naturgemäß im Gesicht, aber er sprach es nicht aus. Ich habe ja gar kein Recht zu einer Wider-rede, hatte er gedacht, nein, ich habe kein Recht, nicht nur zu einer Widerrede habe ich kein Recht, ich habe überhaupt kein Recht, ich habe kein Recht zu beanspruchen! Es war ihm trotz des Verstandesmäßigen, das augenblick-lich mit seiner Verurteilung in ihm wie eine elementare Umwandlung seines Gehirngefüges eingesetzt hatte, zu arbeiten, radikal zu trennen und zusammenzusetzen begonnen hatte, ein-fach Recht zu sprechen begonnen hatte, fürch-terlich gewesen, sich unterzuordnen unter die neuen Machthaber, unter die Tatsache, ein Häftling, ein Verbrecher, eine auf beinahe un-absehbare Zeit kriminelle verfügungsbereite Existenz zu sein. Jede Überlegung über seinen

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›Fall‹ führte ihn unweigerlich zu der Einsicht, daß ihm kein Unrecht geschehen war. »Es gibt überhaupt kein Unrecht!« Dieser Satz hatte ihn beinahe verführt, an diesem Satz hingen Tau-sende Überlegungen, bis er sich schließlich als falsch und korrupt erweisen mußte … In seinem Falle war kein ihm geschehenes Unrecht festzu-stellen. Er hatte getan, was man nicht tun darf, und er wurde dafür bestraft, ja, nicht übermäßig dafür bestraft, wie er jetzt sah, nein, er empfand seine Strafe von unten heraufschauend gerade noch angemessen. Aber es war der Anfang, sich mit der neuen Möglichkeit abzufinden, bitter gewesen. Mit der Zeit hatte sich, nach seinen Überlegungen, mitten in der Auseinanderset-zung mit seinem Verbrechen, das Gefühl, un-terdrückt zu sein, in das gegenteilige, frei zu sein, umgewandelt. Es beruhte auf dem einfa-chen Gedankengang, daß der Freie nicht frei, daß der Unfreie nicht unfrei ist. »Wo ist die Grenze der Freiheit und von wo aus wird sie be-stimmt?« fragte er sich. Es war ein so klarer Ge-dankengang, daß ihn selber fröstelte, als er ihn zum erstenmal denken durfte. »Jetzt bin ich frei!« konnte er sich sagen. »Niemals vorher habe ich Freiheit gehabt!« Es war ein ungeheuerer Auf-schwung für ihn. Aber es wäre, dachte er, ein sinnloses Unternehmen, es den Menschen der

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Außenwelt wie den Innenweltmenschen, den freien wie den unfreien, die beide beides zu-gleich sind, erklären zu wollen, was er ›ein Ur-gefühl‹ nannte. Vereinfacht und nur für sich sagte er sich jetzt: »Meine Entlassung aus der Anstalt bedeutet, daß ich meine Freiheit aufge-ben muß.« Allerdings hing dieser Gedanke nicht unmittelbar mit seinen ihn erwartenden äußeren Umständen, wie Frau und Broterwerb, zusammen, er war vielmehr im Überdurch-schnittlichen des immer Unbegreifbaren, in ei-ner hochgelagerten allgemeinen unausschöpfli-chen Gedankenexekution verankert. Es kam ihm vor, als machte er, völlig unbegreiflich, den ersten Schritt aus der Strafanstalt hinaus in den Tod. In einen unüberwindlichen, unausbleibli-chen, scharfsinnigen, konsequenten Tod. Am Tag seiner Entlassung wurde er schon früh zum Direktor gerufen. Er habe sich für den Aufenthalt in der Strafanstalt beim Direktor zu bedanken, sagte ihm der Aufseher, der ihn führte. »Jaja, ich weiß …«, sagte der Kulterer. Ihm, dem Aufseher, werde der Kulterer abge-hen. Ob er sich bei ihm zu beklagen habe, frag-te ihn der Aufseher, er selbst glaube das nicht, manchmal sei er auch gegen ihn barsch vorge-gangen, aber das sei unumgänglich gewesen. Der Kulterer wußte sich in der Finsternis, die

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noch herrschte, unglaublich gut zurechtzufin-den. Vorschriftsmäßig ging der Aufseher einen Schritt hinter ihm, er hatte den Gummiknüppel in der Hand, nicht an seinem Rock hängen. Wahrscheinlich, weil zwei Neue da sind, dachte der Kulterer. Er könne, wenn er wolle, außer-halb der Zelle sein Frühstück bekommen, sagte der Aufseher. Aber der Kulterer wollte nicht. Vor der Tür des Direktors, der immer schon um fünf Uhr an seinem Schreibtisch zu sitzen pfleg-te, blieb der Aufseher zurück. Pflichtgemäß hat-te er da so lange zu warten, bis der Häftling wieder aus dem Direktorzimmer entlassen ist, ihn dann in die Zelle zurückzuführen. »Soso«, sagte der Direktor, der kleine Mann im dicken Überzieher, in einem solchen Kleidungsstück, das weder dem Tag noch der Nacht vollständig gehörte, in einer Art militärischem Morgen-rock, »soso, jetzt sind Sie also dran!« Der Kulte-rer war weit vom Direktor entfernt stehenge-blieben, dieser winkte ihn mit einer raschen, harten Bewegung seines Kopfes zu sich an den Schreibtisch heran. »Wo habe ich nur Ihren Akt?« sagte er. »Da ist er ja!« sagte der Direktor. Er sagte: »Franz Kulterer, geboren 1911 in Aschbach, stimmt das?« – »Jaja.« – »Sie sind verheiratet, kein Kind«, sagte der Direktor. »Ja-ja.« – »Gegen Sie liegt nichts vor«, sagte der

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Direktor, plötzlich: »Was werden Sie denn ma-chen, wenn Sie entlassen sind?« Der Kulterer konnte nicht sofort antworten. »Na schön«, sag-te der Direktor, »Sie wissen ja sicher, wie Sie sich draußen zu verhalten haben. Die Formali-täten sind ja erledigt. Aber weil Sie jetzt entlas-sen werden, das soll nicht heißen …« – »Jaja, ich weiß«, sagte der Kulterer, dem der Direktor jetzt große Vorhaltungen gemacht hatte. »Die Formalitäten sind also erledigt. Von mir aus ja. Warten Sie«, sagte der Direktor, »sind Sie nicht der Mann mit der Schreiberlaubnis?« – »Ja«, sagte der Kulterer. »Na, na«, sagte der Direktor, »das war schon eine ganz besondere Begünsti-gung, die Sie da genossen haben. Einem Häft-ling die Schreiberlaubnis zu erteilen! Aber Sie haben sich ja, wie ich sehe, nichts zuschulden kommen lassen. Was haben Sie denn da die gan-ze Zeit geschrieben?« wollte der Direktor wis-sen. »Ach«, sagte der Kulterer, »es ist nicht der Rede wert.« – »Geschichten wahrscheinlich«, sag-te der Direktor. »Jaja, Geschichten«, antwortete der Kulterer. »Sie wissen ja«, sagte der Direktor, »daß Ihnen von Ihrer Arbeitszeitvergütung die Haftkosten abgezogen werden, das wissen Sie ja!« – »Jaja, ich weiß«, antwortete der Kulterer. »Der Staat verlangt auch von Ihnen Lohnsteuer, das wissen Sie ja! Wollen Sie das Geld gleich

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haben, oder soll es Ihnen nachgeschickt wer-den? Wo sind Sie denn zu Hause? Gehn Sie jetzt wieder zu Ihrer Frau?« – »Jaja«, sagte der Kulte-rer. »Naja«, meinte der Direktor, »Sie haben ja sicher schon unser Firmenadressenmaterial be-kommen. Es wird sich schon ein Posten für Sie finden. Versuchen Sie es doch in einer Drucke-rei, da haben Sie doch wirkliche Chancen! Es ist erstaunlich, wieviel manche Leute bei uns ler-nen! Es ist wirklich erstaunlich«, sagte der Di-rektor. »Sie werden uns fehlen in der Drucksor-tenabteilung«, sagte er. »Also, wenn Sie ent-lassen sind, Sie sind ja noch nicht entlassen«, witzelte er, »bekommen Sie Ihr Geld. Naja«, sagte er und stand auf und gab dem Kulterer ein großes graues Kuvert. »Dieses Kuvert«, sagte er, »übergeben Sie Ihrem zuständigen Polizei-kommissariat. Alles Weitere läuft dann von selbst. Daß Sie sich jede Woche auf dem Kom-missariat zu melden haben, wissen Sie ja.« – »Ja-ja, ich weiß –«, sagte der Kulterer. Der Direktor gab ihm die Hand. Er wäre zu Dank verpflich-tet, sagte der Kulterer, er sage das nicht, weil es Vorschrift sei, das zu sagen, sondern aus einem wirklichen ehrlichen Gefühl heraus. »… zu gro-ßem Dank verpflichtet«, sagte er. Er schämte sich, keine besseren Worte gefunden zu haben. Er hatte sich einen guten Abschiedssatz für den

