angst erk ran kung

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  • 187D e r M e r k u r s t a b | 5 5 . J a h r g a n g | 2 0 0 2 | H e f t 3

    Wenn wir uns den Phnomenen der Angster-krankungen nhern wollen, ist es fr ein an-throposophisch erweitertes Verstndnissinnvoll, sich zunchst den Grundlagen des menschli-chen Seelenlebens berhaupt zuzuwenden, insbeson-dere der leiblichen Grundlage seelischer Phnomene.Ein Verstndnis der Zusammenhnge bzw. bergngedes Leiblichen ins Seelische und umgekehrt ist zentralfr ein angemessenes, d. h. nicht dualistisches psycho-somatisches Verstndnis. Eine grundlegende Skizzedazu gibt Rudolf Steiner im sogenannten Entfesse-lungsvortrag (1), den er selbst als Grundlage fr eineanthroposophische Psychiatrie beschreibt. Im folgen-den Artikel soll dieser Vortrag bezogen auf Angst-Ph-nomene bzw. -Erkrankungen ausgearbeitet werden.

    Wo etwas entfesselt werden kann, muss es vorhergefesselt worden sein. Dies fhrt uns gewisserma-en direkt ins Herz des anthroposophischen Weltbil-des, nmlich zur Frage der Weltentstehung. In diesemSinne ist die gesamte sinnlich-sichtbare physischeWelt entstanden aus gefesselten Krften bzw. Pro-zessen, aus angehaltenen, frher beweglichen gei-stigen Formen: Am Anfang war das Wort (Genesis),das geistig-wesenhafte Wort, der Logos. Was ge-schieht, wenn bewegliche, geistige Formen aus der Be-wegung herausfallen, angehalten werden? RudolfSteiner beschreibt dies im Zyklus Welt der Sinne,Weltdes Geistes (2) als Zerbrechen der geistigen Formen.In diese zerbrochenen Formen kann sich Materie hin-einlagern, wodurch die geistigen Formen physischsichtbar werden (z. B. als Mineral). Dieser Vorgang istrein intellektuell nicht leicht zu verstehen, man mussdie innere Bewegung meditativ nachfhlen bzw. mit-machen, um ihre Bedeutung zu erleben. Dieser Vor-gang ist zentral fr das anthroposophische Weltver-stndnis, denn er berwindet den heute vorherr-schenden Dualismus zwischen geistigen und mate-riellen Zustnden und fhrt zu einem spirituellenMonismus als Antwort auf den im ffentlichen Diskurs gegenwrtig vorherrschenden materiellenMonismus. Im Gegensatz zu diesem gibt es aus demVerstndnis eines spirituellen Monismus heraus keineGestalt ohne geistige Formkrfte. Die physischen For-

    Phnomene der Angsterkrankung und Ansatzpunkte fr eine psychotherapeutische Behandlung aus anthroposophischer SichtE c k h a r d R o e d i g e r

    ZusammenfassungEin geisteswissenschaftlich fundiertes Welt- undMenschenbild hilft uns, Phnomene der Angster-krankungen umfassender zu verstehen und zu behandeln. Besonders im sog. Entfesselungs-vortragaus GA 174 skizziert Rudolf Steiner den Einfluss der Widersacher auf die aus der Leibbin-dung frei werdenden Seelenkrfte. Nach einer Ein-fhrung werden auf dieser Grundlage die Erschei-nungsformen der verschiedenen Angsterkrankun-gen zugeordnet und systematisiert. Anschlieendwird ein anthroposopisch fundierter Psychothera-pieansatz dargestellt, der sowohl die Anregungeneiner Ich-Wissenschaft von G. Khlewind als auchetablierte Psychotherapieverfahren integriert. Schlsselwrter:Entfesselungsvortrag Angsterkrankungen Generalisierte Angststrung Panik Phobien Psychotherapie Anthroposophische Psychotherapie

  • O r i g i n a l i a | R o e d i g e r | P h n o m e n e d e r A n g s t e r k r a n k u n g188

    men folgen geistigen Formen bzw. sind deren sichtba-rer Ausdruck, deren Leichname. In diesem Sinne istdas, was wir mit den Sinnen sehen nicht das Wesent-liche, das Bewirkende, sondern nur dessen physischerAbdruck. Diesen Abdruck fr das Wesentliche zu hal-ten, ist Tuschung.

    Materie ohne die Reste von Wirkungen formendergeistiger Krfte zerfllt zu Staub. Dieser Prozess wird inunserer physikalischen Sprache als Entropie bezeich-net. Die Bildekrfte wirken diesem Prozess entgegen.Sie gehen nicht von der Materie aus, sondern sie brin-gen die Materie hervor. Alle Gestaltungen der minera-lischen, der pflanzlichen und der tierischen Welt sinddemnach geronnene Prozesse bzw. die Wirkung vonElementarwesen, die sich in die Formbildung geopferthaben, indem sie ihr freies Eigenleben und ihre indivi-duelle Entwicklung angehalten bzw. aufgegeben ha-ben. Deshalb sollten wir gegenber der uns umgeben-den Natur Dankbarkeit empfinden. Diese Krfte bzw.Elementarwesen erhalten zum Beispiel eine minerali-sche Form gegen die Formvernichtungskraft der Ent-ropie aufrecht. Die physisch sichtbare Mineralform istgewissermaen die Ausscheidung des Elementarwe-senswirkens, das selbst unsichtbar bleibt. Ebenso sinddas Holz eines Baumes oder die Haare und Ngel einestierischen Organismus Ausscheidungsprodukte le-benserhaltender innerer, unsichtbarer Prozesse.

