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Sonderdruck aus HISTORIOGRAPHIA MEDIAEVALIS Festschrift für Franz Josef Schmale zum 65. Geburtstag Seiten 199-211 Contemporalitas Regnorum von ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT DARMSTADT IR 19

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Sonderdruck aus

HISTORIOGRAPHIA MEDIAEVALIS Festschrift für Franz Josef Schmale zum 65. Geburtstag

Seiten 199-211

Contemporalitas Regnorum

von

ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN

WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT DARMSTADT

IR 19

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CONTEMPORALITAS REGNORUM

Beobachtungen zum Versuch des Sigebert von Gembloux, die Chronik des Hieronymus fortzusetzen -

Von ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN

Diauri aliquid invante Deo de CONTEMPORALITATE REGNORUM, primunz pauca dicamus de origine singularum gentium, t beginnt Sigebert von Gembloux seine 1088 bis 1106 erstellte und bis 1111 erweiterte Weltchronik, 2 die er als Fortsetzung der Chronik des Hieronymus gestaltet. Sigebert leitet

mit dieser Ankündigung einen Vorspann ein, in dem er kurzgefaßte Einfüh- rungskapitel zu den einzelnen von ihm behandelten regna bietet; diese stellen Abrisse von Volksgeschichten, origines gentis, dar.

Mit der contemporalitas regnornm spricht Sigebert die graphische Anlage seiner Chronik an, die im annalistischen Schema die wichtigsten Ereignisse eines jeden Jahres abhandelt. In der Datierungszeile ist jeweils an erster Stelle das Regierungsjahr des amtierenden römischen Kaisers notiert, es folgen die Herrscherjahre der Könige der in die Synchronistik einbezogenen Reiche nebeneinander, während die Inkarnationsjahre im Autograph 3- anders als dies in der kritischen Ausgabe der Monumenta Germaniae Historica gehandhabt ist4 - nur zu jedem 10. Jahr am Außenrand der Blätter ausgeworfen sind. s Unter contemporalitas regnornm versteht Sigebert im weiteren Sinne natür- lich die Gleichzeitigkeit von Herrschaften schlechthin, im engeren aber spielt er zweifellos auf die tabellarische Anlage an, die er für sein Werk gewählt hat:

r Sigeberti Gemblacensis Chronographia, hrsg. von L. C. Bethmann, MGH SS 6, 1844, S. 300.

2 Politisches und publizistisches Interesse Sigebetts wurde zuletzt gründlich unter- sucht von J. Beumann, Sigebert von Gembloux und der Traktat De investitura episco- porum (VuF Sonderb. 20), Sigmaringen 1976; zur Datierung vgl. S. 44 ff.

' Ms. Bruxell. 18239, olim S. Petri Gemblacensis. ' SS 6 (s. Anm. 1), S. 268-374. s Zu diesen Techniken vgl. M. Paulmier-Foucart und M. Schmidt-Chazan, La data-

tion dans les chroniques universelles franrjaises du XIIC au XIV` siecle, in: Academie des Inscriptions et Belles-Leitres, Comptes Rendus 1982 Novembre-Decembre (Paris 1982), S. 778-819, bes. S. 781 ff., sowie M: C. Duchenne, Un historien et sa source: Lutilisation de la Chronique de Sigebert de Gembloux par Vincent de Beauvais, in: Spicae 4 (1986), S. 31-79, bes. S. 33 ff.

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Auf die waagrecht in einer Linie angeordneten Regentenjahre der verschiede- nen Fürsten, bezogen auf das Regiment des römischen Kaisers, folgt ein Text- block mit Auflistung der Geschehnisse aus den verschiedensten Regionen und Sachbereichen, dessen Länge im Schnitt bei etwa sieben Zeilen im Auto- graph, für die jüngste Zeit etwas darüber liegt.

Die Übersetzung der im Urtext verlorenen Chronikoi Kanones des Eusebios bei Hieronymus6 hat ähnlich, allerdings ein wenig abweichend ausgesehen. Auch hier gab es das Nebeneinander der Regierungsjahre vieler Herrscher, die

sogenannten fila regnorum; doch diese waren, Ziffer für Ziffer, direkt unter- einandergeschrieben, eine Auflistung fortgezählter Herrscherjahre, vonein- ander getrennt durch schmale senkrechte Textkolumnen mit den wichtigsten Geschehnissen, genannt spatium historicum. Sigebert dürfte sich hier zu einem leicht abweichenden Verfahren entschlossen haben, weil er bei aller erstrebten Kürze doch wesentlich mehr Material aufzeichnen mußte für die letzten sieben Jahrhunderte als Hieronymus für gar 24 Jahrhunderte, so daß die Textblöcke im Verhältnis zu den Zahlenreihen mehr Raum beanspruchten: Eine Entscheidung für Narrationskolumnen hätte die fila regnorum erdrückt oder gesprengt und wäre allenfalls durch ein sehr breites Format des Beschreib- stoffes zu realisieren gewesen. Sigebert befleißigte sich zwar der Kürze, aber allein die Heiligen, die es zu würdigen galt, forderten hier schon ihre Rechte.