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Direktor vorbereitet gehabt, im Augenblick aber, in welchem er ihn hätte sprechen sollen, war dieser Satz unauffindbar gewesen. »Schon gut«, sagte der Direktor und entließ den Kulterer. Auf dem Gang hatte der Kulterer das Gefühl, daß ihm der Aufseher, der hinter ihm ging, gut gesinnt sei. Seltsamerweise hatte er sich nie vor dem Aufseher gefürchtet, zum Unterschied von den Mithäftlingen, die eine panische Angst da-vor hatten, dem Mann in der Finsternis der Gänge ausgeliefert zu sein. »Hast du dich be-dankt?« fragte ihn der Aufseher, der ihn mit dem Knüppel um die Ecke lenkte. »Jaja«, sagte der Kulterer, »aber ich war ungeschickt.« – »Was heißt das?« wollte der Aufseher wissen. – »Zu dumm«, sagte der Kulterer. »Hat er dir das Kuvert gegeben?« Der Kulterer zog das große graue Kuvert, das er selbst mit der Aufschrift ›Strafanstalt Suben im Gerichtsbezirk IX des Bundesministeriums für Justiz‹ bedruckt hatte, heraus. »Du mußt es mir geben«, sagte der Auf-seher. Und er sagte: »Du hast wohl keine so schlechte Erfahrung mit mir gemacht?« – »Nein, nein«, sagte der Kulterer. Jetzt war plötz-lich das elektrische Licht eingeschaltet, der Aufwaschtrupp war schon an der Arbeit. Einer leerte den Kübel mit der Lauge aus, ein anderer schrubbte sofort mit einer Bürste den Boden,

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ein dritter trocknete mit einem Fetzen hinter beiden auf. »Na, na«, sagte der Aufseher, weil sie ihm die heiße Lauge vor die Füße geschüttet hatten. Sie standen sofort stramm und in Erwar-tung einer Züchtigung, aber der Aufseher über-ging den Zwischenfall; er folgte dem Kulterer, der schnelle, kurze Schritte machte. Sie fuhren jetzt schon mit dem Frühstück zu den Zellen. »Das Kuvert bekommst du, wenn du fortgehst, zurück«, sagte der Aufseher. Er wollte die Zelle absperren, aber da kamen die Frühstücksträger, und er blieb so lange, bis sie das Frühstück aus-geteilt hatten, an der Zellentür stehen, die Frühstücksträger antreibend. Es solle das keine Begünstigung sein, Frühstück austragen, sagte er. »Los, los!« Sie schöpften das lauwarme Ge-tränk aus einem riesigen Zinkkübel, den sie an zwei großen Henkeln zu tragen und vor der Zel-lentür abgestellt hatten. Aus einem Karton ver-teilten sie Brotscheiben. Jeder Häftling bekam vier Stück, das war die Brotration für den gan-zen Tag. »Morgen wird unser Kulterer schon in einem sauberen Bettchen schlafen«, sagte der Aufseher. Der Betroffene stand abseits, er hatte, in Anwesenheit des Aufsehers, die Hände ange-legt. Er war überzeugt, daß ihm der Aufseher keine Niederträchtigkeit habe sagen wollen, sondern ihm gut gesinnt sei. Eine Niedertracht

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gegen mich kommt nicht in Frage, hatte er ge-dacht. Er war ja immer korrekt gewesen, immer tadellos, niemals auch nur andeutungsweise duckmäuserisch, wie man jetzt vielleicht meinen könnte. Im Gegenteil! Er durfte sich freilich nicht selbst solches Lob aussprechen, aber er hatte das Gefühl, daß der Aufseher immer mit ihm zufrieden gewesen war. Der Aufseher hatte keine Ursache, gegen ihn ausfällig zu sein, wie er das oft zu anderen, zu Recht und zu Unrecht, war. Der schlug ihnen gleich auf den Kopf. Es gab oft furchtbare Zustände, wenn hinter ihm jemand ›Gummiwurst‹ sagte. »Jaja, ich weiß«, sagte der Kulterer, als ihm der Aufseher gesagt hatte, er solle sich nun ernstlich auf die Entlas-sung vorbereiten. Er müsse ja, vorschriftsmäßig, in ein paar Stunden die Anstalt verlassen. »Mei-ne Schriften …«, sagte der Kulterer. Er würde ihm einen Strick bringen, meinte der Aufseher, damit er seine Schriften zusammenbinden könne. Die Häftlinge waren der Meinung, dieser Tag wäre für ihn ein Freudentag; sie konnten nicht wissen und nicht begreifen, daß gerade dieser Tag der furchtbarste im Leben des Kulterer war. »Warum sagst du denn nichts? Erzähl uns doch noch was, bevor du abhaust!« sagten sie. Jetzt, wo es sich nur noch um Stunden des Zu-

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sammenseins handelte, schlösse er sich auf einmal von ihnen ab. Warum? Sie hätten ja nichts gegen ihn, nie etwas gegen ihn gehabt; vieles an ihm sei ihnen, zugegeben, in der er-sten Zeit lästig gewesen, aber auch nur in dem Grade, in dem einem jeder Mensch lästig ist, auch der einem am nächsten stehende; in letz-ter Zeit hätten sie an ihm sogar Gefallen gefun-den. Selbst an seinen Geschichten. »Laß uns doch ein paar von deinen Geschichten da!« sag-ten sie. Er wäre bereit gewesen, ihnen seine Ge-schichten zu überlassen, aber er glaubte ihnen nicht; es hatte, was sie sagten, für ihn den An-schein, als hätten sie eine gute Verabschiedung seiner Person, die sie im Grunde weghaben wollten, untereinander abgesprochen. ›Es freut mich, daß ich euch nicht widerwärtig bin‹, hätte er am liebsten gesagt, aber er brachte kein Wort hervor. Sie rollten sich noch einmal, entgegen aller Vorschrift, wie sie das immer nach dem Frühstück getan hatten, auf ihren Pritschen zu-sammen. Der Kulterer setzte sich hin. Als der Aufseher an der Tür war und durch die Luke einen Strick hereinreichte, waren sie schon wie-der in der Höhe. »Das ist ein fester Strick«, sag-te der Aufseher. Der Kulterer legte seine Toilet-tesachen auf dem Tisch zusammen, und die Mithäftlinge halfen ihm, und er holte seinen

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Pack Schriften hervor, und ohne daß er sie dar-um bitten mußte, packten sie mit an, der Stärk-ste zog den Strick fest zu; es war ein ordentlich schweres Paket. Als der Kulterer es probeweise aufhob, sie lachten dazu, denn es hatte das möglicherweise einen komischen Eindruck auf sie gemacht, fühlte er eine große Unsinnigkeit, eine große Unsinnigkeit, die er selber war, die er sich nicht erklären konnte, denn er konnte sich selbst nicht erklären. »Zu dumm«, sagte er. »Was machst du mit den Geschichten?« fragten sie. Er zuckte mit den Achseln. »Verkauf sie doch. Es heißt, die Zeitungen reißen sie einem aus der Hand. Ob sie natürlich deine Geschich-ten drucken, ist eine andere Frage«, sagten sie. »Jaja«, sagte der Kulterer, »ich weiß.« Es täte ih-nen leid, meinten sie, von jetzt an auf ihn ver-zichten zu müssen. Er wäre ihnen unentbehrlich geworden. »Ja, wirklich.« Es käme nichts Besse-res nach, wie man ja wisse. »Mir gehst du jeden-falls ab«, sagte der Älteste. Es hätten sich für sie alle durch ihn vorteilhafte Gespräche ergeben; abgesehen davon, daß sie jetzt bezüglich des Kartenspiels einen Partner weniger hätten. »Und ›Mühle‹ und ›Dame‹«, sagte der Kulterer. »Die Druckerei wird sich anschauen«, meinten sie. Er würde aber sicher noch einen Sprung in die Druckerei hineinmachen, um sich zu verab-

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schieden. »Jaja«, sagte er. Das wäre selbstver-ständlich. Ob sie es glaubten oder nicht, es fiele ihm schwer, fortzugehen. Er würde am liebsten bleiben. Es sei ihm ›unvorstellbar‹. »Aber man kann nicht länger bleiben, als man gezwungen ist«, sagte er. »Selbst wenn man ein Gesuch an die Justiz richten würde, müßte ein solches Ge-such naturgemäß abgelehnt werden.« Sie lach-ten und glaubten ihm nicht. Er sah verstört aus. Er würde ihnen ein Geschenk machen, sagte er, damit sie sich an ihn erinnerten. Er wisse natür-lich nicht, ob sie auch nur die geringste Freude an dem, was er ihnen zu schenken beschlossen habe, hätten, aber er könne sich vorstellen, daß es, wenn es ihnen vielleicht auch anfänglich lä-cherlich erscheint, später einmal von Nutzen sein könnte. »Ich habe jedem von euch etwas aufgeschrieben«, sagte er, »für jeden einzelnen etwas nur für ihn, etwas, das nur ihn allein be-trifft.« Und er gab jedem ein zusammengefalte-tes Papier. Auch wenn sie ihn auslachten, er schämte sich nicht, aber er wünschte sich natür-lich, daß sie ihn nicht auslachten. Bevor er noch das Papier entfaltet hatte, fragte der, welcher dem Kulterer immer als der Bedauernswerteste unter ihnen vorgekommen war, als der Ge-meinste auch, was das sei, was der Kulterer ih-nen aufgeschrieben habe. »Ein Aphorismus«,