    Auch unser Leib ist Ausdruck der Krfte und Prozes-se der Natur, ist durch Fesselung derselben aus derNatur herausgestaltet; ein von den Hierarchien gebau-ter Tempel Gottes. Insofern ist die Leibbildung (noch)geschtzt und der Leib ist uns verlssliche Sttze undGrundlage fr unser Seelen- und Gedankenleben. Die-ses Seelen- und Gedankenleben entsteht, weil sich indiesen Natur-Organismus ein geistiger Mensch hin-einschiebt, der die geformten, in Gestaltungen ge-bundenen bzw. gefesselten Krfte befreit (entfes-selt). Dieser geistige Mensch in uns entfaltet sein leib-liches Wirken lngs dem Nerven-Sinnes-System, indemer die wieder beweglich und formbar gewordenenKrfte durch seine Denkttigkeit in neue seelisch-gei-stige Formen gestalten. In diesem Sinne sind wirSchpfer unseres eigenen, geistigen Weltbildes. In die-

    sem Gedanken-, Gefhls- und Willensform-Bildungs-prozess sind wir frei; dieser Prozess ist nicht mehr vonden Hierarchien geschtzt. Dadurch knnen Widersa-chermchte mit ihren Gestaltungsinteressen an unsherantreten und in den Schpfungsprozess eingreifen,d. h. unsere Krfte fr ihre Ziele nutzen und uns ver-fhren bzw. versuchen (Abbildung 1).

    Am besten gelingt ihnen das, wenn wir emotionalaufgewhlt sind, denn dann sind viele Leibbildekrfteentfesselt und stehen fr Seelenformen zur Verfgung.

    Wenn wir im Seelengleichgewicht sind und in Ge-dankenruhe unsere Gedankenformen logosgem bil-den (d. h. die Welt richtig verstehen), bringen wir allefrei gewordenen bzw. entfesselten Leibbildekrftegleich wieder in geistgem gebildeten Gedankenfor-men. Dadurch kann in uns ein wahres, logosgemesBild der geschaffenen Welt entstehen, das von hherenHierarchien mit Freude wahrgenommen wird, diesenals Nahrung dient.

    In Momenten starker Erregung oder Erschtterungwerden mehr Krfte freigesetzt als wir logosgemneu formen knnen (besonders wenn unsere Denk-kraft nicht geschult ist). Der Volksmund drckt das soaus:Wir knnen nicht mehr klar denken, fhlen uns be-nebelt, in extremen Situationen verschlgt es uns dieSprache (und damit auch das Denken).

    Dennoch stehen die entfesselten Krfte fr Neufor-mungen zur Verfgung wenn nicht logosgem,dann unter luziferischem, ahrimanischem oder ande-rem Einfluss. Unter luziferischem Einfluss entstehennicht Ich-hafte, nicht spezifisch menschliche, sonderntierhafte Formen des Willenslebens, meist mit zwin-gendem Charakter. Wenn wir unser Ich-Erleben mitdiesen Formen verbinden, entsteht ein positiv-lustvol-les Gefhl, whrend wir egoistische, unwahre Formenin unserem Gewohnheitsleib bilden (sog. Doppelgn-ger- oder Ego-Leib im Sinne von Khlewind (3)).Wir sindgeneigt, an diesen Formen zu haften, sie wiederholenzu wollen. Mit jeder Wiederholung werden sie mchti-ger in uns. So erzeugen bzw. schaffen wir die innereTiernatur in uns. In der Versuchung des heiligen Anto-nius auf dem Isenheimer Altar ist dieses Spannungs-

    Abb. 1

    Potentielles

    Formung

    Geformtes

    Zukunft

    Gegenwart

    Vergangenheit

    PhantasieKreativitit

    Denkttigkeit

    GedachtesGewohnheit

    LogosGesetz

    Geistesgegenwart

    Egoitt

    Geist

    berbewusstsein

    Bewusstsein

    Unterbewusstsein

    Leib

  • 189D e r M e r k u r s t a b | 5 5 . J a h r g a n g | 2 0 0 2 | H e f t 3

    feld zwischen Bewusstseinsseele in Gestalt des Anto-nius und den seelischen Tieren, die er aus seiner Seeledurch Geistesgegenwart heraus gesetzt hat, die aberimmer noch an ihm zerren, verbildlicht. Die Ttigkeitdes heiligen Antonius ist damit gewissermaen einUrbild der psychotherapeutischen Aufgabe.

    Unter ahrimanischem Einfluss geht unserem Den-ken die Lebendigkeit verloren. Die gebildeten Gedan-kenformen werden abstrakt, mechanisch, nominalis-tisch. Ein Bezug zu dem im Denken erfassten Wesens-wirken ist nicht mehr erlebbar. Wir sind mit den Ge-dankenformen nicht mehr innerlich verbunden, sieknnen ein zunehmendes Eigenleben entfalten.

    Betrachten wir nun das Hineinwirken der Widersa-cher in das entfesselte Gefhlsleben vor dem Hinter-grund des Entfesselungsvortrags etwas genauer: DieEntfesselung geschieht entlang dem Nerven-Sinnes-System, das Steiner als das physische Abbild der see-lisch-geistigen Seite des Menschen bezeichnet. DiesesNerven-Sinnes-System ist dreigegliedert in ein Gan-gliengeflecht, ein Rckenmarkssystem einschlielichden daraus entspringenden sympathischen und para-sympathischen Nerven und in das Gehirn, insbesonde-re dessen Cortex. Das Gangliensystem ordnet Steinerden Willensprozessen, das Rckenmarkssystem demFhlen und das Gehirn der Denkttigkeit (Abbildung 2)zu. Den Entfesselungsvorgngen ordnet er auf jederEbene durch ahrimanischen oder luziferischen Einflussentstandene Symptome zu, die er (noch relativ allge-mein bleibend) auf allen drei Ebenen als Formen vonSomnambulismus und Wahnsinn bezeichnet.

    Dem Rckenmarks- bzw. vegetativen Nervensystemordnet Steiner das Fhlen zu. Die luziferische Tendenzzeigt sich im Fhlen immer dann, wenn wir unser Erle-ben verschmelzend in die Umgebung ausdehnen, ge-wissermaen in diese hineintrumen, zum Beispielwenn wir einen Film sehen, intensiv Musik hren oderuns beim Fuball mitreien lassen. Im Grunde also im-mer, wenn wir sehr intensiv sympathisch mitfhlen.

    Auf der anderen Seite zeigt sich die ahrimanischeTendenz immer dann, wenn wir uns von der Welt ab-geschnitten fhlen, zum Beispiel in fremder Umge-

    bung einsam oder beklommen oder in traurigen Mo-menten in uns eingeschlossen.

