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Universiteit Gent Academiejaar 2012-2013 „Wer ist uns Zarathustra?“: Zarathustras dialogische Selbstsuche Eine Analyse der Identitätsentwicklung durch die Begegnungen in Nietzsches Also sprach Zarathustra Prof. Dr. Benjamin Biebuyck Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Nederlands door Sigrid Jacobs

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Universiteit Gent Academiejaar 2012-2013

„Wer ist uns Zarathustra?“: Zarathustras dialogische Selbstsuche

Eine Analyse der Identitätsentwicklung durch die Begegnungen

in Nietzsches Also sprach Zarathustra

Prof. Dr. Benjamin Biebuyck Verhandeling voorgelegd aan de

Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde:

Duits-Nederlands

door

Sigrid Jacobs

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Dankeswort Zu einer Arbeit, die den Dialog mit Anderen in der Identitätssuche der Hauptfigur in

den Mittelpunkt stellt, passt ein ausführliches Vorwort, in dem ich auch meinen

‚Anderen’ danken kann.

An erster Stelle möchte ich meinen beiden Großvätern danken, denen ich diese Arbeit

widme. Sie haben mir die Eigenschaften beigebracht, auf den sowohl dieser Text als

auch mein ganzes Studium basieren: dass es sich lohnt, hart zu arbeiten, und dass man

sich immer die Mühe geben muss, sich gerade so auszudrücken, dass man präzise sagt,

was man sagen will. Vor jeder Prüfung schaue ich mich ihre Bilder an und hoffe, dass

sie stolz auf mich sind. Auch jetzt hoffe ich, dass sie mit Stolz auf mich

hinunterblicken.

Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie meine universitäre Studie überhaupt

möglich gemacht haben. Ich möchte mich aber nicht nur bei ihnen bedanken, weil sie

mich immer materiell unterstützt haben, sondern auch, weil ihre Liebe, die tatsächlich

grenzenlos ist, mich fast 23 Jahre jeden Tag moralisch unterstützt. Ich danke meinem

Vater für seine zügellose Begeisterung, für die quality time freitagabends, die jedes Mal

einen stressfreien, witzigen und gemütlichen Anfang des Wochenendes ermöglichte. Ich

danke meiner Mutter für ihr unerschütterliches Vertrauen in mich, vor allem dann, wenn

ich dachte, das Vertrauen in mich selbst verloren zu haben.

Auch meine Freunde verdienen ihren Platz in diesem Dankeswort. Mit ihnen habe ich

gelacht und geweint; für beides danke ich ihnen. Eine ehrenvolle Erwähnung kommt

insbesondere meiner guten Freundin Linde zu. Nicht nur hat sie mir mit einer Korrektur

der vielen Texte geholfen, die ich während dieser vier Jahre geschrieben habe, sondern

sie war auch immer da, wenn ich ein hörendes Ohr brauchte, einfach etwas plaudern

oder nicht alleine zu einer politischen Debatte gehen wollte.

Am Ende dieses Studiums fühle ich mich wirklich intellektuell reicher. Die Ehre kommt

fasst ausschließlich meinem Betreuer, Prof. Dr. Benjamin Biebuyck, zu. Während des

Schreibens dieser Arbeit hat er mir ständig mit Empfehlungen, Korrekturen und vor

allem mit seiner Überzeugungskraft, die vielleicht nicht jeden Selbstzweifel wegnahm,

sondern schon minimierte, geholfen. Sowohl akademisch als auch persönlich hat er

immer die Zeit genommen, mich nicht nur pro forma, sondern wirklich interessiert

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zuzuhören. Trotz seiner eigenen Unordnung war er stets imstande, mich beim Schreiben

zu beruhigen.

Als Hauptfigur meines eigenen Buches suche auch ich eine eigene Identität. Wenn ich

je werde, wer ich bin, ist es nur mithilfe dieser lieben Menschen.

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Inhalt

Dankeswort .................................................................................................................................... 3  

0. Einleitung ................................................................................................................................... 7  

1. Also sprach Zarathustra: Erster Teil – Zarathustra als Lehrer ................................................ 14  

1.1   “Zarathustra’s Vorrede” ...................................................................................................... 14  1.1.1 Die Notwendigkeit zum Dialog .......................................................................................... 14  1.1.2 Die ersten Begegnungen: Das Scheitern einer direkten Kommunikation ........................... 17  1.1.2.1 Der Greis .......................................................................................................................... 17  1.1.2.2 Der Seiltänzer, der Possenreißer und die Totengräber ..................................................... 22  1.1.2.3 Fazit und Vorausblick ...................................................................................................... 30  1.1.3 Sprachmimesis als indirekte Kommunikation .................................................................... 32  1.2   „Die Reden Zarathustra’s“ .................................................................................................. 41  1.2.1 Zarathustras Begegnungen als Lehrer ................................................................................. 42  1.2.1.1 „Vom Baum am Berge“ ................................................................................................... 42  1.2.1.2 „Von der schenkenden Tugend“ ...................................................................................... 51  1.2.2 Entwicklung der Sprachmimesis ......................................................................................... 56  1.2.3 Fazit ..................................................................................................................................... 62  

2. Also sprach Zarathustra: Zweiter Teil – Zarathustra zwischen Lehrer und Lerhrling ............ 63  

2.1 Das Motto als Einleitung ........................................................................................................ 63  2.2 Die Traumbegegnungen: Die Bewegung nach innen ............................................................ 65  2.2.1 „Das Kind mit dem Spiegel“ ............................................................................................... 65  2.2.2 „Der Wahrsager“ ................................................................................................................. 71  2.2.3 „Die stillste Stunde“ ............................................................................................................ 78  2.3 Fazit: Zarathustras Entwicklung als Traumdeutung .............................................................. 83  

3. Also sprach Zarathustra: Dritter Teil – Zarathustra als sein eigener Lehrer ........................... 85  

3.1 Einleitung ............................................................................................................................... 85  3.2 Die letzten Begegnungen: Die Vollendung einer Suche ........................................................ 87  3.2.1 „Vom Gesicht und Räthsel“ ................................................................................................ 87  3.2.2 „Der Genesende“ ................................................................................................................. 96  3.3 Die Begegnungen in Zarathustras Betrachtung ................................................................... 106  3.4 Fazit ...................................................................................................................................... 112  

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4. Schlussfolgerung .................................................................................................................... 115  

5. Bibliografie ............................................................................................................................ 120  

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0. Einleitung

“We define our identity always in dialogue with, sometimes in struggle against, the

things […] others want to see in us. Even after we outgrow some of these others […]

and they disappear from our lives, the conversation with them continues within us”.1

Während meiner Lektüren von Nietzsches Also sprach Zarathustra stellte ich mich

immer dieselben Fragen, die immer wieder auf die Frage reduziert wurden, die sich

Martin Heidegger 1953 bereits stellte: Wer ist Zarathustra?2 Die komplexe, mehrfache

Identität der Titelfigur faszinierte mich, gerade weil Nietzsche sie auf den ersten Blick

unproblematisch darstellt. Am Anfang des ersten Teils heißt es: „Ich [Zarathustra]

lehre euch den Übermenschen“. [Z 14] Am Ende des dritten Teils behaupten die

Tiere Zarathustras: „[D]u bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft“. [Z 275]

Eine Schlussfolgerung, wie Laurence Lampert sie zieht („for he [Zarathustra] begins as

the teacher of the superman but ends as the teacher of eternal return“3), erscheint

deswegen als selbstverständlich. Obwohl ich die Analyse im Großen und Ganzen nicht

bestreite, meine ich, dass die Entwicklung Zarathustras eine komplexere ist. Nicht nur

radikalisiert Lampert die Gegenüberstellung von Übermenschen und ewiger

Wiederkunft, sondern er setzt auch undifferenziert voraus, Zarathustra sei vom Anfang

bis zum Ende ein Lehrer.4 Zarathustra ist der selbsternannte Lehrer, der aber in seiner

Tätigkeit als Lehrer anerkennen muss, dass er die Anderen, sowohl das ganze Volk als

auch seine eigenen Jünger, nicht lehren kann. Stattdessen lehrt Zarathustra sich langsam

1 Charles Taylor: „The Politics of Recognition“. In: Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition. Hg. von Amy Gutmann. Princeton: Princeton University Press 1994. S. 32-33. 2 Der vollständige Titel des Essays von Heideigger lautet “Wer ist Nietzsches Zarathustra?”. Martin Heidegger: “Wer ist Nietzsches Zarathustra”. In: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main: Vittorio Klosterman 2000, S. 99-124. Im zweiten Teil stellt Zarathustra selber die Frage, „wer ist uns Zarathustra?“; nicht zufällig in dem Teil, in dem die Lehreridentität, die Zarathustra für sich selber gedacht hat, deutlich problematisiert wird (cf. infra: 2.2.2). Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Kritische Studienausgabe: Band 4. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 13. Auflage. München: DTV 2011. S. 179. Ab jetzt wird für Also sprach Zarathustra das Siegel [Z] (Zarathustra) benutzt. 3 Laurence Lampert: Nietzsche’s Teaching. An Interpretation of Thus Spoke Zarathustra. New Haven and London: Yale University Press 1986. S. 21. 4 Annemarie Pieper argumentiert zum Beispiel, dass auch in der Vorrede die Metaphorik der ewigen Wiederkunft deutlich sichtbar ist. Siehe dazu: Annemarie Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. Nietzsches erster “Zarathustra”. Stuttgart: Klett-Cotta 1990. In meiner Bachelorarbeit habe ich u.a. versucht, ihre Argumentation zu erweitern. Siehe dazu: Sigrid Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. Eine Analyse der intertextuellen Bezüge zwischen Nietzsches „Zarathustra’s Vorrede“ und den heraklitischen Fragmenten. Gent: s.n. 2012.

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selbst. Das heißt, dass Zarathustra, sicherlich im dritten Teil, nicht nur Lehrer, sondern

auch Lehrling ist; außerdem sein eigener Lehrling. Der Weg, den Zarathustra geht, ist

einer, den er am Anfang des Buches nicht vorhergesagt hat, einer, den er bei jeder

Begebenheit neu denken muss.

Als ich die Frage, wer Zarathustra ist, zu beantworten versuchte, war es

auffällig, wie stark die anderen Figuren die Antwort beeinflussen. In dem oben zitierten

Identitätssprung vom Lehrer des Übermenschen zum Lehrer der ewigen Wiederkunft

sind es zum Beispiel die Tiere, die behaupten, zu wissen, wer Zarathustra ist. Die

Begebenheiten, die Zarathustra veranlassen, seinen Weg (d.h. sich selber) neu zu

denken, sind außerdem immer Begegnungen. Fragen, wer Zarathustra ist, ist zugleich

fragen, mit wem Zarathustra gesprochen bzw. wem er begegnet hat. Der politische

Kontext, in den das von mir gewählte Motto Taylors ursprünglich eingebettet ist, außer

Betracht gelassen, fasst der Satz nicht in Worte, wer Zarathustra ist, sondern wie

Zarathustra geworden ist, wer er ist. Die Identität Zarathustras ist eine dialogische: nicht

nur eine, die von den Begegnungen mit anderen Figuren beeinflusst wird, sondern auch

eine, die Zarathustra gerade mithilfe dieser anderen Figuren anerkennen kann.

Die zwei Fragen, die in dieser Arbeit meine Hauptfragen sind, sind die

folgenden: Wer ist Zarathustra, und wie steuern und bestimmen die anderen Figuren

seine Identität. Die Fragen gehören meiner Meinung nach zusammen, bilden zusammen

eine Frage, die ich während meiner Analyse zu beantworten versuche. Ich behaupte,

dass Zarathustra sich in den bzw. durch die Begegnungen zu der Figur entwickelt, die er

am Ende des dritten Teils ist, und werde darlegen, wie die Begegnungen je nachdem für

Zarathustras Selbstfindung funktional sind. Um die Frage zu lösen bzw. die Behauptung

zu belegen, habe ich dafür optiert, die meines Erachtens wichtigsten Begegnungen der

drei ersten Teile chronologisch zu analysieren. Ich meine nämlich, dass es, um eine

nuancierte Antwort zu formulieren, nützlicher ist, weniger Kapitel detailliert statt vieler

Kapitel oberflächlich zu besprechen. Die Primärliteratur, auf die ich mich in dieser

Arbeit konzentrieren werde, habe ich auf die drei ersten Teile von Also sprach

Zarathustra beschränkt. Die Einschränkung enthält kein Werturteil, sondern ist vor

allem praktischer Art. Auch im vierten Teil finden wichtige Begegnungen statt; der

vierte Teil, der von Zarathustra und den ‚höheren Menschen’ handelt, umfasst eben vor

allem Begegnungen. Sie kommen in der Sekundärliteratur aber bereits häufiger an die

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Reihe. So bietet Benjamin Biebuyck eine gründliche Analyse von den

„Sprachstrategien“5 der ‚höheren Menschen’, die Zarathustra deutlich beeinflussen, und

behauptet Erich Meuthen sogar, dass sich Zarathustra nur in Kontrast zu den ‚höheren

Menschen’ als Individuum bestimmen kann, d.h. sie braucht, um ex negativo seine

eigenen Konturen zu fixieren.6 Ich meine nicht, dass ich diesen Analysen nichts

hinzufügen kann, sondern meine, dass es für die Nietzscheforschung interessanter ist, zu

betonen, dass auch die Begegnungen in den ersten drei Teilen Zarathustras Daseinsform

prägen. Es ist zum Beispiel auffällig, dass in der Vorrede die anderen Figuren nicht die

Sprache Zarathustras übernehmen, wie laut Biebuyck im vierten Teil der Fall ist,

sondern dass gerade Zarathustra sich eine fremde Sprache zueignet. Obwohl ich in

Bezug auf die Sprache Zarathustras in der Vorrede nicht von einer Strategie sprechen

würde, beschränkt sich die sprachliche Nachahmung allerdings nicht auf den vierten

Teil. Eine textuelle Begrenzung beschwert außerdem die erste Hälfte meiner Hauptfrage

nicht, die lautet: Wer ist Zarathustra? Am Ende des dritten Teils ist die geistige

Entwicklung Zarathustras vollendet und kann man auf die Frage eine Antwort

formulieren. Editorisch bilden die ersten drei Teile ja auch eine Einheit. Nietzsche hat

die drei ersten Teile nämlich 1886 zusammengebunden veröffentlicht, ohne den vierten

Teil, der 1885 als Privatdruck erschienen war.7 Das heißt meines Erachtens nicht, dass

der vierte Teil nicht zu den drei anderen gehört, sondern dass die drei ersten Teile an

und für sich nicht unvollständig sind, zusammen inhaltlich als vollendete Geschichte

funktionieren können. Die ersten drei Teile stellen vor allem Zarathustras Selbstfindung

in den Mittelpunkt, im letzten Teil wird Zarathustras gefundenes Selbst mit den

‚höheren Menschen’ konfrontiert, die ihn verführen wollen. Für diese Arbeit, die gerade

Zarathustras Selbstfindung befragt, sind die ersten Teile also sowieso am wichtigsten.

5 Biebuyck unterscheidet drei Sprachstrategien: die Sprachmagie, die Sprachinfiltration und die Sprachverführung. Er behauptet, dass die höheren Menschen Zarathustra anhand dieser Strategien zu destabilisieren versuchen. Sie übernehmen Zarathustras Metaphern, kreieren so ein Verwandtschaftsgefühl und missbrauchen die Verwandtschaft, um Zarathustra zu verführen, damit die alte Ordnung nicht bedroht werde. Siehe dazu: Benjamin Biebuyck: „Singe! Sprich nicht mehr!“ Eine Untersuchung der Metapher und ihrer Valenzen in „Also sprach Zarathustra“. Gent: s.n. 1990. S. 156-167. 6 Erich Meuthen: „Vom Zerreißen der Larve und des Herzens. Nietzsches Lieder der ‚Höheren Menschen’ und die ‚Dionysos-Dithyramben’“. In: Nietzsche-Studien 20. Berlin: Walter de Gruyter 1991. S. 155. 7 Die ersten zwei Teile waren 1883 bereits erschienen, der dritte Teil ein Jahr später. Siehe dazu Montinaris Vorbemerkung zu Also sprach Zarathustra. [Z 7]

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Die Methode, die ich in dieser Untersuchung benützen werde, ist die eines close

reading. Für jeden der drei Teile werde ich die Begegnungen analysieren, die meines

Erachtens für Zarathustras Entwicklung die wichtigsten sind. In meiner Analyse werde

ich mich jedes Mal auf Zarathustras Identität und den Einfluss von Anderen auf diese

Identität konzentrieren. Eine textnahe Lesung scheint für eine solche Arbeit (vielleicht

für jede literaturwissenschaftliche Arbeit überhaupt) selbstverständlich zu sein. Es ist

aber überraschend, zu bemerken, wie textferne manche Zarathustra-Interpretationen

bleiben. Die Analysen von Niemeyer und Duhamel zum Beispiel sind interessante

Lesungen, die wichtige Bemerkungen enthalten, die aber zugleich viele wichtige

Textausschnitte vernachlässigen.8 Natürlich wäre eine Analyse, die alle textuellen

Elemente berücksichtigt, eine Illusion. Ich werde aber versuchen, in Bezug auf die

Fragen, die ich in dieser Arbeit stelle, eine so vollständig mögliche Lesung darzustellen.

Also sprach Zarathustra ist meines Erachtens ein Text, der so gelagert ist, dass man

sich als Forscher die Mühe geben muss, ihn ganz und gut zu lesen. Annemarie Pieper

zeigt, dass es sich lohnt, einen Kommentar zu schreiben, der weniger Textmaterial

analysiert (Pieper kommentiert nur den ersten Zarathustra), der aber den Text, den er

umfasst, gründlich interpretiert. 9 Es ist meine Absicht, den Lesern eine stark

textorientierte Lesung zu bieten, die versucht, Philosophie und Literaturwissenschaft

zusammenzudenken, so wie Nietzsche mit diesem philosophischen Roman auch

Philosophie und Literatur zusammengedacht hat. Das bedeutet konkret, dass ich für

jedes Kapitel, das ich bespreche, sowohl die philosophische Thematik als auch die

literarische Darstellungsform in meiner Analyse reflektieren werde.10

8 Roland Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. Mysticus van het Nihilisme. Kapellen: DNB/Pelckmans 1986. Christian Niemeyer: Friedrich Nietzsches >Also sprach Zarathustra<. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 9 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. 10 Eine Interpretation, von der der Forscher meint, sie sei eine rein philosophische bzw. eine rein literaturwissenschaftliche, setzt voraus, man könne den Inhalt von der Form trennen. Meines Erachtens ist eine solche Trennung eine Täuschung, einfach weil die Form immer den Inhalt beeinflusst und man sie also nicht unverknüpft betrachten kann. Rüdiger Braun zeigt in der Einleitung zu seiner Analyse der poetischen Rede in Also sprach Zarathustra die Schwierigkeiten, die die Nietzscheforschung, die sicherlich anfangs eine vor allem philosophisch orientierte war, mit dem Zarathustra hatte bzw. immer noch hat. Braun bietet einen allgemeinen Überblick über die Tendenzen in den Zarathustra-Interpretationen, bei dem mir vor allem deutlich wird, wie stark die Philosophen die literarische Darstellungsform zu verneinen versuchen und wie stark die Literaturwissenschaftler sich von den philosophischen Schwierigkeiten fernhalten zu glauben können. Wenn Braun am Ende seiner Einleitung betont, „[i]ch werde zeigen, dass die ‚Reden Zarathustra’s’ nur vordergründig philosophische Debatten sind“, ordnet er sich deutlich der zweiten Gruppe zu. Siehe dazu: Rüdiger Braun: Quellmund der Geschichte. Nietzsches poetische Rede in Also sprach Zarathustra. Frankfurt am Main: Peter Lang 1998.

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Die Sekundärliteratur, die sich bis hierher direkt oder indirekt mit der Frage

nach Zarathustras Identität und der Rolle der anderen Figuren in der Identitätssuche

beschäftigt hat, ist sehr variiert. Die Forschung, die vor allem indirekt auf die Frage

antwortete, war mir (vielleicht paradoxerweise) am nützlichsten. Die allgemeinen

Kommentare zu Also sprach Zarathustra haben ja den Vorteil, dass sie den ganzen Text

behandeln, d.h., sich nicht auf eine bestimmte Thematik beschränken.11 Wenn zum

Beispiel das Gewicht der anderen Figuren an die Reihe kommt, ist es immer als Teil

eines allgemeinen Kommentars, werden die Fragen, die ich jetzt nolens volens mehr

oder weniger isoliert behandele, mit anderen Schwerpunkten verknüpft. Ihre zumindest

thematische Unbegrenztheit ermöglicht eine offene Interpretation, in der Zarathustras

Identitätssuche und der Einfluss der Anderen in ein größeres Ganzes aufgenommen

werden. Die Präzision, mit der diese Forscher den Primärtext lesen, ist aber je nachdem

verschieden, wie ich schon erwähnt habe. Der Nachteil eines allgemeinen Kommentars

ist, dass er die Fragen, die ich während meiner ganzen Arbeit konsequent stelle, nur

dann aufwirft, wenn die Thematik sich wirklich aufdrängt. Wenn man aber die Fragen

nuanciert beantworten will, soll man sie auch (so viel wie möglich) stellen, wenn sie

sich nicht deutlich aufdrängen. Es ist meine Absicht, die thematisch beschränkten

Fragen schrittweise zu beantworten (also auch, wenn die allgemeinen Kommentare sie

nicht thematisieren), ohne den Überblick über das Ganze zu verlieren. Außer den

allgemeinen Kommentaren gibt es auch Sekundärliteratur, die sich entweder spezifisch

mit der Identitätsfrage oder mit der Funktion bzw. der Bedeutung der anderen Figuren

beschäftigt, sie aber als Ausgangspunkt der Untersuchung nie miteinander verknüpft.12

Heideggers „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“ ähnelt meine Untersuchungsfrage

S. 19. Man ist als Forscher zwar immer mehr philosophisch oder literaturwissenschaftlich orientiert, aber eine zu starke Trennung zwischen beiden Disziplinen schadet meiner Meinung nach die Forschung. Ich versuche in meiner Analyse deshalb, sowohl literaturwissenschaftlich als auch philosophisch adäquat zu sein. 11 Die allgemeinen Kommentare, mit denen ich mich vor allem beschäftigt habe, sind die folgenden: Lampert: Nietzsche’s Teaching. Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. Niemeyer: Friedrich Nietzsches >Also sprach Zarathustra<. Pieper: „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. 12 Siehe zum Beispiel: Christa Davis Acampora, Ralph Acampora: A Nietzschean Bestiary. Becoming animal beyond docile and brutal. Lanham: Rowman and Littlefield 2004. Paola-Ludovika Coriando: Individuation und Einzelnsein. Nietzsche-Leibniz-Aristoteles. Frankfurt am Main: Klostermann 2003. Heidegger: „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. Beatrix Himmelman: „Zarathustras Weg“. In: Also sprach Zarathustra. Hg. von Volker Gerhardt. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 17-46. Kevin Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. De verklaring van Nietzsches denken vanuit de door René Girard geëxpliciteerde wetten van het mimetisme, gekaderd in een bredere analyse van de moderne anti-cultuur. Gent: s.n. 2012, S. 309-419.

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zumindest teilweise am stärksten. Heidegger behandelt die Frage aber in einem relativ

kürzen Aufsatz, der schon einige Textstellen analysiert, dies aber meines Erachtens

häufig zu undifferenziert. Außerdem achtet auch er nur auf die Funktion von anderen

Figuren, wenn Zarathustra sehr deutlich von ihnen beeinflusst wird, betrachtet er ihre

Anwesenheit also nicht konsequent. Quellen, die sich nur mit den anderen Figuren in

Also sprach Zarathustra auseinandersetzen, gibt es kaum. In Waanzin en werk van

Friedrich Nietzsche von Kevin Van Eeckelen ist die Aufmerksamkeit für ihre Position

im ganzen Zarathustra zwar groß, er betrachtet sie aber nur aus einer

Mimetismusproblematik heraus und minimiert so trotzdem immer noch ihre (meines

Erachtens) prägende Rolle. Die Arbeit, deren ganze These am meisten mit der meinigen

verwandt ist, ist Bennholdt-Thomsens Nietzsches Also sprach Zarathustra als

literarisches Phänomen.13 Sie analysiert vor allem die Kommunikationsproblematik

und betrachtet also auch Sender und Empfänger. Per definitionem behandelt sie das

Verhältnis zwischen der Hauptfigur und den Figuren, die sie umringen. Sie fokussiert

aber so stark auf die Kommunikationssituation, dass sie Zarathustras geistige

Entwicklung bzw. die seines Publikums oft außer Betracht lässt oder nur sehr kurz

erwähnt. Außerdem versucht sie manchmal, sich einer inhaltlichen, philosophischen

Deutung zu entziehen. 14 Sie fragt sich nicht, wer Zarathustra ist und wie die

‚Empfänger’ dieses Sein beeinflussen, sondern fragt sich, wie und mit wem Zarathustra

kommuniziert. Die Kommunikationssituation ist meines Erachtens für Zarathustras

Identität ein wichtiger Faktor, deshalb werde ich sie auch in meine Arbeit mit

einbeziehen, beantwortet aber an sich nicht die Frage, die ich jetzt stelle. Die

Sekundärliteratur bietet also auf verschiedenen Ebenen einen Anlass zu meiner These,

hat sie aber bisher nie detailliert belegt.