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sagte der Kulterer. Er getraute sich nicht, mehr zu sagen als: »Ein Aphorismus.« Die drei, deren Haftzeit noch immer unabseh-bar war, hatten die Erlaubnis, eine halbe Stunde später die Arbeit anzutreten, um sich von dem Entlassenen verabschieden zu können. Der Auf-seher hatte sie aus einer Schnapsflasche trinken lassen, die er ihnen gleich wieder wegnahm; er müsse zum Direktor, um eine vorgeschriebene, den Kulterer betreffende Formalität zu erledi-gen, sagte er, sperrte die Zelle ab und ver-schwand. Er kam aber sofort noch einmal zu-rück, sperrte auf und sagte, der Kulterer müsse sich augenblicklich umziehen. »Los!« sagte er und warf einen Haufen Kleider, offensichtlich die Zivilkleider Kulterers, auf die Pritsche des Entlassenen. »Zieh dich um!« herrschte er den Kulterer an, nicht bösartig, im Gegenteil. Er sperrte ab und polterte davon. Der Kulterer duckte sich und entledigte sich der Anstaltsklei-der, und als er nackt vor den Zellengenossen stand – die die ganze Zeit versucht hatten, ihm Ratschläge zu geben: »Da gehst du hin!« – »Nein, du sagst einfach, du kennst dich nicht aus, ver-stehst du!« oder »Blödsinn, einfach hingehen, anklopfen und hineingehen!« hatten sie zu ihm gesagt, sie hatten ihm einzutrichtern versucht, wie er sich draußen zu verhalten habe, »weil wir

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wissen, wie es ist, wenn man entlassen ist!« sag-ten sie –, als er also vollkommen nackt vor ih-nen stand, gaben sie ihm fort und fort Verhal-tungsmaßregeln, die er aber, weil sie wie irr durcheinanderredeten, nicht verstehen konnte. Er fühlte eine plötzliche entsetzliche Verlassen-heit, die ihm, weil sie von allen Seiten furchtbar angestarrt war, unerträglich wurde. »Du ver-kühlst dich«, sagte der Älteste, der an der Zel-lentür lehnte, und der unter dem Fenster sagte: »Der hat eine weiße Haut wie ein Kind.« Und der dritte lachte kurz. Dann schwiegen sie, und der Älteste warf dem Kulterer seine Unterhose an den Bauch, dann sein Hemd, seine Hose, seinen Rock, seine Schuhe. Der Kulterer zog alles an; es ekelte ihn vor dem fremden Ge-ruch, den diese Kleidungsstücke ausströmten, es war ein Geruch von Hunderten und Tausen-den fremden, abgelegten, zusammengepferch-ten Kleidungsstücken. Er zitterte am ganzen Körper; wie wenn er geschlagen würde, stand er da. »Trink dich an, wenn du hinauskommst!« sagte der Jüngste an der Tür. »Wie haben sie dich eigentlich erwischt? So?« – »Jaja –«, sagte der Kulterer. »Und sie haben dich geschlagen, was? Sie haben dich so festgenommen, wie du es uns erzählt hast, was?« – »Ja, wie ich es euch er-zählt habe.« – »Und sie haben dir nicht einmal

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auf den Kopf geschlagen? Du hast gar nicht ge-blutet, was? Du weißt doch, die Polizei schlägt unsereinen immer auf den Kopf. Die kennen kein Pardon! Die kennen da nichts!« Der Kulte-rer schüttelte den Kopf. »Mir haben sie nichts getan«, sagte er. »Und deine Frau?« fragten sie. »Wie war die? Wie hat sie darauf reagiert?« Der Kulterer antwortete nicht. »Weiß sie, daß du heimkommst? Hast du es ihr geschrieben? Du hast es ihr gar nicht mitgeteilt?« Er habe einen guten Zug zu Mittag, sagten sie. Wieviel Geld ihm verblieben sei? Ob ihm überhaupt etwas geblieben sei? »Jaja«, sagte der Kulterer. Er schrieb sich noch rasch ihre Adressen auf und bat sie, ihn in guter Erinnerung zu behalten. »Du weißt ja«, sagten sie. Es sei nicht einfach, hinauszugehen, die Welt sei kalt und verzeihe nicht. Er hatte Lust gehabt, sie alle drei zu um-armen, aber in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und der Aufseher führte die Häft-linge ab. Die Zelle war offengeblieben. Da stand er und hörte die Druckmaschinen über den Hof herüber. Er beugte sich über seine noch war-men Anstaltskleider und weinte. Der Aufseher hatte ihn in die Küche geschickt, wo sie ihm etwas zum Essen eingewickelt hatten. Aber er kannte dort niemand. Es waren lauter neue Gesichter. Er ging in die Druckerei und in

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die Gerberei und überall, wo er eine offene Tür fand, hinein und verabschiedete sich. In der Kapelle schaute er noch einmal die schönen Bilder an. Vom Pfarrer hatte er sich schon am Vortag verabschiedet. Schließlich kehrte er noch einmal in die Zelle zurück, um seine Sachen zu holen. Er vergewisserte sich, nichts vergessen zu haben, hob seinen Papierpack auf und ging fort. Über den Hof hörte er, wie der Aufseher einen Häftling niederschlug. Er entfernte sich, so rasch er konnte, von der Strafanstalt in die Landschaft hinein, die, hügelig, braun und grau, vor Hoffnungslosigkeit dampfte.

(1962)

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Der Italiener Fragment

Nach dem Nachtmahl ging ich mit dem Italie-ner vor dem Lusthaus auf und ab. Er habe es weit gebracht, sagte er, das Florenz nach dem Krieg, sowie das Aussterben seiner Familie habe ihn, für seine Begriffe, reich gemacht. Er hatte mir schon am Vormittag vierzehn Geschäfte aufgezählt, die er besitze, zwei Landwirtschaf-ten, zwei Mühlen, eine Konservenfabrik, sämtli-che in der Toskana, ein Haus in Florenz, einen kleinen Besitz »über Silvaplana, eine Hütte für meine Einsamkeit«. In immer kürzeren Abstän-den kehrte in dem, was er sagte, ›Fiesole‹ wie-der. Er schilderte, während aus dem offenen Lusthaus, in dem mein Vater, wie ich jetzt sah, von meinen Schwestern viel zu hoch aufgebahrt war, die gefürchtete und unter Umständen tödliche Luft herausströmte, seine Verhältnis-se, Ansichten über Geschäfte, während ich in Gedanken noch immer mit Kiental und Zim-merwald, mit der Wirkung Karl Liebknechts beschäftigt war. Fortwährend dachte ich an meine Arbeit, vornehmlich an das Heidelberger Programm. Aus Höflichkeit, um den Italiener

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nicht vor den Kopf zu stoßen, sagte ich, ich plante schon lange Zeit eine Reise nach Südita-lien. »Ich möchte mich einem Gesteinsforscher anschließen, der im Herbst nach Sizilien geht«, sagte ich. Der Italiener warnte mich, zu früh nach Sizilien zu reisen, »nicht vor Ende Okto-ber«. Unser Ausgangspunkt werde Caltanisetta sein, sagte ich, die Forschungen meines Freun-des beschränkten sich auf das Gebiet zwischen Caltanisetta und Enna. Der Italiener riet mir zu einem Ausflug nach Agrigent (»Sie ersparen sich damit Griechenland!«), nach Palermo und Cefalù. Er fürchtete, entdeckte ich, ich könnte ihn plötzlich auffordern, zu meinem toten Vater ins Lusthaus hineinzugehen, oder ich könnte ihn fragen, ob er, wie sich das gehörte, schon bei meinem toten Vater, dem ›Alten Herrn‹, gewesen sei; sämtliche Trauergäste hatten in-zwischen diesen gefürchteten Totenbesuch ab-solviert, nur der Italiener nicht. Ich hatte ihn den ganzen Tag lang beobachtet, von allen er-schien er mir als der Interessanteste, auch als der weitaus Intelligenteste der ganzen Gesell-schaft. Kein gesprächiger Mensch, er war seit seiner Ankunft immer allein gewesen. Die Schwestern hatten sich, nachdem sie ihn be-grüßt hatten, nicht mehr um ihn gekümmert. Er wünschte aber auch keinen Kontakt.