    Unter dem Aspekt der Angsterkrankungen wollenwir auf der Ebene des Fhlens diese beiden Grundten-denzen genauer betrachten, denn hier finden wir na-turgem den Schwerpunkt des Angsterlebens. Wirknnen zwei Tendenzen differenzieren, die sich jedochmischen, abwechseln bzw. ineinander bergehen kn-nen: Zum einen gibt es Gefhle der Panik bzw. der un-differenzierten, generalisierten Angst und andererseitsphobische ngste vor konkreten Gegenstnden bzw.Situationen.

    Generalisierte ngste bzw. Panik gehen einher miteinem Gefhl einer inneren Auflsung, die Bindung anden Leib ist gelockert, physiologische Vorgnge werdenverstrkt, aber wenig beeinflussbar mit einem Gefhlder Ohnmacht wahrgenommen. Die Angstgefhlesteigen von unten her in uns auf wie eine Welle, die dasIch-Gefhl zu verschlingen bzw. aufzulsen droht. Inextremen Situationen werden die Betroffenen blindvor Angst; in Panik handeln sie unbewusst-automa-tisch bzw. zeigen unbewusst ausgebte Verhaltens-stereotypien. Von auen angesprochen wirken dieseMenschen kaum erreichbar, wie in Trance. Man mch-te sie schtteln und aufwecken. Dies knnte man alseine Form von Somnambulismus bezeichnen.

    Physiologisch betrachtet werden astralische Krfteaus ihrer Leib-Bilde-Ttigkeit entfesselt und zu patho-logisch-inspirativen Gefhlsformen neu gebildet. DasSeelenleben dehnt sich dadurch nach innen unter dasZwerchfell hin aus und schafft ein Erleben krperlicherVorgnge, die sonst unterbewusst bleiben. So entste-hen Gefhle des eingeengten Luftstroms in den Atem-wegen als Beklemmungsgefhl oder Atemnot, ein ver-strktes Erleben der Herzttigkeit als Palpitation, Erle-ben des Blutflusses als Ohrensausen oder Schwindel,Ttigkeiten des Tastsinnes als Kribbeln oder Taubheits-gefhle, Darmbewegungen als Krmpfe. Hier entstehtnun ein Teufelskreis: Je strker diese Wahrnehmungenals bedrohlich erlebt werden, desto mehr steigt die in-nere Erregung. Die innere Erregung fhrt zu verstrkterEntfesselung der leibgebundenen Astralkrfte, so dass

    Ich

    Ganglien

    unbewusster Ich-Ausdruck

    (Luzifer)

    egoistisch

    Wollen

    Astralleib

    Rckenmark

    hinflieen/abgrenzen

    ambivalent

    Fhlen

    therleib

    Gehirn

    der Umgebunghingeben

    (Ahriman)

    berformt

    Denken

    Zum Entfesselungsvortrag Abb. 2

  • O r i g i n a l i a | R o e d i g e r | P h n o m e n e d e r A n g s t e r k r a n k u n g190

    noch mehr freie Astralkrfte fr abnorme Gefhlsbil-dungen zur Verfgung stehen, die wiederum bengsti-gend und aufregend erlebt werden.

    Auf der anderen Seite begegnen wir den phobischenngsten, bei denen die Bedrohung als von auen kom-mend, berwltigend und lhmend erlebt wird. Auchhier begegnet uns wieder eine gewisse pathologischeHellfhligkeit, diesmal jedoch nicht der Stoffwechsel-ttigkeit gegenber, sondern dem, was hinter der sin-nenflligen Natur steckt, das hinter den Dingen etwasMchtigeres,Wirkendes ahnt. Man knnte davon spre-chen, dass hinter den Sinnen etwas gewhnt wird (al-so eine Form von Wahnsinn); die Patienten hren dasGras wachsen. Gegenber diesem Gewhnten fhlensich die Betroffenen klein, hilflos, ohnmchtig, ge-lhmt, manchmal wie gefesselt und versuchen dieseSituation durch Rckzug zu vermeiden.

    Physiologisch treten bei beiden Formen der ngsteeine flache schnelle Atmung und verstrkte Ausschei-dungen (Schwitzen, Harn- und Stuhldrang, manchmalauch Trnen) auf als Ausdruck davon, dass die ber-schieende Seelenttigkeit die therische leiblicheGrundlage auspresst.

    Symptome der AngsterkrankungenBedingt durch seine physische Konstitution hat der

    moderne Mensch physiologisch nur noch eine vermin-derte Wahrnehmungsfhigkeit gegenber dem We-senswirken in seiner Umwelt 1 und auch gegenberdem Weltenwirken in seinen Krperfunktionen bzw.seinem Stoffwechsel 2. Seine Sinnesorgane lassen nureine reduzierte Wahrnehmung der ihn umgebenden,geformten Natur bzw. seiner Krperfunktionen zu. Da-durch entsteht ein begrenztes seelisches Erleben, dasdurch die gesunde Denkkraft 3 angemessen geglie-dert werden kann 5, so dass hinreichend wahre Urtei-le sowohl gegenber dem Natur-, als auch gegenberdem Schicksalserleben mglich sind. Das heit, wirknnen in unserem biographischen Handeln ange-messene bzw. sinnvolle Antworten auf unser Erlebenfinden 6. Dadurch knnen wir unser Seelenleben so re-gulieren bzw. beruhigen, dass keine Strungen der Kr-perfunktionen auftreten 4.

    Bevor wir zur Therapie kommen, wollen wir dieSymptome der Angsterkrankungen bezogen auf diedrei im Entfesselungsvortrag gegebenen Ebenen zusammenfassen (die Ziffern im Kreis beziehen sichauf die funktionellen Zuordnungen in der Abbildung 3):

    Ein berschuss an freien seelisch-astralischen Krf-ten kann aus zwei Grnden entstehen: Zum einen kanndie Bindung der seelischen Krfte an die Organe ge-strt sein, z. B. durch eine konstitutionell-erblicheSchwche, durch Strungen der Organbildung in derKindheit (z. B. durch mangelnde Bindung bzw. emotio-nale Instabilitt) oder spter durch aktuelle krperlicheSchwchen (z. B. Schlafmangel, Krankheiten, Schwan-gerschaft und Entbindung etc.).

    Andererseits kann eine vermehrte Freisetzung or-gangebundener astralischer Krfte im Sinne eines ver-mehrten Abbaus bestehen, z. B. bei starken seelischenErschtterungen, insbesondere Traumatisierungen,an-dere starke seelische Erregungen oder berreizungen).