Weil der Weg, den ich in dieser Arbeit gehe, der Weg Zarathustras ist, werde ich

die Kapitel, die meines Erachtens zu einer Antwort auf meine Frage führen, in der

Reihenfolge des Buches behandeln. Das heißt, dass ich zuerst den ersten, dann den

13 Anke Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathusra als literarisches Phänomen. Eine Revision. Frankfurt am Main: Athenäum 1974. 14 Wenn sie zum Beispiel die Begegnung mit dem Zwerg im Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ zu deuten versucht, behauptet sie: „Da es uns allein um das Strukturgesetz des Werkes geht, verzichten wir auf eine kritische Stellungnahme zu oder auch nur auf eine Darlegung von Nietzsches Zeitauffassung [...]. [W]ir verweisen im übrigen auf die philosophische Literatur zum Zarathustra“. Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 86.

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zweiten, zuletzt den dritten Teil analysiere. Ich habe jedes Mal die Kapitel gewählt, in

denen die wichtigsten Begegnungen auftauchen. Die Kapitel sind ja die, in denen

Zarathustra sich selber (also auch seine Entwicklung) am besten zeigt, und ermöglichen

also, eine Verknüpfung zwischen beiden (Zarathustras Selbstfindung einerseits, den

Begegnungen andererseits) zu beweisen. Der erste Teil von Also sprach Zarathustra

enthält sowohl „Zarathustra’s Vorrede“ als auch „Die Reden Zarathustra’s“. Weil

Nietzsche sie im Buch deutlich voneinander trennt, habe auch ich sie getrennt

aufgefasst. Als Einleitung zu den Begegnungen in der Vorrede analysiere ich zuerst den

ersten Teil der Vorrede. In diesem Teil kreiert Zarathustra für sich selber die

Lehreridentität, die ihn veranlasst, zu den Menschen hinunterzugehen. Ich habe dafür

optiert, alle einzelnen Begegnungen, die in der Vorrede stattfinden, zu besprechen. Es

sind nämlich die einzelnen Figuren, denen Zarathustra in der Vorrede begegnet, die ihm

helfen, seine anfänglich gedachte Lehreridentität aufs Neue zu denken. Die direkte

Kommunikation zwischen Zarathustra und diesen Figuren scheitert zwar (so zeige ich

in Kapitel 1.1.2), die indirekte Kommunikation in der Form einer Sprachmimesis

(Thema des Kapitels 1.1.3) legt schon den Einfluss ihres Treffens dar. „Die Reden

Zarathustra’s“ zeigen einen anderen Lehrer. Auch in diesem Subkapitel bespreche ich

‚alle’ Begegnungen ausführlich: die mit dem Jüngling in „Vom Baum am Berge“ und

die mit allen Schülern in „Von der schenkenden Tugend“. Zum Schluss des ersten Teils

untersuche ich, wie sich die Sprachmimesis, die in der Vorrede eine indirekte

Kommunikation möglich machte, weiterentwickelt und wie die Weiterentwicklung der

Sprache für die Weiterentwicklung Zarathustras exemplarisch ist. Im zweiten Teil

meiner Arbeit konzentriere ich spezifisch auf die Traumbegegnungen Zarathustras. Es

sind meines Erachtens nämlich die Traumbegegnungen, die den Zarathustra des zweiten

Teils steuern, die außerdem an und für sich eine neue Tendenz in Zarathustras

Identitätssuche markieren: eine Bewegung nach innen. Im dritten Teil wird Zarathustras

Identität am meisten problematisiert. Nicht zufällig wird die Suche aufs Neue in den

Begegnungen sichtbar. Sowohl das Kapitel „Vom Gesicht und Rätsel“ als auch „Der

Genesende“ zeigen einen innerlich kämpfenden Zarathustra, der mithilfe des Dialoges

imstande ist, sich selbst zu finden. Das letzte Subkapitel widme ich den schon

analysierten Begegnungen, über die Zarathustra im dritten Teil selbst reflektiert. Ich

betrachte sie diesmal aus seiner Perspektive heraus. Dass Zarathustra gerade in dem

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Teil, in dem es ihm gelingt, zu finden, wer er ist, die Begegnungen aus den vorigen

Teilen für sich selber funktionalisiert, ist meiner Meinung nach an und für sich schon

ein Werturteil. Eine solche Analyse der drei ersten Teile bietet die Möglichkeit, als

Schlussfolgerung eine Antwort zu formulieren auf die Fragen, die ich mich in dieser

Einleitung gestellt habe.

1. Also sprach Zarathustra: Erster Teil – Zarathustra als Lehrer

1.1 “Zarathustra’s Vorrede”

1.1.1 Die Notwendigkeit zum Dialog In der Einleitung habe ich kurz erwähnt, was ich in einer vorigen Arbeit ausführlicher

erklärt habe: Der erste Teil der Vorrede wird vor allem zur Selbstcharakterisierung

Zarathustras genützt.15 In einem Gespräch mit der Sonne – die nicht antworten kann,

wodurch das Gespräch eigentlich ein Selbstgespräch ist – vergleicht Zarathustra sich

selbst mit ihr. Wie er, „[s]eine[r] Adler und [s]eine Schlange“ der Sonne ihren

„Überfluss ab[nahmen]“, so braucht Zarathustra jetzt „Hände, die sich ausstrecken“. [Z

11] Während der zehn Jahre, die Zarathustra in seiner Höhle verbrachte, entwickelte er

in Einsamkeit die Weisheit, deren er jetzt „überdrüssig“ ist.16 [Z 11] Er „möchte [also]

verschenken und austheilen“, muss es aber auch. [Z 11] Wie ich in der vorigen Arbeit

bereits erwähnt habe, ist „[d]er Untergang Zarathustras [...] nicht wirklich eine Wahl,

die er selber getroffen hat. Er muss untergehen, denn wie die Biene ist er nicht

imstande, unendlich viel Honig [...] zu bewahren“.17 Nach der heraklitischen Dialektik,

wovon meine vorige Arbeit handelte, muss Zarathustra, sobald er einmal den Berg

hinaufgegangen ist, den Berg auch wieder hinabgehen, um den Kreis zu vollenden. Der

Zwang, der in Zarathustras Bewegung hinab sichtbar ist, ist in Bezug auf meine jetzige

Analyse wichtig, weil der Dialog mit den Anderen hier als notwendig erscheint;

Zarathustra „bedarf der Hände, die sich ausstrecken“ [Hervorhebung von mir, sj]. Die

15 Siehe dazu Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. S. 16-19. 16 Die Einsamkeit, von der hier die Rede ist, heißt nicht einfach Alleinsein. Zarathustra war zwar einsam in seiner Höhle, hatte aber den Adler und die Schlange bei sich. 17 Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. S. 18.

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Wortwahl betont die Notwendigkeit des Verschenkens, hebt zugleich hervor, dass das

Verschenken an sich nicht reicht. Zarathustra bedarf nicht nur Hände, sondern auch

Hände, die sich tatsächlich ausstrecken. Er kann nur austeilen, wenn es jemanden gibt,

der das Geschenk akzeptieren will. Eine monologische Kommunikation genügt deshalb

nicht. Zarathustra braucht überhaupt keine Kommunikation pro forma, sondern einen

Dialog stricto sensu. Paola-Ludovika Coriando bemerkt also zu Recht, „die Einsamkeit

mündet in die Notwendigkeit eines Sprechens, und zwar nicht in ein Selbstgespräch des

Ich, sondern in die Öffnung für das Du und für die ontologische Gewissheit, die diese

Öffnung mit sich bringt“.18 Zarathustra braucht die Kommunikation, „die Öffnung für

das Du“, um sich selbst als Schenker, als Lehrer bestätigen zu können. Vorausgesetzt,

Zarathustra porträtiere in der Sonne zugleich sich selbst, meine ich, dass, wenn Kevin

Van Eeckelen behauptet, dass „zelfs de zon volgens Zarathustra niet gelukkig [zou]

kunnen zijn met haar geluk indien ze niet tevens anderen zou kunnen beschijnen en

beschenken“, in der Aussage zu wenig auf den Kommunikationszwang geachtet wird.19

Im Zitat deutet Van Eeckelen den Grund für Zarathustras Untergang zu den Menschen

vor allem als Glücksmaximierung. Der Untergang verliert damit jede Notwendigkeit.

Meiner Meinung nach hat Van Eeckelen Unrecht, wenn er suggeriert, dass die Sonne –

und so auch Zarathustra – ihr Licht verschenke, um ihr Glück maximieren zu können.

Tatsächlich öffnet Zarathustra das Gespräch mit dem Satz „was wäre dein Glück, wenn

du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!“ [11], aber in der Übersetzung von Van

Eeckelen wird das Glück an sich fast unabhängig von denjenigen, die das Licht erteilt

bekommen, wird das Glück, das es in der Übersetzung sowieso gibt, einfach weil die

Sonne das Licht besitzt, für sie erst dann genießbar, wenn sie die Möglichkeit hat, es zu

verschenken. In der Übersetzung fehlt also sowohl die Ahnung von Gewalt, die in dem

Kommunikationszwang gegenwärtig ist, als auch das Gewicht der Kommunikation in

dem Kommunikationszwang. Zarathustra sagt im Grunde, dass ohne diejenigen, die der

Sonne das Licht abnehmen, es überhaupt kein Glück gebe. Lampert meint, Zarathustra

„interprets the sun’s happiness as dependent on his gratitude; the sun’s apparent

autonomy masks a dependence“.20 Die Sonne braucht Zarathustra, so wie Zarathustra

die akzeptierenden Menschen braucht, ohne die sein „Becher“ überfließen würde. [Z 18 Coriando: Individuation und Einzelnsein. S. 27. 19 Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 309. 20 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 14.

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12] Er bedarf einer Kommunikation, sowohl um sich selber seiner überfließenden

Weisheit entleeren zu können (d.h., um nicht selbstdestruktiv zu sein), als auch um die

schenkende Identität, die er in diesem Teil der Vorrede für sich selbst kreiert, bejahen

zu können. Zarathustra ist völlig von einem gelingenden Verschenken abhängig, ohne

das er nicht (‚sich selbst’; zumindest das Selbst, das er für sich konstruiert) sein kann.

Trotzdem hat Van Eeckelen Recht, in dem ersten Teil der Vorrede gerade das

„Glück“ zu betonen, sei es vielleicht zufällig und undifferenziert. Bevor Zarathustra im

Buch zu Sprechen anfängt, sagt der Erzähler über ihn, „hier [=in das Gebirge] genoss er

seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich

aber verwandelte sich sein Herz“. [Z 12; Hervorhebung von mir, sj] Auch Coriando

betont, dass es Zarathustras Herz ist, das sich verwandelt. Sie deutet diese Verwandlung

als „Wendepunkt“ der zehnjährigen Meditation, vergleicht die Meditation mit der bei

Descartes und bemerkt, dass der Wendepunkt bei Descartes rational ist, während er in

Also sprach Zarathustra ein des Herzens ist.21 Die Diskrepanz zwischen dem rationalen

und dem herzlichen Wendepunkt verbindet Coriando sofort mit Zarathustras

Kommunikationsdrang: Descartes’ Subjekt ist auf sich selbst bezogen, Zarathustra

richtet sich auf die Anderen. Meines Erachtens trifft die Verbindung zwischen der

Verwandlung des Herzens und dem Untergang zu den Menschen zu. Coriando

verzichtet aber auf eine ausführlichere Erklärung der Verwandlung, die meiner Meinung

nach erforderlich ist, will man Geist und Herz zusammendenken, so wie sie im

Erzählertext zusammengedacht werden. Es ist tatsächlich so, dass, gerade nachdem das

Herz sich verwandelt hat, Zarathustra das Gespräch beginnt, in dem er die

Notwendigkeit der Kommunikation expliziert. Wie ich schon erwähnt habe, redet

Zarathustra gleich am Anfang des Gesprächs über das „Glück“, das die Sonne erlebt,

wenn sie ihr Licht verschenkt, das Glück, das Zarathustra selbst zu erreichen hofft – das

Glück auch, das die Konsequenz einer Bewegung ist, die Zarathustra vielleicht machen

will, aber sicherlich auch machen muss. Das Glück, worüber hier gesprochen wird,

vereinigt Geist und Herz in sich, da es die Konsequenz einer Bewegung ist, die erst

gemacht werden kann, wenn der Geist dazu reif wird. In dem Sinne ist die Verwandlung

des Herzens eine Folge der geistigen Meditation, denn Zarathustra muss – „müssen“

schließt nicht aus, er will es auch – zur Kommunikation gelingen, hat Akzeptierende 21 Coriando: Individuation und Einzelsein. S. 24-26.

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nötig, indem die Weisheit ihm zu groß wird, und er sie übertragen muss, wenn er sich

selbst nicht zerstören will. So behauptet auch Biebuyck, „Zarathustra hat keine Wahl,

sein Schicksal liegt fest“.22 Die Verwandlung des Herzens ist ein Wendepunkt einer

Meditation, die sich nach dem Punkt nicht inhaltlich, sondern in der Bewegung ändert.

Eine Wende tritt ein, die Richtung der Meditation ändert sich, richtet sich nach außen,

aber der Inhalt der Meditation bleibt derselbe.

1.1.2 Die ersten Begegnungen: Das Scheitern einer direkten Kommunikation

1.1.2.1 Der Greis Im zweiten Teil der Vorrede verlässt Zarathustra seine Höhle und geht zu den

Menschen hinunter. In den Wäldern, irgendwo zwischen der Höhle seiner Einsamkeit

und der Stadt der Menschen, begegnet er einem „Greis“. [Z 12] Der Greis ist die erste

Person, die Zarathustra in zehn Jahren trifft. Außerdem war der Greis auch die letzte

Person, die Zarathustra gesehen hat, bevor er zehn Jahre in Einsamkeit verbrachte. „Der

Heilige“ [Z 13] erkennt Zarathustra unmittelbar, sieht sofort, „aber er hat sich

verwandelt“. [Z 12] Zum zweiten Mal wird in Bezug auf Zarathustra also von einer

Verwandlung gesprochen. Das erste Mal war es der Erzähler, der bemerkte,

Zarathustras Herz habe sich verwandelt, jetzt ist es der Heilige. Die Verwandlung des

Herzens, eine innerliche, manifestiert sich auch äußerlich. Der Heilige, der nicht die

Machtposition des Erzählers vertritt, der nicht in Zarathustra schauen kann, sieht

trotzdem, dass Zarathustra sich geändert hat. Einige Sätze später wiederholt er nochmal,

„verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Erwachter ist Zarathustra:

was willst du nun bei den Schlafenden?“ [Z 12] Die Wiederholung des Begriffs

„Verwandlung“ ist wesentlich, weil es hier explizit mit dem Kindsmotiv verbunden

wird. Roland Duhamel zum Beispiel interpretiert die Verwandlung im Licht von „Von

den drei Verwandlungen“ [Z 29], der ersten Rede der „Reden Zarathustra’s“.23 Ich

glaube, dass es zu einfach ist, alle Verwandlungen, worüber nach „Von den drei

Verwandlungen“ gesprochen wird, als eine solche zu deuten, betrachte also sicherlich

die Verwandlungen, die zur Sprache kommen, bevor Zarathustra mit seinen Reden

22 Biebuyck: Singe! Sprich nicht mehr! S. 59. 23 Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. S. 28.

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anfängt, nicht automatisch als Hinweise auf die Metaphern des Kamels, des Löwen und

des Kindes. Wenn aber, wie hier der Fall ist, Zarathustra in einem Satz sowohl

„verwandelt“, als auch „Kind“ genannt wird, liegt es nahe, die Bilder als

Vorausdeutung der jetzt noch nicht gesprochenen Rede zu bewerten. Es ist natürlich an

sich bedeutend, dass der Greis sieht, dass Zarathustra sich verwandelt hat. Wie ich in

meiner vorigen Arbeit schon bemerkt habe, weiß der Greis, ohne dass Zarathustra etwas

gesagt hat, wohin er geht und mit welchem Ziel er geht. Die Verwandlung des Herzens,

die ich als Konsequenz einer Meditation interpretiert habe, die also eine innerliche ist,

wird in der Begegnung mit dem Heiligen zu einer äußerlichen, zu einem wirklichen

Gestaltwechsel. Dass der Heilige tatsächlich sehen kann, dass Zarathustras Form sich

verändert hat, demonstriert er auch anhand seiner Sprache. Im Gespräch mit Zarathustra

redet er nämlich nicht von einer innerlichen Veränderung, sondern spricht vom

Aussehen Zarathustras, das die innere Metamorphose widerspiegelt. So sagt er, „Ja, ich

erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge, und an seinem Munde birgt sich kein Ekel.

Geht er nicht daher wie ein Tänzer?“ [Z 12; Hervorhebung von mir, sj] Dass der Greis

zweimal von einer Verwandlung spricht und diese äußerlich beschreibt, ist an sich nicht

so eigenartig, denn eine Verwandlung ist per definitionem eine Formveränderung. Es ist

aber schon wichtig, dass der Greis der Einzige ist, der von Zarathustras Verwandlung

spricht, dass gerade er, der Heilige, die Verwandlung bemerkt und dass er in der

Beschreibung der Verwandlung gerade die Bilder benützt, die Zarathustra später in der

Lehre des Übermenschen selber benützen wird (cf. infra: 1.2.2).24 In Also sprach

Zarathustra ist der Heilige derjenige, der Zarathustra am besten und längsten kennt, ihn

trotzdem nicht fassen kann, denn er versteht die Bewegung Zarathustras nicht. Der

Heilige ist derjenige, der sowohl physisch als auch mental zwischen Zarathustra und

dem Volk positioniert ist. Er vertritt eine Zwischenposition, die dazu führt, dass er

Zarathustra näher ist, zugleich immer noch weit von ihm entfernt.

Obwohl Duhamel behauptet, mit dem „Kind“ sei hier das Kind der drei

Verwandlungen gemeint, glaubt er nicht, Zarathustra sei jetzt bereits das Kind, sondern

24 Dass nur der Greis von Zarathustras Verwandlung spricht, mag nicht überraschen, denn im Grunde ist er der Einzige, der überhaupt von Zarathustras Verwandlung sprechen kann. Der Heilige ist nämlich die einzige Figur, die Zarathustra auch gesehen hat, bevor er zu seiner Höhle hinaufgegangen ist. Die Möglichkeit, vergleichen zu können, hat zur Folge, dass der Heilige (eben nur der Heilige) imstande ist, den Erzählertext aus dem ersten Teil der Vorrede zu bestätigen.

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meint, der Heilige irre sich.25 Wie ich schon argumentiert habe, evoziert der Heilige mit

dem Bild des Kindes „vor allem die Sphäre eines Neubeginns“.26 Das Bild des Kindes

als neues Leben wird außerdem extra hervorgehoben, da es gerade mit dem Greis, mit

dem alten Leben kontrastiert. Derjenige, dem Zarathustra begegnet, wird sowohl ‚der

Greis’ als auch ‚der Heilige’ genannt. Es ist aber nur der Erzähler, nicht Zarathustra, der

den Mann einen Greis nennt. Die Wortwahl des Erzählers verstärkt via den Kontrast die

Verwandlung, die der Greis bei Zarathustra bemerkt, intensiviert die Sphäre einer

Neugeburt. Obschon der Inhalt der Bilder, die sowohl vom Heiligen als auch später von

Zarathustra selbst gebraucht werden, nicht identisch ist, trägt die Ähnlichkeit der

Sprache dazu bei, dass die Verwandtschaft zwischen Zarathustra und dem Heiligen, die

deutlich aus dem Gespräch hervorgeht, verstärkt wird. Dass Zarathustra und der Greis

dieselbe Sprache benützen, sie aber anders auslegen, intensiviert die Ähnlichkeit

zwischen den beiden nicht nur, sondern ist für die Verwandtschaft auch repräsentativ.

Auch andere Forscher haben die Ähnlichkeit zwischen Zarathustra und dem Heiligen

betont. So behauptet Van Eeckelen, dass der Heilige eine der vielen Figuren sei, in

denen Zarathustra sich verdoppelt.27 Mit Verdopplung meint er, dass der Heilige

einerseits gewisse Eigenschaften mit Zarathustra gemeinsam habe, andererseits auch

von Zarathustra überboten werde, damit sie einander nur teilweise ähnlich sind. Ich

glaube, dass Zarathustra und der Greis einander tatsächlich nur teilweise ähnlich sind,

meine aber nicht, dass der Unterschied in einem Übertreffen zu situieren ist. Was

Zarathustra und der Heilige gemeinsam haben, ist die Einsiedlerposition, die sie,

zumindest bis jetzt, beide vertreten. So sagt der Greis, „Sie [=die Menschen] sind

misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu

schenken“. [Z 13] Er schließt Zarathustra also mit in seine Gruppe ein, spricht ständig

von einem „wir“, von „unsre[n] Schritte[n]“, die den Menschen „zu einsam durch die

Gassen“ klingen. [Z 13; Hervorhebung von mir, sj] Während Zarathustra offensichtlich

die Hoffnung hat, aus der Isolation herauszutreten – die Hoffnung ist dem

Kommunikationsdrang inhärent –, warnt der Heilige Zarathustra davor, dass er immer

ein Einsiedler bleiben wird, auch wenn er zu den Menschen hinuntergeht. Deshalb fragt

er ihn, weshalb er nicht auf die Mühe verzichtet, sein Geschenk zu erteilen, weshalb er 25 Duhamel: Nietzsches Zaratoestra. S. 28. 26 Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. S. 21. 27 Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 310-311.

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nicht einfach eine Einsiedlerexistenz akzeptieren will, weshalb er nicht einfach sein

will, was er – nach der Meinung des Heiligen – bis jetzt war und bis jetzt gewollt hat, zu

sein: „Warum willst du nicht sein, wie ich, – ein Bär unter Bären, ein Vogel unter

Vögeln?“. [Z 13] Der Heilige lädt Zarathustra ein, nicht zu den Menschen

hinunterzugehen und der Schenkende, sondern gerade wie er sein zu wollen, ein

Einsiedler unter Einsiedlern.28 Der Heilige stellt anhand des „wir“ systematisch eine

Verwandtschaft dar, aber erkennt zugleich, dass Zarathustra die Verwandtschaft

(zumindest jetzt) nicht will.

Vonseiten des Heiligen wird die Ähnlichkeit sehr explizit hervorgehoben. Es ist

aber nicht so, dass nur der Greis diese Ähnlichkeit in seiner Rede inszeniert. In dem

Gespräch erkennt Zarathustra zwar nicht, dass er, genauso wie der Greis, eine

Außenseiterposition einnimmt, aber wenn er über „die Menschen“ [Z 13] spricht,

betrachtet er sich selbst genauso wie der Greis, als sei er (noch) nicht Teil der Gruppe,

als sei er selber (noch) kein Mensch. Wenn Zarathustra am Ende des ersten Teils der

Vorrede z.B. äußert, „Zarathustra will wieder Mensch werden“, impliziert der Satz, er

ist jetzt kein Mensch. [Z 12] Wenn er im Gespräch sagt, „Ich bringe den Menschen ein

Geschenk“, betont er die gleiche Perspektive. Sowohl Zarathustra als auch der Heilige

stehen an dem Moment außerhalb der Gruppe. Der Unterschied zwischen beiden ist,

dass sie ihrer Position einen anderen Inhalt zuerkennen. Der Greis fügt sich in seiner

selbstgewählten Einsamkeit, denn „der Mensch ist [ihm] eine zu unvollkommene

Sache“. [Z 13] Zarathustra dagegen will die Weisheit, die ihm in seiner ebenfalls

selbstgewählten Einsamkeit gewachsen ist, den Menschen schenken, denn er liebt die

Menschen, obwohl er die Liebe dem Heiligen gegenüber zu verneinen versucht.29 Im

28 Die Frage, die der Heilige stellt, kontrastiert mit dem Zwang, den Zarathustra im ersten Teil der Vorrede hervorhob. Zarathustra sagt im ersten Teil: “Dazu muss ich in die Tiefe steigen” [Z 11; Hervorhebung von mir, sj], “Ich muss […] untergehen”. [Z 12; Hervorhebung von mir, sj] Die Frage des Heiligen konzentriert sich vor allem auf den Willen (“Warum willst du nicht sein, wie ich” [Z 13; Hervorhebung von mir, sj], über den Zarathustra nur am Ende des ersten Teils der Vorrede selber sprach, als er sagte: „Zarathustra will wieder Mensch werden“. [Z 12; Hervorhebung von mir, sj] Der Wille, über den Zarathustra spricht, fällt aber unter den Tisch, da sie in ein Selbstgespräch eingebettet ist, in dem Zarathustra betont, dass er nicht anders kann, als zu den Menschen hinunterzugehen. Wenn der Heilige aber aufs Neue den Willen thematisiert, über den Zarathustra schon in „Die Reden Zarathustra’s“ mehr und mehr sprechen wird (cf. supra: 1.2.2), zeigt er, dass er Zarathustra besser kennt, als Zarathustra jetzt meint. 29 Zarathustra sagt zwar, “[w]as sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk” [Z 13], aber nur als Reaktion auf die Aussage des Heiligen. Seine spontane Antwort war: “Ich liebe die Menschen” [Z 13], aber wenn der Heilige die Liebe für den Menschen gefährlich nennt, passt Zarathustra seine Antwort also an.