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Ich hatte sofort die Gelegenheit ausgenützt, mit dem Italiener im Park zu verschwinden, der ge-spannten Atmosphäre im Haus, den vielen Leu-ten, Erregungen meiner Schwestern, dem Trau-ertumult in ihnen für kurze Zeit zu entkommen, er wollte, daß ich ihm etwas über die Geschichte unseres Hauses erzähle, und zwar im Freien, was ich, selbst neugierig und freilich mit großen Denkschwierigkeiten, auch getan habe. Jetzt gingen wir also auf und ab, und ich zeigte, ei-nem plötzlichen, völlig unvorhergesehenen Ein-fall folgend, dem Italiener, um ihn von dem To-ten, der ihm so gut wie unbekannt war, meinem Vater, zu dessen Begräbnis ihn seine Familie zu uns geschickt hatte, abzubringen, den Haufen Theaterkostüme und Instrumente, Mäntel, Jak-ken, Hosen, Trompeten, Schlagzeug und Flöten also, im Schuppen an der Lusthauswand. Vor Aufregung hatten meine Schwestern, bevor sie den Vater im Lusthaus aufbahren konnten, das Lusthaus ausgeräumt und die Kostüme und In-strumente, die jahrzehntelang im Lusthaus ge-legen waren, im Schuppen auf einen Haufen geworfen. Ich dachte, den Italiener könnten die Kostüme und Instrumente, alles kostbare, uralte Stücke, interessieren. Ich erklärte ihm, daß je-des dieser Stücke für mich eine besonders tiefe Bedeutung habe, einen besonders hohen Wert

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darstelle, »Erinnerungen«, sagte ich im Tonfall des Italieners. Er schien mir, nach seinen Äuße-rungen, darin, wie er sich von den anderen un-terschied, auf seine Weise, sehr gut erzogen, künstlerisch interessiert zu sein. Zum Großteil noch von meiner Urgroßmutter und ihren Schwestern zusammengenäht und geschmückt, von meinem Urgroßvater und seinen Brüdern zusammengekauft, seien sie die schönsten, die ich jemals gesehen, die schönsten, die ich je-mals gehört habe, und der Fundus vieler großer Theater in ganz Europa sei mir bekannt. Der Schuppen war durch einen Bretterspalt von den beiden Totenkerzen im Lusthaus erleuchtet. Ich sagte, der Italiener solle sich nicht schmutzig machen, denn der Schuppen war schmutzig, voller Spinnweben, voller Staub. Zuerst zeigte ich ihm die Kostüme der Reichen. Dann die Kostüme der Armen. Dann die Kostüme der Erhabenen. Dann die Kostüme der Lächerli-chen. Eins nach dem andern zog ich vor seinen Augen aus dem Haufen heraus und hielt es ge-gen das Licht. Der Italiener wollte wissen, wer das Schauspiel geschrieben hat, das die Kinder meiner Schwestern genau an diesem Abend »zwischen halb neun und halb elf, in und vor dem Lusthaus« aufgeführt hätten, wäre nicht unser Vater während der letzten Probe gestorben,

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hätte er sich, wie ich schon ausführlich darge-legt habe, nicht auf die bekannte grauenhafte Weise in seinem Zimmer erschossen. »Ein Un-glück«, hatte der Italiener vorher gesagt. Ob das Schauspiel ein lustiges sei oder ein tragisches, oder tragisch und lustig zugleich, wollte er un-bedingt wissen. Ich antwortete, daß der älteste Sohn meiner jüngeren Schwester, der Dreizehn-jährige, der Dichter des Schauspiels sei, ich hät-te es, das für jeden mit Ausnahme der Mitspie-lenden als Überraschung gedacht gewesen war, nicht gelesen, »nicht eine einzige Zeile«, sagte ich, »ich weiß nicht einmal seinen Titel«. Es sei, sagte ich, eine gute Idee, mir sofort nach unse-rer Rückkehr ins Haus das Schauspiel geben zu lassen, denn »aufgeführt wird es nun nicht mehr«, um es noch in der Nacht zu lesen, an Schlaf wäre nicht zu denken und ablenken kön-ne es mich vielleicht, auch von der für mich im Augenblick quälenden Schriftstellerei. Da mir das Wesen dessen, der es geschrieben hat, be-kannt sei, »ein sehr zartes Wesen«, sagte ich, werde mir das Schauspiel sicher gefallen und mir auf erfreuliche Weise zu denken geben. Seit mehr als hundert Jahren, sagte ich, werde all-jährlich von einem unserer Kinder, meistens von einem der Söhne, für das Lusthaus, und zwar für den letzten Augustabend, ein Schau-

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spiel geschrieben, es sei erstaunlich, wie gut die-se Schauspiele immer seien, wie gut geschrieben und aufgeführt sie seien, es existierten im Schreibtisch meiner älteren Schwester noch an die drei Dutzend; die ältesten vorhandenen sei-en von meinen Großeltern, eines davon ist mir noch vom Lesen in Erinnerung, es hat den Titel ›Der Sperber‹. Alle diese Schauspiele, die, nachdem sie gründlich einstudiert worden sind, immer nur ein einziges Mal im Lusthaus ge-spielt werden durften, sind eine Fundgrube für den Theaterstudenten und -wissenschaftler, für jeden ernst zu nehmenden Schauspieler. Ich selbst hätte, sagte ich, Lust, sie einmal zum Mit-telpunkt eines Aufsatzes, vielleicht unter dem Titel ›Unsere Sommerlustspiele‹ zu machen. Alle diese Schauspiele, Komödien wie auch Tra-gödien wie auch Singspiele, wurden jeweils an einem einzigen Tag, in einer einzigen Nacht geschrieben, ich selbst habe ein solches schon mit elf Jahren verfaßt, »in der Finsternis des Lusthauses«, sagte ich. Das Italienische in uns habe uns für die Schauspielerei inspiriert, sagte ich und war froh, auf diese Weise in dem Italie-ner, der bis zu diesem Augenblick doch auch mir gegenüber in manchmal schmerzender Weise reserviert gewesen war, einen freundli-chen, aufmerksamen, ja sogar gesprächigen

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Partner gefunden zu haben. Er sagte jetzt, daß auch seine Familie bei ihm zu Hause in Florenz alljährlich Theater gespielt habe, »immer nur hinter Masken«, sagte er, »und immer im Win-ter« und niemals ein selbstverfaßtes, sondern, merkwürdig im Land des Lustspiels, nur Spiele englischer und französischer Herkunft, »Shake-speare, Molière …« Bei ihnen hätten auch im-mer die Erwachsenen mitgespielt. Ob das Lust-haus, fragte er, nur zu dem einen Zweck, in ihm Theater zu spielen, gebaut worden sei. »Für Theater und Lustbarkeiten«, sagte ich. Das Wort ›Lustbarkeiten‹ verstand er nicht, und ich versuchte, es ihm zu erklären, mit Erfolg, wie ich glaube. Er sprach, muß ich sagen, jedesmal so gut deutsch, daß ich zu Anfang meiner Be-kanntschaft mit ihm irritiert war. Die Luft, die jetzt in den Schuppen hereinkam, war scharf durch die Nähe des nach den vergangenen Regengüssen unaufhörlich laut plätschernden, sich immerfort am Waldrand überstürzenden Baches. Ich hatte dem Italiener noch immer nicht alle Kostüme gezeigt, da dachte ich, viel-leicht langweilt sich der Italiener mit mir, denn was gingen ihn, der hier nichts zu suchen hatte, den Italiener aus Florenz, der nur auf zwei Tage zum Begräbnis unseres Vaters gekommen war, die Kostüme an, die Instrumente, was ging ihn

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das alles an? Ich machte ihm den Vorschlag, ins Haus zu gehen, es sei dort, wenn auch laut, so doch warm, er wolle vielleicht auch ein warmes Getränk, »einen heißen Most«? sagte ich, den der Italiener am frühen Nachmittag mit gro-ßem Genuß, wie ich habe feststellen können, getrunken hat. Der Italiener aber wollte alle Ko-stüme sehen. Ich erklärte ihm, aus der Erinne-rung, jede der dazugehörenden Rollen, auch, wer sie jeweils gespielt hat, gespielt haben könn-te. Damit verging beinahe eine Stunde. Die Kostüme des neuen Schauspiels wären nicht darunter, sie seien, nicht fertig geworden, im Zimmer meiner jüngeren Schwester, und zwar auf dem Boden in ihrem Zimmer, liegengeblie-ben. Auch die Musikinstrumente schienen ihm zu gefallen. Er sei, sagte er, einmal mit seiner Mutter in Padua, wo er studiert habe, aus einem brennenden Operntheater gelaufen, und seine Mutter sei an dem Schock vier Wochen später in einem Florentiner Spital gestorben. Seither habe er kein Theatergebäude mehr betreten. In unser Lusthaus sei er aber hineingegangen. Wir schwiegen, dann sagte er: »Wir schreiben einander nie.« Mir fiel auf, wie nachdenklich er das gesagt hatte, gleichzeitig bedauerte ich, kein Wort Italienisch zu können; mein Vater hat recht gehabt mit der Behauptung, man könne