    Die freien seelisch-astralischen Krfte stehen fr eingesteigertes, pathologisches Hell-Fhlen zur Verf-gung, das nicht in logosgeme Gedankenformen gegliedert werden kann 3 und zu nicht Ich-haften Willensimpulsen bzw. Handlungen fhrt.

    Zum Leib hin kann es zu einer gesteigerten Wahr-nehmung physiologischer Vorgnge 2 kommen, dieangsthaft verarbeitet werden (Panik). Zur Umwelt hinkommt es zu einem Whnen von Wirksamkeiten hinterden Objekten der Sinneswahrnehmung 1, das norma-lerweise in unserer heutigen Zeit durch die Physiologieunserer Sinnesttigkeit herabgelhmt wird (Phobie).

    Auf der Ebene des Wollens kann es zu impulsiven,kopflosen Handlungen kommen oder zum vermei-denden Rckzugsverhalten. Auf der Ebene des Denkenskommt es entweder zu alogischen, assoziativ-gelo-ckerten Gedankenketten oder zu starren, stereotypenmechanischen Gedankenkreisen. In den beiden Rich-tungen zeigt sich jeweils die auflsend-luziferischebzw. die lhmend-erstarrende ahrimanische Tendenz.

    In Abbildung 3 sind die beschriebenen Zusammen-hnge noch einmal schematisch dargestellt.

    1

    2

    3

    4

    56

    (geahntes Wesenswirken in der Umwelt)

    geformteNatur

    (gefhltes Weltenwirken im Stoffwechsel)(Panik)

    (Phobie)

    Sinnes-wahrnehmung

    Konstitution

    seelisches Erlebnis

    Schicksaldenken

    Urteil

    handelnKrperfunktion

    Abb. 3:Krnkende ( )

    und gesunde ( )Wirkungen auf das

    Seelenleben.(Einzelheiten imText. Die Ziffern

    beziehen sich aufdie genannten 6

    Therapieschritte.)

  • Therapeutischen Aufgaben und Ansatzmglichkeiten

    Welche therapeutischen Aufgaben und Ansatz-mglichkeiten ergeben sich daraus zur Behandlungvon Angsterkrankungen?

    Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich, dass see-lische Gesundheit dann von uns erreicht werden kann,wenn wir die entfesselten Seelenkrfte wieder in an-gemessener Weise durch unsere bewusste, Ich-hafteTtigkeit in der Seele geistgem neu ordnen knnen.Seelische Gesundheit ist also nichts Geschenktes, son-dern muss von uns in all unseren Ttigkeiten errungenwerden. Dies ist der Grundgedanke der Salutogenese(4): In allem, was wir tun, stehen wir zwischen denWidersachern und mssen ihren Einflssen bewusstbegegnen. Da wir in den entfesselten Seelenkrften eine physiologische Schwachstelle haben, an denendie Widersacher ansetzen, ist seelische Gesundheitohne bewusste Selbsterziehung heute nicht mehrmglich. Denn das Seelenleben findet in sich selbstnaturgem keinen Halt. Halt findet es in drei Rich-tungen:

    1. In der Hinwendung auf die geformte Welt, sei esdie Natur oder von Menschen geschaffene Gegen-stnde. Wer sein Herz an Gegenstnde hngt,riskiert, den Verlust der Dinge als Selbstverlust zuerleben2. Durch die Bindung an andere Menschen, z. B.innerhalb der Familie oder in Freundschaften.Die Verbindung mit anderen Menschen birgt das Risiko, dass Trennungen von diesen Menschen alsSelbst-Verlust erlebt werden3. Durch die Verbindung mit selbstgewhlten gedanklichen Inhalten geistiger oder religiser Natur. Diese Verbindung ist weitgehend unabhn-gig von ueren Gegebenheiten, hat aber denNachteil, dass sie uns Menschen nicht a priori zurVerfgung steht, sondern individuell erarbeitetwerden muss.Psychotherapie kann in diesem Sinne Anleitung zur

    Selbsterziehung bzw. Selbstschulung sein bzw. die Vor-aussetzungen dazu schaffen, dass diese freien Ent-wicklungsschritte wieder mglich werden. Dieser Ge-danke greift eine Meditation Steiners auf, die er im 1. Rundbrief, im Anschluss an den Weihnachtskurs frJungmediziner gegeben hat (5):

    Es war in alten Zeiten,da lebte in der Eingeweihten Seelenkraftvoll der Gedanke,dass krank von Natur ausein jeglicher Mensch sei.Und Erziehen ward angesehengleich dem Heilprozess,der dem Kinde mit dem Reifendie Gesundheit zugleich erbrachtefr des Lebens vollendetes Menschsein.

    Grundlage zu diesem gesundheitsschaffendenSelbsterziehungsprozess ist, dass die Menschen etwasber das Wirken der Widersacher erfahren, deren Ein-wirkungen im Seelenleben erkennen und gedanklichbenennen knnen, um sich dann bewusst von diesenTendenzen trennen zu knnen. Das bereits erwhnteBild des heiligen Antonius im Isenheimer Altar bieteteine sinnliche Anschauung fr diesen Prozess.

    Grundstzlich gibt es auch in der Seelentherapiedrei Wege, die Seele zu beruhigen:

    1. Durch ein sicheres Denken, das den Patienten ei-ne Distanzierung zu ihrem Erleben ermglicht undsie das Wesen ihrer Erkrankung erkennen lsst(z. B. durch Seelenbungen)2. Indem sie Halt bei einem Menschen finden, dersie brderlich durch die Zeit der Angst begleitet(z. B. bei Therapeuten)3. Indem sie sich ohne nachzudenken demtigeinem Ttigkeitsstrom anvertrauen (z. B. in denknstlerischen Therapien).