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Grunde benützen sie also dieselbe Sprache, legen sie aber anders aus. Ich würde deshalb

nicht behaupten, dass Zarathustra den Heiligen übertrifft, sondern meine, dass sie in

ihrer Einsamkeit, als Grund für die Verwandtschaft, anders orientiert sind. Meines

Erachtens wird mit dem Abschied, bei dem Zarathustra und der Greis lachen,

„gleichwie zwei Knaben lachen“, die Ähnlichkeit statt der Überbietung, die, nach Van

Eeckelen, dem Lachen bei Nietzsche eigen ist, nochmal betont.30 [Z 14] Van Eeckelen

versucht das Übertreffen im Lachen mit einem Beispiel aus einem weiteren Teil der

Vorrede zu illustrieren, in dem das Volk über Zarathustra lacht. 31 In seiner

Auseinandersetzung wird das Beispiel aber nicht weiter erklärt, fügt er nur noch hinzu,

dass das Lachen „een structureel misleidend motief“ ist.32 Vermutlich versucht Van

Eeckelen zu zeigen, dass im Lachen ein Gefühl der Überlegenheit sichtbar wird. Es ist

daher erstaunlich, dass er das Lachen bei Zarathustra und dem Greis mit dem des

Volkes verbindet, denn die Menschen auf dem Markt demonstrieren in ihrem Lachen

nicht eine Superiorität, sondern gerade das Unvermögen, Zarathustra verstehen zu

können. Indem er die Stelle mit dem Lachen von Zarathustra und dem Heiligen

verknüpft, illustriert er also das Umgekehrte von dem, was er eigentlich erreichen will,

denn so wird auch im Gespräch zwischen Zarathustra und dem Heiligen das

Nichtverstehen, die Nichtkommunikation betont. Sie trennen sich, „lachend“, weil der

Eine den Anderen nicht verstanden hat und vice versa: Der Greis versteht nicht, warum

Zarathustra zu den Menschen hinuntergeht, Zarathustra versteht die Warnung des

Heiligen nicht, die, so wird sich später erweisen, zu Recht ist. Aufs Neue wird also ihre

– merkwürdige – Verwandtschaft betont: Obwohl ihre Ziele ganz anders sind, sind sie

einander ähnlich, eben wenn sie in ihren Ähnlichkeiten anders orientiert sind. Auch der

Erzähler trägt außerdem zur Evokation dieser Ähnlichkeit bei. Indem er den Heiligen,

der Zarathustra als Kind bezeichnete, gerade einen Greis nennt, wie ich schon erwähnt

habe, unterstreicht er sowohl eine Verwandtschaft als einen Unterschied. Die

30 Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 311. 31 Siehe z.B. S. 16 (“Und alles Volk lachte über Zarathustra”), S. 20 (“Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge”) und S. 21 (“Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen”). 32 Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 311.

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Konstellation zwischen jung und alt zeigt ein relationales Verhältnis, bei dem das Kind

dem Greis ähnlich sein kann, sie einander aber nicht identisch sind.33

Wenn überhaupt von einer Überbietung die Rede sei, dann ganz am Ende dieses

Teils. Wenn Zarathustra allein ist, spricht er zu seinem Herzen: „Sollte es denn möglich

sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass G o t t

t od t ist!“ – [Z 14] Zarathustra erscheint hier als der Übertreffende in dem Sinne, dass

er mehr als der Heilige weiß. Zugleich wird die Überbietung relativiert, denn es ist

gerade, weil Zarathustra ohne weiteres voraussetzt, dass jeder inzwischen weiß, dass

Gott tot ist, dass die Kommunikation in der ganzen Vorrede scheitert. Außerdem weist

der restliche Zarathustra aus, dass der Greis gar nicht der Unwissende ist. Nicht nur in

der Vorrede misslingt die Kommunikation mit dem Volk, auch Zarathustras Schüler

akzeptieren das Geschenk nicht konsequent. Deshalb behauptet Lampert, „despite his

persistence, the old saint is unable to take away Zarathustra’s belief in mankind, but his

warnings show that he is better acquainted with the ways of the world than

Zarathustra“.34 Die Prophezeiung des alten Greises umfasst vieles von dem, was

Zarathustra noch zu erwarten hat. So wird zwischen Zarathustra und dem Heiligen ein

Gleichgewicht konstruiert, in dem sowohl Zarathustra als auch der Heilige zugleich

mehr und weniger als der Andere Einblick in die Welt haben. Gerade die Nicht-

Überbietung ist u.a. wichtig in dem Sinne, dass Zarathustra in der Vorrede – zumindest

in der Begegnung mit dem Greis – nicht als der allwissende Lehrer porträtiert wird, der

Greis nicht als der unwissende Heilige. In ihrer Begegnung sind sie einander mehr

gleich als verschieden.

1.1.2.2 Der Seiltänzer, der Possenreißer und die Totengräber Zarathustra ignoriert den guten Rat des Heiligen. Wenn er die nächste Stadt erreicht, hat

sich das Volk auf dem Markt versammelt: Ein Seiltänzer wird für sie auftreten.

Zarathustra, der meint, das Volk brauche ihn, nützt die Chance, dass er die Menschen

zusammen auf dem Markt trifft, und fängt an, zumindest so meint er, seine Weisheit zu

verschenken. Wie der Heilige schon vermutete, stimmt die wirkliche Situation nicht mit

Zarathustras Erwartungen überein. Die Menschen verstehen ihn nicht, glauben, er

33 In “Vom Baum am Berge”, einem Kapitel, das zu “Die Reden Zarathustra’s” gehört, kehrt Zarathustra dieses relationale Verhältnis gerade um (cf. Infra: 1.2.1.1). 34 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 16-17.

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spreche über den Seiltänzer, und schreien daher, „Wir hörten nun genug von dem

Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!“ [Z 16] Der Seiltänzer aber meint, er selber

werde gerufen – die eine misslungene Kommunikation führt hier also zu einer anderen

Fehlkommunikation –, und fängt mit seinem Tanz an. Nachdem auch weitere Versuche

Zarathustras, das Volk dazu zu bringen, das Geschenk zu akzeptieren, scheitern, wird

die Aufmerksamkeit wieder auf den Seiltänzer gelenkt, der jetzt auf dem Seil geht, beim

Tanzen aber von einem Possenreißer, der über ihn hinweg springt, behindert wird und

letztendlich hinunterstürzt. Der Seiltänzer fällt „gerade neben ihn [=Zarathustra]“, „übel

zugerichtet und zerbrochen, aber noch nicht todt“. [Z 22] Zarathustra, der den Seiltänzer

davon überzeugt, dass es keinen Teufel gebe, der ihn zur Hölle schleppen wird,

verspricht dem Tänzer, er werde ihn selbst, „mit [s]einen Händen“, begraben. [Z 22]

Wenn Zarathustra mit dem Leichnam – er sieht jetzt ein, der Herde wird er nichts

verschenken können – die Stadt verlässt, begegnet er nochmal dem Possenreißer, der

ihn jetzt bedroht, auch über ihn hinwegzuspringen, wenn Zarathustra die Stadt nicht

hinter sich lässt. Zarathustra werde in der Stadt von jedem gehasst, so behauptet der

Possenreißer, er habe nur das „Glück [...], dass man über dich lachte: und wahrlich, du

redetest gleich einem Possenreisser“. [Z 23; Hervorhebung von mir, sj] Zarathustra

reagiert nicht und geht weiter, bis er noch jemanden trifft: „die Todtengräber“. [Z 24]

Auch von ihnen wird er bedroht, denn sie meinen, Zarathustra entnehme dem Teufel

einen Leichnam. Bedeutungsvoll in der Begegnung ist, dass auch die Totengräber

Zarathustra für einen von ihnen halten: „Zarathustra trägt den todten Hund davon:

„brav, dass Zarathustra zum Todtengräber wurde!“. [Z 24; Hervorhebung von mir, sj] In

den beiden Begegnungen, die Zarathustra überfallen – passiv, denn er unternimmt selbst

keine Aktion, sagt nichts, reagiert nicht auf die Bedrohungen und geht einfach weiter –

während seines Weges nach außen, wird er von den Figuren, die er trifft, benannt, als

ob er ihnen gleiche. Manche Forscher haben auf die Ähnlichkeit zwischen Zarathustra

und dem Seiltänzer bzw. dem Possenreißer hingewiesen. Stegmaier behauptet zum

Beispiel, „Seiltänzer, Possenreiser, Zarathustra gehen ineinander über“.35 Auch Van

Eeckelen meint, „zowel de ‚Seiltänzer’ als de ‚Possenreisser’ moeten we beschouwen

35 Werner Stegmaier: “Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches Also sprach Zarathustra”. In: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Hg. von Volker Gerhardt. Berlin: Akademie Verlag 2000. S. 150.

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als dubbels van Zarathustra“. 36 Meines Erachtens ist Zarathustra in bestimmten

Hinsichten tatsächlich sowohl dem Seiltänzer als auch dem Possenreißer ähnlich, man

darf aber nicht vergessen, dass auch die Totengräber in ihrem Monolog – denn ein

Gespräch ist es im Grunde nicht – eine Identifikation zwischen ihnen und Zarathustra

herstellen. Man kann also behaupten, dass Zarathustra sich sowohl in der Figur des

Seiltänzers als auch in dem Possenreißer und in den Totengräbern widergespiegelt sieht,

dass die Ähnlichkeit aber nicht gleicher Art ist. Die Ähnlichkeit mit dem Seiltänzer

basiert vor allem darauf, dass der Tänzer buchstäblich ausführt, was Zarathustra im

vierten Teil der Vorrede figürlich über den Übermenschen proklamiert hat, Zarathustras

Sprache also verwirklicht. Zarathustra, der sich im vierten Teil selber am Seiltänzer

orientierte, um das Volk zu überreden, sagte:

Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. [Z 16]

Jetzt, im sechsten Teil, beschreibt der Erzähler: Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus einer kleiner Thür hinausgetreten und gieng über das Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, also, dass es über dem Markte und dem Volke hieng. Als er eben in der Mitte seines Weges war, öffnete sich die kleine Thür noch einmal [...]. [...] [D]ieser [=der Seiltänzer] aber, [...], verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die tiefe. [21]

Im Grunde ersetzt der Seiltänzer Zarathustras Wörter durch seine Handlungen. Die

Handlungen macht er aber nicht freiwillig. Der Seiltänzer geht unter, weil der

Possenreißer über ihn hinwegsprang. Die Analogie mit dem Possenreißer beruht also

ebenfalls auf einer Verwirklichung der Sprache, wird aber noch gesteigert, indem der

Possenreiser Zarathustra später selbst einen Possenreißer nennt. In der Identifikation mit

dem Seiltänzer und dem Possenreißer wird ein Zwiespalt kreiert, die im ganzen Text

beibehalten wird, und die für Zarathustras Entwicklung maßgebend ist: Zarathustra ist

sowohl derjenige, der zum Untergang – als Teil des Übergangs – seiner Schüler zu

führen hofft, ist in dem Sinne dem Possenreißer gleich, als auch derjenige, der selber 36 Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 316.

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untergeht, ist in dem Sinne eher dem Seiltänzer gleich. Zarathustra ist zugleich Lehrer

des Übermenschen als auch selber Lehrling seiner eigenen Lehre. Seiltänzer,

Possenreißer, Zarathustra gehen tatsächlich ineinander über, wie Stegmaier bereits

suggerierte, wenn man mit der Aussage meint, dass sowohl der Seiltänzer als auch der

Possenreißer Zarathustra ähnlich sind, dass Zarathustra in den beiden Figuren sich

selbst echoen hört.37 Seiltänzer, Possenreißer, Zarathustra gehen nicht ineinander über,

wenn man mit der Aussage zu behaupten versucht, die drei Figuren bilden eigentlich

zusammen eine. Die Figuren des Seiltänzers und des Possenreißers führen Zarathustra

seine eigene Entwicklung vor, d.h. aber nicht, dass sie nur äußerliche Manifestationen

seines innerlichen Selbst wären. Die Verinnerlichung seiner Lehre – Zarathustra als

Lehrling – wird erst später im Roman zum Thema. Jetzt, im ersten Teil, erscheint

Zarathustra als Lehrer des Übermenschen. Deshalb ist die Identifikation mit dem

Seiltänzer in der Vorrede weniger stark, vor allem weniger explizit, als die mit dem

Possenreißer, aber sicherlich nicht unbedeutend: Meiner Meinung nach ist der Spagat

zwischen dem Lehrer des Übermenschen und dem Lehrling des Übermenschen schon

von Anfang an das Fundament für die Bildung Zarathustras. Erst später, vor allem im

zweiten und dritten Teil, thematisiert Zarathustra ihn in seinen Reden, aber meines

Erachtens wird schon hier auf diese doppelte Identität hingewiesen. D.h. natürlich, dass

die Entwicklung der Figur Zarathustra eine merkwürdige ist: Zarathustra isoliert sich in

seiner Höhle, wird dort seiner Weisheit (der Lehre des Übermenschen) überdrüssig,

muss zu den Menschen hinuntergehen, um ihnen die Weisheit zu verschenken, wird

zum Lehrer des Übermenschen, scheitert als Lehrer ständig, wird zu seinem eigenen

Lehrer, in dessen Eigenschaft er zugleich sein eigener Lehrling ist, und genest

(buchstäblich im Kapitel „Der Genesende“) letztendlich den Kern seiner eigenen

Weisheit, die er schon am Anfang verkündete. Während Zarathustra anfangs seine

Lehre weiß, ist er sie am Ende geworden – ist er sich am Ende geworden: Wie man

wird, was man ist.38 Wie schon Duhamel behauptete, hält der Seiltänzer Zarathustra

also einen Spiegel vor.39 Der Seiltänzer zeigt Zarathustra, wer er jetzt schon ist, später

37 Stegmaier: “Anti-Lehren”. S. 150. 38 Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Kritische Studienausgabe: Band 6. München: DTV 1999. 39 Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. S. 33. Duhamel geht eben so weit, zu behaupten, dass “de koorddanser […] niemand anders dan Zarathoestra zelf” is. Obwohl die Handlung des Seiltänzers Zarathustra sehen lässt, was auch er später machen wird, meine ich nicht, dass man behaupten kann, dass

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aber wirklich werden soll. Der Possenreißer zeigt Zarathustra, was er sich wünscht,

nämlich Brandstifter zu sein, zeigt Zarathustra aber vor allem, wie das Volk ihn

betrachtet: als einen Narren. Der Spiegel, den der Possenreißer Zarathustra vorhält, ist

viel klarer, insofern der Possenreißer einfach sagt, du redest wie ich, und Zarathustra im

Possenreißer sich selbst dann reden hört. Auch wenn die Totengräber, die in der

Forschung oft vergessen werden40, Zarathustra sagen, du machst jetzt, was wir immer

machen, du trägst einen wesenlosen Körper von der Herde weg, sieht Zarathustra, was

er selbst tut. Der Possenreißer und die Totengräber sind Spiegel, denen Zarathustra

nicht entfliehen kann; in der Benennung, die sie für Zarathustra verwenden, halten sie

den Spiegel fest. Wenn Zarathustra sich mit dem Seiltänzer konfrontiert sieht, muss er

den Spiegel selbst dazu denken.

Von den Figuren, denen Zarathustra bis hierher begegnete, ist der Seiltänzer die

einzige, die keine Identifikation oder Verwandtschaft zwischen Zarathustra und ihm

selber hervorhebt. Der Greis sprach ständig von einem „wir“, von Zarathustra als „ein

Vogel unter Vögeln“ [Z 13], der Possenreißer meinte, Zarathustra spreche wie er, und

die Totengräber machten einen Witz darüber, dass Zarathustra, indem er den toten

Seiltänzer mit sich schleppt, selber zum Totengräber geworden ist. Nur der Seiltänzer,

in dem Zarathustra sich jetzt tatsächlich noch nicht erkennt – die Identität, die

Zarathustra im ersten Teil des Werkes für sich selbst kreiert, ist eine des Fallen-Lassens,

nicht eine des Fallens, ist die Identität des Lehrers, nicht die des Lehrlings – dringt ihm

keine Ähnlichkeit auf. Der Spiegel des Seiltänzers ist ein zukünftiger, ein Spiegel, der

sehen lässt, welches Potenzial in Zarathustra schon da ist. Die unausgesprochene

Verwandtschaft zwischen Zarathustra und dem Seiltänzer ist, wenn man sie aus der

Perspektive des ganzen Zarathustra betrachtet, von den Verwandtschaften, die in der

Vorrede evoziert werden, die zutreffendste. Der Seiltänzer ist Zarathustras erster

Lehrling, er ist außerdem Zarathustras bester Lehrling, nicht weil der Seiltänzer

(unbewusst) ausführt, was Zarathustra in seinem Versuch, eine Kommunikation mit

dem Volk herzustellen, gelehrt hat, sondern weil er, bevor er stirbt, Zarathustra wirklich

die beiden Figuren einander identisch sind. Wenn der Seiltänzer hinunterstürtzt, fällt er nicht, weil er selber fallen will, sondern weil der Possenreißer über ihn hinwegspringt. Die Bewegung ist also der späteren Bewegung Zarathustras gleich, aber ihre Beweggründe sind deutlich anders. 40 Die Totengräber werden z.B. in der Analyse von Van Eeckelen und Stegmaier nicht erwähnt. Lampert nennt sie schon, versucht aber nicht die vorgehobene Ähnlichkeit zu interpretieren. Siehe dazu: Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 28.

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zuhört und zwischen ihnen eine tatsächliche Kommunikation entsteht; Zarathustras

‚echte’ Lehrlinge, d.h. die, die sich ihm bewusst anschließen, hören ihm zu, aber seine

Worte haben auf sie nie den beabsichtigten Effekt, seine Worte sind ihnen im Grunde

leer – sie hören, was er sagt, verstehen ihn aber nicht. Die ‚echten’ Lehrlinge wenden

die Lehre Zarathustras nie an, wie der Seiltänzer sie schon (unbewusst) in die Praxis

umsetzte. Indem am Ende des Buches auch Zarathustra realisiert, was er selber gelehrt

hat, wird er Lehrling seiner eigenen Lehre, nicht einer, der nur für die Form zuhört,

sondern einer, der, wie der Seiltänzer, in der Lehre eine Kommunikation herstellt.

Was für die Verwandtschaft zwischen Zarathustra und dem Seiltänzer spricht, ist

die Tatsache, dass Zarathustra in der ganzen Vorrede nur mit dem Seiltänzer ein

wirkliches Gespräch führt; ein Gespräch im Sinne eines Dialogs, in dem beide Personen

verstehen, was die andere Person meint. Am Anfang sprach Zarathustra „zu“ [Z 11] der

Sonne, der Greis sprach „zu“ [Z 12] Zarathustra, in der Stadt verstehen die Menschen

auf dem Markt nicht, was Zarathustra ihnen zu erzählen versucht, der Possenreiser

„flüstert ihm [=Zarathustra] in’s Ohr“ [Z 23], aber Zarathustra antwortet nicht und geht

einfach weiter, die Totengräber „spotteten über ihn“ [Z 24], aber „Zarathustra sagte

dazu kein Wort und gieng seines Weges“. [Z 24] Auch in der letzten Begegnung der

Vorrede, der mit dem alten Mann, den Zarathustra um etwas „zu essen und zu trinken“

[Z 24] bittet, wird in dem ‚Gespräch’ das Ünverständnis von beiden Seiten her betont,

da der Mann auch dem toten Seiltänzer noch einen Almosen gibt – daher identifizieren

die meisten Forscher den Mann als einen Repräsentanten des alten Glaubens, der ihn

mürrisch macht.41 Nur in der Begegnung mit dem Greis kann man behaupten, dass sich

ebenfalls ein Gespräch entspinnt, indem der Greis nicht nur „zu“ Zarathustra spricht –

d.h. in dem Fall, er sagt Zarathustra, wie er jetzt aussieht, wie er sich verwandelt hat

(und teilt dies so auch den Lesern mit) –, sondern auch eine ‚Frage’ stellt („Wehe, du

willst an’s Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?“ [Z

12]), auf die Zarathustra antwortet – oder besser: wofür Zarathustra sich zu

verantworten versucht („Ich liebe die Menschen“ [Z 13]). Es ist aber nicht ein Gespräch

in dem Sinne, dass sowohl Zarathustra als auch der Heilige verstehen, was die andere

41 So bemerkt Lampert, dass das Essen und das Trinken, das der Mann Zarathustra gibt, dasselbe als die eucharistische Opfergabe ist: Brot und Wein. Siehe: Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 28. Auch Pieper bezeichnet ihn als „Vertreter des Christentums“, der die „christliche Nächstenliebe“ praktiziert. Siehe: Pieper: „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. S. 85-86.

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Person meint: Zarathustra versteht die Warnung nicht, der Heilige versteht den

Kommunikationsdrang nicht. Wie ich in 1.1.2.1 schon argumentiert habe, ist das

Lachen, mit dem der Teil der Vorrede endet, für die Nichtkommunikation exemplarisch.

Wenn man die Vorrede deshalb als eine Aneinanderreihung der scheiternden

Kommunikationsversuche betrachtet, ist es sehr bedeutsam, dass gerade im Gespräch

mit dem Seiltänzer die (direkte) Kommunikation doch gelingt. Wenn der Seiltänzer

hinunterstürzt, repräsentiert auch er noch den alten Glauben, er fürchtet den

Possenreißer, der ihm als der Teufel erscheint: „ich wusste es lange, dass mir der Teufel

ein Bein stellen werde. Nun schleppt er mich zur Hölle, willst du’s ihm wehren?“ [Z 22]

Zarathustra beruhigt den Seiltänzer mit den Worten, dass es gar keinen Teufel gibt.

Darauf bemerkt der Seiltänzer:

Wenn du die Wahrheit sprichst, [...], so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere. Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man Tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen. [Z 22]

Zarathustra versteht die Angst und versucht sie wegzunehmen, indem er dem Tänzer

gratuliert, er hat „aus der Gefahr [s]einen Beruf gemacht“, verspricht ihm, „dafür will

ich dich mit meinen Händen begraben“. [Z 22] Nachdem wird nichts mehr gesagt,

„antwortete der Sterbende nicht mehr; aber er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand

Zarathustra’s zum Danke suche“. [Z 22] Der Seiltänzer antwortet zwar nicht mehr

sprachlich, aber indem er mit seiner Hand die Hand Zarathustras zu fassen versucht,

nachdem Zarathustra ihm versprochen hat, ihn mit seinen Händen zu begraben,

antwortet er schon mit seinem Körper. Nicht nur geistig, aber auch körperlich versuchen

sie sich miteinander zu verbinden. Die Kommunikation zwischen Zarathustra und dem

Seiltänzer ist eine der Frage und Antwort, bei der sowohl die Frage als auch die

Antwort auf den gleichen Gesprächsstoff bezogen sind. Zarathustra und der Greis reden

manchmal auch in Frage und Antwort, aber weil sie denselben Begriffen einen anderen

Inhalt zuerkennen, sprechen sie eigentlich nicht miteinander, sondern reden ständig

aneinander vorbei. Im Gespräch mit dem Tänzer begreift Zarathustra, dass der

Seiltänzer noch Angst vor dem Teufel hat, einfach weil auch er noch nicht weiß, dass

Gott tot ist. Zarathustra kann das Gespräch weiterführen, weil er jetzt einsieht, dass er

dem Tänzer erst erzählen muss, dass es keinen Gott und keinen Teufel gibt. In der

Begegnung mit dem Heiligen meinte Zarathustra, dass jeder inzwischen wüsste, dass

Gott tot ist. Die falsche Voraussetzung machte einen Dialog mit dem Greis unmöglich.

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In seiner Erfahrung mit den Menschen hat Zarathustra sich entwickelt, ist zu dem Punkt

angelangt, an dem er versteht, dass die Erwartungen, die er hatte, als er von seiner

Höhle hinunterkam, nicht von den Menschen geteilt werden. In dem Sinne hat die

Bewusstwerdung der Nichtkommunikation in früheren Begegnungen dazu geführt, dass

die Kommunikation mit dem Seiltänzer gelingen kann. Die Bewusstwerdung, dass er

mit seiner Lehre den Menschen voraus ist, einfach weil sie geistlich nicht beim gleichen

Punkt anfangen, ist aber nicht der einzige Umstand, der die Kommunikation ermöglicht.

Auch später, in der Begegnung mit den Totengräbern zum Beispiel, weiß Zarathustra,

dass sie vom Teufel reden, weil sie noch nicht davon gehört haben, dass Gott tot ist. Er

gibt sich aber nicht die Mühe, die er sich beim Seiltänzer schon gab, ihnen zu erklären,

dass ihre Überzeugung falsch ist. Sie sind nicht die Gefährten, die Zarathustra jetzt

sucht. In ihnen sieht Zarathustra nicht das Potenzial, das er scheinbar in dem Seiltänzer

schon sah, das Potenzial, das er auch selbst in sich trägt. Der Seiltänzer führt

Zarathustra außerdem zur Schlussfolgerung, dass er seine Rede nicht an die Herde

richten muss, sondern dass er gerade Einige (lebendige) von der Herde „weglocken“

muss („Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden! Viele wegzulocken

von der Heerde – dazu kam ich“ [Z 25]). Noch nicht jeder Mensch ist so weit, dass er

Zarathustra überhaupt folgen kann. Deshalb muss Zarathustra diejenigen suchen, die

ihm bereits folgen können. Da es der Seiltänzer ist, die Zarathustra zu dieser

Schlussfolgerung begleitet, ist er also derjenige, der Zarathustra auf den Weg zur

Genesung bringt. Das impliziert zugleich, dass auch der Possenreißer für Zarathustras

Lehrgang eine steuernde Rolle spielt. Er ist letztendlich derjenige, der das Rad ins

Rollen gebracht hat, er ist, um es mit den Worten des alten Heiligen zu sagen, der

„Brandstifter“ [Z 12], der zwar selbst keine Kommunikation herstellt, sie aber

überhaupt möglich macht. In dem Sinne sind bereits in dieser Szene Possenreißer und

Seiltänzer intensiv miteinander verbunden. Das bedeutet nicht, dass sie schwer

voneinander abzugrenzen sind – Seiltänzer und Possenreißer sind hier zwei

unterschiedliche Figuren –, sondern dass man in ihrer Tätigkeit den Einen nicht ohne

den Anderen betrachten kann. In Zarathustra, wie gesagt, werden die beiden Figuren

vertreten, ohne je wirklich vereinigt zu werden.

