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67. Jahrgang, 37/2017, 11. September 2017
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
EuropaJan-Werner Mller
IST DIE EUROPISCHE UNION ALS WEHRHAFTE DEMOKRATIE
GESCHEITERT?
Johannes Mller Gmez Wulf Reiners Wolfgang Wessels
EU-POLITIK IN KRISENZEITEN. KRISENMANAGEMENT UND INTEGRATIONSDYNAMIK IN DER EUROPISCHEN UNION
Dominika BiegoEUROPA DER VERSCHIEDENEN
GESCHWINDIGKEITEN: WER KANN, GEHT VORAN
Klaus BrummerEUROPA DER VERSCHIEDENEN
GESCHWINDIGKEITEN: MITGLIEDSSTAATEN ZWEITER KLASSE?
Angelika NubergerZU VIEL EUROPA?
EUROPISCHE GERICHTE IN DER KRITIK
Javier Ruiz-SolerGIBT ES EINE EUROPISCHE
FFENTLICHKEIT?
Ulrike LiebertNEUER SCHWUNG FR
EUROPA? LEHREN AUS DER VERGANGENHEIT UND
AKTUELLE HANDLUNGSFELDER
Steven HillEUROPA AN DER SPITZE? EIN BLICK VON AUEN AUF DIE ZUKUNFT DER
EUROPISCHEN UNION
ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
EuropaAPuZ 37/2017
JAN-WERNER MLLERIST DIE EUROPISCHE UNION ALS WEHRHAFTE DEMOKRATIE GESCHEITERT?Wehrhafte Demokratie ist in Deutschland ein bekanntes Konzept. Wie sieht das auf europi-scher Ebene aus? Welche Mglichkeiten hat die EU, sich gegen illiberale und antidemokratische Tendenzen ihrer Mitgliedslnder zu wehren? Und wie erfolgreich ist sie dabei?Seite 0410
JOHANNES MLLER GMEZ WULF REINERS WOLFGANG WESSELSEU-POLITIK IN KRISENZEITENWenn von der EU die Rede ist, wurde und wird auch immer wieder von ihren Krisen geredet, zu-letzt etwa von Euro-, Ukraine-, Flchtlings- und Brexit-Krise. Das spezifische Krisenmanage-ment, das sich ber die Jahre herausgebildet hat, zeigt sich auch in diesen aktuellen Krisen.Seite 1117
DOMINIKA BIEGOWER KANN, GEHT VORANEin Europa der verschiedenen Geschwindig-keiten birgt zwar allerhand Risiken, kann aber den derzeitigen Stillstand in der EU berwinden. Angewendet im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik kann er die EU sogar demokrati-scher und sozialer machen.Seite 1822
KLAUS BRUMMERMITGLIEDSSTAATEN ZWEITER KLASSE?Obwohl ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bereits Realitt ist, ist dieser Modus nicht dauerhaft tragfhig fr den euro-pischen Integrationsprozess. Zu gro sind die resultierenden Belastungen. Konsequenter wre es, eine neue Organisation auszugrnden.Seite 2327
ANGELIKA NUBERGERZU VIEL EUROPA? EUROPISCHE GERICHTE IN DER KRITIKBeim Thema Menschenrechte gibt es viele berschneidungen zwischen dem Europischen Gerichtshof und dem Europischen Gerichtshof fr Menschenrechte. Die Arbeit beider wird jedoch oft als missionarisch kritisiert. Wie knnen sie dieser Kritik begegnen?Seite 2834
JAVIER RUIZ-SOLERGIBT ES EINE EUROPISCHE FFENTLICHKEIT? FORSCHUNGSSTAND, BEFUNDE, AUSBLICKEDie Existenz einer ffentlichkeit ist fr eine demokratische Gesellschaft also auch fr Europa von existenzieller Bedeutung: Sie ermglicht offene Debatten und Informations-austausch und ist so letztendlich unverzichtbar fr die demokratische Willensbildung.Seite 3540