Bis auf diese Nuance aber hält sich Sigebert in einem Maße an sein Mutter- werk - denn nur von Vorlage zu reden, scheint hier nicht ganz angebracht -, wie dies sonst kein Hieronymus-Fortsetzer getan hat. Die Chronica Gallica a. 452,7 Hydatius 4688 und Marcellinus Comes 534/489 schließen sich zeitlich an das Werk des Kirchenvaters an, formal aber gehen sie eigene Wege: Sie be- richten in knappen Notizen ohne synchronistischen Aufbau, nirgends mehr finden sich mehrere regna nebeneinandergestellt. Allerdings muß zur Erklä- rung festgehalten werden, daß auch Hieronymus die Synchronistik mit dem Jahre 70 n. Chr. aufgegeben hat, d. h. mit dem Untergang von Jerusalem, er kennt seither ausschließlich das filum des Römischen Reiches. Noch anders sind Prosper Tiro um 45510 und der Gallische Chronist von 51111 verfahren,

6 Die Ausgabe von R. Helm, Eusebius' Werke 7: Die Chronik des Hieronymus (Die griech. -christl. Schriftsteller der ersten drei Jh. 24), Leipzig 1913, gibt die graphische Anlage sorgfältig wieder.

7 Hrsg. von T. Mommsen, MGH AA 9,1892, S. 646-662. B Hrsg. von T. Mommsen, Hydatii Lemici continuatio chronicorum Hieronymia-

norum - 468, MGH AA 11,1894, S. 1-36. 9 Hrsg. von T. Mommsen, Marcellini Comitis chronicon 518/534/48, ebd., S. 37

bis 108. 10 Hrsg. von T. Mommsen, ProsperiTironis Epitoma Chronicon 433/455, MGH

AA 9,1892, S. 341-485. " Hrsg. von T. Mommsen, ebd., S. 632-666.

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denn sie bieten auch des Hieronymus Werk nur in Exzerptform einsträngig und stellen es ihrer vereinfachenden Fortsetzung voran. Beide machen damit das Tafelwerk von vornherein zunichte, vielleicht, um kostbaren Beschreibstoff zu sparen. 12

Sigebert ist der erste Chronist nach mehr als 700 Jahren, der die außer- gewöhnliche graphische Gestalt der Chronik des Hieronymus nachzuvoll- ziehen vermag und sich die Aufgabe stellt, eine adäquate contemporalitas Rgnorum für die Zeit ab 381 n. Chr. zu konstruieren, ohne sich dafür auf irgendwelche Vorlagen hinsichtlich der Anlage stützen zu können. Er vermag nicht einmal an Hieronymus anzuknüpfen, da dieser die zu seiner Zeit auf- steigenden Germanenreiche und ihre Nachbarn, d. h. die Franken, Briten, Wandalen, West- und Ostgoten, noch gar nicht als eigenständige Herrschaften erkennen und werten konnte, sie somit nicht in eine contemporalitas einzu- beziehen wußte. Eher hätte er die Sassaniden in Persien hier berücksichtigen können, die den Römern schon lange zu schaffen machten, während man von den Hunnen noch kaum Kunde hatte. Diese Beobachtung verdeutlicht übrigens, wie sehr Hieronymus und 'vor ihm auch schon Eusebios in ihrer Stoffwahl von vorhandenen schriftlichen Vorlagen geleitet sind, insbesondere von orientalischen und ägyptischen Königslisten sowie entsprechenden Werken über griechische Poleis-Staaten und Rom, vor allem aber von den Patriar- chen- und Herrscherketten der Heiligen Schrift. Sobald diese abbrechen, reißen auch diefila der Kirchenväter. Contemporalitas rgnorum ist auch für Eusebios und Hieronymus von großem Gewicht, allerdings aus ganz anderen Beweggründen, als sie für Sigebert maßgeblich gewesen sein dürften: Es geht in der Patristik um den Nachweis des höheren Alters der biblischen Tradition vor allen anderen Geschichtsquellen. Sigeberts andersartigen Ansatz gilt es auszumachen.

Sigebert von Gembloux in der Forschung der letzten 15 Jahre

Als Geschichtsschreiber hat Sigebert von Gembloux sich stets des Interes- ses und der Wertschätzung der Mediävistik erfreuen können; er ist daher in der Forschungsliteratur seit langem allenthalben geachtet. 13 In den letzten 15 Jahren ist aber sein Bild noch sehr viel detaillierter gezeichnet worden, da ihm zwei bislang als anonym eingestufte Schriften überzeugend zugespro-

12 Vgl. F. J. Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschrei- bung. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 90.

13 Bis 1971 ist die Literatur u. a. zusammengestellt bei W \Vattenbach - R. Holtz- mann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 3. Teil, besorgt von F. J. Schmale, Darmstadt 1971.