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1.1.2.3 Fazit und Vorausblick Die Schlussfolgerung, die sich aus der bisherigen Analyse aufdrängt, ist eine

zweiteilige. Nachdem Zarathustra im ersten Teil der Vorrede die Notwendigkeit von

einer Kommunikation (in seiner Sprache: die Notwendigkeit von einem Verschenken)

hervorhob – eine Kommunikation, in der Zarathustra Sender, nicht Empfänger ist –,

illustriert die restliche Vorrede gerade das Scheitern einer solchen Kommunikation.

Zarathustra sendet zwar seine Botschaft, aber weil er die geistigen Voraussetzungen

seines Publikums nicht kennt, können sie die Rolle des Empfängers nicht erfüllen. Weil

es Niemand gibt, der das Geschenk akzeptieren will, kann Zarathustra nicht der

Schenker sein. In der Kommunikationskette, die er im ersten Teil selber darlegt, ist der

Sender (der Schenkende) ja völlig vom Empfänger abhängig. Das einzige Mal, wo die

Kommunikation in dieser Richtung gelingt, ist im kurzen Gespräch mit dem Seiltänzer.

Der Seiltänzer kann empfangen, weil Zarathustra jetzt versteht, zu welcher Person er

sich richtet und mit welchen Voraussetzungen. Weil der Seiltänzer akzeptieren kann,

kann Zarathustra verschenken. Zarathustra ist imstande, den Empfänger zu steuern – in

gewissem Sinne wird so die Abhängigkeit relativiert –, aber ob die Kommunikation

gelingt oder nicht, ob er die Rolle des Schenkers wirklich spielen kann oder nicht, wird

durch die Erkennung des Publikums bestimmt. Dadurch, dass Zarathustra im ersten Teil

der Vorrede für sich durch und durch die Identität eines Schenkers konstruiert, braucht

er Zuhörer, die ihn wirklich verstehen, um die Identität bestätigt zu sehen. Abgesehen

von einer Kommunikation, in der Zarathustra Sender ist, gibt es in der Vorrede auch die

umgekehrte, in der Zarathustra die Rolle eines Empfängers vertritt. Im Vergleich tritt

diese Kommunikationsrichtung häufiger auf: Zarathustra versucht nur die Masse (wenn

man will, kann man sie als eine Person, daher als eine Begegnung bezeichnen) zu

überzeugen; die einzelnen Figuren, deren er begegnet, und die zahlreicher sind, reden

ihn an, nicht umgekehrt. Nur in der zu-fälligen42 Begegnung mit dem Tänzer, die ihn

übrigens auch selber anredet, ist er, wie gesagt, an der Oberfläche der Sender; an der

Oberfläche, denn Zarathustra lehrt den Seiltänzer zwar vom Tod Gottes, lernt aber

zugleich vom Seiltänzer, wie er seinen Weg gehen soll. In allen anderen Begegnungen

gibt sich Zarathustra einfach nicht die Mühe, die Kommunikation zu steuern. Dem

42 Zarathustra versucht die Masse zu überzeugen, gelingt nicht in der Absicht, plötzlich fällt ein Seiltänzer ihm zu.

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Possenreißer und den Totengräbern sagt er überhaupt nichts. Es scheint eben, als ob er

nicht zuhört, denn er reagiert nicht und geht einfach weiter. Bei dem alten Heiligen

versucht er, sich selbst zu verteidigen, d.h. er reagiert auf das, was der Greis ihm

zuschreibt, unternimmt aber selber keine Initiative. Außerdem gelingt es ihnen nicht,

eine Verständigung zu erreichen. Der Kommunikations- und Verständnismangel, vor

dem der Heilige Zarathustra gerade warnt, wird paradoxerweise anhand desselben

Gesprächs illustriert. Aus der Gesamtheit der Begegnungen in „Zarathustra’s Vorrede“

ergibt sich ein Scheitern der direkten Kommunikation. Außer dem Gespräch mit dem

Seiltänzer ist weder die Kommunikation, in der Zarathustra Sender ist, noch die

Kommunikation, in der Zarathustra Empfänger ist, erfolgreich.

In den Begegnungen fällt nicht nur die Nichtkommunikation auf. Auch die

Ähnlichkeit zwischen Zarathustra und jedem der einzelnen Figuren, denen er begegnet,

erscheint als sehr bedeutungsvoll. Von dem Heiligen bis zu den Totengräbern, alle

Figuren, die ich bis hierher analysiert habe, konstruieren explizit (der Heilige, der

Possenreißer, die Totengräber) oder implizit (der Seiltänzer) eine Verwandtschaft

zwischen ihnen und Zarathustra, als gleiche er jedem, dem er in der Vorrede begegnet.

Während die Funktion des Heiligen vor allem die einer Prophezeiung ist – einer

Prophezeiung, die sich am Ende der Vorrede als eine wahre ergibt, damit letztendlich

nicht Zarathustra, sondern der Greis als der Lehrer der Vorrede erscheint –, fungieren

die Begegnungen mit dem Possenreißer, mit dem Seiltänzer und mit den Totengräbern

als Spiegel. Je nachdem reflektieren sie Zarathustras Sprache in ihrem Handeln. Der

Seiltänzer verwirklicht (als er „in der Mitte seines Weges war“, „über dem Markte und

dem Volke hieng“, „schoss [er] [...] in die Tiefe“ [Z 21]) dasjenige, was Zarathustra auf

dem Markt als seine Lehre verkündete („ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen

sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie

verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehen als Verkündiger zu Grunde“ [Z 18]). Der

Tänzer spiegelt in seinem (nicht selbst angefangenen) Auftritt die Sprache von

Zarathustra, dessen Metaphorik Zarathustra selber dem Seiltänzer entlehnte („der

Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“ [Z 16]). Wie ich

erwähnte, ist die Bewegung des Seiltänzers eine, die er nicht selbst angefangen hat. Für

den Sturz braucht er den Possenreißer, der ihn fallen lässt. Auch seine Handlungen sind

eine Realisierung der Sprache Zarathustras, spezifischer: eine Realisierung der Sprache

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Zarathustras über sich selber, denn im Grunde verschenkt der Possenreißer dem

Seiltänzer den Fall. Außerdem findet bei dem Possenreißer und den Totengräbern eine

andere Spiegelung statt. Der Possenreißer verwirklicht in seinen Handlungen nicht nur

die Sprache Zarathustras, sondern spiegelt Zarathustra auch in seiner eigenen Sprache:

Wenn er sagt, „du redetest gleich einem Possenreisser“ [23], zeigt er Zarathustra

buchstäblich, wie seine eigenen Reden klingen. Die Totengräber spiegeln ihn strikt

genommen noch anders. In der Aussage „brav, dass Zarathustra zum Todtengräber

wurde!“ [Z 24], führen sie in ihrer Sprache Zarathustras Handlungen vor. In meinem

Versuch, die konstruierte Ähnlichkeit jedes Mal zu bestimmen, ergab sich eine

Korrelation zwischen dem Misslingen einer direkten Kommunikation und dem

Hervorheben der Verwandtschaft. So ist die einzige Figur, die ihre Ähnlichkeit mit

Zarathustra nicht betont, zugleich die einzige Figur, bei der eine wirkliche

Kommunikation überhaupt stattfindet. Meines Erachtens wird das Hervorheben der

Verwandtschaft als Ersatzkommunikation funktionalisiert. Zarathustra will nicht mit

den einzelnen Figuren, denen er begegnet, kommunizieren, kann ihnen aber nicht

entfliehen, weil sie ihn als Spiegel umgeben. Zarathustra wird in der Vorrede ständig

von ihnen gesteuert, obwohl er ihnen im eigentlichen Gespräch nicht zuzuhören scheint.

In ihnen sieht er sich selbst. Außerdem, so werde ich im nächsten Kapitel darlegen,

zeigt seine Sprache, dass er auch sie spiegelt. In dieser wechselseitigen Spiegelung

gründet sich eine andere, indirekte Kommunikation.

1.1.3 Sprachmimesis als indirekte Kommunikation

In 1.1.2 habe ich dargelegt, dass die Figuren, denen Zarathustra in der Vorrede

begegnet, seine Entwicklung im restlichen Roman bestimmen. Außerdem, so habe ich

zu zeigen versucht, führen sie ihm schon die innere Gespaltenheit, die für seine

Entwicklung als Figur bestimmend ist, vor. Sie spiegeln Zarathustra. Die Begegnungen

sind aber nicht nur steuernd für die Handlungen, die Zarathustra unternimmt und

unternehmen wird, sie prägen auch seine Sprache, in der er gerade sie spiegelt.

Poljakova hat in ihrem Artikel „’Ästhetische Vollendung’ Zur philosophischen

Ästhetik Nietzsches und Bachtins“ schon darauf hingewiesen, dass Zarathustra „das

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‚fremde’ Wort über ihn immer zu seinem eigenen Wort über sich selbst“ macht.43 Ohne

den Begriff zu verwenden, bemerkt sie in der Vorrede deutlich eine Sprachmimesis. Sie

behandelt die Mimesis aber sehr kurz, als Teil einer Argumentation, in der sie

behauptet, dass Zarathustra keine „Heldengestalt“ im Sinne von Bachtin sei, u.a. weil er

keine eigenständige Sprache habe.44 Meiner Meinung nach ist es tatsächlich auffallend,

dass Zarathustra sich ein Wort, das ursprünglich von einer anderen Figur verwendet

wurde, zu seinem eigenen Wort macht. Die fremden Wörter, um die es sich jetzt

handelt, sind außerdem tatsächlich Wörter, die ursprünglich verwendet wurden, um

Zarathustra selbst zu charakterisieren. Es ist aber nicht so, dass Zarathustra die fremden

Wörter, die er sich zu seinen eigenen gemacht hat, nur für sich selbst reserviert.

Vielmehr verwendet er diese neuen Wörter in seinem ganzen Vokabular, nicht nur als

Selbstcharakterisierung. Poljakova deutet also einen wichtigen Punkt in der Gestaltung

der Figur Zarathustra an, die Sprachmimesis, analysiert ihn aber sehr kurz und, meines

Erachtens, undifferenziert. Das einzige Beispiel, das sie – in einer Fußnote – nennt, ist

eines aus der Begegnung zwischen Zarathustra und dem Possenreißer und zeigt ex

negativo, dass man Zarathustras Mimesis, die vor allem (aber nicht nur) eine

sprachliche ist, besonders detailliert betrachten muss. Poljakova bemerkt, wie ich in

1.1.2.2 ebenfalls betont habe, dass der Possenreißer zu Zarathustra sagt, er rede „gleich

einem Possenreisser“, und dass Zarathustra später in der Vorrede zu sich selber spricht,

„über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang

ihr Untergang!“ [Z 27] Mit dieser Aussage, so meint Poljakova zu Recht, sage

Zarathustra, er werde machen, was der Possenreißer machte, als er über den Seiltänzer

hinwegsprang. Sie beendet das Beispiel aber ohne daraus eine Schlussfolgerung zu

ziehen. Die Suggestion, die aus der Fußnote hervorgeht, ist die folgende: Zarathustra

spreche „gleich einem Possenreisser“, weil er sagt, was der Possenreißer macht. Mit

dieser Suggestion habe ich zwei Probleme. Zarathustra spricht „gleich einem

Possenreisser“, nicht, weil er die Tat des Possenreißers versprachlicht, sondern weil er

einfach die Sprache des Possenreißers (z.B. wenn er zu Zarathustra sagt – und das

fremde Wort also tatsächlich ein Wort „über ihn“ ist45 – „Geh aber fort aus dieser Stadt

43 Ekaterina Poljakova: „’Ästhetische Vollendung’ Zur philosophischen Ästhetik Nietzsches und Bachtins“. In: Nietzsche-Studien 33. Berlin: Walter de Gruyter 2004. S. 233. 44 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 232-234. 45 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 233.

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– oder morgen springe ich über dich hinweg“ [Z 23; Hervorhebung von mir, sj])

übernimmt. Erst dann redet er buchstäblich wie ein Possenreißer. Das Beispiel gibt

Anlass zu einer interessanten mimetischen Analyse, ist aber keine korrekte: Zarathustra

spricht nicht gleich einem Possenreißer, weil er sich wie ein Possenreißer verhält. Das

Beispiel ist aber nicht nur deshalb problematisch. Wenn man meint, wie Poljakova, dass

Zarathustra die Aussage des Possenreißers zu einer wahren mache, weil er sagt, was der

Possenreißer macht, unterstützt das Beispiel nicht die Theorie, die dem Beispiel

vorangeht. Das Beispiel zeigt den Einfluss der anderen Figuren auf die Entwicklung

Zarathustras, zeigt, auch, wenn es hier falsch analysiert wird, eine Mimesis, aber nicht

die, die ich Sprachmimesis nennen würde, und nicht die, die Poljakova selbst

umschrieb, wenn sie bemerkte, dass „Zarathustra das „fremde“ Wort über ihn immer zu

seinem eigenen Wort über sich selbst“ macht.46 Die Umschreibung, die sie vorschlägt,

illustriert die Stellen, in denen Zarathustra das Wort einer anderen, „fremde[n]“ Figur

über sich selbst zu seinem eigenen Wort macht, die Stellen also, in denen Zarathustra

buchstäblich die Sprache einer anderen Figur übernimmt (z.B. in meiner Korrektur des

Beispiels). Die Umschreibung, wie sie von Poljakova dargestellt wird, unterstützt nicht

das Beispiel, das sie illustriert, denn in dem Beispiel übernimmt Zarathustra sprachlich

die Handlungen einer anderen Figur – nicht die Sprache. Statt einer Sprachmimesis,

eines Begriffs, den Poljakova übrigens selbst nicht verwendet, aber schon umschreibt,

würde ich, vorausgesetzt, man denke den Fehler weg, Zarathustra bestätige die Aussage

des Possenreißers, in diesem Fall eher von einer Mimesis reden, in der Handeln in

Sprache übertragen wird. Das Beispiel zeigt die Wichtigkeit eines close reading, der in

Zarathustras Nachahmung eine deutliche Differenzierung anbringt. Wenn ich den

Begriff Sprachmimesis verwende, meine ich nur das Phänomen, in dem Zarathustra das

Wort bzw. die Wörter einer anderen Figur übernimmt und zu seinem eigenen Wort

macht.

Es ist auffallend, dass der Effekt einer solchen Nachahmung immer derselbe ist.

Indem Zarathustra die Wörter des Possenreißers zu seinem eigenen Vokabular macht,

erscheint die Aussage des Possenreißers als eine wahre: Zarathustra redet gleich einem

Possenreißer. Ein weiteres Beispiel zeigt die Kontinuität dieses Effekts. Im zweiten Teil

der Vorrede, als der alte Heilige Zarathustra davon zu überzeugen versuchte, er werde 46 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 233.

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bei den Menschen ein Erwachter unter den Schlafenden sein [Z 12-13], sagte der Greis

zu Zarathustra,

So sieh zu, dass sie deine Schätze annehmen! Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schenken. Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb? [Z 15; Hervorhebung von mir, sj]

Der Heilige spielt mit der Metaphorik des Verschenkens, die Zarathustra im ersten Teil

der Vorrede entwickelte, dreht sie jetzt aber um. Um den Kommunikations- und

Verständnismangel, der es dem Heiligen nach ohne Zweifel geben wird (und die es

auch tatsächlich gibt), zu illustrieren, skizziert er für Zarathustra mit Worten eine

konkrete Szene, aus der hervorgeht, dass die Menschen Zarathustra immer falsch

verstehen werden; außerdem nicht nur falsch, sondern auch gerade umgekehrt: Wenn

Zarathustra den Menschen etwas verschenken will, werden sie meinen, er nehme ihnen

etwas ab. Er wird ihnen daher nicht als Schenker, sondern als Dieb erscheinen. Die

darauf folgenden Kommunikationsversuche mit dem Volk in der Stadt enthüllen für den

Leser schon, dass der Greis in dieser Hinsicht Recht hatte. Später, im achten Teil der

Vorrede, wiederholen die Totengräber das fremde Wort über Zarathustra, „Dieb“, wenn

sie sagen, „will Zarathustra wohl dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun wohlan! Und

gut Glück zur Mahlzeit! Wenn nur nicht der Teufel ein besserer Dieb ist, als

Zarathustra!“ [Z 24; Hervorhebung von mir, sj] Mit der Aussage bestätigen die

Totengräber den vom Heiligen vorhergesagten Kommunikations- und

Verständnismangel, denn sie stellen Zarathustra buchstäblich als Dieb dar. Nach ihnen

ist der Teufel zwar ein besserer Dieb als Zarathustra, aber so implizieren sie auch,

Zarathustra sei ein Dieb. Das wiederholte (fremde) Wort zeigt die Wahrheit der

Warnung, die der Heilige Zarathustra gab: Die Totengräber sind zwar ironisch, aber

fassen trotzdem in Worte, wie Zarathustra den Menschen erscheint. Wichtiger aber ist,

dass auch Zarathustra diese Wahrheit indirekt erkennt. Wenn er, nach den Begegnungen

mit dem Possenreißer und den Totengräbern, die Stadt verlässt, lesen wir: „Der Hunger

überfallt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber“. [Z 24; Hervorhebung von mir, sj] Er

charakterisiert sich selbst zwar nicht buchstäblich als Dieb, nennt sich aber schon einen

Räuber. Wie ich in meiner Bachelorarbeit bereits bemerkt habe, signalisiert die

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Wortwahl, „dass Zarathustra sich [...] seiner Position bewusst ist“.47 Er versteht, dass er

den Menschen gegenüber gerade als Gegenteil eines Schenkers vorkommt. Zarathustra

ist aber kein Dieb, ist er nur in der Perspektive des Volks, weil ihr Denken das

Geschenk, das die Leere nach dem Tod Gottes auffüllt, noch nicht fassen kann. Auch

der Heilige meinte nie, Zarathustra sei wirklich der Dieb, sondern versuchte ihn für den

Perspektivschub zu warnen. Nur die Totengräber, die hier die Perspektive des Volks

vergegenwärtigen, behaupten tatsächlich, Zarathustra stiehlt den Leichnam. Es ist daher

wichtig, dass Zarathustra über sich selber sagt, er sei kein Räuber, sondern er sei „wie

ein Räuber“. Nachdem zuerst der Heilige das Bild des Diebs auf Zarathustra projizierte,

zweitens die Totengräber den gleichen Begriff verwendeten, übernimmt Zarathustra

unmittelbar nach der Begegnung mit den Totengräbern das Bild, um mit diesem sich

selbst zu beschreiben. Die Annahme ist die Anerkennung, dass der alte Heilige Recht

hatte. Die Annahme ist damit zugleich die wirkliche Antwort, mit der erst jetzt eine

indirekte, verspätete Kommunikation hergestellt wird. Wenn auch Zarathustra in den

Begegnungen selber entweder für die Ratschläge taub war, da er zuhörte, aber die

andere Person nicht verstand, oder eben nicht zuzuhören schien, macht er mittels seiner

Wortwahl klar, dass er sie nicht nur tatsächlich gehört, sondern auch verstanden hat.

In dem kurzen Teil des Absatzes, in dem Poljakova über Zarathustras

Sprachnachahmung reflektiert, bemerkt sie Folgendes:

Schon in „Zarathustras Vorrede“ [sic] erscheint Zarathustra nicht als handelnde Person, da er ständig die Attribute von anderen handelnden Personen übernimmt, die ihrerseits ständig ihre Merkmale austauchen und sich in einander umwandeln. [...] Dadurch wird dem Wort seine Individualität und Einzigkeit zurückgegeben, es wird zum Attribut der Person, die es ausspricht. Diese aber hat keine beständigen Eigenschaften. Die „handelnden Personen“ (der Seiltänzer, der Possenreißer, der Einsiedler, die Totengräber) gehen ineinander über und können auch bloß zur Metapher werden.48

Poljakova betrachtet die Übernahme verschiedener Worte deutlich nicht als indirekte

Kommunikation. Es ist meines Erachtens aber trotzdem wichtig, ihre Aussage zu

überdenken: Dass Zarathustra das Vokabular anderer Figuren übernimmt hat tatsächlich

für seine Bildung als Figur Konsequenzen. Inwiefern kann man von eigenständigen

Figuren reden, wenn sie ihre eigenen, persönlichen „Attribute“ (vorausgesetzt, man

47 Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. S. 45. 48 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 233.

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betrachte Sprache als Attribut) ständig austauchen? Die Argumentation, wie Poljakova

sie darstellt, erscheint mir aber in bestimmten Hinsichten als unlogisch und vage. Es

bleibt z.B. unklar, was sie genau mit einer „handelnde[n] Person“ meint. Der Abschnitt

lässt vermuten, eine handelnde Person habe eigenständige Attribute und Merkmale. Die

Deutung ist aber eher unlogisch, denn in dem Fall ist Zarathustra keine handelnde

Person, nicht weil er nicht eigenständig handle, sondern weil er keine eigenständige

Sprache habe. Die Personen, die schon zu handeln scheinen (weil sie doch eine

eigenständige Sprache haben?), seien ebenfalls keine handelnden Personen, denn sie

seien zu wenig Person, haben „keine beständigen Eigenschaften“ und bilden vielmehr

zusammen eine Figur, die viele Gesichter hat, als dass sie vier unterschiedliche, deutlich

voneinander getrennte Figuren seien. Zusammengefasst behauptet Poljakova,

Zarathustra sei keine handelnde Person, weil er seine Attribute von den anderen Figuren

übernimmt – er sei nicht handelnd –, und die anderen Figuren seien ebenfalls keine

handelnden Personen, denn keine eigenständigen Personen. Ich verstehe ihren

Gedankengang, finde den Begriff „handelnd“ in diesem Kontext aber problematisch

und bin nicht mit der Idee einverstanden, die anderen ‚Figuren’ seien nur Schmuck. Es

stimmt, dass die Personen, denen Zarathustra in der Vorrede begegnet nicht ausführlich

beschrieben werden und nur in sehr bestimmten Teilen der Vorrede auftreten, d.h. aber

nicht unbedingt, sie können „bloß zur Metapher werden“. In einer Fußnote ergänzt

Poljakova, dass die vier Figuren, die hier gemeint werden, als „Metapher des

künstlerischen Phänomens“ zu betrachten sind.49 Meiner Meinung nach minimiert

Poljakova so das Gewicht dieser Begegnungen. Nicht nur sind die Figuren bestimmend

für die direkte Fremdcharakterisierung Zarathustras (sie beschreiben ihn, damit sich die

Leser ein Bild machen können), sie prägen auch den Weg (zu sich selbst), den er geht.

Im Roman wird die Figur Zarathustra anhand von vier Mitteln charakterisiert: am

häufigsten anhand seiner eigenen Sprache (die, wie auch Poljakova selber gezeigt hat,

manchmal auf die der Figuren basiert ist), der Sprache der anderen Figuren (indem sie

Zarathustra in ihrer Rede charakterisieren und seine eigene Sprache beeinflussen),

seiner Handlungen (die ebenfalls von den anderen Figuren gesteuert werden) und der

Sprache des Erzählers. Zarathustra wird deshalb fast nur in und durch die anderen

Figuren sichtbar. Sie nur als bloße Metapher zu bezeichnen, tut ihnen deshalb Abbruch. 49 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 233.

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Außerdem finde ich es erstaunlich, dass Poljakova behauptet, dass gerade weil die

Figuren (darunter auch Zarathustra) ihre Worte austauchen, dem Wort eine

„Individualität und Einzigkeit“ zuerkannt wird. Sie meint, „[e]s [=das Wort] wird zum

Attribut der Person, die es ausspricht“.50 Zuerst ist es korrekter und spezifischer, zu

behaupten, dass die Figuren ihre Worte nicht untereinander, sondern mit Zarathustra

austauchen. Tatsächlich sprechen z.B. auch die Totengräber von einem Dieb, aber sie

übernehmen nicht das Wort des Heiligen, sondern vertreten die Perspektive, von der der

Heilige prophezeit hatte, dass sie es vertreten würden. Zweitens finde ich es eher

paradox, dass Worte, wenn sie ausgetauscht werden, zur Individualität und Einzigkeit

beitragen würden. Wenn jeder einem Wort seinen eigenen Inhalt zugeschrieben hätte,

nur die Form dieselbe wäre, wäre die Behauptung adäquater gewesen. In der Vorrede ist

das aber noch nicht der Fall. Zarathustra übernimmt die Sprache der anderen Figuren,

wendet sie in der ursprünglichen Bedeutung an. Wenn Zarathustra über jemanden

hinwegspringen will, ist die Bewegung das figürliche Äquivalent des Sprunges von dem

Possenreißer. Wenn Zarathustra sich selber als Räuber betrachtet, ist er ein Dieb in dem

Sinne, wie der Greis es ihm vorhergesagt hat. Doch gibt es zwischen beiden Beispielen

einen wesentlichen Unterschied. Während Zarathustra mit der Annahme des Wortes des

Heiligen erkennt, dass er vom Volk nur als Dieb betrachtet wird, also tatsächlich

hinweist auf die Begegnung, macht er das Über-jemand-Hinwegspringen im Laufe des

Romans immer mehr zu seinem eigenen Konzept, das figürlich noch die ursprüngliche

Bedeutung enthält, zugleich mehr ist als der Sprung des Possenreißers. In dem Sinne

verweist das Über-jemanden-Hinwegspringen schon auf eine zweite Phase der

Sprachmimesis hin, die nach der Vorrede anfängt und in der Zarathustra sich das

fremde Wort wirklich aneignet. Die Aneignung der Sprache reflektiert so Zarathustras

persönliche Entwicklung, die nur eine Selbstentwicklung genannt werden kann, wenn

man akzeptiert, dass Zarathustras ‚Selbst’ in hohem Maßen von anderen Figuren

gesteuert wird, also auch seine Sprache.