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nicht genug Sprachen sprechen. Ich kam mir erbärmlich vor. Und wie gut der Italiener deutsch sprach! Ob ihn die Zeit im Schuppen, ob ihn mein ganzes Theater mit den Kostümen und Instrumenten nicht irritiert oder gar ge-langweilt habe, für mich sei das Ganze, sagte ich entschuldigend, eine willkommene Ablenkung von dem Grauenhaften des Unglücks, »über-haupt von mir selbst«, sagte ich, gewesen. »Auch habe ich«, sagte ich, »einen Vorwand, nicht im Hause zu sein, wo sie mich sicher überall su-chen; sie vermuten nicht, daß ich im Park bin. Sie vermissen uns. Einem Gast«, sagte ich, »kann ich, wenn er ihn wünscht, den Rundgang nicht abschlagen.« Der Italiener fragte mich in dem Augenblick, in dem wir den Wald betreten hatten, ob mir die italienische Literatur bekannt sei. Diese Frage eines Geschäftsmannes verblüffte mich, tatsäch-lich habe ich aber immer wieder feststellen können, daß gerade Geschäftsleute solche Fra-gen stellen. Ich verneinte. Ich hätte aber, sagte ich, schon im Alter von dreizehn Jahren die So-nette des Michelangelo und die Gedichte Pe-trarcas gelesen. Aus der neueren Literatur sei mir nichts, außer Pavese, Ungaretti und Lam-pedusa, bekannt, außer italienischen politischen Schriften, die ich für meine Studien von Zeit zu

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Zeit heranzuziehen gezwungen sei. Ich sprach den Namen Serrati aus, aber der Italiener hatte ihn nie gehört. Auch mit Campanella hatte ich keinen Erfolg, der Liberale Mazzini wie auch der Opportunist Modigliani bewirkten bei dem Italiener genauso nur Kopfschütteln. Er fragte mich jetzt, ob ich gern und viel reiste. Ich sagte ja. Wie alt ich sei, »noch Student«? fragte er. Ich verneinte es. Die Schwierigkeit, die es mir ohne Zweifel gemacht hätte, ließ mich über mich, selbst was meine absoluten Personalien betrifft, dem Italiener gegenüber nichts mehr erklären. Er sagte, während er sich einen Fichtenast aus dem Gesicht hielt und dabei stehenblieb, ich hatte mich, völlig grundlos, wie mir schien, um-gedreht, es sei für ihn schwierig, mit den Leu-ten im Haus, den Trauergästen, »mit den Haus-leuten selbst«, wie er einwandfrei sagte, ein Gespräch anzufangen, von einem Großteil (»Al-les nur Fremde!«), sagte er, wisse er noch nicht einmal den Namen, obwohl er doch mit ihnen allen verwandt und sofort nach seiner Ankunft ihnen allen vorgestellt worden sei. Er fühle sich jetzt mir zugehörig. Er sagte, »der einem die er-sten freundlichen Worte sagt, dem gehört man in fremder Gesellschaft«. Ich sei dieser Mensch, »geheimnisvoll jung«. Hatte ich es die ganze Zeit nicht für richtig befunden, ihn nach seinem

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Alter zu fragen, so sagte er, der jetzt vor mir ging, auf einmal, er sei achtundvierzig. Er er-schien mir jetzt jünger als noch am Vormittag. Daß ich mich »unter dem Unglück« so »frei« be-wegte, ganz zum Unterschied von den andern, gefiel ihm. Es wirke sich auch auf ihn aus. Vom Haus herüber hörten wir beide jetzt meine Schwestern aufgeregt debattieren, einzelne Wörter, ja ganze Sätze waren, wohl wegen der dafür günstigen Luftströmung, bis in den Wald herein voll verständlich. Die Debatte der beiden kam aus der Küche, wohin sie sich, wahrschein-lich um eine ihrer nutzlosen Dringlichkeiten ungestört besprechen zu können, zurückgezo-gen hatten. Es machte auch dem Italiener Spaß, die Auseinandersetzung der Schwestern aufzu-fangen. Im Mittelpunkt der immer lauter wer-denden Unterhaltung, die, wie ich hören konn-te und wie auch der Italiener verstand, bei geöffneten Fenstern stattfand, wohl weil die Schwestern der Ansicht gewesen waren, daß sich um diese Zeit und in dieser Kälte kein Mensch mehr im Park oder gar im Wald befinde, fielen immer wieder die Worte ›zuerst‹ und ›dahinter‹. Ich machte den Italiener darauf aufmerksam, daß es sich um den Leichenzug handle und wer in ihm hinter wem zu gehen habe. Eine warf der andern noch schnell das Wort ›Bischof‹ an den

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Kopf, dann war es still. Jetzt bemerkte ich erst, wie fürchterlich ihre Stimmen waren. Von der Lichtung aus war das Lusthaus zu sehen. Ich dachte, genau um diese Zeit hätten die Kinder ihr Schauspiel gespielt. Eine ebenso große Menge Leute, wenn auch nur aus der nächsten Umgebung, in anderer Stimmung, in anderen Kleidern als jetzt, weniger Verwandte als Nach-barn und Freunde, wären im Haus und im Park, vor dem Lusthaus versammelt. Ich dachte über den Unterschied zwischen ›Sommerlustspielbe-sucher‹ und ›Sommertotenbesucher‹ nach, wäh-rend ich schon auf dem Massengrab stand. Der Italiener hatte keine Ahnung davon. Ich war im Zweifel, ob ich ihm sagen solle, daß er und ich auf zwei Dutzend verscharrten Leichen stünden. »Hier in der Lichtung«, sagte ich, ich beherrsch-te mich im letzten Augenblick, »haben wir als Kinder oft Fangen gespielt«, und ich erklärte ihm unser Fangenspiel. Er meinte, die Floren-tiner Kinder spielten dasselbe Fangenspiel. Ich konnte sogar in der Finsternis die Umrisse des Massengrabes, den ›hellen Fleck‹ im Gras sehen. Ich bin über zehn Jahre, glaube ich, nicht mehr in der Lichtung gewesen, und jetzt schon zum viertenmal innerhalb von drei Tagen; auch mit dem Italiener. Ich sagte, das noch Fürchterli-chere rasch zurückdrängend: »Mein Vater wollte

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im Lusthaus aufgebahrt sein. Auch sein Vater hat sich im Lusthaus aufbahren lassen.« Und dann: »Er nannte es oft auch ›Das Schlachthaus‹.« Zum viertenmal in drei Tagen, dachte ich. Um dann doch, was mir wichtig erschien, aus vieler-lei Gründen, auch den Italiener in bezug auf das Massengrab aufzuklären, schaute ich, daß wir weiterkamen; wir machten, von mir geführt, den Umweg über die Brücke. Der Italiener war erstaunt, als ich, gerade auf der Brücke, sagte: »Hier gibt es ein Massengrab, und zwar in der Lichtung, aus der wir uns gerade entfernt ha-ben. In der Lichtung sind zwei Dutzend Polen begraben. Verscharrt«, sagte ich. Mit kurzen Sätzen erzählte ich, wie jedem seiner Vorgän-ger, dem Italiener die von meinem Vater stam-mende Geschichte, daß in der Lichtung zwei Dutzend Polen verscharrt sind, »gemeine Solda-ten«, sagte ich, »zwei Offiziere«. Ich könne mich, obwohl bei Kriegsschluß erst zwölf Jahre alt, noch an die Polen erinnern, »sie waren im Lusthaus untergebracht, sie hatten im Lusthaus das Kriegsende abgewartet, sie hatten Zuflucht gesucht im Lusthaus.« Aus den Erzählungen meines Vaters wisse ich, daß sie, zwei Wochen vor Kriegsschluß, von plötzlich in der Nacht aus dem Wald herausgekommenen Deutschen er-schossen worden sind. Die Leichen sollen vier-

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zehn Tage im Lusthaus gelegen sein und ›einen ungeheueren Gestank‹ verbreitet haben, den Hausleuten sei es verboten gewesen, das Lust-haus zu betreten. Meinem Vater sollen die Deutschen mit dem Erschießen gedroht haben, auch allen andern, die die Leichen aus dem Lusthaus befördern und eingraben wollten. »Halbwüchsige«, sagte ich, »Fünfzehnjährige, Sechzehnjährige.« Diese Geschichte habe ich jetzt schon zum drittenmal seit meiner Ankunft erzählt. »Wirklich gesehen hat die Erschossenen nur mein Vater.« Der Italiener schaute auf das Lusthaus und sagte: »Das ›Schlachthaus‹.« Ich sagte, daß ich, an dem Mordtag, das Schreien der Polen vom Lusthaus in mein Zimmer her-über gehört habe. Jahrelang hätte ich in der Nähe des Lusthauses und überall in der Welt in der Nacht dieses Schreien gehört. Mit diesem Schreien, das sich automatisch jedesmal mit meiner Annäherung an das Lusthaus verstärke, hätte ich zwei Jahrzehnte, bis zum heutigen Tag, zu kämpfen gehabt. »Mein ganzes Leben«, sagte ich, »habe ich immer geglaubt, dem Ge-schrei der an die Wand gestellten Polen nicht mehr entkommen zu können.« Der Italiener drehte sich um. »Unter den Ermordeten soll ein Potocki sein«, sagte ich. Der Italiener nahm meine Erzählung, meine Mitteilung schweigend