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chen werden konnten. Diese erhielten zugleich neue Editionen und Kom-

mentierungen. Sigebert hat über seine schriftstellerische Tätigkeit relativ ausführlich selbst

Kunde gegeben in seiner übrigens gleichfalls ein entsprechendes Werk des Hieronymus fortsetzenden Literaturgeschichte Catalogus de viris illustribus, die Robert Witte 1974 durch eine handliche Neuausgabe erneut breiteren Leserkreisen zugänglich machte. 14 Das Verzeichnis derTextzeugen erweist, 's daß diese Schrift stets mit ihren Vorläufern, nämlich mit den gleichnamigen Abhandlungen des Hieronymus und des Gennadius, bisweilen auch mit der Isidors überliefert ist, ganz im Gegensatz zur Chronik, deren Autograph keineswegs an eine Hieronymus-Handschrift anschließt.

Jutta Beumann hat 1976/77 einleuchtend machen können, daß der

anonyme Traktat De investitura episcoporum von 1109 Sigebert zum Verfasser haben muß, 16 aber auch dafür plädiert, daß die großen Übereinstimmungen

mit der Chronik belegen, wie wenig Sigebert ein weltferner, versponnener Chronist mit Abstraktionsvermögen war, sondern trotz aller Knappheit und Ausgewogenheit des Urteils lebhaftes Engagement in den politischen Ausein-

andersetzungen seiner Tage bewies. Diese Seite Sigeberts, der damit in die Reihe der Publizisten des Investiturstreites rückt, war bislang nicht annähernd zureichend gewürdigt. ''

Eine Abrundung erfuhr das Bild Sigeberts in der Forschung jüngst durch Joachim Wiesenbach, 18 der den anonymen Liber decennalis in modum dia- logi compositus aus dem Jahre 109219 gleichfalls Sigebert zuweisen konnte. Damit ließen sich Sigeberts vieldiskutierte Äußerungen im Catalogus de viris illustribus über seine Auseinandersetzung mit der Chronologie des Dionysius Exiguus und dessen Kritikern klar auf diese Schrift beziehen, während er in

seinem Selbstzeugnis als Schöpfer der Chronographie nur in der knappen Aussage20 erscheint: Imitates Eusebium Pamphili, qui primus apud Grecos

chronica a tempore Abrahe digessit, ipse quoque a loco intermissionis eins usque ad annum Domini MCXI omnem consequentiam temporiem et rerum

14 R. Witte, Catalogus Sigeberti Gemblacensis monachi de viris illustribus. Kriti- sche Ausgabe (Latein. Sprache u. Literatur d. MA 1), Bern-Frankfurt a. M. 1974, § 172, S. 103-106.

15 Ebd., S. 25-35. 16 J. Krimm-Beumann, DerTraktat De investitura episcoporunl von 1109, in: DA 33

(1977), S. 37-83, mit Edition des Textes. 17 Beumann (s. Anm. 2), S. 39-90. 18 J. Wiesenbach, Der Liter decennalis in der Handschrift Rom, Biblioteca Ange-

lica 1413, als Werk Sigeberts von Gembloux, in: DA 33 (1977), S. 171-181. 19 Sigebert von Gembloux, Liber Decennalis, hrsg. von J. Wiesenbach, MGH

QGG 12, Weimar 1986- 20 § 172 (s. Anm. 14), S. 105.

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gestaru7n, quanta potui still temperantia, ordinavi. Alle hier folgenden Angaben Sigeberts über seine Bedenken gegenüber Bedas Rechenweise21 mit den Osterzyklen des Dionysius, Bedas Ironie angesichts der Tatsache, daß die Osterdaten dem Zeugnis des Evangelisten Johannes widersprächen, über die Studien des Marianus Scottus zu diesem Problem, der seine Chronik aus- drücklich gemäß den Evangelien konzipierte, die eigenen Zweifel in diesen Fragen beziehen sich auf den Liber Decennalis, in dem Sigebert die großen Zyklen seit der Erschaffung der Welt - bislang zehn, daher der Titel Liber Decennalis- abhandelte und die Jahre seit Adam zeilenweise mit ihren Epakten, Concurrentes, Ostergrenzen und Ostersonntagen eintrug. Diesem bislang

nicht nachgewiesenen Tafelwerk stellte er einen in drei Bücher eingeteilten Prolog in Dialogform voran, und ebendiesen hat Wiesenbach jetzt ediert und kommentiert.

Mithin hat Sigebert die Chronik, die ihn am längsten beschäftigt haben dürfte, in seiner Selbstdarstellung nur sehr knapp erwähnt und untertreibend lediglich ausgesagt, daß er Eusebios und Hieronymus nachahme und bis 1111 in größtmöglicher Kürze die Zeitenfolge - consequentia temporum - und die Geschehnisse zu ordnen - nicht etwa darzustellen und gar zu deuten - trachte. Die Chronographia entstand also als Ordnungswerk, nicht aber zur Diskussion der geltenden Ären. 22 Mit der Weltchronik stellte sich Sigebert vor allem die Aufgabe, bekannte Fakten aus dem historischen Bereich sicher zu datieren. Das ideale Hilfsmittel hierfür schien ihm die Chronik des Hie- ronymus zu sein, dessen Synchronistik ihm die Lückenlosigkeit ermöglichte. Sigebert hat sicherlich nicht aus Einfallslosigkeit ausgerechnet die Chronik des Hieronymus fortgesetzt and nachgeahmt; Isidor oder Beda hätten ihm diese Arbeit wesentlich erleichtert, hätte er sich an ihnen orientiert, wie das die Zeitgenossen handhabten. Doch unterzog sich Sigebert der Mühe, sieben Jahrhunderte einsträngiger Chronistik in viele Zeitstränge aufzugliedern und möglichst vielefila rgnorum aus den vorhandenen Quellen herauszuschälen