In der Vorrede ist Zarathustra vor allem ein Suchender. Er weiß, mit welchem

Ziel er seine Höhle verlässt, weiß aber nicht, wie er das Ziel erreichen wird. Obwohl er

seine Strategie stets ändert (siehe dazu Teil 3-5 der Vorrede), gelingt es ihm nicht, mit

dem Volk zu kommunizieren. In der unsicheren Phase sind es die anderen Figuren, die 50 Poljakova: “’Ästhetische Vollendung’”. S. 233.

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Zarathustra helfen, seine Methode so anzupassen, dass er wieder die Hoffnung

bekommt, er werde letztendlich doch schenken können. Wie ich schon bemerkt habe, ist

die Identität Zarathustras in der Vorrede sehr fragil: Weil er sich selbst als Schenker

porträtiert, ist er völlig vom Volk (nicht von den einzelnen Figuren, denn ihnen wünscht

er nichts zu erteilen) abhängig. Er braucht das Volk, um seine Identität bestätigen zu

können. Wenn das Volk ihm die Bestätigung nicht geben kann, wird Zarathustra sehr

„traurig“ [Z 20], sehr empfindlich auch, denn er kann nicht die Person sein, deren

Identität er für sich kreiert hat. Zarathustra ist in der Vorrede sicherlich noch nicht der

Lehrer, der er später, in „Die Reden Zarathustra’s“, in den Gesprächen mit und in den

Reden zu seinen Schülern sein wird. In der Vorrede ist Zarathustra vor allem der

unwissende Lehrer, dem es nicht gelingt, Lehrer zu sein. Die existenzielle Krise wird in

der Sprache widergespiegelt. Zarathustra, der (noch) nicht sein kann, wer er sein will,

wird von Figuren flankiert, die je nachdem eine Ähnlichkeit mit ihm aufweisen. In

diesen Verwandtschaften (entweder in bestimmten Aussagen betont, z.B. beim

Heiligen, beim Possenreißer und bei den Totengräbern, oder anhand von Handlungen

markiert, z.B. beim Seiltänzer) sieht Zarathustra sich selbst reflektiert. Der Greis zeigt

ihm, er ist tatsächlich zu viel Einsiedler, um die Herde zu überreden; zeigt ihm, er

verschenkt den Menschen nichts, sondern nimmt ihnen, aus ihrer Perspektive gesehen,

etwas ab. Das bedeutet nicht, dass Zarathustra am Ende der Vorrede schon „ein Bär

unter Bären, ein Vogel unter Vögeln“ sein will; zumindest nicht ein Bär oder Vogel, so

wie der Greis ein Bär oder Vogel ist. Wenn Zarathustra am Ende der Vorrede schließt,

„lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen willen –

und dorthin, wo ich will. [...] Viele wegzulocken von der Heerde, dazu kam ich.“ [Z

25], will er schon „ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln“ sein. Zumindest: ein

Bär, wie er selbst ein Bär ist, ein Vogel, wie er selbst ein Vogel ist. Wenn ich behaupte,

dass Zarathustra sich selbst in den anderen Figuren widergespiegelt sieht, meine ich

nicht, dass sie ihm völlig identisch sind, meine ich auch nicht, dass er sich selbst nach

ihnen modelliert. Ich meine, dass, obwohl die Figuren, denen er begegnet, anders als

Zarathustra orientiert sind, ihm also nicht identisch sein können, sie doch Eigenschaften

mit ihm gemeinsam haben, anhand deren sie einen Spiegel um Zarathustra herum

bilden. In dem Spiegel der anderen Figuren wird Zarathustra sich seines Selbst bewusst,

erkennt er die Eigenschaften, die er nicht vernachlässigen darf, aber in seinem Ruf zum

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Volk schon verneinte. Zarathustra ist nicht, wie der Greis ist, ist kein alter Heilige. Sie

sind aber beide Einsiedler, die, je nachdem, aus dieser Position ihre Kraft herausholen.

Zarathustra ist ebenfalls kein Seiltänzer, kein Possenreißer und kein Totengräber. Indem

der Seiltänzer und der Possenreißer aber buchstäblich ausführen, was er figürlich

verkündete, wird seine Lehre fast zum Schauspiel gemacht. In dem Spiel vertritt der

Possenreißer Zarathustras jetzt öffentliche Rolle, die des Verkündigers. Er sieht

wörtlich welche Funktion er selber haben will – die des Hinunterstürzens, nicht des

Volkes, sondern des Gefährten –, als auch, wie er sich selbst auf dem Markt zum Narren

gemacht hat. Als Zarathustra von seiner Höhle hinunterkam, wollte er mit seiner Lehre

das Rad ins Rollen bringen. Jetzt bringt der Possenreißer das Rad ins Rollen. Er liefert

Zarathustra den ersten Gefährten, zeigt ihm sowohl ex negativo (in der Stadt wird auch

er nur ein Possenreißer, ein Narr sein), als auch in positivem Sinne (er macht schon, was

Zarathustra am Ende der Vorrede auch für sich selbst entscheiden wird, nicht Hirt der

Herde zu sein, sondern „viele wegzulocken von der Herde“ [Z 25]; der Possenreißer

richtet sich nicht auf die Masse, sondern auf den einzelnen Seiltänzer) woher er gehen

soll. Nachdem sein Versuch, den Menschen etwas zu verschenken, misslungen ist,

nachdem die Identität des Schenkers in dem Versuch nie bestätigt wurde, kann

Zarathustra sich, anhand dieser Figuren, neu orientieren. Sie begleiten ihn, sowohl

positiv als auch negativ, zu einer neuen Identität des Verschenkens. Meines Erachtens

spiegelt sich das in Zarathustras Sprache wider. Auch dort orientiert er sich anhand von

Wörtern, die ursprünglich zum Vokabular dieser Figuren gehörten. Die persönliche

Krise – Zarathustra weiß, wer er sein will, sieht sich selbst aber scheitern und kreiert

letztendlich, mithilfe der Figuren, denen er begegnet, für sich einen anderen Weg – ist

also auch eine sprachliche. In der Vorrede braucht Zarathustra die anderen, auch in

seiner Sprache. Nach der Vorrede wird Zarathustra zu dem Lehrer, der er hier eigentlich

schon sein wollte. Die Charakterisierung ändert sich: Er wird selbstbewusster,

autoritärer. Auf dem Weg zu sich selbst findet er auch mehr und mehr seine eigene

Sprache.

Als Schlussfolgerung der Sprachnachahmung in der Vorrede kann man, als

Variation auf die Aussage des Possenreißers, behaupten, Zarathustra redet gleich einem

Heiligen, gleich einem Possenreißer, gleich Totengräbern. Auch nach der Vorrede wird

die sprachliche Mimesis weitergeführt. Die Begegnungen aus der Vorrede bleiben für

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Zarathustra und für seine Sprache maßgebend. Doch ist das Ende von „Zarathustra’s

Vorrede“ und der Anfang von „Die Reden Zarathustra’s“ gleichzeitig die Zäsur: Ab

„Die Reden Zarathustra’s“ eignet Zarathustra sich zwar noch die Form des fremden

Wortes über ihn selber an, dem Inhalt kennt er aber eine völlig andere Bedeutung zu.

1.2 „Die Reden Zarathustra’s“

Nachdem Zarathustra in der Vorrede mit dem Scheitern der eigenen Kommunikation

konfrontiert wurde und dieses Scheitern zu einer neuen Kommunikationstaktik umbog

(„Ein Licht ging mir auf: [...] Viele Wegzulocken von der Heerde – dazu kam ich“ [Z

25]), setzt er sie in „Die Reden Zarathustra’s“ in die Praxis um. Über die Situierung

dieses Teils sagt der Erzähler am Ende der ersten Rede, „Von den drei

Verwandlungen“: „und damals weilte er in der Stadt, welche genannt wird: die bunte

Kuh“. [Z 31] Räumlich sind die Reden also bestimmt. Die Kommunikationssituation ist

aber sehr vage. Zarathustra hält die Reden in der Stadt (d.h., wir kennen Sender und

Ort), aber wer zuhört, wie viele zuhören, wird meistens nicht expliziert. In den Reden

richtet er sich an seinen „Bruder“ [Z 39, 42, 43, 44, 74, 77, 80, 84, 90, ...] bzw. seine

„Brüder“ [Z 30, 31, 35, 36, 38, 58, 59, 60, 61, 63, 64, ...]. Die Anwesenheit des

Publikums wird also vor allem suggeriert. Außerdem weisen die familiären Begriffe

„Bruder“ und „Brüder“ nicht auf das Gelingen bzw. Misslingen der Kommunikation

hin. Anhand der Begriffe inkludiert Zarathustra formell – seiner Hoffnung nach

allerdings auch inhaltlich – ein Publikum, das, wenn die Reden das Publikum inhaltlich

nicht erreichen, auch exklusiv bleiben kann. Zarathustra verwendet „Brüder“ z.B. auch

im dritten Teil der Vorrede [Z 15], wo gerade die Nichtkommunikation hervorgehoben

wird. In den Reden Zarathustras ist „Brüder“ die Apostrophe: die Hinwendung des

Redners zum Publikum, das als Gruppe in den Reden selber nicht sprachlich anwesend

ist (d.h. keine Stimme hat). In der Hinwendung macht Zarathustra sein Publikum

anwesend abwesend. Das Hervorrufen des Publikums sagt aber nichts über das

wirkliche Publikum aus. Bennholdt-Thomsen schreibt über die Adressaten des ersten

Teils, „die Hörer Zarathustra sind [...] eine nicht näher bestimmte Gruppe – das einzige,

das sich ermitteln lässt, ist, dass sie am Ende des ersten Teils zu Jüngern und Freunden

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Zarathustras geworden sind – oder aber einzelne“.51 Nur in den einzelnen Begegnungen

und beim Abschied seiner Jünger werden die Kontouren seiner wirklichen Adressaten

deutlicher. Nicht zufällig wird in diesen beiden Fällen Figurentext mit Erzählertext

kombiniert. In seinen Reden, in seinem eigenen Wort inszeniert Zarathustra als

Publikum entweder eine offene Gruppe von Brüdern oder einen unbestimmten Bruder,

dessen Position jeder besetzen kann. Manchmal wird der Text Zarathustras aber von

einem Erzählertext eingeleitet oder erweitert. In zwei ‚Reden’ entsteht sogar einen

Dialog. In Bezug auf Zarathustras Verhältnis mit anderen Figuren sind solche

Perspektiverweiterungen wichtig, weil die anderen in den Fällen nicht nur von

Zarathustra, sondern auch vom Erzähler, eben anhand ihrer eigenen Sprache und ihrer

eigenen Handlungen charakterisiert werden.

Der Fokus in diesem zweiten Subkapitel über den ersten Zarathustra ist dem

ersten Subkapitel gleich. Das bedeutet, dass ich zuerst die Begegnungen analysieren

werde, die meiner Meinung nach in diesem Teil des Buches die wichtigsten sind.

Konkret geht es in diesem Fall um zwei Begegnungen, die schon von ihrer

Konstellation her sehr verschieden sind. Die erste Begegnung, im Kapitel „Vom Baum

am Berge“, ist die zwischen Zarathustra und einem seiner Schüler, das zweite wichtige

Treffen ist das zwischen Zarathustra und allen seinen Schülern, im Kapitel „Von der

schenkenden Tugend“. Zweitens werde ich untersuchen, wie das zweite Thema des

ersten Subkapitels, die Sprachmimesis, sich in „Die Reden Zarathustra’s“

weiterentwickelt. Beide, sowohl die Begegnungen als auch die Sprachmimesis, zeigen

den riesigen Unterschied zur Kommunikationssituation und zur Identität in der Vorrede.

1.2.1 Zarathustras Begegnungen als Lehrer

1.2.1.1 „Vom Baum am Berge“ „Vom Baum am Berge“ ist die erste (und einzige) wirkliche Begegnung in „Die Reden

Zarathustra’s“. Es ist nach der Vorrede das erste Mal, dass, in einem Erzählertext

vermittelt, Zarathustra sich in die erzählte Welt bewegt und jemanden trifft, mit dem er

spricht. Das bedeutet, dass die Konstellation in „Vom Baum am Berge“ deutlich von

den anderen Reden Zarathustras abweicht. In den übrigen Reden werden die Leser

51 Anke Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 101.

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manchmal auch mit einem Dialog konfrontiert, z.B. in „Von alten und jungen

Weiblein“, aber Zarathustra gibt diesen Dialog selber wieder. Er spricht die Wörter

seines Gesprächspartners. Es gibt in „Von alten und jungen Weiblein” keinen Erzähler,

der den Dialog einleitet, sondern er wird in dem Figurentext von Zarathustra in medias

res dargestellt. Zarathustra selber inszeniert das Gespräch. So liest man z.B.: „und ich

entgegnete ihr: ‘über das Weib soll man nur zu Männern reden.’”, oder, „und ich

willfahrte dem alten Weiblein und sprach also zu ihm”. [Z 84] Zarathustra gibt seinem

Publikum den Dialog also wieder, nachdem er stattgefunden hat. Das Gespräch wird

nachträglich erzählt. In „Vom Baum am Berge“ ist es so, dass nicht Zarathustra,

sondern der Erzähler das Gespräch zwischen Zarathustra und seinem Jüngling darstellt.

Am Anfang heißt es nämlich:

Zarathustra’s Auge hatte gesehn, dass ein Jüngling ihm auswich. Und als er eines Abends allein durch die Berge gieng, welche die Stadt umschliessen, die genannt wird „die bunte Kuh“: siehe, da fand er im Gehen diesen Jüngling, wie er an einen Baum gelehnt sass und müden Blickes in das Thal schaute. Zarathustra fasste den Baum an, bei welchem der Jüngling sass, und sprach also: [Z 51]

Auch dieses Gespräch wird nachträglich erzählt, so wie der ganze Zarathustra, aber es

ist hier nicht so, dass einer der zwei Dialogpartner selber das Gespräch nacherzählt, also

auch die einzige wirklich sprechende Figur ist. „Vom Baum am Berge“ ist ein Dialog,

der vom Erzähler erzählt wird, bei dem es zwei Personen gibt, die unabhängig

voneinander zu Wort kommen. Eine mehr oder wenig ähnliche Situation sieht man am

Ende des ersten Buches, in „Von der schenkenden Tugend“. Die Situation ist dieser in

dem Sinne ähnlich, dass auch dann die Adressaten von Zarathustras Rede in dem

einführenden, kontextskizzierenden Erzählertext spezifiziert werden, dass es außerdem

auch dann nicht Zarathustra selber ist, der einen Kontext bzw. ein Gespräch kreiert. Der

Unterschied zwischen den beiden „Reden“ ist gerade der Redegehalt. „Von der

schenkenden Tugend“ hat niemals den Anschein, ein Dialog zu sein. Nur Zarathustra

spricht. „Vom Baum am Berge“ ist ein Gespräch mit zwei Partnern, die sprechen.

Inwieweit ist ein solcher Dialog rede-, speechfähig? Inwieweit unterscheidet

diese Sprachsituation sich von den anderen „Reden“ Zarathustras? Bennholdt-Thomsen

bemerkt in ihrer Kommunikationsanalyse: „[A]ls epische Gestalt erscheint [...] nur der

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Jüngling konkret“.52 Im Vergleich mit den anderen Reden in dem ersten Teil hat sie

deutlich Recht. Der Jüngling ist die einzige andere Figur, die sich tatsächlich als

physisch anwesende Figur manifestiert. Die anderen Figuren werden entweder von

Zarathustra selber inszeniert oder apostrophiert oder werden nur vom Erzähler

umschrieben (siehe z.B. die Gruppe von Schülern am Ende des ersten Teils). Der

Jüngling ist der einzige, der (u.a. anhand seiner eigenen Sprache) eine konkrete Gestalt

bekommt. Konkret heißt aber nicht spezifisch. Der Dialog zwischen Zarathustra und

dem Jüngling wirkt in „Die Reden Zarathustra’s“, weil der Jüngling eine exemplarische

Figur ist. Er ist ein konkreter „Bruder“, der zugleich alle Brüder enthält. Die

Schwierigkeiten, die der Jüngling mit der Lehre Zarathustras erfährt, sind hier zwar

spezifische, zugleich aber exemplarische Probleme. Über alle Reden, die an einzelne

Personen gerichtet sind, meint Bennholdt-Thomsen, dass es „um Fragen geht, die sich

der Schaffende als Individuum stellen muss“.53 Obwohl die Redekonstellation in diesem

Fall, wie bemerkt, den anderen Reden nicht gleicht, ist der Effekt derselbe. Der

Jüngling stellt sich die Fragen, die sich auch andere Schüler, im Prinzip auf dem Wege

zu schaffenden Individuen, gestellt haben sollen. „Vom Baum am Berge“ ist förmlich

ein Gespräch, ein Hin-und-Wieder zwischen Zarathustra und seinem Schüler,

thematisch ist es den anderen Reden, die an einzelne Personen gerichtet sind, sogar

einfach allen Reden sehr ähnlich. Die Dialogform ist eine verdeckte Rede: In seiner

Reaktion auf die Fragen des Jünglings hält Zarathustra seine Rede. Deshalb

unterscheidet Lampert in seiner Analyse des ersten Zarathustra nicht zwischen diesem

Gespräch und anderen „private conversations“, zu denen er zum Beispiel „Von alten

und jungen Weiblein“ rechnet.54 Er behauptet, „as in the other chapter [=„Von alten und

jungen Weiblein“] that contains a private conversation at the opening, Zarathustra

controls the situation, forcing the dialogue to open in a certain way and follow the

course he desires“.55 Es ist tatsächlich so, dass Zarathustra in den beiden privaten

Gesprächen genau so sehr eine Rede hält, als in anderen Kapitelnbder Fall ist, in denen

die Form der Rede unproblematisch ist. In dem Sinne kann man behaupten, dass er die

Situation kontrolliert. Meines Erachtens ist die Kontrolle, von der Lampert spricht, in

52 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 101. 53 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 101. 54 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 47. 55 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 47.

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„Von alten und jungen Weiblein“ aber viel größer, einfach, weil Zarathustra den Dialog

selber nacherzählt. In den eigentlichen Dialogen ist die Dominanz Zarathustras

vielleicht genau so groß, steuert er in den beiden Fällen die Konversation, damit er die

Rede halten kann, die er halten will, aber die Analyse scheint mir problematisch zu

werden, wenn man das Dargestellte von der Darstellung trennt. Wenn Lampert von

„private conversations“ spricht, ohne zwischen ihnen erzählspezifisch weiter zu

differenzieren, macht er von der förmlichen Variation in „Die Reden Zarathustra’s“ eine

zu einfache Skizze. In „Vom Baum am Berge“ ist es deutlich der Erzähler, der das

Dargestellte (d.h. die Konversation) darstellt, der den Dialog wiedergibt. Eben wenn

man behauptet, dass das auch in „Von alten und jungen Weiblein“ der Fall ist – der

wiederholte Schlusssatz „Also sprach Zarathustra“ suggeriert, dass der Erzähler in jeder

Rede anwesend ist –, bleibt es unverändert Zarathustra, der das Gespräch selber

nacherzählt, ohne dass der im Gespräch implizierte Gesprächspartner vorhanden ist. Der

Jüngling hingegen ist sowohl als Person, mit der Zarathustra spricht, als auch als Teil

seiner Schülergruppe eine Figur, die es in der erzählten Welt wirklich gibt. Der Effekt

der formlich deutlichen Reden und der Effekt der „private conversations“ sind meines

Erachtens nicht unterschiedlich: In beiden Fällen hält Zarathustra einen Vortrag, der auf

eine offene Gruppe von Brüdern gerichtet ist. Das bedeutet aber nicht, dass man die

wichtigen förmlichen, deshalb immer auch inhaltlichen Unterschiede verneinen darf.

Obwohl „Vom Baum am Berge“ den anderen Reden Zarathustras gegenüber

also thematisch und im Grunde auch adressatenorientiert nicht wirklich verschieden ist,

ist das Kapitel auf anderen Ebenen als die oben genannten schon anders. Der Dialog ist

nämlich nicht vor allem wichtig, weil Zarathustra hier einer anderen Person begegnet,

die tatsächlich als Person fungiert, d.h. selber spricht, denn die ‚Person’ fungiert

zugleich unpersönlich, vertritt eine ganze Gruppe. Der Dialog ist vor allem wichtig,

weil Zarathustra in der Interaktion mit seinem Schüler mehr als in anderen Reden sich

selber zeigt. Die problematische Identität aus der Vorrede wird zwar in dem ganzen

restlichen ersten Teil des Zarathustra zu einer (zumindest scheinbar)

unproblematischen umgebildet, in diesem Kapitel aber gestaltet Zarathustra sie am

besten. In der Vorrede war es meistens so, dass Zarathustra sich räumlich verschob und

auf diesem Wege Figuren traf, die ihn anredeten; nur der Seiltänzer war ein

Ausnahmefall. Das ‚Gespräch’, zu dem die Begegnung führte, war auf den ersten Blick

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ein unkommunikatives: Entweder redeten Zarathustra und sein Gesprächspartner, ohne

einander zu verstehen, oder Zarathustra wurde angeredet und reagierte eben nicht. Im

Vergleich hat sich die Gesprächssituation in „Vom Baum am Berge“ gerade umgekehrt.

Das einzige Gleichnis ist, dass auch hier Zarathustra die bewegende Figur ist, der

Jüngling die Figur, die sich auf einem bestimmten Platz befindet: „siehe, da fand er im

Gehen diesen Jüngling, wie er an einen Baum gelehnt sass“. [Z 51; Hervorhebung von

mir, sj] Zarathustra ist durch die vier Bücher hindurch immer in Bewegung. Auf diesem

Wege begegnet er den Figuren, mit denen er spricht bzw. nicht spricht. Anders als in

der Vorrede ist es in „Vom Baum am Berge“ Zarathustra, von dem die Initiative zu

einem Dialog ausgeht. Wenn er den Jüngling beim Baum sitzen sieht, spricht er wie

folgt:

Wenn ich diesen Baum da mit meinen Händen schütteln wollte, ich würde es nicht vermögen. Aber der Wind, den wir nicht sehen, der quält und biegt ihn, wohin er will. Wir werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen gebogen und gequält. [Z 51]

Zarathustra ist jetzt derjenige, der zu Reden anfängt. In dem Öffnungssatz verwendet er

das Bild des Baums, an den der Jüngling sitzt. Der Baum, so behauptet Zarathustra, ist

einer, den er mit seinen fassbaren Händen nicht schütteln kann. Der Wind aber, der

unfassbar ist, kann den Baum schon hin und her bewegen. Der dargestellte Kontrast

bezieht Zarathustra im folgenden Satz auf ihn und den Jüngling. Wenn er den Baum als

Metapher für ihre eigene Tätigkeit benützt, verweist er so sowohl auf die physische –

der Jüngling sitzt an einen Baum – als auch auf die psychische Situation – auch der

Jüngling wird von unsichtbaren Kräften gebogen – des Angeredeten. Es sind

unsichtbare Hände, geistige Kräfte, die auf den Jüngling einwirken. Schon in seinem

ersten Satz diagnostiziert er seinen Schüler, der noch zu viel Geist ist, zu weinig Leib,

wie auch Annemarie Pieper bemerkt.56 Der Jüngling, der sich in dieser Aussage

erkennt, reagiert: „ich höre Zarathustra und eben dachte ich an ihn“. [Z 51] Die

Reaktion ist ein Satz ins Leere, höchstens an sich selber, sicherlich nicht an Zarathustra

gerichtet. Zarathustra überrascht ihn, er wusste nicht, dass Zarathustra da war. Nachdem

Zarathustra geantwortet hat, fragt der Jüngling: „Wie ist es möglich, dass du meine

Seele entdecktest?“ [Z 51] Die Frage, die jetzt deutlich an Zarathustra gerichtet ist,

56 Pieper deutet die „unsichtbaren Händen“ als „die Normen der traditionellen Moral, die die Menschen zu formen versuchen“. Annemarie Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 194.

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bestätigt die Anfangsdiagnose: „Zarathustra lächelte und sprach: „Manche Seele wird

man nie entdecken, es sei denn, dass man sie zuerst erfindet’“. [Z 51] Genau wie in der

Vorrede taucht in dem Dialog das Lachen auf. Das Motiv wirkt aber deutlich anders.