    1. Vertrauen borgen bzw. Aufbau eines tragfhigentherapeutischen Arbeitsbndnisses

    Da seelisch erkrankte Patienten zunchst aus eige-ner Kraft nicht mehr imstande sind, den ersten oderdritten Weg zu gehen, suchen sie Halt bei Therapeuten.hnlich wie in der Jugend die Eltern bietet das psycho-therapeutische Setting zunchst (insbesondere im sta-tionren Rahmen) einen gewissen Reizschutz und ei-nen sicheren Raum, um die in Unruhe geratenen See-lengewsser zu beruhigen 1. Der Psychotherapeutvermittelt Vertrauen und die Hoffnung, dass der Lei-denszustand bewltigt werden kann. Mit seinen liebe-vollen Aufmerksamkeitskrften bringt er die erstarrtenSeelenformen des Patienten in Fluss bzw. in Lsung,macht den Seelenraum offen fr neue, ordnende Ge-danken. Er ist Modell fr ein Ich-gemes Denken, Fh-len und Wollen und stellt sein Expertenwissen ber dieEntstehung seelischer Strungen zur Verfgung. Bild-lich gesprochen fngt er die berschwappenden See-lenwogen auf, an seiner seelischen Stabilitt knnensich die Patienten festhalten. In der psychotherapeuti-schen Sprache spricht man von einer Container- bzw.Hilfs-Ich-Funktion. Gerade der zweite Begriff ent-spricht im wesentlichen dem sog. PdagogischenGrundgesetz, wie es Steiner im HeilpdagogischenKurs formuliert (6): Da die Ich-Kraft des Patienten nochnicht ausreicht, die astralischen Krfte zu formen,borgt der Therapeut zu Therapiebeginn dem Patien-ten seine Fhigkeiten. So lauscht er zum Beispiel zwi-schen den Zeilen auf das, was der Patient nicht sagtbzw. sich nur anzudeuten traut, um ihn zu ermutigen,diese Gedanken bewusst zu ergreifen. Andererseitsstellt das psychotherapeutische Setting auch zuneh-mend Anforderungen an den Patienten und wirkt hierwie ein Stab, an dem sich die Ich-Kraft des Patientenorientieren und aufrichten kann. Auch hier bestehen

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  • Nherungen zur Elternfunktion mit dem wesentlichenUnterschied, dass in der Psychotherapie kein Zwangangewendet werden darf und alle Entscheidungenbzw. Konsequenzen mit dem Patienten im partner-schaftlichen Sinne abgesprochen werden mssen, da-mit alle Entwicklungsschritte durch Einsicht und inFreiheit geschehen knnen. Dennoch wird der Thera-peut zum Vermittler geistiger Gesetzmigkeiten seine Klarheit und Konsequenz bringen eine gewissekristallin-gliedernde Qualitt in die therapeutischeBeziehung.

    2. Psychoedukative Vermittlung eines Strungsmodells

    Wir alle wissen aus dem Alltagsleben, wie entlas-tend in unbersichtlichen Erlebenssituationen eine er-klrende, gedankliche Durchdringung des Erlebtenwirkt. Bei seelischen Strungen ist regelhaft die Denk-fhigkeit mit der Gliederung der seelischen Erlebnisse(quasi mit deren Verdauung) berfordert 3. Um sei-ne Seelenerlebnisse zu verstehen braucht der Patientvom Therapeuten Erklrungsangebote. Das heit, esmuss ein individuelles Strungsmodell erarbeitet wer-den. In diesem Prozess werden die seelischen Phno-mene des Patienten zum Beobachtungsgegenstand, d.h. es wird implizit eine gewisse Ich-hafte Einstellung zurWelt (vgl. 7) gebt. Das Strungsmodell muss zunchstam aktuellen Weltbild des Patienten ansetzen (Prinzipder Systemimmanenz (8)), darf aber schrittweise denBewusstseinshorizont erweitern. Ein adquates St-rungsmodell entlastet bzw. untersttzt die Denk- undUrteilskraft des Patienten und vermindert dadurch sei-ne emotionale Erregung und unterbricht dadurch denTeufelskreis der immer weiter gehenden Entfesselungvon Seelenkrften2. Bildhaft gesprochen ermglichtdies dem Patienten, seinen Kopf ber die emotionalenWogen des seelischen Erlebens zu halten. Das Erlebnis,dass der Therapeut die Strung versteht, dass anderesolche Strungen auch haben (Prinzip der Universalittdes Leides, (9) und dass hinter dem seelisch Erlebten ob-jektive und letztlich auch sinnhafte Zusammenhngestehen, strkt das Vertrauen des Patienten in den The-rapeuten und in eine verstehbare Weltordnung.

    Zu dieser Therapiephase gehrt aber auch, dem Pa-tienten zu vermitteln,dass Fortschritte nur durch seinenangemessenen aktiven Beitrag mglich sind. Dies stellteine erste Belastung fr die therapeutische Beziehungdar, weil manche Patienten eine eher passive Behand-lungserwartung haben und erst zu einer aktiven Hand-lungsbereitschaft hingefhrt werden mssen. Ist diesegrundstzlich erreicht, knnen durch umschriebene,konkret formulierte positive Therapieschritte die Wil-lenskrfte der Patienten entzndet,d. h. in eine grund-stzliche innere Regsamkeit gebracht werden.

    Im ersten Schritt geht es darum, dass die Patientenverstehen, dass ihre Gefhle nicht handlungsleitendsein drfen, sondern dass sie sich von ihnen distanzie-ren knnen und mssen. Im nchsten Schritt mssen

    sie verstehen, dass ein gefhlsgeleitetes Denken, wiees weiter oben fr die Panik- oder die phobische St-rung beschrieben wurde, die Emotionen aufwhlt unddamit die Strung aufrechterhlt. Durch unser Denkenschaffen wir Wirklichkeiten. Anders ausgedrckt sindunsere Gedanken nur wirksam, wenn wir sie denken.Was wir denken, liegt in unserer Verantwortung.Wie inder Einleitung beschrieben, sind wir im Denken grund-stzlich frei; niemand kann uns einen bestimmten Ge-dankeninhalt aufzwingen. Dies ist ein wesentlicherUnterschied zum Fhlen. Im Fhlen reagieren wir aufinnere oder uere Reize direkt und ohne unseren un-mittelbaren Einfluss. Von daher ist ein Einfluss auf dasFhlen nur ber das Denken (bzw. ber das konkreteTun) mglich. Wenn die Patienten verstehen, dass sienur einen Gedanken zu einer Zeit haben knnen (sowie an einem Ort im Raum nur ein physischer Krpersein kann), knnen sie die darin liegende therapeuti-sche Chance erkennen: Durch eine bewusste und dis-ziplinierte Gedankenfhrung knnen wir erreichen,dass kein Platz fr Angstgedanken bleibt. Die Patientenmssen allerdings verstehen, dass diese Denkkraftnicht einfach so zur Verfgung steht, sondern erbtwerden muss, wie es im Folgenden beschrieben wird.