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auf. Nur mein Vater habe, sagte ich, lange Zeit, von dem Massengrab gewußt, niemand sonst; es sei längst die dafür zuständige Behörde ver-ständigt worden, doch habe sich bis heute noch niemand um das Massengrab, um das ›Polen-grab‹, wie meine Schwestern es nannten, ge-kümmert. »Wir gehen auch nie in die Lichtung«, sagte ich, »mit Ihnen bin ich, merkwürdig, in die Lichtung gegangen. Auch mit dem Freistädter. Mit dem Ungarn.« »Greuel«, sagte der Italiener und fragte mich, ob dieser Ausdruck stimme. Ich bejahte. »Die Polen«, sagte ich, »sind in das Lusthaus wie in eine Falle gegangen.« Nun wie-der meinen Vater betreffend, sagte der Italie-ner: »Erschossen«, und schaute auf das Lust-haus. »Ein Unglücksfall?« Wieder dachte ich: Liegt ein Selbstmörder mit durchschossenem Schädel im Lusthaus? »Ein so grauenhaft zer-störtes Gesicht«, sagte der Italiener. Um abzu-lenken, erkundigte ich mich noch einmal nach den politischen Verhältnissen in Italien. »Das Politische«, sagte er, »interessiert mich tatsäch-lich nur insofern, als es meinen Geschäften nützt; kann sein, daß meine Ehrlichkeit ver-blüfft.« Damit entledigte er sich eines ihm, wie ich feststellte, unangenehmen Gesprächs. »In Rom«, sagte er vereinfachend, »sitzen immer die falschen Leute, in jedem Staat sitzen in jeder

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Hauptstadt, in Parlament und Regierung, immer die falschen Leute.« Augenblicklich hatte ich an die Chartistenbewegung in England gedacht, dann an Zimmerwald, die mich beinahe unun-terbrochen, wenn auch oft gewaltsam zurückge-drängt, beschäftigten. Es waren jetzt wieder der Spartakusbund und das Rätesystem, Rosa Lu-xemburg und die Klara Zetkin. Zwei Stunden lang hatte ich alles, was mir schon seit Monaten ungeheuren Schmerz im Gehirn verursacht hat-te, meine ganze Arbeit, vergessen. Nur ein ein-ziges Mal noch kam ich aus meinen Gedanken, als der Italiener, der mich, nach kurzer Zeit schon, zu sich nach Florenz eingeladen hatte, nachdem wir über der Brücke waren, sagte: »Die Finsternis, die hier herrscht …«, und dann schwieg. Es gebe, sagte er, »kein Mittel, sich selbst zu entfliehen«. Was er, und zwar im Au-genblick, damit meinte, wußte ich nicht, wir standen gerade vor dem offenen Fenster, genau vor dem Toten.

(1963)

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Am elften, spät abends, nahmen hier im Gast-haus ein Mädchen und ein junger Mann, wie sich herausstellte, aus Mürzzuschlag, ein Zim-mer. Die beiden waren schon kurz nach ihrer Ankunft im Gastzimmer erschienen, um ein Nachtmahl einzunehmen. Ihre Bestellung ga-ben sie rasch, nicht im geringsten unbeholfen, auf, handelten jeder für sich dabei vollkommen selbständig; ich sah, daß sie gefroren hatten und sich jetzt, in Ofennähe, aufwärmten. Sie seien, meinten sie, über die Menschenlosigkeit, die hier herrsche, überrascht, und erkundigten sich, wie hoch Mühlbach liege. Die Wirtstochter gab an, daß wir uns über tausend Meter hoch befänden, das ist unwahr, ich sagte aber nicht »neunhundertachtzig«, ich sagte nichts, weil ich in der Beobachtung der beiden nicht gestört sein wollte. Sie hatten mich bei ihrem Eintreten in das Gastzimmer zuerst nicht bemerkt, waren dann, wie ich sah, über mich erschrocken, nick-ten mir zu, schauten aber nicht mehr zu mir herüber. Ich hatte gerade einen Brief an meine Braut zu schreiben angefangen, daß es klüger sei, schrieb ich ihr, noch eine Weile, bis ich selbst

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mich in Mühlbach eingewöhnt habe, bei ihren Eltern auszuharren; erst dann, wenn ich außer-halb des Gasthauses für uns beide, »möglicher-weise in Tenneck«, schrieb ich, zwei Zimmer für uns beschafft habe, solle sie herkommen. Sie hatte mir in ihrem letzten Brief, von den An-klagen gegen ihre verständnislosen Eltern abge-sehen, geschrieben, sie fürchte Mühlbach, und ich antwortete, ihre Furcht sei grundlos. Ihr Zu-stand verändere sich in der Weise krankhaft, daß sie jetzt alles fürchte. Dann, wenn das Kind da sei, schrieb ich, könne sie wieder klar sehen, daß alles in Ordnung sei. Es wäre falsch, vor Jahresende zu heiraten, schrieb ich, ich schrieb: »Nächstes Frühjahr ist ein guter Termin. Der Zeitpunkt, in welchem das Kind kommt«, schrieb ich, »ist in jedem Falle peinlich für die Umwelt.« Nein, dachte ich, das kannst du nicht schreiben, alles, was du bis jetzt in den Brief geschrieben hast, kannst du nicht schreiben, darfst du nicht schreiben, und ich fing von vorne an und zwar sofort mit einem Satz, in welchem ich Ange-nehmes, von unserm Unglück Ablenkendes, von der Gehaltserhöhung, die mir für August in Aussicht gestellt ist, berichtete. Der Posten in Mühlbach sei abgelegen, schrieb ich, dachte aber, Mühlbach ist für mich und für uns beide eine Strafe, eine Todesstrafe und schrieb: »In-

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nerhalb der Gendarmerie werden sie alle nach Gutdünken des Bezirksinspektors versetzt. Zu-erst habe ich geglaubt, die Versetzung nach Mühlbach sei für mich und für uns beide vor al-lem eine Katastrophe, jetzt nicht mehr. Der Po-sten hat Vorteile. Der Inspektor und ich sind ganz selbständig«, schrieb ich und dachte: eine Todesstrafe und was zu tun sei, um eines Tages wieder aus Mühlbach hinaus – und in das Tal und also zu den Menschen, in die Zivilisation hinunterzukommen. »Immerhin sind drei Gast-häuser in Mühlbach«, schrieb ich, aber es ist unklug das zu schreiben, dachte ich, und ich strich den Satz aus, versuchte ihn unleserlich zu machen und beschloß schließlich, den ganzen Brief ein drittes Mal zu schreiben. (In letzter Zeit schreibe ich alle Briefe drei- bis vier- bis fünfmal, immer gegen die Erregung während des Briefschreibens, meine Schrift selbst sowie meine Gedanken betreffend.) Die Gendarmerie sei eine gute Grundlage für uns beide, von der Gehaltserhöhung, von einer im Spätherbst in Wels zu absolvierenden Waffenübung schrieb ich gerade, als die beiden, seltsamerweise das Mädchen zuerst, hinter ihr der junge Mann, in das Gastzimmer eintraten, von der Frau des In-spektors, die in den Lungen krank und verloren sei und aus dem slowenischen Cilli stamme. Ich

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schrieb weiter, aber ich fühlte, daß ich auch die-sen Brief nicht abschicken werde können, die beiden jungen Menschen zogen meine Auf-merksamkeit vom ersten Augenblick an auf sich, ich stellte eine plötzliche vollkommene Konzen-trationslosigkeit meinerseits den Brief an meine Verlobte betreffend fest, schrieb aber weiter Unsinn, um die beiden Fremden durch die Täuschung, ich schriebe, besser beobachten zu können. Mir war es angenehm, einmal neue Gesichter zu sehen, um diese Jahreszeit kom-men, wie ich jetzt weiß, niemals Fremde nach Mühlbach, um so merkwürdiger war das Auf-tauchen der beiden, von welchen ich annahm, daß er Handwerker, sie Studentin sei, beide aus Kärnten. Dann aber bemerkte ich, daß die zwei einen steiermärkischen Dialekt sprachen. Ich erinnerte mich eines Besuches bei meinem stei-rischen Vetter, der in Kapfenberg lebt, und ich wußte, die beiden sind aus der Steiermark, dort reden sie so. Mir war nicht klar, was für ein Handwerk der junge Mann ausübt; zuerst dach-te ich, er sei Maurer, was auf Bemerkungen sei-nerseits, Wörter wie ›Mauerbinder, Schamotte‹ usw., zurückzuführen war, dann glaubte ich, er sei Elektriker, in Wirklichkeit war er Landwirt. Nach und nach wurde mir aus dem, was die beiden sprachen, eine schöne Wirtschaft, die