Während das Lachen in der Begegnung mit dem Greis oder in der Konfrontation mit

dem Volk das Nichtverstehen der verschiedenen Kommunikationspartner hervorhob,

lächelt Zarathustra jetzt, weil er anhand der Frage weiß, dass er den Jüngling von

Anfang an, ohne dass er ein Wort gesagt hat, richtig verstanden hat. Sowohl in der

Rollenverteilung innerhalb der Kommunikation, als auch in den anders wiederholten

Motiven, wird ein deutlicher Kontrast zwischen der Vorrede und „Die Reden

Zarathustra’s“ bemerkbar. In seiner heutigen Rolle als Gesprächsleiter ist Zarathustra

gewissermaßen eben dem Heiligen aus der Vorrede ähnlich. Ohne dass Zarathustra

damals ein Wort gesagt hatte, wusste der Heilige schon, dass Zarathustra sich

verwandelt hatte (das konnte er ja sehen), wusste er eben auch, was genau Zarathustras

Ziel war (cf. supra: 1.1.2.1). Ohne dass der Jüngling jetzt ein Wort sagt, weiß

Zarathustra genau, was ihn schmerzt. Die Konstellation im Dialog hat sich also völlig

umgekehrt. Zarathustra ist jetzt nicht mehr derjenige, der das Gespräch erleidet, sondern

derjenige, der das Gespräch steuert. Dass Zarathustra die dominante Rolle im Gespräch

übernimmt, so wie der Heilige in der Vorrede die dominante Rolle auf sich nahm, zeigt

deutlich die Veränderung in der Figur Zarathustra. In meiner Analyse der Vorrede habe

ich darauf hingewiesen, dass sowohl die passive Attitude in den Begegnungen, als auch

die besondere Sprachmimesis die unsichere Identität Zarathustras widerspiegeln. Der

Weg, den Zarathustra in der Vorrede geht, ist ein suchender Weg. Wenn Lampert in

seiner Analyse der Vorrede behauptet, dass „Zarathustra begins as the teacher of the

superman but ends as the teacher of eternal return“57, ist die Aussage nicht nur

problematisch, weil das Konzept der ewigen Wiederkunft schon deutlich in der Vorrede

sichtbar ist, sondern vor allem, weil gerade die Lehreridentität ständig problematisiert

wird.58 Nur in dem einzig echten Dialog der Vorrede, der mit dem Seiltänzer, wurde ein

Hauch sichtbar von dem Lehrer, der Zarathustra erst jetzt wirklich ist. Die Lehre an sich

hat sich nicht geändert, auch nicht Zarathustras Bewusstwerdung seiner eigenen Lehre,

57 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 21. 58 Annemarie Pieper weist darauf hin, dass auch in der Vorrede die ewige Wiederkunft deutlich thematisiert wird, so wie ich auch in meiner Bachelorarbeit argumentiert habe. Siehe dazu: Pieper: „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“; Jacobs: Der heraklitische Zarathustra.

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aber die Weise, auf die er seine Lehre kommuniziert. Weil Zarathustra sich nicht mehr

auf das ganze Volk, sondern auf einzelne Gefährten richtet, gelingt es ihm, verschenken

zu können. Weil es jetzt schon „Hände [gibt], die sich ausstrecken“ [Z 11], ist er

imstande, der Schenkende, der Lehrer zu sein. Der Jüngling ist eine solche Hand, die es

Zarathustra möglich macht, ihn zu führen. Sie brauchen einander: Der Jüngling braucht

Zarathustra, um ihm den Weg zu zeigen, Zarathustra braucht den Jüngling, um

überhaupt einen Weg zeigen zu können.59

Auch ein anderes Element, das in den Begegnungen aus der Vorrede immer

wieder (aber jedes Mal in verschiedener Gestalt) auftauchte, ist in dem Begegnung mit

dem Jungen sichtbar: die Verwandtschaft zwischen den beiden Gesprächspartnern.

Während es in der Vorrede immer so war, dass nicht Zarathustra, sondern die andere

Person die Ähnlichkeit zwischen ihnen hervorhob, ist es hier Zarathustra selber, der

sowohl in seinen Worten, als auch in seinen Handlungen eine Verwandtschaft mit dem

Jüngling konstruiert. So behauptet Lampert, dass „Zarathustra’s answer suggests that

they [=die Geheimnisse des Jungen] are the secrets of his own soul“.60 Tatsächlich sagt

Zarathustra zum Jungen, „Ja, ich kenne deine Gefahr“. [Z 53] Auch Pieper und Van

Eeckelen bemerken eine Wiedererkennung Zarathustras in den Besorgnissen des

Jünglings.61 Zarathustra redet zu seinem Schuler, als seien die Schwierigkeiten, die der

Junge jetzt erlebt, auch alle seine Schwierigkeiten gewesen. Gewissermaßen erscheint

die Wiedererkennung so als sehr forciert: Zarathustra kann zwar über Neid im

Allgemeinen sprechen, auch über Beneidet-werden, aber die genaue Situation, mit der

der Junge sich konfrontiert sieht, kann Zarathustra nie miterleben. Er wurde nicht mit

einem Zarathustra – mit einem Helden, denn so erscheint Zarathustra dem Jüngling –

konfrontiert. Duhamel verneint die Distanz, die es meines Erachtens tatsächlich

zwischen Zarathustra und dem Jüngling gibt, wenn er behauptet, dass Zarathustra in

„Vom Baum am Berge“ eigentlich sich selber begegne. 62 Weil Zarathustra kein

Lehrling ist, sondern ein Lehrer, der seine eigene Lehre bis hierher nicht selber lernt,

59 Wenn ich behaupte, dass Zarathustra dem Jüngling den Weg zeigt, meine ich nicht, dass Zarathustra seinen eigenen, persönlichen Weg zeigt, sondern, dass er dem Jungen hilft, die Obstakel zu überwinden, die ihn jetzt hindern. 60 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 48. 61 Siehe dazu: Pieper: “Ein Seil zwischen Tier und Übermensch”. S. 196. Van Eeckelen: Waanzin en werk van Friedrich Nietzsche. S. 349, 352-354. 62 Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. S. 35.

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scheint eine Selbsterkennung mir unmöglich zu sein. Zarathustra fühlt sich zwar mit

dem Jüngling verwandt, ist ihm aber nicht identisch. Es ist meines Erachtens zum

Beispiel sehr bedeutend, dass, nachdem der Junge seinen Neid erkannt hat („Der N e i d

auf dich ist’s, der mich zerstört hat!“) und „bitterlich“ zu weinen anfängt, Zarathustra

„seinen Arm um ihn“ legt und „ihn mit sich“ führt. [Z 52] Obwohl Zarathustra

unmittelbar danach sagt, „Besser als deine Worte es sagen, sagt mir dein Auge alle

deine Gefahr“, und später behauptet „Ja, ich kenne deine Gefahr“ [Z 53; Hervorhebung

von mir, sj], also fast buchstäblich eine Wiedererkennung zeigt, kreieren seine

Handlungen zwar eine Verwandtschaft, aber keine Wiedererkennung. Die erste

Reaktion Zarathustras, die Handlung, bei der er seinen Arm um den Jungen hinlegt, ist

nämlich eine väterliche. Nachdem Zarathustra den Jüngling zur Erkenntnis gebracht hat,

dass es gerade der Neid auf Zarathustra ist, der ihn zurückhält, und der Jüngling dann zu

weinen beginnt, beschützt Zarathustra ihn und zeigt ihm den Weg. Mit anderen Worten:

Wenn der Junge seine Schwäche zeigt, zeigt Zarathustra sich als der schützende Vater,

der den Jungen unter seine Fittiche nimmt. Bevor er die Wiedererkennung konstruiert,

sagt Zarathustra außerdem zuerst, „Es zerreisst mir das Herz“. [Z 53] Es schmerzt ihn,

wie einen Vater, den Jungen weinen zu sehen. Die emotionale, väterliche Reaktion

impliziert eine Verwandtschaft zwischen Zarathustra und seinem Schuler, aber eher eine

relationale, familiäre. Eine solche relationale Verwandtschaft schließt eine

Wiedererkennung nicht aus. Pieper zum Beispiel meint, dass Zarathustra in dem Jungen

sein jüngeres Ich sieht.63 Man könne behaupten, dass die relationale Verwandtschaft

gerade auf einer Ähnlichkeit, also auch einem Wiedererkennen, basiert sei. Eine solche

Behauptung ist aber schwierig zu belegen. Nur im Satz „Ja, ich kenne deine Gefahr“ [Z

53], sagt Zarathustra explizit, dass er sich selber im Jüngling wiedererkennt. Genau

diese Hervorhebung scheint mir vor allem strategisch zu sein. Der Jüngling wird in

seiner Entwicklung davon gehindert, Zarathustra als Abgott zu verehren. So entwickelte

er einen Neid auf Zarathustra, den er aber ins Negativen funktionalisiert: Mit dem

Idealbild von Zarathustra vor Augen verachtet er sowohl Zarathustra als auch sich

selber („Meine Verachtung und meine Sehnsucht wachsen mit einander; je höher ich

steige, um so mehr verachte ich Den, der steigt. Was will er doch in der Höhe?“ [Z 52]).

Die Idolatrie führt dazu, dass er sich selbst immer kleiner als Zarathustra sieht: „Siehe, 63 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 196.

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was bin ich noch, seitdem du uns erschienen bist?“ [Z 52] Wenn Zarathustra darauf in

seiner sprachlichen Reaktion, in der er den Jungen darum bittet, seine „Liebe und

Hoffnung“ als positive, forttreibende Kraft zu funktionalisieren, behauptet, dass er seine

Gefahr kennt, verkleinert bzw. vernichtet er die Distanz, die der Jüngling in seiner

Verehrung zwischen ihnen kreiert hat. Ich würde also behaupten, dass Zarathustra eine

Ähnlichkeit zwischen ihnen betont, damit der Junge, nicht länger von

Selbstverkleinerung behindert, sich weiter entwickeln kann. Etwas Ähnliches meint

auch Lampert, wenn er bemerkt, dass „Zarathustra thus reduces the apparant differences

between them by speaking of what they share“.64 Lampert stellt fest, dass Zarathustra

seine letzte Replik in zwei Teile trennt, von denen der erste Teil von der Gefahr des

Neides handelt, der zweite von dem Beneidet werden, „a danger to which both the

young man and Zarathustra are exposed“.65 Laut Lampert richtet Zarathustra vor allem

die Aufmerksamkeit auf das Beneidet-werden; der zweite Teil ist ja auch länger. Auch

so betont Zarathustra ihre Gemeinsamkeit. Wenn man die Wiedererkennung vor allem

strategisch denkt, erreicht man gerade die umgekehrte Bewegung, als die, zu der die

Behauptung Piepers Anlass gibt. Sie meint, dass Zarathustra in dem Jungen sein

jüngeres Selbst siehe. 66 Die väterliche Reaktion sei dann eine Folge der

Wiedererkennung. Meiner Meinung nach fühlt Zarathustra eine väterliche

Verantwortlichkeit für den Jungen, betont er deshalb eine Ähnlichkeit; er will dem

Jungen helfen, kennt deswegen seine Gefahr – ob er seine Gefahr wirklich kennt oder

nur tut als ob, ist dann im Grunde eine sekundäre Frage.

Der Dialog in „Vom Baum am Berge“, meines Erachtens die (tatsächliche) Rede

in „Die Reden Zarathustra’s“, in der die Figur Zarathustra sich am besten zeigt, ist auf

verschiedenen Ebenen eine radikale Umkehrung der Kommunikationssituation, folglich

auch der Identität Zarathustras, aus der Vorrede. Zarathustra zeigt sich jetzt als der

Lehrer, der er in der Vorrede nicht sein konnte. Weil er ein Publikum hat (das sich in

der Form des Jünglings konkretisiert), das zuzuhören scheint, kann er verschenken,

kann er also auch der Schenkende sein. 67 Die (vorläufig) sichere Identität, die

64 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 49. 65 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 49. 66 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 196. 67 Die Frage, ob die Kommunikation in „Die Reden Zarathustra’s“ wirklich gelingt oder nicht, behandele ich im nächsten Subkapitel (1.2.2). Es ist allerdings so, dass der Jüngling akzeptiert, was Zarathustra ihm

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Zarathustra jetzt erworben hat – die des Lehrers –, bildet einen deutlichen Kontrast zu

dem fragilen Zarathustra in der Vorrede. Nicht nur beginnt und steuert Zarathustra den

Dialog, es ist auch sehr bedeutsam, dass es in diesem Gespräch Zarathustra ist, der für

den Jungen als Spiegel fungiert, außerdem auch Zarathustra, der jetzt die

Verwandtschaft hervorhebt. Systematisch tauchen die nach meiner Meinung

bestimmenden Charakteristiken aus der Vorrede umgekehrt auf, damit die Zäsur

zwischen dem Zarathustra aus „Zarathustra’s Vorrede“ und dem aus „Die Reden

Zarathustra’s“ deutlich markiert wird.

1.2.1.2 „Von der schenkenden Tugend“ Die letzte Rede des ersten Teils, die dreigeteilt ist, erzählt im Grunde nicht von einer

Begegnung Zarathustras, sondern von einem Abschied. Zarathustra, genau wie am Ende

der Vorrede, verlässt die Stad „die bunte Kuh“. Als er die Stadt damals verließ, trug er

den toten Seiltänzer mit sich: seinen ersten Gefährten. Er konkludierte aber, „Gefährten

brauche ich und lebendige – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage,

wohin ich will“. [Z 25] Wenn Zarathustra jetzt die Stadt verlässt, folgen „ihm Viele, die

sich seine Jünger nannten und gaben ihm das Geleit“. [Z 97] Die Gefährten, die in

dieser Schlussrede zum ersten Mal als Gruppe sichtbar werden, hat Zarathustra sich also

allerdings geschafft. Während des Auszuges aus der Stadt lassen seine Jünger, die sich

selber diesen Namen gegeben haben, ihn vorausgehen. Eben dieser kleine Erzählertext

zeigt den Kontrast mit der Vorrede, wo Zarathustra mit seiner Lehre fast niemand

erreichen konnte. Heute folgt ihm eine Gruppe, die hinter ihm läuft, die sich außerdem

selber seine Jünger nennt. Sowohl ihre freiwillige Position als auch die

Selbstbenennung suggerieren die Gefahr, der sich der Jüngling in „Vom Baum am

Berge“ schon bewusst wurde, die Gefahr, die dazu führt, dass Zarathustra sie am Ende

dieser Rede verlassen wird: Sie verehren ihn und verkleinern so sich selbst. Wenn

Zarathustra, der mit seinen Schülern „einen Kreuzweg“ [Z 97] erreicht hat, jetzt schon

sagt, „dass er nunmehr allein gehen wolle“ [Z 97], schenken sie ihm einen Stab, der

nach Lampert „that of Asklepius, god of healing, who received it from his father,

Apollo“ gleicht.68 Es ist ein Stab mit „goldnem Griffe“, um den „sich eine Schlange um

sagt: In dem Dialog mit Zarathustra erkennt er, was ihn verhindert, höher zu steigen. Er akzeptiert das Geschenk, das ihm von Zarathustra verschenkt wird. 68 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 74.

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die Sonne ringelte“. [Z 97] Zarathustra, der das Geschenk gerne akzeptiert, stützt

unmittelbar auf dem Stab, als Zeichen seiner Wertschätzung.

Dass Zarathustra von seinen Schülern überhaupt ein Geschenk, und spezifisch

dieses Geschenk empfängt, ist auf zwei Ebenen sehr bedeutsam. Zuerst, und das betont

Zarathustra im ersten Teil dieser Rede selber, zeigen die Schüler, dass sie nicht nur ein

Geschenk akzeptieren können (denn sie nehmen die Lehre Zarathustras an), sondern

auch ein Geschenk geben können. Indem sie Zarathustra den Stab schenken, wechselt

die Richtung des Austauchens. In dem Sinne ändert sich jetzt der monologische

Austausch zu einem dialogischen Austausch. In der Vorrede war es nur der Seiltänzer,

der zugleich von Zarathustra belehrt wurde und Zarathustra auch selber lehrte. Während

des Dialoges mit dem Jüngling gab es zwar ein Gespräch zwischen zwei Personen, aber

es war immer Zarathustra, der dem Jungen das Geschenk erteilte, immer der Junge, der

das Geschenk akzeptierte. Jetzt schenken die Schüler Zarathustra ein Geschenk, worauf

er seinerseits den Schülern drei Reden schenkt. Zarathustra sagt also treffend: „ihr

trachtet, gleich mir, nach der schenkenden Tugend“. [Z 97; Hervorhebung von mir, sj]

Diesmal ist die Betonung der Gleichheit nicht (nur) strategisch, sondern sind sie

einander, zumindest in der schenkenden Tugend, auch wirklich gleich. Das Geschenk

seiner Schüler wird so zur Bekrönung seiner Tätigkeit als Lehrer: Der Lehrer hat

erreicht, dass er und seine Schüler minimal die Rollen wechseln können. Deswegen sind

sie nicht nur buchstäblich, sondern auch figürlich „an einen Kreuzweg“ gekommen. [Z

97] Einerseits hat Zarathustra erfolgreich seine Lehre auf sie übertragen: Dass sie ihm

überhaupt etwas schenken, demonstriert an sich schon ein minimales Verständnis. Dass

sie ihm gerade einen Stab schenken, „an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um

die Sonne ringelte“ [Z 97], demonstriert, dass ihr Verständnis seiner Lehre nicht nur

minimal ist, denn in ihr Geschenk integrieren sie die Bilder der Sonne und der

Schlange, Bilder also, die Zarathustra vor allem in der Vorrede schon verwendete und

die für seine Lehre wesentlich sind.69 Auch Pieper behauptet, „durch dieses Geschenk

69 Die Sonne ist das Bild, mit dem die Vorrede öffnet. Sie ist das Symbol des Verschenkens, mit denen Zarathustra sich identifiziert (cf. supra: 1.1.1). Zarathustra einen Stab mit einer Sonne schenken, bedeutet in dem Sinne ein doppeltes Geschenk. Außerdem zeigen die Schüler so auch, dass sie ihren Lehrer kennen, so wie er sich selber zu kennen glaubt. Die Schlange ist eines der zwei Tiere Zarathustras, worüber er am Ende der Vorrede sagt, „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange!“ [Z 27] Die Schlange symbolisiert aber nicht nur die Klugheit, sondern bildet auch, wie die Sonne, einen Kreis (an dem Stab ringelt sie sich um die Sonne). So betrachtet weisen beide Bilder schon auf die ewige

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geben die Schüler Zarathustra zu erkennen, dass seine Lehre bei ihnen auf fruchtbaren

Boden gefallen ist“.70 Wie schon erwähnt, akzeptiert Zarathustra das Geschenk nicht

nur, er stützt sich auch darauf, d.h. benützt es, um sich selber das Gehen zu

vereinfachen. Zarathustra betrachtet seine Jünger also als Brüder, denen er vertrauen,

auf die er sich stützen kann. Andererseits können die Schüler nie Zarathustras Lehre

vollenden, wenn Zarathustra als Lehrer ständig präsent bleibt. In seiner Umgebung

werden seine Jünger immer seine Jünger bleiben; sie nennen sich ja auch selber so. Ihre

Verehrung für Zarathustra ist zu groß, um ihren eigenen Weg zu gehen.71 Deshalb sagt

Zarathustra im dritten Teil dieser Rede aufs Neue, „Allein gehe ich nun, meine Jünger!

Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es“. [Z 101] Wenn Zarathustra die

Schüler verlässt, bedeutet das also nicht, dass er seine Identität als Lehrer aufgibt,

sondern dass er sie zum Äußersten treibt. Lampert übt zu Recht Kritik an dem Analyse

Dannhausers, die behauptet, dass „Zarathustra wants no disciples“. 72 Zarathustra

wünscht sich schon Schüler – nach Lampert „wants [Zarathustra] disciples above all

else“73 –, aber nicht die Schüler, die ihm blind folgen, sondern Schüler, die ihren

eigenen Weg zum Übermenschen gehen. Gerade um diese Schüler zu erreichen, verlässt

Zarathustra sie. Pieper bemerkt deshalb, „Der Heilungs- als Lernprozess besteht in der

Einübung in ein Selberkönnen, das letztlich auf keine fremde Hilfe mehr angewiesen

ist“.74 Die Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern kann erst richtig zustande

kommen, wenn der Lehrer nicht anwesend ist. Der Dialog in „Vom Baum am Berge“ ist

dafür ein exemplarischer Fall. Lehrer und Jüngling reden miteinander, der Lehrer führt

den Jüngling eben zum Kern seiner Frustration, aber weil das Problem genau darin

besteht, dass der Jüngling den Lehrer verehrt, kann der Jüngling nie richtig zuhören.

Drei Mal nimmt der Jüngling im Dialog das Wort, drei Mal beginnt er seine Antwort

mit „Ja“: „“Ja, in’s Böse! rief der Jüngling. Wie ist es möglich, dass du meine Seele

entdecktest?““ [Z 51], „“Ja in’s Böse! rief der Jüngling nochmals. Du sagtest die

Wiederkunft voraus, wie auch Pieper bemerkt. Siehe dazu: Pieper: „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. S. 341. 70 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 341. 71 Die Betrachtung des Lehrers als ultimatives Exempel, die die eigene Entwicklung verhindert, war natürlich schon Thema in „Vom Baum am Berge“. Die Rede konzentrierte aber vor allem auf die Funktionalisierung des Neids. 72 Werner Dannhauser: Nietzsche’s View of Socrates. Zitiert nach: Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 77. 73 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 77. 74 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 358.

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Wahrheit, Zarathustra““ [Z 52], „“Ja, Zarathustra, du sprichst die Wahrheit““ [Z 52].

Man kann sich also die Frage stellen, ob nicht genau die Person Zarathustra ein

wirkliches Verstehen verhindert. Drei Mal affirmiert der Jüngling die Analyse

Zarathustras explizit, aber affirmiert er, weil er versteht, was Zarathustra meint, oder

affirmiert er, weil es Zarathustra ist, der analysiert? Solange Zarathustra die Schüler

umarmt, werden die Schüler nie sich selber umarmen können. Am Ende des Zitats sagt

Zarathustra: „so will ich es“. Obwohl Zarathustra den Abschied begründet als eine

Entscheidung, die er zugunsten seiner Schüler trifft, als eine vor allem altruistische,

betont er aber auch, dass die Entscheidung sein eigener Wille ist. Als Lehrer braucht er

die Verabschiedung ja auch selber. Wenn er seine Schüler systematisch in ihrer

Entwicklung hindert, wird er nicht mehr imstande sein, sie überhaupt noch lehren zu

können. Das Explizieren seines Selbst passt außerdem zum ersten Grund, den

Zarathustra seinen Schülern nennt: Er will alleine gehen, damit er seine Jünger nicht

hindert, aber auch, weil er „ein Freund des Alleingehens“ ist. [97] In ihrer

Verabschiedung betrachtet er sowohl seine Schüler als auch sich selbst.

Nicht nur markiert der Stab den Kreuzweg, an dem Zarathustra und seine Jünger

sich befinden, sondern der Stab nimmt auch indirekt eine Thematik vorweg, die

Zarathustra in den zwei letzten Teilen der Rede aufgreift. Wie Lampert zu Recht

bemerkt, gleicht der Stab in Zarathustra dem, der Asklepios, Gott der Heilkunst, von

seinem Vater Apollon als Symbol für die Genesung geschenkt wurde. 75 Der

mythologische Stab war ein Geschenk zwischen Verwandten, das eine Heilungs- bzw.

Genesungskraft symbolisierte. Genau diese Verknüpfung zwischen Verwandtschaft und

Heilung – in den beiden Bedeutungen von ‚Genesung’ schon miteinander verbunden76 –

taucht auch in Zarathustras Rhetorik auf. Am Ende des zweiten Teils sagt er zu seinen

Jüngern:

Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: – und aus ihm der Übermensch. Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender, – und eine neue Hoffnung! [Z 101]

75 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 74. 76 Siehe dazu: Benjamin Biebuyck: Worte für die Leichten. Literaturwissenschaftliche Erörterung der poietischen Methapher, begleitet von einer Analyse der Wiederkunftsmetaphorik in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-1885). Gent: s.n. 1996.

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Die Jünger werden „ein auserwähltes Volk“ erzeugen („aus euch [...] soll [...]

erwachsen“), das auserwählte Volk den Übermenschen. So wird die Erde „eine Stätte

der Genesung“. Gerade die Position des Wortes „Genesung“ in diesem Textausschnitt

bringt ihre zwei Bedeutungen zusammen: Im vorangehenden Satz betont Zarathustra die

Prokreation des Übermenschen, im Satz, der auf „der Genesung“ folgt, hebt er das

„Heil“ hervor, das der Übermenschen bringt. Das Gebären heilt. Im dritten Teil dieses

Kapitels vergleicht Zarathustra seine Jünger mit (zukünftigen) Kindern: „Und einst

noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder Einer Hoffnung: dann will ich

zum dritten Male bei euch sein, dass ich den grossen Mittag mit euch feiere“. [Z 102]

Während die Jünger im zweiten Teil die Hoffnung kreieren, werden sie in diesem Zitat

gerade deren Kinder. Man ist also zugleich Kind und Elternteil. Diese Implikation war

der Definition des Kindes in „Von den drei Verwandlungen“ im Grunde schon inhärent.

Das Kind schafft und in dem Schaffen schöpft es auch. Gerade, weil es ein Kind ist,

kann es auch Vater bzw. Mutter sein. Zarathustra bezieht die doppelte

Verwandtschaftsmetaphorik nur auf seine Schüler. Implizit demonstriert er zugleich

aber auch seine eigene Funktion, denn die Schüler können nur gebären, weil Zarathustra

das Rad ins Rollen gebracht hat. Sie können den Brand nur erhalten, weil Zarathustra

ihn gestiftet hat. Als Übermenschen werden sie sich selber genesen – deshalb muss

Zarathustra jetzt alleine gehen –, aber den Raum für den Übermenschen hat Zarathustra

geschafft. In dem Sinne ist er schon des Übermenschen Vater.