    3. Die Gliederungskraft des Denkens ben Whrend die knstlerischen Therapien die Patien-

    ten im Tun an ein Erleben der gesunden Weltordnungheranfhren, versucht die Psychotherapie die ordnen-de Kraft des Denkens auf das Seelenleben zu erkraften(3). So wie krperliche Krfte bzw. knstlerische Fhig-keiten erbt werden mssen, muss auch die Denkkrafttrainiert werden (z. B. durch die 1. Nebenbung oderdie Rckschau bzw. einen Tagesrckblick). Haben Pa-tienten dies grundstzlich verstanden, sind sie geneig-ter, entsprechende bungen regelmig durchzufh-ren. Der Leib und die mit ihm verbundenen seelischenVorgnge knnen dann Gegenstand von Wahrneh-mungsbungen werden. Die przise, skalierende Be-obachtung seelischer Befindlichkeiten einschlielichder modifizierenden Einflsse sind dazu ein ersterSchritt. Skalierung meint, dass die aktuelle Befind-lichkeit beispielsweise auf einer Skala von 0 10 einge-schtzt werden soll. Dies verlangt, dass das aktuelleGefhl wie von auen angeschaut und zu den beidenExtrempunkten in Bezug gesetzt werden muss. Auchdies bewirkt zwangslufig eine innere Distanzierungund beobachtende Haltung dem Seelenleben gegen-ber. So lernen die Patienten Wahrnehmung und Urteilzu trennen bzw. getrennt zu beschreiben, um zu freie-ren, rationalen bzw. wesensgemen Urteilen zu kom-men. Auch das Beschreiben des Erlebten mit Worten (z.B. im Rahmen von Tagesprotokollen) frdert diese Dis-tanz, die von M. Linehan als mind over mood-Prinzipbeschrieben wird (10), denn zum Sprechen muss dasumfassende, aber diffuse Fhlen zum geformten Wortherabgelhmt werden. Es ist nicht selbstverstnd-lich fr die Patienten, dass sie ihrem Denken mehr trau-en als ihren Gefhlen in einer Zeit, wo sich alles gut

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  • anfhlen muss! Hier vermittelt die Psychotherapiewichtige Grunderkenntnisse in der Einstellung zum Le-ben. Diese Fhigkeit zum Distanzieren im Denken istGrundlage fr die Fhigkeit, impulsives emotionalisier-tes Urteilen und Handeln zurckhalten zu knnen, d. h.wieder eine bewusste Kontrolle ber das Willenslebenzu erlangen. Hier helfen die weiteren Nebenbungen.Auch przise Naturbetrachtungen haben hier einenPlatz. In weiteren Schritten knnen gedankliche Per-spektivwechsel (wie wrde ein anderer Mensch IhreSituation beschreiben?) oder Zeitprojektionen (wiewerden Sie die Situation in einem Jahr beschreiben?)und weitere Schritte der kognitiven Therapie nach Beck(11) beitragen. All dies dient dazu, eine zuverlssigereTrennung zwischen Wahrnehmen und Whnen bzw.eine rationale Urteilskraft zu erben.

    Sich nicht in (kopflose) Handlungen hineinreienzu lassen schafft Raum fr Geistwirken in uns. Nur inder Gegenwart (im Hier und Jetzt) sind wir frei: Im indie Zukunft gerichteten Begehren eilen wir (luziferisch)voraus und bersehen mgliche Hilfen fr uns, die unsaus dem Leben entgegenkommen; auch im selbstbe-zogenen (ahrimanischen) Haften am Vergangenenwird uns der Blick in die Umgebungskrfte versperrt. Essteckt ein gewisser ber-Mut darin, wenn wir unserSchicksal ganz aus unseren eigenen bewussten Krf-ten kontrollieren bzw. gestalten wollen und wir laufenGefahr, uns dabei innerlich zu verkrampfen, uns alleinzu fhlen, diffuse Angst zu entwickeln. Wir haben keinVertrauen in die Gegenwart und in mgliche helfendeKrfte, sind nicht offen fr unser unbewusstes Schick-salswirken. Besonders sog. frhgestrte Patienten, d. h.Menschen mit tiefsitzenden ngsten, die in der Regelaus Situationen resultieren, in denen sie als kleinesKind alleingelassen wurden, haben kein Bewusstseindafr, dass ihre Angstsituationen im Erwachsenenaltervorbergehend sind und sie sich in wenigen Stunden,zumindest aber am nchsten Tag wieder besser fhlenwerden. Die durch die im Laufe des Lebens immerwiederkehrenden Angstsituationen gebildeten inne-ren Seelenformen sind so mchtig, dass die Bewussts-einskraft nicht ausreicht, sich aus ihrem Bann zu lsen.Sie sind in diesen Situationen gewissermaen von al-len guten Geistern verlassen. Hufig sind sie aberauch fr untersttzende Einflsse der Umgebungnicht offen und halten in paradoxer Weise an den ge-wohnten Gefhlsformen fest, wie ein Ertrinkender, dersich an eine Planke klammert, um wenigstens etwas inder Hand zu haben. Diese Menschen brauchen gedul-dige Therapeuten, die ihnen immer wieder die Handreichen und die erst verschiedene Beziehungstestsbestehen mssen, ehe sie sich der rettenden Handdes Therapeuten anvertrauen knnen. Den Patienten,die in der Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, fllt esbesonders schwer, sich von den vertrauten Formen zulsen und sich neuen, offenen Situationen anzuver-trauen, die sie bisher nicht kontrollieren knnen. Vor-aussetzung, um das Vertraute loszulassen, ist, dass wir

    innerlich eine Vorstellung gewinnen, am anderenUfer Halt zu finden.Wenn Menschen diese Erfahrungfrher nicht gemacht haben, mssen sie versuchen,aus ihrer erwachsenen Bewusstseinskraft diese Hoff-nung zu bilden. Es gibt mehrere Mglichkeiten, ein Ge-rst zu finden, um diese innere Brcke gedanklichbauen zu knnen:

    1. Die korrigierende emotionale Erfahrung in derBeziehung zum Therapeuten, der auch in emotio-nal schwierigen Situationen vorhersehbar undkontrollierbar da ist,2. Das Erlebnis, dass die Natur (einschlielich deseigenen Krpers) einen Grund bildet, der uns trgt,3. Die Erfahrung, dass wir uns in der gedanklichenbzw. meditativen Konzentration von emotionali-sierten Gedanken abgrenzen und zumindest frMomente inneren Halt finden knnen.Gerade das Erlebnis, dass uns aus dem Gedanklich-

    Geistigen ein Halt erwachsen kann, ist fr viele Men-schen eine neue und berraschende Erfahrung. Ausanthroposophischer Sicht knnen wir uns auf diesemWege mit der Christuskraft, die in unserem Umkreiswirksam ist, verbinden.

    Nur, wenn wir in unserem Bewusstsein Raum frGeistesgegenwart schaffen, kann das Christuswirkenin uns eintreten. Dies verlangt ein demtiges Vertrau-en auf seine Gegenwart, auf sein Wirken durch uns.Dieses Wirken geschieht jedoch nicht von sich aus,sondern wir mssen uns aktiv dieser Kraft zuwenden.Dieser Schritt kann innerlich untersttzt werden durchdurch das sogenannte Herzensgebet Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.

    Dieses Loslassen und Anvertrauen markiert denWendepunkt, vom unfreien Reagieren dazu zu kom-men, das Schicksal angemessen in die eigene Hand zunehmen und sich aktiv in die eigene Biografie zu stel-len. Auf-sich-selbst-zurckgeworfen-werden lst beivielen Patienten zunchst ein Gefhl von Enttu-schung und Wut aus. Diese negativen Gefhle wurdenvon den Patienten lange Zeit aus dem Bewusstsein ver-bannt. Die Verbannung wird aber erkauft mit einemGefhl basaler emotionaler Unsicherheit, den eigenenGefhlen nicht bedingungslos vertrauen zu knnen.Das bewusste Anerkennen dieser Gefhle bildet dage-gen ein emotionales Fundament fr ein neues, nichtbrchiges Selbst-Vertrauen. Aus der Trennungswuterwchst dann die Kraft, sich von der Versorgung durchandere Menschen unabhngig zu machen und selbstfr sich sorgen zu knnen. Was wir zunchst alsSchmerz oder Trauer hinter der Wut erleben, ist Vor-aussetzung, uns vom Gewordenen zu lsen, uns zu in-dividuieren und in Freiheit unseren eigenen Lebens-weg zu gehen.4. Selbstfrsorge ben (Aktivittenaufbau)

    Mit dem erbten Halt im Denken ist ein Orientie-rungspunkt bzw. eine Grundlage fr eine bessereSelbstregulation gelegt. Im nchsten Schritt mssen

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  • die Patienten die erbte Gedankenkraft einsetzen, umsich durch positive Gedanken, Bilder, Meditationenoder Gebete in Krisensituationen selbst zu stabilisieren4 (vgl. 12). Elemente aus den Gesprchen mit den The-rapeuten knnen durchaus im Sinne eines inneren Di-aloges bzw. Selbstgesprches eingesetzt werden. Sowird ein innerer Berater aufgebaut. Im psychoanaly-tischen Sinne spricht man hier von Introjektion desguten Objektes (d. h. des Therapeuten).

    Im nchsten Schritt wird dieses emotionale Selbst-management ausgeweitet auf die gesamte Tagesge-staltung. Die Patienten mssen ein Bewusstsein dafrentwickeln, welche Einflsse (z. B. Informationen, Sin-nesreize, soziale Begegnungen) ihnen gut tun und wel-che Seelenkrfte entfesselt werden, die nicht in ange-messene Handlungen umgesetzt werden knnen. Wirmssen uns wirklich darber bewusst werden, wievielnegative Nachrichten wir in uns aufnehmen wollen,ohne die damit verbundene innere seelische Beteili-gung in Taten umsetzen zu knnen. Informiertheit istkein Selbstzweck. Im verhaltenstherapeutischen Sinnespricht man hier von Stimuluskontrolle, allgemeinerkann man von einer guten Seelenhygiene sprechen.Denn auch Sinnesreize mssen verdaut werden. Eben-so wie wir nicht alles wahllos essen, sollten wir unsauch nicht wahllos Sinnesreizen aussetzen. Hier ist einegesunde Abgrenzung notwendig 1.

    Neben der Abgrenzung ist der Aufbau positiver Ak-tivitten notwendig: Im Tun erleben wir uns als wirk-sam, was unser Selbstbewusstsein und Selbstwertge-fhl strkt 6. Erreichte Ziele geben uns Kraft und Be-friedigung, nicht gelebte Ideale lhmen die Willens-krfte. In diesem Sinne muss das willensentzndendeFeuer der groen Ziele durch eine disziplinierte Wil-lens- und Gedankenhygiene im Sinne des Selbstma-nagements (13) zum warmen Brennen des Ofens imAlltag gezhmt werden. Rckschau, Tagesbilanz und -planung bilden dazu eine strukturierende Grundlage.

    Durch eine gute Selbstorganisation erben die Pa-tienten die Fhigkeit, im Alltagsleben gut fr sich zusorgen. Sie erlernen die Fhigkeit, sich selbst gute El-tern zu sein, die sie im realen Leben (vielleicht) in die-sem Ausma nie hatten. Dadurch wachsen sie aus denlhmenden Schatten der Vergangenheit heraus undbernehmen die volle Verantwortung fr die Gestal-tung ihrer Biografie. Sie zahlen das anfangs vom The-rapeuten geborgte Vertrauen zurck, indem sie selbstVertrauen entwickeln.

    Untersttzt durch Heileurythmie, knstlerischeTherapien oder konkrete Verhaltensbungen webensie Denken und Wollen Ich-gefhrt ineinander, straf-fen und gliedern das zuvor entfesselte Seelenleben, sodass immer weniger Seelenkrfte fr nicht Ich-hafteSeelenttigkeiten zur Verfgung stehen. Das Ich wirdwieder Herr im Hause, seelische Gesundheit wird neben verbliebenen Krankheitssymptomen tglich ak-tiv aufgebaut.