ULRIKE LIEBERTNEUER SCHWUNG FR EUROPA? Die EU steigt im Kurs nicht nur an Wahlur-nen, sondern auch an ffentlichen Pltzen, wie Pulse of Europe zeigt. Welche Probleme gilt es jetzt zu lsen und welche Lehren knnen dafr aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag und der Konventsmethode gezogen werden?Seite 4147
STEVEN HILL EUROPA AN DER SPITZE? EIN BLICK VON AUEN AUF DIE ZUKUNFT DER EUROPISCHEN UNIONKrisendiagnosen sind stndiger Begleiter der Europischen Union. Von auen betrachtet ist jedoch nicht alles schlecht: Europa ist in vielerlei Hinsicht weltweit fhrend und als politische Union vergleichsweise jung. Gerade deswegen ist seine Stabilitt erstaunlich.Seite 4853
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EDITORIALBereits seit der Grndung der Europischen Gemeinschaft fr Kohle und Stahl im Jahr 1952 wird das Projekt der europischen Integration von Krisendiag-nosen begleitet. Auch in den vergangenen Jahren schien es so, als wrde die EU von einer Krise in die nchste taumeln: autoritre Tendenzen in einzelnen Mitgliedslndern, Euro- und Ukrainekrise, Brexit sowie eine alarmierend hohe Zahl an Brgerinnen und Brgern, die offenbar jedes Vertrauen in ein politisches Konstrukt verloren haben, das einmalig, aber vielleicht gerade deswegen so schwer greifbar und begreifbar ist. Kaum eines dieser Probleme kann als gelst betrachtet werden, und Zahl und Dringlichkeit der Aufgaben, vor denen die EU steht, nimmt eher zu als ab.
Indes scheint ein Stimmungsumschwung begonnen zu haben: Nach der schweigenden Akzeptanz der europischen Integration in den 1960er, 70er und 80er Jahren und der Vielzahl gescheiterter Referenden in jngerer und jngster Vergangenheit lsst sich zuletzt eine neue Begeisterung fr Europa feststellen. Sie schlug sich 2017 in den Prsidentschafts- und Ministerprsidentenwahlen sterreichs, der Niederlande und Frankreichs nieder, aber auch in den pro-europischen Demonstrationen von Pulse of Europe. Zugleich wird in der ffentlichkeit lebhaft und leidenschaftlich ber die Zukunft der EU diskutiert.
Die Vorschlge reichen dabei von weiter durchwursteln ber ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bis hin zu einer umfassenden Reform. Komplexitt und Diversitt der EU machen eine Entscheidung nicht einfacher. Verkannt wird aber mitunter, dass die EU bereits auf eine ber 60-jhrige Erfah-rung im friedlichen Umgang mit Krisen zurckblicken kann.
Christina Lotter
APuZ 37/2017
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ESSAY
IST DIE EUROPISCHE UNION ALS WEHRHAFTE DEMOKRATIE
GESCHEITERT?Jan-Werner Mller
Ist die EU eine wehrhafte Demokratie? 01 Eine plausible Antwort fllt anders aus, als mancher denken mag: Man kann mit guten Grnden an-zweifeln, dass die Union in ihrer jetzigen Form eine Demokratie ist aber dass das Institutionen-gefge, das der frhere Kommissionsprsident Jacques Delors einmal als unidentifiziertes poli-tisches Objekt (UPO) bezeichnete, 02 gegenber politischen Feinden wehrhaft sein soll, das steht seit sptestens Ende der neunziger Jahre fest: Sei-nerzeit wurden spezifische Sanktionen fr dieje-nigen Mitgliedsstaaten, die gegen gemeinsame eu-ropische Grundwerte verstoen, in die Vertrge aufgenommen.