Lampert hat Recht, wenn er über Zarathustra sagt: „in part I he is wholly

teacher“.77 Zarathustra benimmt sich, wie ein Lehrer sich zu benehmen hat: Er versucht,

das Geschenk unter den besten möglichen Umständen zu verschenken, damit seine

Schüler sich völlig entwickeln können. In dieser Rolle als Lehrer blieb seine eigene

geistige Entwicklung immer außer Betracht. Trotzdem sieht man in dieser Schlussrede

des ersten Zarathustra schon, dass Zarathustra sich minimal nach innen kehrt. So

behauptet er im ganzen dritten Teil dieses Kapitels, dass er seine Schüler verlässt, weil

sie ihren eigenen Weg suchen sollen. Wie schon erwähnt, heißt es am Anfang des

Kapitels aber, „dass er nunmehr allein gehen wolle; denn er war ein Freund des

Alleingehens“. [Z 97] Die Entscheidung erscheint in dieser Version also als viel mehr

auf seine eigene Person basiert, während die Alternative im dritten Teil altruistischer 77 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 80.

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anmutet. Wie ich in meiner Analyse der Vorrede gezeigt habe, wurde in der

Konfrontation mit dem Seiltänzer und dem Possenreißer schon die innere Gespaltenheit

Zarathustras, die Zweiteilung zwischen Lehrer des Übermenschen und dem eigentlichen

Übermenschen, sichtbar. In „Die Reden Zarathustra’s“ ist er, wie Lampert behauptet,

völlig Lehrer des Übermenschen, aber man sieht bereits Zeichen, die die

Verinnerlichung seiner Lehre, in Einsamkeit, vorwegnehmen.78 Jetzt lehrt er seine

Schüler über ihre Genesung, im dritten Teil des Zarathustra wird er sich selber genesen

(cf. infra: 3.2.2).

1.2.2 Entwicklung der Sprachmimesis

In meiner Analyse von „Zarathustra’s Vorrede“ habe ich das zweite Subkapitel der

Sprachmimesis gewidmet. Es war ja deutlich aufgefallen, dass Zarathustra oft Wörter,

die ursprünglich von anderen Figuren über ihn gesagt wurden, später zu seinen eigenen

Wörtern macht. Außerdem, so habe ich zu erklären versucht, funktioniert die

Sprachmimesis als eine indirekte Ersatzkommunikation: Zarathustra, die nur mit dem

Seiltänzer ein wirkliches Gespräch hat, zu Anderen entweder überhaupt nichts sagt

(siehe die Begegnungen mit dem Possenreißer und den Totengräbern), oder schon etwas

sagt, aber nicht versteht, worüber der Andere im Grunde spricht (siehe die Begegnung

mit dem Greis), zeigt anhand seiner Wortwahl, dass er den einzelnen Figuren zugehört

und sie verstanden hat, und bestätigt so auch, dass sie Recht hatten. Die Sprachmimesis

in der Vorrede zeigt zugleich eine persönliche Krise, die mit dem Misslingen der

Kommunikation zusammenhängt. Es gelingt Zarathustra nicht, die Identität des

Schenkers zu bestätigen. Die fragile Identität spiegelt sich in einer fragilen Sprache

wider, bei der Zarathustra die Wörter der anderen Figuren, die ihm als Spiegel den Weg

zeigen, sowohl förmlich als auch inhaltlich übernimmt. Auch in „Die Reden

78 Eine Verinnerlichung in Einsamkeit heißt nicht, dass Zarathustra sich später monologisch zum Übermenschen entwickeln wird. In der Entwicklung sind die Einflüsse von bzw. die Begegnungen mit anderen Figuren meines Erachtens entscheidend. Zum Beispiel in der Vorrede ist es zwar in Einsamkeit, dass Zarathustra zur Konklusion kommt, dass er lebendige Gefährten braucht, die er von der Herde weglocken wird, haben die Begegnungen mit dem Greis, dem Seiltänzer, dem Possenreißer und den Totengräbern ihn aber zu dieser Konklusion geführt. Auch der Stab seiner Jünger kann als ein solcher wichtiger Einfluss betrachtet werden. Als Bekrönung seiner Lehre ist der Stab das Geschenk, bei dem Zarathustra sich die Rolle zum Empfänger wechselt, auf dem er sich außerdem stützt. Während er die anderen Begegnungen mental mit sich trägt, trägt der Stab ihn, buchstäblich. Seine Lehre des Übermenschen (in dem Geschenk seiner Schüler versinnbildlicht) wird auch das Fundament seiner eigenen Entwicklung sein.

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Zarathustra’s“ verwendet Zarathustra immer noch Wörter, die zuerst von den einzelnen

Figuren aus der Vorrede benützt wurden. Diesmal spiegeln sie aber keine fragile,

sondern eine deutlich stärkere Identität wider. Nicht nur die Begegnungen, sondern

auch die Sprachmimesis zeigt also die Entwicklung der Figur Zarathustra zwischen der

Vorrede und dem restlichen ersten Teil. Die Beispiele, die ich jetzt analysieren werde,

sind nicht exhaustiv, denn Zarathustra gebraucht in seiner Rhetorik ständig Bilder aus

der Vorrede. Ich glaube aber schon, dass die Beispiele, die ich verwende, für seinen

Umgang mit dem ursprünglichen fremden Wort für alle Reden in „Die Reden

Zarathustra’s“ exemplarisch sind.

Ich werde jetzt zwei thematisch ‚fremde’ Paradigmen besprechen, die

Zarathustra in seinen Reden stets förmlich übernimmt, inhaltlich als Teil seiner Lehre

integriert und sich die Wörter also wirklich zu eigenen Wörter macht: der Dieb/Räuber

(in der Vorrede sagte der Greis zu Zarathustra, „so fragen sie sich wohl, wohin will der

Dieb?“ [Z 13]) und das Kind (in der Vorrede bemerkt der Greis über Zarathustra,

„Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra“ [Z 12]). Auffallend ist also,

dass das fremde Wort, worüber es hier geht, in den beiden Fällen ein Wort des Heiligen

ist. Auch die einzelnen Beispiele, die nicht zu den zwei Paradigmen passen (das Bild

des Tänzers oder des Feuers zum Beispiel), gehörten ursprünglich zum Vokabular des

Heiligen, werden aber jetzt inhaltlich von Zarathustra umgedeutet. Dass gerade der

Greis den größten Spracheinfluss hat, scheint mir nicht zufällig zu sein. Es war ja er, der

Zarathustras Krise während der Vorrede schon vorhersagte, von allen einzelnen

Begegnungen die größte Wirkung hatte. Außerdem war es bei der Begegnung mit dem

Jüngling in „Vom Baum am Berge“ schon so, dass die Kommunikationssituation auf

verschiedenen Ebenen an das Gespräch zwischen Zarathustra und dem Greis erinnerte

(cf. supra: 1.2.1), aber dann so, dass die ursprüngliche Konstellation gerade umgekehrt

wurde. In dem Sinne passt es sehr gut zu dem Zarathustra, den wir in „Die Reden

Zarathustra’s“ kennenlernen, dass er jetzt das fremde Wort des Heiligen selber benützt

und es in der Verwendung so umbildet und ständig wiederholt, dass es Teil seiner

eigenen Rhetorik wird. So entsteht letztendlich die Situation, in der Zarathustra die

(dominante) Position des Heiligen in seinen eigenen Gesprächen, die außerdem dieselbe

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Struktur haben, übernimmt und aus dieser Position heraus auch förmlich seine Sprache

spricht, die aber inhaltlich Zarathustras eigene Sprache geworden ist.79

Das ursprünglich fremde Wort, das von den zwei Paradigmen meines Erachtens

als wichtigstes in Zarathustras Vokabular als Lehrer auftaucht, ist das des Diebs bzw.

des Räubers. Schon in „Von den drei Verwandlungen“, laut Coriando Nietzsches

Phänomenologie des Geistes80, bekommt der Räuber in der Darlegung der zweiten

Verwandlung eine zentrale Position. Über den Löwen sagt Zarathustra nämlich:

Recht sich nehmen zu neuen Werthen – das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines raubendes Thieres Sache. Als sein Heiligstes liebte er einst das „Du-sollst“: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finde, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube. Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kind werden? [Z 30-31; Hervorhebung von mir, sj]

Die Wiederholung des Wortes macht die zentrale Position in der Beschreibung der

Löwenstufe deutlich. Das Konzept des Raubens ist nicht eine banale Übernahme,

sondern tritt in der zentralen Idee Zarathustras Lehre, die Idee der drei Verwandlungen,

wiederholt auf. Es ist die Kraft des Löwen, dass er imstande ist, sich Freiheit zu

schaffen (d.h. zu rauben) „zu neuem Schaffen“. [Z 30] Das Rauben wird im ersten Satz

aus der Perspektive eines tragsamen und ehrfürchtigen Geistes heraus introduziert:

Freiheit nehmen heißt für ihn Freiheit rauben. In den folgenden zwei Abschnitten wird

das neutrale Nehmen systematisch durch das also ursprünglich negativ bewertete

Rauben ersetzt. Der Löwe raubt sich die Freiheit, mit der er dem kategorischen

Imperativ entfliehen kann. Das Rauben wird so zum Grundkonzept des Löwen. Der

Löwe ist „der raubende Löwe“. Obwohl das Wort ‚rauben’ ursprünglich die Perspektive

des Geistes voraussetzt, der sich das Du-sollst unterwirft, also pejorativ gemeint ist,

wird es in der Wiederholung neutralisiert, eben neubewertet: Das Rauben ist die Macht

79 Mit derselben Struktur meine ich, dass z.B. sowohl Zarathustra in seinem Gespräch mit dem Jüngling als auch der Greis in seinem Gespräch mit Zarathustra zuerst das Wort nehmen und in diesem Wort, ohne, dass der Gesprächspartner etwas gesagt hat, den Anderen festlegen können. Darüber hinaus ist es auch so, dass sowohl Zarathustra als auch der Greis in ihrem Gespräch deutlich eine Verwandtschaft hervorheben. Man kann also schließen, dass es sicherlich Parallele zwischen den beiden Gesprächen gibt. 80 Coriando: Individuation und Einzelnsein. S. 38. Wenn “Von den drei Verwandlungen” eine Phänomenologie des Geistes sei, dann vor allem Zarathustras Phänomenologie. Die Bezeichnung gibt trotzdem das Gewicht dieser drei Verwandlungen für den restlichen Text wieder.

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des Löwen; das Rauben ist das, nach dem man, auf dem Wege zum Schaffenden,

streben soll. Der Diebstahl, über den Zarathustra spricht, ist außerdem zwar in dem

Sinne ein Rauben, dass man sich etwas nimmt (nämlich die Freiheit), aber nicht in dem

Sinne, dass man jemandem etwas entnimmt. Wenn ich den großen Drachen des Du-

sollst verneine, raube ich für mich selber Freiheit, aber entnehme ich niemandem die

Gefangenschaft. Zarathustras Rauben ist ein rein individuelles, mit dem man nur sich

selber in Bewegung setzt. Auch inhaltlich wird das Konzept also umgewertet. Als der

Greis das Diebparadigma in der Vorrede einführte, meinte er schon ‚entnehmen’, wenn

er über ‚nehmen’ sprach: „Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm ihnen lieber

Etwas ab“. [Z 13] Wenn die Menschen sich Nachts fragen, „wohin will der Dieb?“ [Z

13], haben sie Angst, weil sie glauben, von dem Einsiedler beraubt zu werden. Auch

wenn die Totengräber Zarathustra spöttisch einen Dieb nannten, weil er „dem Teufel

seinen Bissen“ [Z 24] stiehlt (er nimmt den toten Seiltänzer mit sich), meinen sie,

Zarathustra beraube den Teufel. Eben wenn Zarathustra einige Sätze später selber

Hunger „wie ein Räuber“ [Z 24] hat, trifft sein Rauben auch eine andere Person,

nämlich den alten Mann, den er Essen fragt. Er nimmt ihm das Essen. Nehmen (als

Dieb oder als Räuber) ist in der Vorrede also immer entnehmen. In seine Lehre

integriert Zarathustra förmlich das Bild, kennt ihm aber inhaltlich, wie ich gezeigt habe,

eine völlig andere Bedeutung zu. Der Einfluss des Heiligen bleibt also gewissermaßen

sichtbar: Er schenkt Zarathustra die Metaphorik, die er seinerseits umdeutet. Während

Zarathustra in der Vorrede das fremde Wort aber einfach förmlich und inhaltlich

kopierte, macht er das fremde Wort ab „Die Reden Zarathustra’s“ zu einem Teil seiner

eigenen Sprache. Während die Kopie verdeutlichte, dass Zarathustra auch sprachlich ein

Suchender war, zeigt die Umdeutung, dass Zarathustra sich selber und seine Sprache als

Lehrer gefunden hat.

In „Von den drei Verwandlungen“ führt Zarathustra ebenfalls ein Wort ein, das,

strikt genommen, in Also sprach Zarathustra zum ersten Mal in der Sprache des

Heiligen auftauchte: das Kind – als Konzept wenn möglich noch wichtiger als „der

raubende Löwe“, da es auf die dritte, ultimative Verwandlung hinweist. Als ich die

Begegnung zwischen Zarathustra und dem Heiligen analysierte (cf. supra: 1.1.2.1), habe

ich schon die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass das Kind in der Sprache des

Heiligen und das Kind in der Sprache Zarathustras nicht dasselbe Kind ist, wie

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Duhamel suggeriert.81 Das Kind aus dem Munde vom Greis gehört, wie auch Pieper

behauptet, zu seiner Phönixmetaphorik: Zarathustra, der aus seiner „Asche“ [Z 12]

heraus ein neues „Feuer“ [Z 12] geworden ist; Zarathustra, der neu geworden ist.82 Er

hat sich geistig neu entwickelt. Über sein Kind sagt Zarathustra:

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geis, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene. [Z 31]

Der große Unterschied zwischen dem Löwen und dem Kind ist das Ja-sagen, zu dem

der Löwe noch nicht imstande ist. Der Löwe kann sich die Freiheit rauben, um nein zu

sagen, kann in dieser Freiheit aber noch keine neuen Werte schaffen. Nur das Kind ist

der Schaffende. Obwohl das „Neubeginnen“ auch dem Kind des Greises inhärent ist,

können sie einander nicht gleichgesetzt werden: Das Kind des Heiligen ist kein aus sich

rollendes Rad, ist höchstens eine Kraft, die das Rad bei Anderen ins Rollen bringt. Das

Kind des Heiligen ist nicht der Schaffende, sondern ist derjenige, der für Andere Raum

zum Schaffen macht. Die Diskrepanz zwischen den beiden Kindsbildern bezieht sich

also im Grunde auf Zarathustras gespaltene Identität: Wenn der Greis Zarathustra ein

Kind nennt, meint er den Lehrer Zarathustra, der neu gekommen ist (die Frage, „was

willst du nun bei den Schlafenden?“ [Z 12], die fast unmittelbar auf das „Kind“ folgt,

verrät, dass er weiß, was Zarathustras Ziel ist). Wenn Zarathustra in „Von den drei

Verwandlungen“ über das Kind spricht, ist er der Lehrer, der Anderen seine Lehre lehrt,

selber aber nicht seine Lehre lernt. Zarathustra lehrt also über das Schaffen, ist aber

selber noch kein Schaffender, noch kein Kind. Das Kind des Heiligen bezeichnet die

neue Tätigkeit als Lehrer, das Kind des Lehrers bezeichnet den neuen Übermenschen.

Obwohl also die Grundidee des Neubeginns in beiden Metaphern des Kindes manifest

ist, kennt Zarathustra seinem Kind eine völlig andere Bedeutung zu. Die

‚Sprachmimesis’ ist also aufs Neue nur förmlich, nicht inhaltlich.83

81 Duhamel: Nietzsches Zarathoestra. S. 28. 82 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 38. 83 Obschon ich glaube, dass man das Kindsmotiv wirklich eine Übernahme nennen darf, ist die Benennung in diesem Fall schwieriger als z.B. bei dem Räuberparadigma. Das Kind ist ein so wesentliches Element in der Lehre Zarathustras, dass es fast als unwahrscheinlich erscheint, dass er die Form dem Heiligen entlehnt. Weil Zarathustra aber vor „Die Reden Zarathustra’s“ selber das Kind nicht

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Die beiden Beispiele, die ich nannte, demonstrierten eine förmliche ‚Mimesis’:

Zarathustra bildete die Wörter systematisch zu seinen eigenen Wörtern um. Trotzdem

gibt es in Zarathustras Sprache in „Die Reden Zarathustra’s“ auch Beispiele von

fremden Wörtern, die Zarathustra sowohl förmlich als (zum Teil) auch inhaltlich

übernimmt. Die Beispiele sind in Zarathustras Lehre zwar weniger grundlegend als die,

die ich schon genannt habe, erlauben aber eine vollständigere Skizze der

‚Sprachmimesis’. Ein solches Beispiel ist das Schlafen bzw. das Wach sein, aufs Neue

aus der Sprache des Greises übernommen („ein Erwachter ist Zarathustra: was willst du

nun bei den Schlafenden?“ [Z 12]). Sowohl in der Sprache des Greises als auch in der

Sprache Zarathustras sind die Schlafenden diejenigen, die für Zarathustras Lehre noch

nicht empfänglich sind. Der alte Glauben macht sie schläfrig. Am besten wird die

Metaphorik verdeutlicht in der Rede „Von den Lehrstühlen der Tugend“. Die Rede

berichtet über „einen Weisen, der gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse“.

[Z 32] Zu den Menschen predigt er den Schlaf als das höchste Gut, als dasjenige,

worauf das Leben gerichtet ist. So behauptet er, „[s]ehr gefallen mir auch die Geistig-

Armen: sie fördern den Schlaf“. [Z 33] Die Schlafenden sind also die buchstäblich

Unaufgeklärten, für die es immer dunkel ist, denen außerdem erzählt wird, dass es

dunkel sein soll. Der Erzähler greift selber das Bild des Lichtes auf, indem er, bevor

Zarathustra repliziert, bemerkt: „Als Zarathustra den Weisen also sprechen hörte, lachte

er bei sich im Herzen: denn ihm war dabei ein Licht aufgegangen“. [Z 34] Der Weise

kann Zarathustra nicht von seiner Dunkelheit überzeugen, sondern zündet bei ihm

ironischerweise ein Licht an. In seiner Replik übernimmt Zarathustra parodierend die

Metaphorik des Weisen: „Glücklich schon, wer in der Nähe dieses Weisen wohnt!

Solch ein Schlaf steckt an, noch durch eine dicke Wand hindurch steckt er an“. [Z 34]

Im Grunde introduziert der Heilige in der Vorrede also ein Bild, das anhand der Rede

des Weisen demonstriert und konkretisiert wird und Teil von Zarathustras Rhetorik

bleibt. Zarathustra benützt die Konzepten ‚schlafen’ bzw. ‚wach sein’ nicht nur als

Antwort in „Von den Lehrstühlen der Tugend“, auch in späteren Reden tauchen sie auf.

In „Von den Verächtern des Leibes“ zum Beispiel erklärt Zarathustra selber welche

Bedeutung die Bilder für ihn haben, wenn er sagt: „Aber der Erwachte, der Wissende, erwähnt, weiß man im Grunde nicht, ob er schon sein Kind gedacht hatte, bevor der Heilige ihn ein Kind nannte. Nicht nur die Chronologie (der Heilige war ja erst), sondern auch die große Anzahl anderer übergenommener fremder Wörter sind die Gründe, weshalb ich jetzt doch von einer Übernahme rede.

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sagt: Leib bin ich ganz und gar, Nichts ausserdem“. [Z 39; Hervorhebung von mir, sj]

Es würde also unkorrekt sein, zu behaupten, dass Zarathustra in seinen Reden nur

förmlich fremde Wörter übernimmt. In den Wörtern, die Zarathustra verwendet, bleibt

der Heilige gewissermaßen auch inhaltlich sichtbar. Das Gewicht dieser zweiten Gruppe

ist in der Lehre Zarathustras aber viel geringer. Während der Räuber und das Kind die

Fundamente seiner Lehre bilden, ist die Metaphorik des Schlafens zwar etwas, das

manchmal in seinen Reden wiederholt wird, aber nicht den Kern seiner Lehre ausmacht.

Außerdem weist der Greis, wenn er Zarathustra einen „Erwachten“ nennt aufs Neue auf

seine Tätigkeit als Lehrer hin. Als Lehrer ist er erwacht. Wenn Zarathustra in „Von den

Verächtern des Leibes“ den Erwachten einen Wissenden nennt, meint er den Erwachten

als den, der nach dem Übermenschen strebt. Auf die Frage, ob Zarathustra, als Lehrer

dieses Erwachten, schon selber wach ist, bleibt die Antwort jetzt noch undeutlich.

Zarathustra zeigt in seiner Sprache, sowohl in „Zarathustra’s Vorrede“ als auch

in „Die Reden Zarathustra’s“, eine große Anpassungsbereitschaft. Die fremden Wörter,

die über ihn gesagt wurden, nimmt er in sein eigenes Vokabular auf – in der Vorrede

fast als Notwendigkeit (er weiß nicht, wie er sein kann, wer er sein will, ist ständig von

Figuren umgeben, die ihn spiegeln, und versucht anhand dieser Figuren sich selber zu

gestalten), in seinen Reden baut er auf sie weiter, um seine Lehre zu konkretisieren. In

seinen Reden werden die fremden Wörter, auch wenn sie ihre ursprüngliche Bedeutung

nicht wirklich verlieren, immer seine Wörter, Teil seiner Lehre. Deshalb scheint es mir

eben schwierig zu sein, für die Analyse der „Reden Zarathustra’s“ noch der Begriff

Sprachmimesis beizubehalten. Sprachmimesis setzt eine Nachahmung voraus, die,

insofern die fremden Wörter Bestandteil von Zarathustras persönlicher Lehre werden, es

jetzt nicht mehr gibt. In der Vorrede ahmt Zarathustra, während seiner Suche nach

Identität, die anderen Figuren nach. In seinen Reden wertet er die Wörter entweder

deutlich um, oder er übernimmt sie schon, aber meines Erachtens nicht länger als eine

mimetische Bewegung, sondern als Bausteine eines persönlichen Idioms.

1.2.3 Fazit Sowohl die Kapitel „Vom Baum am Berge“ und „Von der schenkenden Tugend“ als

auch die ‚Sprachmimesis’ in den ganzen „Reden Zarathustra’s“ zeigen einen deutlichen

Kontrast zu „Zarathustra’s Vorrede“. Zarathustra hat Gefährten gefunden, die er lehren

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kann, die es ihm außerdem ermöglichen, Lehrer zu sein. Während Zarathustra in der

Vorrede immer von den einzelnen Figuren angesprochen wurde und im ‚Gespräch’ eine

passive Rolle besetzte, ist die Sprechsituation in „Die Reden Zarathustra’s“ gerade

umgekehrt: Zarathustra ist der Lehrer, der zu dem Jüngling bzw. seinen Schülern

spricht. Wie ich in meiner Analyse von „Vom Baum am Berge“ belegt habe, übernimmt

Zarathustra auf verschiedenen Ebenen die dominante Gesprächsposition des Heiligen.

Er kehrt die Rollen also wirklich um. Auch die Sprachmimesis, die jetzt im Grunde

keine mehr ist, macht deutlich, dass Zarathustra ein eigenständiger Lehrer geworden ist.

Er übernimmt zwar noch förmlich die fremden Wörter des Heiligen, eignet sie sich

inhaltlich aber völlig zu. Er funktionalisiert die ursprünglich fremden Wörter innerhalb

seines eigenen Vokabulariums so, dass sie nur noch förmlich erkennbar sind. Die

Mimesis ist also sicherlich keine inhaltliche mehr. Das letzte Kapitel des ersten Teils,

„Von der schenkenden Tugend“, ist zugleich die Steigerung Zarathustras Lehreridentität

als auch das erste Zeichen einer anderen Orientierung. Zarathustra verlässt seine

Schüler, damit sie sich völlig entwickeln können, aber will selber auch in die

Einsamkeit seiner Höhle zurück. Die Bewegung nach innen, die im zweiten Teil zentral

stehen wird, ist also minimal auch bereits am Ende des ersten Teils sichtbar.

2. Also sprach Zarathustra: Zweiter Teil – Zarathustra zwischen Lehrer und

Lerhrling

2.1 Das Motto als Einleitung

Wenn Zarathustra sich am Ende des ersten Teils von seinen Jüngern verabschiedete –

nicht, weil er als Lehrer gescheitert hatte, sondern weil sie ihn in ihrer Entwicklung

gerade abwesend brauchten –, sagte er zu ihnen:

Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden: und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer anderen Liebe werde ich euch dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder Einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, dass ich den grossen Mittag mit euch feiere. [Z 101-102]

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Die ersten zwei Sätze des Zitats werden am Anfang des zweiten Teils als Motto

übernommen. So antizipiert Nietzsche meines Erachtens die Genese Zarathustras in

diesem zweiten Teil. Das Zitat ist nämlich Teil der Rede, in der Zarathustra sich von

seinen Schülern verabschiedet, weil sie an dem Punkt angelangt sind, an dem

Zarathustras Anwesenheit für sie ein Hindernis geworden ist.84 Zarathustra erweckt also

den Eindruck, als gehe er jetzt alleine, weil seine Jünger es unbewusst von ihm

verlangen; als gehe er jetzt alleine, weil er, als Lehrer, auf seine Jünger gerichtet ist. Im

Abschnitt, den ich oben zitiert habe, sagt Zarathustra aber eine zweifache Veränderung

vorher. Zarathustra bittet seine Schüler darum, ihn zu verlieren und sich selber zu

finden. Erst wenn sie ihn vergessen haben, wird er seinen Schülern wiederkehren. Als

„Freunde“ und „Kinder“ wird sich Zarathustra ihnen eben zum dritten Male gesellen.