und seinem \Verk einzufügen, um daraus eine contemporalitas regnorum zu erstellen, die die consequentia temporum verbürgte. Sigebert ist nicht primär Geschichtsschreiber, sondern Geschichtsordner.

Sigebert in der Wertschätzung des Mittelalters

Sigebert von Gembloux ist unter den Trägern der Blütezeit hochmittelalter- licher Chronographie im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts - zu ihnen sind

21 Ebd., S. 105f., Z. 1234: Cum diligenter Bedan: de temporibus relegerenz ... (Z. 1270) seamdunz dispositionem ipsius. 22 Überholt hier A: D. v den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronik bis in

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u. a. auch Hugo von Flavigny, Frutolf von Michelsberg, Hugo von Fleury, Honorius Augustodunensis, Lambert von Saint-Omer und Hugo von St. Viktor zu rechnen - derjenige, der die mit Abstand größte Verbreitung gefunden hat; 23 schon für die Ausgabe der Monumenta Germaniae Historica

vor bald 150 Jahren standen 42 Handschriften zur Verfügung. 24 Sigebert hat damit unter den Weltchronisten nach Orosius sowie den spätmittelalterlichen Geschichtsenzyklopädisten Vincenz von Beauvais und Ranulph Higden

- vom Tafelwerk des Martin von Troppau sei hier einmal abgesehen - die Führungsstellung inne. Der gleichzeitig wirkende Frutolf von Michelsberg hat die spätsalisch-staufische Reichsgeschichtsschreibung grundlegend mitgestal- tet, doch die Handschriftenzahl liegt unter der Hälfte derjenigen Sigeberts,

und der regionale Radius beschränkte sich im wesentlichen auf Süddeutsch- land. Nur für Otto von Freising wurde Frutolf der Materialsammler, wäh- rend Sigebert diese Rolle für die Universalhistoriographie von ganz West-

europa spielte, so für Ordericus Vitalis 1141, Radulfus de Diceto 1202, Robert

von Auxerre 1211, Helinand 1227, Alberich von Troisfontaines 1252, Mat-

thaeus Parisiensis 1258, Balduin von Ninove 1294, Heinrich von Herford 1355 usw., vor allem aber für die beiden beliebtesten Chronisten des Spätmit- telalters, für Vincenz von Beauvais um 1250 und für Martin von Troppau 1268/78, sowie ihre Benutzer. Zudem hat Sigeberts Chronik mannigfache Fortsetzungen das ganze 12. Jahrhundert hindurch und vereinzelt darüber hinaus erfahren.

Die Ursache für diese außergewöhnliche Verbreitung läßt sich nicht ein- fach mit der Qualität der Chronik begründen, zumal die Vorstellungen der

modernen Historiographieforschung hier keineswegs mit mittelalterlichem Urteil konform zu gehen pflegen. Otto von Freising, vielfach als der hervor-

ragendste Geschichtsschreiber des Mittelalters gefeiert, wurde von der eige- nen und der direkt folgenden Zeit keineswegs entsprechend gewertet. Sieht

man einmal von der Tatsache ab, daß die Vervielfältigung handschriftlicher Texte-Probleme aufgab und Bücher oft merkwürdige Zufallsgeschicke hat-

das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957, S. 182f., desgleichen dies., Maria- nus Scottus. Unter besonderer Berücksichtigung der nicht veröffentlichten Teile seiner Chronik, in: DA 17 (1961), Anhang: Kritik an Marianus Scottus und anderen Chrono- logen im Liber decennalis in modum dialogi composites von 1092, S. 231-238.

23 Vgl. hierzu vor allem B. Guenee, Histoire et Culture Historique dans l'Occident Medieval, Paris 1980, S. 250, wo die beliebtesten Werke zusammengestellt sind. Von den Weltchronisten sind zu Orosius 245, zu Ranulph Higdens Polychronicon 118, zu Vincenz' Speculum Historiale um 100, zu Sigeberts Chronik 43, zu Ottos Chronik 38,

zu Hugos von St. Viktor Chronik 35, zu Hugo von Fleury 34, zu Regino 33, zu Frechuiph von Lisieux 32, zur Sächsischen Weltchronik 32 Handschriften aufgrund vorläufiger Umschau gezählt.

24 Vgl. Bethmann (s. Anm. 1), S. 284, im Vorwort.

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ten, so ist die rasche Verbreitung dieses zudem in der Anlage komplizierten Werkes über ganz Westeuropa beachtenswert; die Nachfrage hat auch im Spätmittelalter nicht nachgelassen.