Bis heute ist keine dieser Sanktionen ange-wendet worden obwohl es derzeit in der EU zwei Regierungen gibt, die ohne Zweifel auf eine Weise agieren, die mit demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien schlicht nicht in Ein-klang zu bringen ist: die Regierungen in Ungarn und Polen. Zeigt dies nun, dass es die EU-Vertre-ter mit ihren Werten nicht ernst meinen? Oder liegt es weniger an Individuen als an schlecht konstruierten Institutionen? Um hier eine Ant-wort zu finden und bessere Lsungen ins Auge zu fassen bedarf es zuerst eines kleinen histori-schen Rckblicks: Warum wurde die EU wehr-haft gemacht? Hatte man Szenarien wie heute in Budapest und Warschau berhaupt im Auge? Darber hinaus braucht es eine realistische Be-wertung der derzeit verfgbaren wehrhaften In-stitutionen (oder, wie es im EU-Jargon heit: der Instrumente). Meine These die auf den ersten Blick paradox anmuten mag lautet wie folgt: Je mehr sich die EU demokratisiert, des-to unwahrscheinlicher wird es, dass sie als wehr-hafte Demokratie funktionieren kann. Es be-darf einer unabhngigen, von parteipolitischem Druck mglichst isolierten Institution, die ber
Europas Werte wacht; mein Vorschlag ist, diese neue Einrichtung Kopenhagen-Kommission zu nennen.
EINE KURZE GESCHICHTE VON DEMOKRATIE UND
WEHRHAFTIGKEIT IN EUROPA
In Sonntagsreden heit es hufig, die EU sei ge-grndet worden, um Demokratie und Rechts-staatlichkeit in Europa zu verankern. Das klingt schn, ist aber eine Geschichtsklitterung. Die Eu-ropische Gemeinschaft (EG) hatte in der Tat von vornherein einen politischen Zweck: Man woll-te durch die Verflechtung der Volkswirtschaften Wohlstand und Frieden frdern. Die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten obla-gen jedoch einem anderen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegrndeten Gebilde: Dem Eu-roparat, der insofern eine viel direktere politische Rolle hatte.
Diese Arbeitsteilung zwischen EG bezie-hungsweise EU und Europarat funktionierte lange leidlich gut; auch heute noch verlsst sich Brssel regelmig auf die verfassungsrechtliche Kompetenz der Experten der Venedig-Kommis-sion, dem Gremium des Europarats zur Frde-rung der Demokratie durch Rechtsstaatlichkeit. Doch vor allem seit den siebziger Jahren wurde ein gewisses Ungleichgewicht immer deutlicher. Zwar waren dies fr die Europische Gemein-schaft die Jahre der Eurosklerose (Rckkehr zu protektionistischen Tendenzen gepaart mit stei-gendem Reformdruck) gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass die sdeuropischen Lnder, die in jenem Jahrzehnt den bergang von Diktatur zu Demokratie schafften, einen EG-Beitritt als entscheidend fr eine langfristige Sicherung der Demokratie erachteten. Dieser Trend verstrkte
Europa APuZ
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sich noch einmal nach dem Fall des Eisernen Vor-hangs 1989: Die osteuropischen Staaten streb-ten nicht nur aus konomischen, sondern auch aus politischen Grnden in die EU. Eine Mi-schung aus kalkulierendem Realismus und demo-kratischem Idealismus fand sich auch im Westen des Kontinents: Man wollte mit dem in Frieden und Freiheit geeinten ganzen Europa ernst ma-chen aber hatte auch ein Auge darauf, durch die Osterweiterung die Gefahr eines europischen Hinterhofes von politischer Instabilitt abzu-wenden.
Dass man den Osteuropern nicht ganz trau-te, zeigte sich an der Aufnahme eines Artikels zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in die europischen Ver-trge. Eine Regierung, die diese Werte verletzt, sollte von nun an mit Entzug der Stimme im Eu-ropischen Rat bestraft werden (Artikel 7 Vertrag ber die Europische Union, EUV). Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, dass diese Schutz-vorrichtung seinerzeit vor allem von Italien und ste