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noch von dem fünfundsechzigjährigen Vater des jungen Mannes geführt wurde, (›Hanglage‹, dachte ich), gegenwärtig. Daß der Sohn die An-sichten des Vaters, der Vater die Ansichten des Sohnes für unsinnig hält, daß sich der Vater ge-gen den Sohn, der Sohn gegen den Vater wehrt. ›Unnachgebigkeit‹, dachte ich. Eine Kleinstadt sah ich, in welche der Sohn einmal in der Wo-che zum Unterhaltungszweck hineinfährt, sich dort mit dem Mädchen, das er jetzt da am Ofen über seine Vorhaben, den väterlichen Besitz be-treffend, aufklärt, trifft. Er werde den Vater zwingen, aufzugeben, abzudanken. Plötzlich lachten die beiden, um dann für länger ganz zu verstummen. Die Wirtin brachte ihnen ausgiebig zu essen und zu trinken. Mich erinnerte, während sie aßen, vieles in ihrem Verhalten an unser eige-nes. So wie der junge Mann dort, habe auch ich immer zu reden, während sie schweigt. In al-lem, was der junge Mann sprach, drohte er. Drohung, alles ist Drohung. Ich höre, sie ist einundzwanzig (ist er älter?, jünger?), sie habe ihr Studium (Jus!) aufgegeben. Von Zeit zu Zeit erkenne sie ihre Ausweglosigkeit und flüchte dann in wissenschaftliche (juristische?) Lektüre. Er ›verschlechtere‹ sich, sie entdecke mehr und mehr eine von ihr so genannte angewandte

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Brutalität an ihm. Er würde seinem Vater im-mer noch ähnlicher, ihr mache das Angst. Von Faustschlägen in die Gesichter von Brüdern und Vettern, von schweren Körperverletzungen ist die Rede, von Vertrauensbrüchen, von Mit-leidlosigkeit seinerseits. Dann sagt sie: »Das war schön, auf dem Wartbergkogel.« Ihr gefalle sein Anzug, das neue Hemd dazu. Ihrer beider Schulweg führte durch einen finstern Hoch-wald, in welchem sie sich fürchteten, daran er-innerten sie sich: an einen aus Göllersdorf ent-sprungenen Häftling, der, in Häftlingskleidung, in dem Hochwald über einen Baumstamm ge-stürzt und an einer tiefen Kopfwunde verblutet und, von Füchsen angefressen, von ihnen aufge-funden worden ist. Sie redeten von einer Früh-geburt und von einer Geldüberweisung … Sie waren, wußte ich plötzlich, schon vier Tage aus der Steiermark fort, zuerst in Linz, dann in Steyr, dann in Wels gewesen. Was haben sie denn für Gepäck mit, dachte ich. Anscheinend ist es viel Gepäck, denn die Wirtin hat schwer getragen, ich höre sie noch, man hört, wie je-mand in den ersten Stock hinaufgeht zu den Fremdenzimmern. Zweimal ist die Wirtin hin-aufgegangen. Inzwischen, dachte ich, wird es in dem Zimmer warm sein. Was für ein Zimmer? Die Schwierigkeit in den Landgasthäusern ist

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im Winter die Beheizung. Holzöfen, dachte ich. Im Winter konzentriert sich, auf dem Land, fast alles auf das Einheizen. Ich sah, daß der junge Mann derbe hohe, das Mädchen aber städti-sche, dünne Halbschuhe anhatte. Überhaupt, dachte ich, ist das Mädchen für diese Gegend und für diese Jahreszeit völlig ungeeignet ange-zogen. Möglicherweise haben die beiden, dach-te ich, gar keinen Landaufenthalt vorgehabt. Warum Mühlbach? Wer geht nach Mühlbach, wenn er nicht gezwungen ist? Im folgenden hörte ich einerseits zu, was die beiden mitein-ander sprachen, während sie mit dem Essen aufgehört hatten, nunmehr noch Bier tranken, andererseits las ich, was ich fortwährend ge-schrieben hatte, durch, und ich dachte, das ist ein völlig unbrauchbarer Brief, rücksichtslos, gemein, unklug, fehlerhaft. So darf ich nicht schreiben, dachte ich, so nicht, und ich dachte, daß ich die Nacht überschlafen werde, am näch-sten Tag einen neuen Brief schreiben. Eine sol-che Abgeschiedenheit wie die in Mühlbach, dachte ich, ruiniert die Nerven. Bin ich krank? Bin ich verrückt? Nein, ich bin nicht krank und ich bin nicht verrückt. Ich war müde, gleichzei-tig aber wegen der beiden jungen Leute unfä-hig, aus dem Gastzimmer hinaus und in den er-sten Stock, in mein Zimmer zu gehn. Ich sagte

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mir, es ist schon elf Uhr, geh schlafen, aber ich ging nicht. Ich bestellte mir noch ein Glas Bier und blieb sitzen und kritzelte auf das Briefpa-pier Ornamente, Gesichter, die immer gleichen Gesichter und Ornamente, die ich schon als Kind immer aus Langeweile oder versteckter Neugierde auf beschriebenes Papier gekritzelt habe. Wenn es mir gelänge, plötzlich Klarheit über diese beiden jungen Menschen, Verlieb-ten, zu haben, dachte ich. Ich unterhielt mich mit der Wirtin, während ich den beiden Fremden zuhörte, alles hörte ich und plötzlich hatte ich den Gedanken, die bei-den sind ein Gesetzesbruch. Mehr wußte ich nicht, als daß das keine Normalität ist, so, wie die bei-den, spätabends mit dem Postautobus in Mühl-bach anzukommen und sich ein Zimmer zu nehmen, und tatsächlich fiel mir auf, gestattet die Wirtin den beiden wie Mann und Frau in einem einzigen Zimmer zu übernachten, und ich empfinde das als natürlich und ich verhalte mich passiv, beobachte, bin neugierig, sympa-thisiere, denke nicht, daß es sich da ohne Zwei-fel um etwas zum Einschreiten handelt. Ein-schreiten? Auf einmal fange ich mit Verbrechen in Zusammenhang mit den beiden zu spielen an, als der junge Mann mit lauter Stimme, im Befehlston, zu zahlen verlangt, und die Wirtin

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geht zu ihnen hin und rechnet die Konsumation zusammen und wie der junge Mann seine Brief-tasche öffnet, sehe ich, daß sehr viel Geld in ihr ist. Die Landwirtssöhne, so kurz sie von ihren Eltern gehalten sind, denke ich, heben doch dann und wann eine größere Summe von einem ihnen zur Verfügung stehenden Konto ab und geben sie, gemeinsam mit einem Mädchen, rasch aus. Die Wirtin fragt, wann die beiden in der Frühe geweckt werden wollen, und der jun-ge Mann sagt »um acht« und schaut jetzt zu mir herüber und legt für die Wirtstochter ein Trinkgeld auf den Tisch. Es ist halb zwölf, wie die beiden aus dem Gastzimmer sind. Die Wir-tin räumt die Gläser zusammen, wäscht sie ab und setzt sich dann noch zu mir. Ob ihr die beiden nicht verdächtig vorkommen, frage ich sie. Verdächtig? »Natürlich«, gibt sie mir zu ver-stehen. Wieder versucht sie, sich mir auf die gemeinste Weise zu nähern, ich stoße sie aber weg, mit der Stablampe an die Brust, stehe auf und gehe in mein Zimmer. Oben ist alles ruhig, ich höre nichts. Ich weiß, in welchem Zimmer die beiden sind, aber ich höre nichts. Während des Stiefelausziehens glaube ich, daß da ein Geräusch war, ja, ein Geräusch. Tatsächlich horche ich längere Zeit, aber ich höre nichts.