Dieser außerordentliche Reiz ging kaum von der die Zeitgeschichte betref- fenden Berichterstattung aus, zumal der Investiturstreit bald danach als erle- digt zu betrachten war. Zudem erfreute sich Sigebert gerade außerhalb des Deutschen Reiches großer Beliebtheit. Was die Forschung als Ausgewogen- heit und räumliche Breite rühmt, entspringt nur Sigeberts Wunsch, die Ge- schichte zu ordnen, und genau mit diesem Ansatz erfüllte er ein echtes Be- dürfnis sowohl der Enzyklopädisten als auch der Kompendienschreiber des Spätmittelalters. Er ordnete die consequentia temporum et rerum gestarum, und nicht zuletzt die graphische Anlage machte sein Werk einprägsam und verständlich und verbürgte durch die contemporalitas regnorum zugleich die Zuverlässigkeit.

Das Problem der consequentia temporum in der Historiographie

Erst im 11. Jahrhundert wurde die consequentia temporum für die Chroni- sten zu einem schwerwiegenden Problem, weil mit der Infragestellung der Inkarnationsära des Dionysius Exiguus auch die bislang als gesichert geltende Datierung in der gesamten annalistisch angelegten Geschichtsschreibung ins Wanken geriet. Die nun entstandene Unsicherheit war um so schwerwiegen- der, als der Vorteil der christlichen Chronographie gerade in ihrer Linearität mit festem Anfangs- und unbekanntem festen Endpunkt bestanden hatte, dieses System aber nun ins Wanken geriet. Da man sich die Linie der Ge- schichte zudem nicht allzu lang vorstellte, waren auch kleine Zeitabschnitte

von Bedeutung. Man betrieb Chronographie, um den eigenen Standort im Weltenlauf zu bestimmen, aber nicht minder, um wichtige Geschehnisse zu datieren und in ihrer Entfernung von der eigenen Zeit zu berechnen: Nicht nur Zeitgeschichte, auch Vergangenheitsgeschichte war wichtig. 25 Jutta Beu- mann hat mit Recht Sigeberts publizistisches Engagement herausgearbeitet; ob es allerdings für ihn das entscheidende Motiv zum Abfassen der Chronik

war, mag aus modernem Verständnis vermutet werden, nicht unbedingt aus dem Geschichtsverständnis mittelalterlicher Historiker. Ist da doch mit gu- tem Grund immer Sigeberts chronologisches Interesse betont worden, und mit Nachdruck hat Joachim Wiesenbach diese Deutung erneut unterstri- chen. 26 Sigebert hat Hieronymus nicht �nur"

fortgesetzt, er hat versucht, die Vergangenheitsgeschichte von sieben Jahrhunderten an des Kirchenvaters

2s Vgl. Schmale (s. Anm. 12), S. 17. 26 Wiesenbach (s. Anm. 19), S. 15.

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Gerüst erneut zu messen, um für die einzelnen Jahresberichte eine besser ge- sicherte Zuordnung zu der angegebenen Jahresbezeichnung zu erreichen. Die Reichsgeschichte war hier Sigebert wichtig, nicht minder wichtig dürfte ihm die Datierung der zahlreichen Heiligen gewesen sein, die einen beträcht- lichen Raum in der Chronik erhalten. Wo fand er gesicherten Halt? An den Regierungsjahren von Herrschern, denn ihrer hat sich die Geschichtsschreibung

zu allen Zeiten beim Datieren bedient. Besser noch als die Orientierung an einem Herrscher war die an mehreren gleichzeitigen Regenten.

Fast 200 Jahre nach Sigebert hat der schwäbische Minorit, der um 1292 die in Deutschland sehr beliebte Papst-Kaiser-Chronik Flores Temporum

erstellte, indem er gewissermaßen die Legenda Aurea aus einer anniversa- ristisch geordneten Legendensammlung zu einer Heiligenchronik umgestal- tete, 27 als Begründung für die Niederschrift seines Werkes angegeben, er werde in Predigten immer wieder gefragt, wieso er so genau zu sagen wisse, wie lange es her sei, daß dieser oder jener Heiliger wirkte; um auch Mit- brüdern diese Kenntnis zu vermitteln, habe er sich zur Veröffentlichung seiner Schrift entschlossen. Er sagt ausdrücklich, daß er die weltlichen Fürsten nicht um ihrer selbst willen, sondern als chronologisches Rückgrat zwecks Absicherung der Hagiographie gewählt habe. 28

Betrachtet man Sigeberts Werk unter ähnlichen Fragestellungen, so erlaubt sein beachtliches hagiographisches Engagement eine ähnliche Motivation für die Chronographie. Das Schaffen von Sigeberts frühen Jahren erstreckte sich ausschließlich auf die Berichterstattung über Heilige, in späteren Jahren bleibt es wichtig. 29 Heilige und Kirchenlehrer sowie lokale Patrone durch-

ziehen die Chronik, sie sind hier fest eingeordnet in ein Gerüst aus Herr-

scherdaten. Die Papst-Kaiser-Chronik gab es zu Sigeberts Zeit noch nicht; das erste

Werk dieser Art verfaßte wenig später Hugo von St. Viktor. Als gar durch Innocenz III. der deutsche König als künftiger Kaiser kirchenrechtlich definiert

war - Innocenz begründete mit diesem Verständnis seine Forderung auf ein Approbationsrecht für den deutschen König -, waren es nicht. tuehr nur die Kaiser, die neben den Päpsten zu einer gesicherten Abfolge verhalfen, son- dern auch die lückenlose Abfolge der deutschen Könige; die contemporalitas regnorum wurde entbehrlich neben der Papst-Kaiser-Reihe.