    5. Pathologische Seelenformen auflsenSobald das Seelenleben ausreichend stabilisiert ist

    und der Patient die Fhigkeit erbt hat, sich in emotio-nalen Belastungssituationen selbst zu beruhigen, kanngezielt an der Auflsung und Bewltigung der verblie-benen pathologischen Seelenformen gearbeitet wer-den. Dazu kann es notwendig sein, zum Beispiel in Expositionsbehandlungen Symptome gezielt, aber kon-trolliert hervorzurufen, um sie quasi unter Laborbe-dingungen mit klarer Gedankenkraft wie von auenanzuschauen und zu verstehen 5. Dadurch werden sieaus ihrem halbdunklen, autonomen Wirken im Fhlenerlst. Sinnbildlich ist dieser Vorgang im Mrchenvom Rumpelstilzchen beschrieben: Ein Wesen, dasMacht ber uns hat, lst sich auf, wenn es aktiv aufge-sucht und mit seinem richtigen Namen angespro-chen wird. Das Erkennen und richtige Benennen (d. h.mit angemessenen Worten zu beschreiben) ist dieGrundlage, Macht ber diese Seelenvorgnge zu er-langen und sich (wie Antonius) von ihrem Wirken bzw.Einfluss trennen zu knnen. Dass dies ber unsere ei-gene Gesundung hinaus auch eine erlsende Wir-kung fr diese gefangenen Wesen haben kann, wie esin vielen anderen Grimmschen Mrchen beschriebenist, sei hier nur angedeutet.

    berwltigende seelische Erlebnisse in Gedankenund Worten (oder besprochenen Bildern) zu gliedern,hilft den Patienten, die sich zuvor sprachlos undohnmchtig gefhlt haben, ihr zuvor vom Ich-Be-wusstsein verlassenes Seelengebiet zurckzuerobern.Dies entspricht in einer gewissen Weise dem bekann-ten Freud-Zitat:Wo Es war, soll Ich werden.6. Wiedereingliederung in das soziale Leben

    Um sich wieder voll als Autor in die eigene Biogra-fie zu stellen, ist es notwendig Aufgaben (auch fr an-dere) zu ergreifen6. Sinn kann nur erlebt jedoch nichterdacht werden (14). Im sozial bezogenen Handeln wirdder krankheitsbedingte (aber eben auch krankheitsbe-dingende, weil Symptom-verstrkende) Rckzug unddas in sich selbst kreisende Gedanken- und Gefhlsle-ben wieder mit der Umwelt verbunden. Teil eines sozi-alen Organismus zu sein, einen Platz und eine Bedeu-tung fr andere zu haben, gibt einerseits Selbstwert-gefhl, berwindet aber andererseits auch die allge-meine Krankheitstendenz zur Vereinzelung undIsolation in unserer Zeit. Damit hilft Psychotherapienicht nur dem Einzelnen, sondern sie leistet einen Bei-trag zur Heilung unserer Zeitkrankheiten (vgl. 15). Dieliebevolle therapeutische Hinwendung ist das L-sungsmittel, das das Individuum aus seinen Schick-salsverstrickungen herauslst und Raum schafft, sichfr das Christuswirken zu ffnen. Dadurch werden diePatienten in ihrem Handlungswillen frei und knnenden aktuellen Herausforderungen besser begegnen.Nur in der freien Menschen-Tat kann sich der Christusverwirklichen, d. h. in der Welt wirksam werden.

    Krankheitssymptome und daraus resultierende the-rapeutische Begegnungen sind Chancen zur Neube-

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  • sinnung. Be-sinn-ung meint hier, nach dem Lebens-sinn zu fragen, sich neu zu ent-scheiden (d. h. auchGewohnheiten aufzugeben) und die Biografie bewus-ster zu ergreifen. Die Frage nach dem Willen zum Ge-sundwerden (und damit nach dem eigenen Beitrag da-zu), wie sie Christus am Teich von Bethesda stellte (Jo-hannes 5, 1 18), fhrt zur Frage nach dem Sinn vonKrankheiten, zu deren Sinn und zum Sinn von Lebenberhaupt. Als Therapeuten wirken wir in diesen Fra-gen als Vermittler von gesunden, ordnenden, beleben-den und ermutigenden Geisteskrften im Sinne desChristus. Psychotherapeutische Techniken sind dabeinicht Selbstzweck, sondern (wie das Skalpell des Chir-urgen) Werkzeug zu einem hheren Sinn. Aber ebensowie ein Chirurg gute Werkzeuge braucht, reicht auchfr die psychotherapeutische Arbeit nicht guter Willeallein; wir brauchen Ausbildung und Geschick in derHandhabung scharfer, d. h. wirksamer Instrumente.Diese Werkzeuge knnen durchaus der exoterischenPsychotherapie entlehnt sein, wie es in diesem Artikelangedeutet wurde. Der Unterschied zur exoterischenPsychotherapie besteht in dem umfassenden, geistes-wissenschaftlichen Verstndnis der Psychopathologieund dem daraus resultierenden bewussten Einsatz ineinem Ich-strkenden Sinne, um die Menschen bei derVerwirklichung ihrer Biografie in grtmglicher Frei-heit zu untersttzen und sie zu erkraften, an der L-sung unserer Menschheitsaufgaben in der Welt mit-zuarbeiten.

    Dr. Eckhard RoedigerGemeinschaftskrankenhaus HavelhheKladower Damm 221D-14089 Berlin

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    12 Reddemann L. Imaginationals heilsame Kraft. Zur Behand-lung von Traumafolgen mit res-sourcenorientierten Verfahren.Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart200113 Kanfer FH, Reinecker H,Schmelzer D. Selbstmanage-ment-Therapie. Ein Lehrbuch frdie klinische Praxis. Springer,Berlin 199114 Frankl VE. Die Psychotherapiein der Praxis. Eine kasuistischeEinfhrung in die Psychothera-pie. Piper, Mnchen 198615 Klnker WO. Selbsterkenntnisund Selbstentwicklung Zurpsychotherapeutischen Dimen-sion der Anthroposophie. FreiesGeistesleben, Stuttgart 1997