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In der Frühe, um sechs, denke ich, ich habe nur vier Stunden geschlafen, bin aber frischer als sonst, wenn ich schlafe, und ich frage im Gast-zimmer unten die Wirtin, die den Boden auf-reibt, sofort, was mit den beiden sei. Sie hätten mich die ganze Nacht lang beschäftigt. Er, der junge Mann, sagte die Wirtin, wäre schon um vier Uhr früh wieder aufgestanden und aus dem Haus gegangen, wohin, wisse sie nicht, das Mädchen sei noch auf seinem Zimmer. Die bei-den seien gänzlich ohne Gepäck, sagte die Wir-tin jetzt. Ohne Gepäck? Was hat sie, die Wirtin, dann gestern abend so schwer in das Zimmer der beiden hinaufgetragen? »Holz.« Ja, Holz. Jetzt, nachdem der junge Mann schon um vier Uhr früh weggelaufen ist (»Ich bin aufgewacht und hab’ ihn beobachtet«, sagt die Wirtin, »oh-ne Mantel bei der Kälte, weg« … ), sei ihr, was die beiden anbelangt, »unheimlich«. Ob sie ih-nen die Pässe abverlangt habe, Ausweise, fragte ich. Nein, keinen Paß, keinen Ausweis. Das sei strafbar, sagte ich, ich sagte das aber in einem Ton, der zu nichts führt. Ich frühstückte, dachte aber immer an die zwei Fremden und auch die Wirtin dachte an sie, wie ich beobachten habe können, und den ganzen Vormittag, an wel-chem ich mit dem Inspektor zusammen auf dem Posten verbracht habe, nicht ein einziges

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Mal habe ich den Posten verlassen müssen, ha-ben mich die zwei Fremden beschäftigt. Warum ich dem Inspektor nichts von den beiden er-zählt habe, weiß ich nicht. Tatsächlich glaubte ich, es würde nicht mehr lange (Stunden?) dau-ern und es hieße einschreiten. Einschreiten? Wie und auf Grund von was einschreiten? Berichte ich dem Inspektor von dem Vorfall, oder berichte ich ihm nichts davon? Ein Liebespaar in Mühl-bach! Ich lachte. Dann schwieg ich und machte meine Arbeit. Es waren neue Einwohnerlisten aufzustellen. Der Inspektor bemüht sich, seine Frau aus der Lungenheilstätte Grabenhof in die von Grimmen zu bringen. Das koste, meinte er, viel Gesuchsanstrengung, viel Geld. Aber in Grabenhof verschlechtere sich ihr Zustand; in Grimmen sei ein besserer Arzt. Er werde einen ganzen Tag Urlaub nehmen und nach Graben-hof fahren und seine Frau nach Grimmen brin-gen müssen. Die zwanzig Jahre, die er und seine Frau in Mühlbach gelebt haben, hätten genügt, um sie, die aus der Stadt Hallein stammt, zu einer Todkranken zu machen. »Ein normaler Mensch wird ja da in der guten Luft, auf der Höhe heroben, nicht lungenkrank«, sagte der Inspektor. Ich habe die Inspektorin nie gese-hen, denn solange ich in Mühlbach bin, ist sie nie mehr nach Hause gekommen. Seit fünf Jah-

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ren liegt sie in der Heilstätte Grabenhof. Er er-kundigte sich nach meiner Verlobten. Er kennt sie, hat sogar mit ihr, wie sie das letzte Mal in Mühlbach gewesen ist, getanzt, der alte, dicke Mann, denke ich, ihn anschauend. Es sei »Wahn-sinn«, zu früh, genauso »Wahnsinn«, zu spät zu heiraten, sagte er. Er gestattete mir in der zwei-ten Vormittagshälfte (»schreib«, kommandierte er) den Brief an meine Braut endgültig zu schreiben. Auf einmal hatte ich einen klaren Kopf für den Brief. Das ist ein guter Brief, sagte ich mir, als ich damit fertig war und in ihm ist nicht die kleinste Lüge. Ich würde ihn rasch aufgeben, sagte ich und ging zum Postautobus hinüber, der schon warmgelaufen war und gleich, nachdem ich dem Fahrer meinen Brief gegeben hatte, abfuhr, an dem Tag, vom Fahrer abgesehen, ohne einen einzigen Menschen. Es hatte einundzwanzig Grad Kälte, ich las das ge-rade neben der Gasthaustür vom Thermometer ab, als mich die Wirtin, im offenen Gang ste-hend, ins Gasthaus hineinwinkte. Sie klopfe schon stundenlang immer wieder an das Zim-mer, in welchem das Mädchen liege und be-komme keine Antwort, sagte sie, »nichts«. Ich ging sofort in den ersten Stock hinauf und zu der Zimmertür und klopfte. Nichts. Ich klopfte noch einmal und sagte, das Mädchen solle auf-

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machen. »Aufmachen! Aufmachen!« sagte ich mehrere Male. Nichts. Da kein zweiter Zimmer-schlüssel da ist, müsse man die Tür aufbrechen, sagte ich. Die Wirtin gab wortlos ihr Einver-ständnis, daß ich die Tür aufbreche. Ich brauch-te nur einmal kräftig meinen Oberkörper an den Türrahmen drücken und die Tür war offen. Das Mädchen lag quer über das Doppelbett, bewußtlos. Ich schickte die Wirtin zum Inspek-tor. Ich konstatierte eine schwere Medikamen-tenvergiftung bei dem Mädchen und deckte es mit dem Wintermantel zu, den ich vom Fenster-kreuz heruntergenommen hatte, offensichtlich war das der Wintermantel des jungen Mannes. Wo ist der? Unausgesprochen fragte sich jeder, wo der junge Mann ist. Ich dachte, daß das Mädchen den Selbstmordversuch tatsächlich erst nach dem Verschwinden des jungen Mannes (ihres Verlobten?) unternommen hat. Auf dem Boden verstreut lagen Tabletten. Der Inspektor war ratlos. Nun müsse man warten, bis der Arzt da sei, und alle sahen wir wieder, wie schwierig es ist, einen Arzt nach Mühlbach herauf zu be-kommen. Es könne eine Stunde dauern, bis der Arzt kommt, meinte der Inspektor. Zwei Stun-den. In Mühlbach nur nie in die Lage kommen, einen Arzt zu brauchen, sagte er. Namen, Da-ten, dachte ich, Daten, und ich durchsuchte die

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Handtasche des Mädchens, erfolglos. Im Man-tel, dachte ich und ich suchte in dem Mantel, mit dem ich das Mädchen zugedeckt hatte, nach einer Brieftasche. Tatsächlich befand sich in dem Mantel die Brief-tasche des jungen Mannes. Auch sein Paß war in dem Mantel. WÖLSER ALOIS, GEB. 27. 1. 1939 IN

RETTENEGG, RETTENEGG BEI MÜRZZUSCHLAG, las ich. Wo ist der Mann? Ihr Verlobter? Ich lief ins Gastzimmer hinunter und verständigte per Telefon alle Posten von dem Vorfall, der mir für einen Haftbefehl gegen Wölser ausreichend er-schien. Mit dem Arzt hat es größte Eile, dachte ich, und als der eine halbe Stunde später er-schien, war es zu spät: das Mädchen war tot. Das vereinfacht jetzt alles, dachte ich, das Mäd-chen bleibt in Mühlbach. Die Wirtin drängte, daß man die Leiche aus dem Gasthaus hinausschaffe, in die Leichen-kammer hinüber. Dort lag das Mädchen, unun-terbrochen von den neugierigen Mühlbachern angestarrt, zwei Tage, bis seine Eltern ausge-forscht werden konnten und am dritten Tag endlich in Mühlbach erschienen, die Wölser, Wölsers Eltern, die auch die Eltern des Mäd-chens waren, der junge Mann und das Mädchen waren, wie sich zum Entsetzen aller herausstell-te, Geschwister. Das Mädchen wurde sofort nach

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Mürzzuschlag überführt, die Eltern begleiteten es im Leichenwagen. Der Bruder und Sohn blieb dann unauffindbar. Gestern, den achtundzwanzigsten, fanden ihn überraschend zwei Holzzieher knapp unterhalb der Baumgrenze über Mühlbach erfroren und mit zwei von ihm erschlagenen schweren Gem-sen zugedeckt.

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«Dieser Band enthält drei Erzählungen von Thomas Bern-hard, eine umfangreiche (den ‹Kulterer›), eine mittellange (‹Der Italiener. Ein Fragment›) und eine kürzere (‹An der Baumgrenze›). Thomas Bernhards Welt besteht zwar aus Gutshofbesitzern oder Bezirksinspektoren, aber diese Welt ist aus den Fugen geraten. Alles in ihr bricht auseinander, und es ist überhaupt nur noch Bernhards Sprache, die sie, in einer Art Todesangst, zusammenhält. Mit besonders korrekten, ordent-lichen Sätzen schafft er da noch einmal Ordnung, wo ohne diese Sätze Chaos wäre, die Scharniere der unzähligen Neben-sätze wirken auf mich wie völlig verzweifelte Versuche, die ‹Wirklichkeit› mit Hilfe von geschriebenen Sätzen daran zu hindern, vollends auseinanderzukrachen und Autor und Leser abstürzen zu lassen» (Urs Widmer in der «Frankfurter Allge-meinen Zeitung»). Thomas Bernhard, geboren am 10. Februar 1931 in Heerlen (Holland), studierte – nach einer kaufmännischen Lehre und Tätigkeiten als Gerichtsreporter und Bibliothekar – Musik am Mozarteum in Salzburg. 1957 erschien sein erster Gedicht-band. Seither trat er jedoch vor allem als Erzähler und Drama-tiker («Ein Fest für Boris», «Die Jagdgesellschaft», «Der Präsi-dent» u. a.) hervor. Er erhielt mehrere bedeutende Auszeich-nungen, so 1970 den Georg-Büchner-Preis. Zu seinen letzten Prosa-Veröffentlichungen gehören der Roman «Korrektur» und die Bände «Die Ursache. Eine Andeutung», «Der Keller. Eine Entziehung» und «Der Atem. Eine Entscheidung».Thomas Bernhard lebt in Ohlsdorf (Österreich).