Sigebert verfügte noch nicht über das doppelsträngige lückenlose System

27 Vgl. A. -D. v. den Brincken, Anniversaristische und chronikalische Geschichts-

schreibung in den Flores Temporum, in: Geschichtsschreibung und Geschichts- bewußtsein im späten Mittelalter, hrsg. von H. Patze (VuF 31), Sigmaringen 1987, S. 195-214.

28 Hrsg. von 0. Holder-Egger, MGH SS 24,1879, S. 230f. 29 Vgl. zuletzt Wiesenbach (s. Anm. 19), S. 10 f.

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der Papst-Kaiser-Chronik. Er ist einer derjenigen Chronisten, die schon ziem- lich gewissenhaft auch die Päpste chronologisch auf der Grundlage des Liber Pontificalis einordnen, aber er hat sie nicht für die Datierung herangezogen. Vielmehr besinnt er sich auf die Synchronistik eines Hieronymus und rekon- struiert die contemporalitas der regna, weil die Inkarnationsära als Stütze ins Wanken geraten war. Leider kann man diesen Tatbestand nicht an der Edition Bethmanns erkennen.

Der Berichtshorizont

Durch die contemporalitas regnorum beweist Sigebert einen außergewöhn- lichen Berichtshorizont. Er entwickelt eine große Vielseitigkeit in der Beob-

achtung recht unterschiedlicher Geschehnisabfolgen, die sich oft gar nicht miteinander verbinden lassen. Sigebert berücksichtigt lokales Geschehen, Reichsgeschichte, Kirchengeschichte, aber er sucht auch entfernte Staatsge- bilde einzubeziehen neben Rom, so die Germanenstaaten aus der Chronistik des frühen Mittelalters und aus den Volksgeschichten, das Papsttum aus den Gesta Pontificu7n, weiterhin Byzanz, aber sogar Perser und Sarazenen, Hunnen

und Bulgaren, sofern er Aufzeichnungen über sie ausmachen kann. Eine Generation nach Sigebert wirkte Hugo von St. Viktor als Geschichts-

theoretiker. Er formulierte in seinem Liber de Tribus Maximis Circumstantiis Gestorum den vielzitierten Satz30 von den drei Kategorien der Geschichts-

schreibung: Tria igitur sunt, in quibus praecipue cognitio pendet rerum ge- starum, id est personae a quibus res gestae sunt et loca in quibus gestae sunt et teinpora quando gestae sunt. Auch wenn Sigebert diese Definition noch nicht vor Augen hatte, findet sie sich bei ihm der Sache nach beachtet, denn sie war eine Grunderkenntnis. Schon Orosius etwa hat entsprechend gedacht, 31

wenn er betont, daß zum Verständnis des historischen Geschehens auch die Einbeziehung der Schauplätze gehöre. Nun ist in einer Chronik von der Art der vorliegenden kaum Raum für langatmige Landesbeschreibungen; durch die contemporalitas regnorum aber vermochte Sigebert die Breite seines Be-

richtshorizontes gewissermaßen dynamisch zum Ausdruck zu bringen. Wenn

man sein Verfahren in der Folgezeit nicht in ähnlichem Umfang aufgriff, dann lag der Grund vielleicht im Aufkommen der Papst-Kaiser-Chronistik, die hinreichende Sicherung für die Datierung bot. Jedenfalls ist eine contempora- litas regnorum in der Folgezeit nicht häufig. Sie findet sich in der Mitte des 13. Jahrhunderts noch einmal -wiederum in Anlehnung an Hieronymus - in

30 Vgl. W. M. Green, Hugo of St. Victor, De tribus maximis circumstantiis gestorum, in: Speculum 1S (1943), S. 491.

31 Orosii Historiarum adversus paganos libri VII, I, 1,14-17, hrsg. von C. Zange-

meister (CSEL 5), Wien 1882, S. 8.

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der Metzer Weltchronik, später zu Beginn des 14. Jahrhunderts in singulärer Perfektion bei Paulinus Minorita aus Venedig, der die Welt im Zeitalter der Mongolenherrschaft bis Ostasien hin einbezieht und um 20 verschiedene regna nebeneinander behandelt. 32 Sigebert sucht bei Fortsetzung der Hierony-

mus-Chronik die Germanen gesondert zu erfassen, zumal sie ihre Selbstän- digkeit Rom gegenüber zu wahren vermögen. Bemerkenswert ist sein Vor- haben, sie mit eigenem Stellenwert neben Rom zu nennen. An Stelle ihrer Gebiete erwähnt er sie nur als Personenverbände, wie dies auch dem Ver- fassungsdenken des frühen Mittelalters entspricht. Die Technik, vermittels vertikaler Aufgliederung der regna die Menschheit in ihrer Breite vor Augen zu führen, entbehrte nicht der Wirkung: Sigeberts \Verk fand über Jahrhunderte

seine Leser und Benutzer.

Contemporalitas regnorum

Sigebert überschreitet den zu seiner Zeit üblichen Berichtshorizont der Chronographen in mehrfacher Hinsicht, um ein möglichst breites chronolo- gisches System zu erstellen. So widmet er seine Aufmerksamkeit auch Ost- Rom noch zu einem Zeitpunkt, als das römische Kaisertum als auf Karl den Großen übertragen gilt. Sigebert spricht von einem Wechsel der regna, der

eine Änderung der Titel zur Folge hat33: die Franken vereinigen sich mit Rom, Konstantinopel löst sich heraus, nachdem es zuvor durch Konstantin den Großen durch 468 Jahre Träger des Römischen Reiches gewesen war. Sigebert spricht daher sowohl von einer translatio als auch von einer divisio,

und seine Benutzer haben diese Stelle oftmals ausgeschrieben und sehr unter- schiedlich ausgewertet: Wenn in Westeuropa vielfach von einer divisio des Rö-

mischen Reiches 800 die Rede ist, so geht diese Diktion fast stets auf Sigebert

zurück, der freilich auch von translatio spricht, wie dies der Interpretation im Deutschen Reich entsprach. Sigebert kann Byzanz in seiner contemporalitas bis zum Jahre 977 verfolgen, dann brechen seine Herrscherkataloge ab, die er heranzieht.

Bemerkenswerter noch ist die Einbeziehung des Sassanidenreiches, von der Hieronymus abgesehen hatte, obgleich er diese Möglichkeit gehabt haben dürfte. Sigebert verfolgt diesen Strang bis zur Eroberung des Perserreiches durch die Sarazenen, die er auf der Grundlage seiner Quellen - nicht korrekt - bereits in das Jahr 632 verlegt, das Sterbejahr Muhammeds. Mit Sarazenen

32 Vgl. hierzu jetzt G. Melville, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen

zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (s. Anm. 27), S. 57-154.

33 MGH SS 6, S. 336.

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meint er die Araber, d. h. die vorderasiatischen Herrschaften, zunächst der syrischen Umaijaden, dann der Abbasiden im Zweistromland. Es handelt sich hier nun in der Tat um Mächte, die stets extra limina Romani Imperii existierten, außerhalb des üblichen Berichtshorizontes. Eusebios und Hiero- nymus hatten ebenso wie ihre Vorläufer, die ältesten christlichen Chrono- graphen, diese Mächte grundsätzlich miteinbezogen, schon, um an ihrem Beispiel das größere Alter der christlichen Überlieferung zu beweisen.

Schließlich würdigt Sigebert gar die zentralasiatischen Steppenvölker in ei- ner eigenen Abfolge, auch hier über seine Vorlage hinausgehend: Die Hunnen treten bis 5203' neben die Germanenvölker, werden dann aufgegeben, weil ihre Fürsten immer unter dem Titel Kaganus in den Quellen erschienen und sich nicht mehr unterscheiden ließen: Hier wird sehr schön offenbar, daß Sige- bert sich nicht für die Hunnen als solche interessiert, die in der Tat aus der Geschichte verschwanden, sondern nur für ihre datierte Herrscherreihe. Ab 680 erscheinen in der contemporalitas regnorum an der nämlichen Stelle die damals noch heidnischen Bulgaren. Die Regierungsdaten dieses im Westen wenig bekannten, aber gefürchteten Volkes werden von Sigebert sorgsam benutzt, um die Datierungen des eigenen Kulturkreises auf diesem Hintergrund besser abzusichern.

Man hat Sigebert im Zusammenhang mit diesen Bemühungen in der Forschung immer wieder gern chronologischer Unzuverlässigkeit geziehen. Dabei ist früher meist nicht berücksichtigt worden, welche historischen Methoden seiner Zeit -vertraut waren. Er hatte ganz einfach nicht die Mög- lichkeiten, deren sich die moderne Forschung bedient. Das Mittelalter hat so gut wie gar nicht mit Überresten gearbeitet, 35 sondern sich ausschließlich auf die bereits vorhandene Tradition gestützt, und diese bestand in der dem Autor oft zufällig zugänglichen Geschichtsschreibung seiner Vorgänger. Sige- bert arbeitete unter besonders guten Bibliotheksverhältnissen, ist zudem auch ein wenig herumgekommen und hat daher - zumal er offenbar keine Mühe scheute - eine reichhaltige Quellensammlung beibringen können. Da er in seiner Auswahl ganz darauf ausgerichtet war, ob die übernommene Aus- sage mit zuverlässiger Datierung versehen war, ergibt sich bei ihm eine andere Auswahl als bei anderen Geschichtsschreibern. So findet sich bei Sigebert

manches, was andere Autoren unwichtig fanden. Als Beispiel seien hier die Bulgarenkenntnisse der Lateiner im frühen und

hohen Mittelalter betrachtet. 36 Hier stößt man sehr schnell auf Sigebert, denn

nirgendwo hat ihr Personenverband - noch nicht ihr Land - soviel Beachtung

34 Ebd., S. 315. 3s Vgl. Schmale (s. Anm. 12), S. 1 f. 36 Anläßlich einer Gastvorlesung in Sofia stellte sich dieses Problem; vorhandene

Literatur zum Thema betraf die Sicht der Byzantinistik, nicht des Abendlandes.

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gefunden. Im Zeitalter des Ersten Kreuzzugs nahm das Interesse an ihnen

natürlich zu, denn sie wurden jetzt häufiger unter den christlichen Nationen des Orients genannt, nunmehr von Byzanz unterworfen und nur ein Annex des byzantinischen Staates. Bulgaren erscheinen sporadisch bei Jordanes neben germanischen und slawischen Völkern im Schwarzmeerraum, desglei-

chen beim Geographen von Ravenna. Da Isidor von Sevilla37 sie jedoch nicht in seine Enzyklopädie aufnahm, blieben sie bei Beda und in der Karolinger- zeit noch völlig am Rande des abendländischen Interessenhorizontes. Einen breiten Raum in der lateinischen Geschichtsschreibung erhielten sie erst in der Chronographia Tripartita des Anastasius Bibliothecarius im 9. Jahrhun- dert, bei der es sich u. a. um die Übersetzung der bis 813 reichenden Chronik des Byzantiners Theophanes Confessor ins Lateinische handelt. Sie wie- derum wurde im 10. Jahrhundert von Landolfus Sagax für seine bis 813 rei- chende Historia Miscella, eine Bearbeitung der römischen Geschichte des Paulus Diaconus, 38 herangezogen. Hier fand Sigebert Kunde von den Bulga-

ren 680 bis 813,39 und er hat dieses Angebot genutzt. Er bewahrt ihnen auch weiterhin Interesse, erwähnt sie etwa zu 1054 im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Großen Morgenländischen Schismas. 40 Kenntnisse über die Bulgaren des 7. bis 9. Jahrhunderts im Westen in der Zeit nach 1100 gehen nahezu ausnahmslos auf Sigebert zurück. Aber nicht nur für diese Ostchristen, auch für die Kenntnisse von den frühen Arabern wird Sigebert zur Fund- grube für die Lateiner. Etwa Oliver von Köln hat für seine Schriften zur Kreuzzugsgeschichte um 1220 sich für die Vorgeschichte wesentlich auf Sige- bert gestützt, 41 er steht mithin in seinen Aussagen indirekt über die Historia Miscella und Anastasius Bibliothecarius in der Tradition der byzantinischen Chronographen der Karolingerzeit.

Als Sigebert in der Historia Miscella eine exakte Datierung von Bulgaren und Arabern entdeckte und diese für seine Ordnungstätigkeit'vermittels der contemporalitas regnorum heranzog, konnte er nicht ahnen, daß er das Bild,

37 Etym. IX, IV, 28, hrsg. von fit? M. Lindsay, Oxford 1911, burgarii, bezieht sich auf das deutsche Wort Bürger" und nicht - wie P. Schreiner, Das Bulgarenbild im

europäischen Mittelalter, in: Academie Bulgare des Sciences, Institut d'Etudes Balcani-

ques, Etudes Balcaniques 2, Sofia 1982, S. 58ff., bes. S. 65 f., auf Grund des Glossars

zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa, Serie A, Lateinische Namen bis 900, Bd. 2, hrsg. von J. Ferluga u. a., Wiesbaden 1983, S. 191 ff., bes. S. 194, meint - auf die Bulgaren, die in lateinischen Quellen schon einmal als B, ergarii erscheinen.

38 Hrsg. von A. Crivellucci (Fonti per la Storia d'Italia 49/50), Rom 1912/13. 39 MGH SS 6, S. 326-337. 40 Ebd., S. 359f. 41 Hrsg. von H. Hoogeweg, Die Schriften des Kölner Domscholasters, späteren

Bischofs von Paderborn und Kardinalbischofs von S. Sabina Oliverus (Bibliothek d. Literar. Ver. Stuttgart 202), Stuttgart 1894.

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das sich die Kreuzfahrer von Muhammed machen sollten, maßgeblich mit- prägen sollte. Sigebert vermittelte byzantinische Historiographie wegen ihrer

exakten Datierung. Sigeberts Benutzer haben sein chronologisches System nicht mehr nachvollziehen müssen, denn sie bedienten sich zum Datieren jetzt vorzugsweise der Papst-Kaiser-Chronistik, die den Berichtshorizont wieder einengte. Für zwei Jahrhunderte, bis in die Zeit des Paulinus Mino- rita, repräsentiert Sigebert in der Chronographie mit seiner contemporalltas den Höhepunkt hinsichtlich des Berichtshorizontes.