Pieper interpretiert die Bezeichnungen als Synonyme der dritten Verwandlung, wenn

sie behauptet,

Schüler (Gläubige) – Brüder (Kampfgenossen) – Freunde (Auserwählte): so sieht Zarathustra das auf den Stufen des Kamels, des Löwen und des Kindes sich wandelnde Verhältnis zwischen ihm und denen, die sich der Aufgabe des Übermenschen verschrieben haben.85

In Zarathustras eigenen Benennungen stimmen diese drei Stufen aber nicht. Die

„Gläubige[n]“ redet er in seinen Reden sehr oft mit „Brüder[n]“ an, die

„Kampfgenossen“ – der Begriff ist außerdem nicht korrekt, denn Zarathustra und seine

Jünger kämpfen nicht denselben Kampf – nennt er regelmäßig „Freunde“. [Z 106, 107,

108, 109, 110,...] Die Jünger sind also schon seine Freunde geworden, wenn er zum

ersten Mal wiederkehrt, jetzt, im zweiten Teil des Zarathustra. Obwohl Piepers

Dreiteilung nicht mit Zarathustras eigener Sprache übereinstimmt, hebt er im dritten 84 Wie ich auch in meiner Analyse des ersten Teils bemerkt habe, argumentiert Zarathustra seinen Abschied am Anfang der Rede anders (“da sagte ihnen Zarathustra, dass er nunmehr allein gehen wollte; den er war ein Freund des Alleingehens” [Z 97]) (cf. supra: 1.2.1.2). Im dritten Teil dieser Rede, aus dem das Motto stammt, erwähnt er nur den oben erklärten Grund. 85 Pieper: “Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. S. 365. Obwohl Pieper in dieser Aussage deutlich unterscheidet zwischen Zarathustra, dem Lehrer, und seinen Jüngern, die „sich der Aufgabe des Übermenschen verschrieben haben“, verkleinert bzw. verneint sie den Unterschied an anderen Stellen ihrer Analyse. Auf derselben Seite schreibt sie zum Beispiel: „Nachdem Zarathustra mit seinen Brüdern auf der Stufe des Löwen den Kampf mit dem goldenen Drachen erfolgreich beendet und damit die zweite der in seiner allererst verkündeten drei Verwandlungen des Geistes vollzogen haben wird, wird er sich erneut in die Einsamkeit zurückziehen, um sich und seinen Mitstreitern Gelegenheit zu geben, neue Kräfte für die dritte und entscheidende Verwandlung zum Kinde zu sammeln“. Sie porträtiert Zarathustra, als wäre er Teil der Gruppe seiner Schüler (der Begriff „Brüder“ suggeriert das ja auch). Laut ihr seien seine Schüler „Mitstreiter“. Ich würde eher sagen, die Jünger sind die Streiter einer Lehre, deren Lehrer Zarathustra ist.

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zitierten Satz allerdings die Verwandlung seiner Jünger hervor; eine Verwandlung, auf

die sein Abschied konzentriert ist. Zarathustra bezieht ihre zukünftige Veränderung aber

auch auf sich selber. Wenn er wiederkehren wird (im zweiten Teil), wird er sie „mit

andern Augen“ suchen, „mit einer anderen Liebe“ lieben. Außerdem ist es so, dass in

der Wiederholung als Motto der erste Satz des Zitats teilweise, der zweiten ganz

übernommen wird, der dritte fehlt. Das Motto heißt wie folgt:

– und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern A u g e n , meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben. [Z 104]

Im Motto steht also vor allem das ‚Anderssein’ Zarathustras im Mittelpunkt, bei dem

die „andern A u g e n “ auch typographisch die Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Niemeyer bricht meiner Meinung nach zu Recht eine Lanze dafür, „jene ‚Anderen’ in

den ‚Augen’ sowie in der ‚Liebe’ Z’s [...] genauer zu untersuchen“.86 Das Motto öffnet

mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Wenn Zarathustra seine Jünger mit anderen

Augen sucht, kann man sich ja fragen, wer sich nun eigentlich verändert hat. Ändert

sich der Blick, weil sich das Objekt des Suchens geändert hat? Ändert sich der Blick,

weil sich das Subjekt des Suchens geändert hat? Oder ändert sich der Blick, weil sich

beide geändert haben? In der Konzentration des Mottos wird bei jeder

Interpretationsmöglichkeit die Aufmerksamkeit auf Zarathustra selber gelenkt, der

schließlich derjenige mit anderen Augen ist. Das Motto bereitet so die Entwicklung

Zarathustras zwischen Lehrer und Lehrling vor, die im zweiten Teil des Buches

thematisiert und in den Begegnungen aufs Neue deutlich sichtbar wird.

2.2 Die Traumbegegnungen: Die Bewegung nach innen

2.2.1 „Das Kind mit dem Spiegel“ „Das Kind mit dem Spiegel“ ist das erste Kapitel des zweiten Teils. Wie auch Lampert

feststellt, ist der Anfang des zweiten Teils dem Anfang der Vorrede auf verschiedenen

Ebenen ähnlich.87 Laut Lampert beruht der Vergleich vor allem darauf, dass Zarathustra

auch hier das Gebirge hinauf geht, dort seine Zeit in Einsamkeit verbringt und wieder

86 Christian Niemeyer: Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. S. 37. 87 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 85.

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das Gebirge hinab geht, weil er unter den Menschen (in diesem Fall eher: seinen

Schülern) sein will. Anders als während seiner ersten Isolation, so auch Lampert,

scheine er seine Einsamkeit nicht zu genießen. Obwohl er „ein Freund des

Alleingehens“ [Z 97] ist, bestätigt der Erzählertext, der, genau wie in der Vorrede, dem

Monolog Zarathustras vorangeht, dass Zarathustra sich um der Entwicklung seiner

Jünger willen von ihnen verabschiedet hat. Der Erzähler umschreibt Zarathustra wie

folgt: „wartend gleich einem Säemann, der seinen Samen ausgeworfen hat“, „voll von

Ungeduld und Begierde, nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen noch Viel zu

geben“. [105] Während Zarathustra damals seine Einsamkeit genoss, scheint er sie jetzt

nur zu ertragen. Er verlangt nach seinen Schülern, muss sie aber alleine lassen. Als

Zarathustra in der Vorrede zu den Menschen hinabgehen wollte, wollte er zwar zu ihnen

gehen, aber vor allem, um schenken zu können. Obwohl Schenken voraussetzt, dass es

Personen gibt, die sich für das Geschenk die Hände öffnen, verlangte Zarathustra

hauptsächlich das Schenken an und für sich. Jetzt ist sein Verlangen konkreter: Er langt

nach seinen Gefährten. Obwohl Zarathustra nicht in das Gebirge zurückgegangen sei,

um sich selber zu entwickeln, wächst seine Weisheit und „machte ihm Schmerzen durch

ihre Fülle“. [Z 105] Der Satz zeigt eine neue Analogie mit dem Anfang der Vorrede,

übertrifft die Vorrede eben in dem Sinne, dass die Fülle ihm jetzt wirklich Schmerzen

macht. In der Vorrede suggerierte Zarathustra metaphorisch, dass sein Becher

„überfließen“ [Z 12] würde; hier sagt der Erzähler buchstäblich, dass seine

überfließende Weisheit schmerzt. Die Ahnung von Gewalt, über die ich beim Anfang

der Vorrede schon sprach (cf. supra: 1.1.1), ist hier noch stärker sichtbar: Zarathustra

will zu seinen Schülern hinuntergehen, muss es aber auch, wenn er sich selber nicht

zerstören will. Eine letzte Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Vorrede gegenüber ist

der Zeitpunkt des Sprechens. Im zweiten Teil erzählt der Erzähler: „Eines morgens aber

wachte er schon vor der Morgenröthe auf, besann sich lange auf seinem Lager und

sprach endlich zu seinem Herzen“. [Z 105; Hervorhebung von mir, sj] Auch in der

Vorrede wurde der Zeitpunkt des Sprechens der Morgenröte gegenüber situiert, hieß es

aber: „und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und

sprach zu ihr also“. [Z 12; Hervorhebung von mir, sj] Während der Beginn des Buches

also im Licht badete – Zarathustra stand mit der Morgenröthe auf und sprach zu der

Sonne –, ist es am Anfang des zweiten Teils noch dunkel, wenn Zarathustra zu seinem

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Herzen zu reden anfängt. Die jeweiligen Übereinstimmungen evozieren ein Kontinuum.

Zarathustra fängt im zweiten Teil an, wo er im ersten Teil ebenfalls anfing. Der Kreis

ist schon ein Mal rund. Das heißt nicht – und das wird meines Erachtens anhand der

Unterschiede betont –, dass Zarathustra jetzt ist, wer er damals war. Es gibt, wie ich

schon in meiner Bachelorarbeit erklärt habe, einen Fortschritt – jedenfalls eine

Entwicklung – im Kreis.88 Zarathustra befindet sich auf demselben Platz, mit denselben

Tieren, mit demselben Schenkungsdrang, die Situation wird außerdem denselben

Referenzpunkten gegenüber beschrieben, aber Zarathustra ist nicht mehr der primär

Schenkende. Stattdessen wird er als liebender Lehrer profiliert: „Diess nämlich ist das

Schwerste, aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schenkender die Scham

bewahren“. [Z 105] So behauptet auch Bennholdt-Thomsen, „Liebe ist die Triebkraft

dieses zweiten Aufbruchs“.89 Man kann ja behaupten, er liebe seine Schüler, weil er

ihnen schenken kann (der Erzähler sagt zum Beispiel, „Seine Seele [...] wurde voll von

Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen noch viel zu

geben“ [Z 105]), aber die Liebe ist größer als den Schenkungsdrang, denn Zarathustra

geht nicht zu ihnen hinunter, sondern wartet, eben wenn die zu verschenkende Weisheit

ihn schmerzt.

Zarathustra wacht also vor der Morgenröte auf, wenn es noch Nacht ist, und

spricht zu seinem Herzen über einen Traum, den er hatte, als er schlief. „Das Kind mit

dem Spiegel“ ist damit das erste Traumkapitel in Also sprach Zarathustra.90 Im Traum,

so erzählt Zarathustra, begegnete er ein Kind: „Trat nicht ein Kind zu mir, das einen

Spiegel trug?“ [Z 105] Das Kind sagt ihm, sich in dem Spiegel anzuschauen. Er erklärt

den Traum wie folgt:

Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze und Hohnlachen. Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes Zeichen und Mahnung: meine L e h r e ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen!

88 Jacobs: Der heraklitische Zarathustra. S. 27. 89 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 105. 90 Im zweiten Teil berichtet Zarathustra über drei Träume. Außer „Das Kind mit dem Spiegel“ tauchen auch in den Kapiteln „Der Wahrsager“ und „Die stillste Stunde“ (cf. infra: 2.2.2 und 2.2.3) Träume auf. Was die Textsorten betrifft, ist die Variation des Kapitels im zweiten Teil viel größer als im ersten Teil, der heißt „Die Reden Zarathustra’s“. Der zweite Teil enthält nicht nur Reden, sondern also u.a. auch Berichte über die Träume Zarathustras, Lieder. Siehe fur eine übersichtliche Gliederung: Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 107.

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Meine Feinde sind mächtig worden und haben meiner Lehre Bildniss entstellt, also, dass meine Liebsten sich der Gaben schämen müssen, die ich ihnen gab. Verloren giengen mir meine Freunde; die Stunde kam mir, meine Verlornen zu suchen! [105-106]

Lampert meint in Bezug auf diesen Traum, dass er Zarathustra nicht als Angsttraum

erscheine, sondern ihn gerade Freude mache, weil Zarathustra jetzt schon zu seinen

„Verlornen“ hinuntergehen kann.91 Zarathustra hatte den Verlust außerdem schon am

Ende des ersten Teils vorhergesagt: „Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde

ich mir dann meine Verlorenen suchen“. [Z 102; Hervorhebung von mir, sj] In seinem

Gebirge wartete er einfach auf das Zeichen, das er jetzt bekommt. Lampert hat

deswegen Recht, wenn er behauptet, dass der Traum Zarathustra im Grunde nicht

erschrecken dürfe. Trotzdem glaube ich, dass der Traum Zarathustra nicht nur Freude

bringt, sondern ihn auch tatsächlich beängstigt.92 Zarathustra erwartete zwar, dass er

seine Jünger verlieren werde, aber das heißt nicht, dass er auch die Form erwartete, in

der ihm der Verlust präsentiert wird. Lampert behauptet nolens volens, dass Zarathustra

lügt, wenn er sagt, dass er beim Spiegelbild aufschrie und sein Herz „erschüttert“ war.

[Z 105] In ihrem Versuch, den zweiten Traum des zweiten Zarathustra zu deuten,

bemerkt Bennholdt-Thomsen, dass in dem Traum sowohl Angst als auch ein Wunsch

vermittelt werden.93 Meiner Meinung nach gilt die Kombination deutlich auch für den

Traum in diesem Kapitel. Das, was Zarathustra aufschreckt, ist nicht das Kind mit dem

Spiegel an sich, sondern das, was er sieht, wenn er in den Spiegel blickt: „eines Teufels

Fratze und Hohnlachen“. [Z 105] Nicht seine Verlorenen beängstigen Zarathustra,

sondern seine Feinde, die zu ihm lachen; seine Feinde, die er sieht, wenn man ihm einen

Spiegel vorhält. Mit dem ersten Traum wird sofort das Spiegelmotiv zum ersten Mal ein

konkretes Textelement, obwohl das Spiegeln auch in der Vorrede bereits eine Handlung

war, die in den Begegnungen immer wieder auftauchte. Damals trug aber niemand 91 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86. 92 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86. 93 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 77. Bennholdt-Thomsen deutet den Traum im Kapitel „Der Wahrsager“ vor allem biographisch und psychoanalytisch. Sie schließt, dass Angst und Wunsch zusammen im Traum sichtbar werden, weil „nach Freud jeder Traum eine Wunscherfülling“ ist. Obwohl ich meine, dass der Zusammenhang von Angst und Wunsch auch im Traum über das Kind (über den Bennholdt-Thomsen in dem Kontext nicht spricht) vermittelt wird, meine ich nicht, dass Psychoanalyse für die Traumdeutung in Also sprach Zarathustra ein adäquates Modell ist. (cf. infra: 2.2.2) Die Gefahr entsteht nämlich, dass, wenn man den Traum nur psychoanalytisch betrachtet, man ihn völlig auf die psychoanalytischen Motive beschränken wird, man ihn zum Beispiel „zweifellos“ und ohne Argumentation als Angsttraum deutet, wie Bennholdt-Thomsen macht.

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wirklich einen Spiegel, sondern die Figuren waren die Spiegel. Trotzdem treten auch

zwischen diesem Spiegel und den spiegelnden Figuren in der Vorrede Ähnlichkeiten

auf. So ist es auffallend, dass Zarathustra den Spiegel nie selber sucht, aber ihn schon

findet. Zarathustra wird immer gespiegelt, seine Rolle in der Spiegelung ist passiv.

Lampert plädiert unbewusst (denn er spricht in Bezug auf die Vorrede nicht von einer

Spiegelbewegung) für ein weiteres Kontinuum, da er behauptet, dass auch das Kind im

Traum nicht den Spiegel trägt, sondern selber der Spiegel ist. Er meint,

„The Child with the Mirror“ [..] refers to a disciple whose three transformations are complete, but whose immature creativity reflects a Zarathustra who, to Zarathustra’s eyes, has become a devil. [...] [T]he child shows himself not to be ashamed of the way he reflects his master.94

Der Spiegel als externes Objekt fehlt bei Lampert. Er interiorisiert den Spiegel als

Eigenschaft des Kindes, das an und für sich den Lehrer ‚reflektiert’. Lampert geht

außerdem ohne Zögern davon aus, dass das Kind tatsächlich das Kind sei, das Kind der

dritten Verwandlung. Das Kind zeige einen seiner Schüler, die, laut Lampert, schon

Kinder geworden sind, zeige also eine Vollendung der drei Stufen, bei der aber der

Umgang mit den Verwandlungen problematisiert wird: Das Kind reflektiert immer noch

seinen Lehrer, betrachte die Reflexion, so Lampert, überdies als lobenswürdige

Handlung, während Zarathustra die Reflexion als Verneinung seiner Lehre siehe.95 Ich

meine, es ist ein contradictio in terminis, zu behaupten, dass ein Jünger schon Kind

geworden ist, aber immer noch seinen Lehrer widerspiegelt. Das Kind der drei

Verwandlungen reflektiert nicht, sondern schafft für sich selber. Es scheint mir also

unmöglich zu sein, überhaupt Kind zu werden, wenn man, wie Lampert behauptet,

immer noch dem Weg eines Anderen folgt. Meines Erachtens ist das Kind mit dem

Spiegel nicht das Kind der drei Verwandlungen, schon aber einer der Jünger, die

Zarathustra im ersten Teil bereits als seine Kinder betrachtete (cf. supra: 1.2.1.1 und

1.2.1.2). Wenn Zarathustra in den Spiegel schaut, den das Kind ihm vorhält, aber nicht

selber ist, sieht er, wer er in den Realisierungen seiner Lehre von seinen Kindern

geworden ist: „eines Teufels Fratze und Hohnlachen“. [Z 105] Tatsächlich sieht

Zarathustra nicht sich selber im Spiegel („denn nicht mich sahe ich darin“ [Z 105]),

sondern er sieht den Lehrer, zu dem seine Feinde ihn umgebildet haben („meine Feinde

94 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86. 95 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86.

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[...] haben meiner Lehre Bildniss entstellt“ [Z 106]). Er sieht in seinem Bild als Narren

zugleich seine Feinde in ihm widergespiegelt. Zarathustra konkludiert allerdings,

„meine L e h r e ist in Gefahr“. [Z 105] Wie Lampert in seiner Analyse ebenfalls (sei es

nur nebenbei) bemerkt, ist ‚Lehre’ in „Das Kind mit dem Spiegel“ das einzige Wort, das

typographisch unterschieden ist. 96 Lampert deutet die Schlussfolgerung als

selbstverständlich, denn Zarathustras Lehre ist von seinen Lehrlingen abhängig: Nur sie

können die Brücke zum Übermenschen herstellen. Wenn seine Schüler „fail to mirror it

[=Zarathustra’s Lehre] faithfully“, ist seine Lehre also konsequenterweise in Gefahr.97

Meines Erachtens ist Zarathustras Lehre sowieso in Gefahr, wenn seine Schüler

versuchen die Lehre zu spiegeln, eben wenn sie „faithfully“ spiegeln. Was ich aber in

der Aussage von Lampert vor allem interessant finde, ist, dass er im oben zitierten

Fragment über das Kind spricht, das Zarathustra selber spiegelt, während er in diesem

Zitat buchstäblich das Spiegeln der Lehre erwähnt. Für Lampert fallen Zarathustra und

seine Lehre also zusammen. Der Eindruck entsteht aber, dass dies auch für Zarathustra

selber der Fall ist. Wenn das Kind ihn spiegelte, sieht er denjenigen, zu dem seine

Feinde ihn gemacht haben. Wenn er darauf folgert, dass seine Lehre in Gefahr ist, setzt

das voraus, dass Zarathustra seine Identität auch jetzt vor allem als Lehrer denkt. Ihm

wird ein Spiegel vorgehalten, der sein Bildnis zeigt: ein Bildnis, aus dem er schließt,

dass seine Lehre, die außerdem anhand der Typographie betont wird, Gefahr läuft.

Wenn Zarathustra in den Spiegel schaut und bemerkt, „nicht mich sahe ich darin“ [Z

105], wenn er sich selber als falscher Lehrer sieht, meint er wahrscheinlich, dass er

nicht der Lehrer sieht, der er ist. Man kann aber auch behaupten, dass er, wenn er sich

selber nur als Lehrer betrachtet, sich selbst überhaupt nicht sieht. Genau die

doppeltbesetzte Identität Zarathustras wird in diesem zweiten Teil des Buches nämlich

problematisiert.

Schon der Traum an und für sich zeigt aus meiner Sicht einen deutlichen

Unterschied zum ersten Teil, in dem Zarathustra vor allem Lehrer war und die Reden

denn auch von der Lehre handelten. Wie ich schon erwähnt habe, enthält auch der

zweite Teil noch Reden – vierzehn laut Bennholdt-Thomsen98 –, sie werden aber mit

andersförmigen Kapiteln (u.a. Liedern) abgewechselt, in denen Zarathustra über 96 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86. 97 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 86. 98 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 107.

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persönlichere Erfahrungen berichtet. Obwohl Zarathustra sich selber immer noch als

Lehrer betrachtet – schon in seinem Lehrersein entwickelt er sich aber, wie oben erklärt,

von einem schenkenden zu einem liebenden Lehrer – ist er im zweiten Teil nicht länger

nur Lehrer. Die Evolution von schenkendem zu liebendem Lehrer ist ja auch für den

zunehmenden persönlichen Fokus exemplarisch: Als schenkender Lehrer wollte er vor

allem schenken, als liebender Lehrer ist er im Schenken viel stärker persönlich bezogen.

Der Traum, als verinnerlichte Begegnung, passt also zu dieser Entwicklung. Wenn in

dem Traum außerdem indirekt die Frage gestellt wird, wer Zarathustra ist, passt er extra

dazu.99

2.2.2 „Der Wahrsager“ Die zweite Wiedergabe eines Traums ist Teil des Kapitels „Der Wahrsager“, das man,

wie zum Beispiel Bennholdt-Thomsen macht, in drei Stücke oder „Episoden“ verteilen

kann: Die Rede des Wahrsagers, Zarathustras Traum, über die er seinen Jüngern

berichtet, und die von eine von ihnen gedeutet wird, und Zarathustras Reaktion auf die

Deutung.100 Das Kapitel fängt also mit einer Rede des Wahrsagers an, die Zarathustra

hört und die ihn tief beeinflusst. Der Wahrsager und Zarathustra begegnen einander also

im Grunde nicht; Zarathustra hört seine Rede und reflektiert (unbewusst) darüber im

Traum. Der Wahrsager ist, so werde ich argumentieren, ein großer Einfluss für

Zarathustra, ohne dass er seine Worte spezifisch zu ihm richtet.

Die Lehre, die der Wahrsager selber nicht verkündigt, sondern über die er

berichtet, fasst er in den drei Kurzsätzen zusammen: „Alles ist leer, Alles ist gleich,

Alles war!“, drei Sätze, die „von allen Hügeln“ wiederklingen. [Z 172] Die drei Sätze

sind der Kern „eine[r] grosse[n] Traurigkeit“, die der Wahrsager über die Menschen

kommen sieht, auch über „die Besten“. [Z 172] Bennholdt-Thomsen deutet die große

Müdigkeit, einen Ausdruck, den Zarathustra im vierten Teil verwendet 101 ,

folgendermaßen:

99 Die Frage, wer Zarathustra ist, wird im Kapitel “Von der Erlösung” fast buchstäblich gestellt: “Und auch ihr fragtet auch oft: ‚wer ist uns Zarathustra? Wie soll er uns heissen?’” [Z 179] Auch Heidegger stellt sich die Frage in seinem Aufsatz „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. Siehe: Heidegger: „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“. 100 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 74. 101 Siehe das Kapitel “Der Notschrei” [Z 300-303] im vierten Teil für das zweite Auftreten des Wahrsagers, diesmal schon in der Form einer Begegnung.

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Anlass zur Weissagung von der ‚grossen Traurigkeit’ ist der letzte Mensch, d.h. der Mensch von Nietzsches Gegenwart, der einerseits (nach dem Tod Gottes) den Glauben an die bisherigen Ideale verloren hat, andererseits zu klein ist, um zu einer neuen Wertsetzung zu gelangen.102

Tatsächlich umschreibt der Wahrsager meines Erachtens den letzten Menschen. Es

scheint mir aber für die Deutung des Buches nützlicher zu sein, beim Text zu bleiben.

Die letzten Menschen, die der Wahrsager darstellt, weisen für mich nur auf den letzten

Menschen hin, die Zarathustra in der Vorrede umschrieb. Zarathustra porträtierte den

letzten Menschen damals als das Verächtlichste: „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der

Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten

Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann“. [Z 19] Obwohl Zarathustra den

letzten Menschen in der Vorrede dem Volk gegenüber darstellte als eine Strategie, um

„zu ihrem Stolze“ [Z 19] zu reden und ihm so von seiner Lehre zu überzeugen, als

abschreckliches Zukunftsbild also, ist die Verächtlichkeit des letzten Menschen, dem

Wahrsager nach, jetzt Realität geworden. Bennholdt-Thomsen sprach zwar über den

außerliterarischen letzten Menschen, sie hat aber Recht, dass dem letzten Menschen

überhaupt eine neue Wertsetzung fehlt. In Zarathustras Worten: Er hat nicht mehr die

Kraft, einen (tanzenden) Stern zu gebären. Nicht nur passt die Rede des Wahrsagers

thematisch zu der Rede Zarathustras über den letzten Menschen, sondern es gibt

außerdem auch wörtliche Analogien, die den Vergleich zwischen den beiden verstärken.

So sagt Zarathustra zum Volk, „Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme

Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben“. [Z 20; Hervorhebung

von mir, sj] Auch der Wahrsager spricht in seiner Rede über ein Gift, das „unser Wein

geworden“ ist. [Z 172] Der letzte Mensch, über den der Wahrsager berichtet, ist noch

verächtlicher als der, über den Zarathustra sprach: Der letzte Mensch Zarathustras gab

sich noch die ‚Mühe’, sich zum Sterben zu vergiften, während der Wahrsager bemerkt:

„Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben

fort – in Grabkammern!“ [Z 172] Zarathustras figürlicher Angsttraum ist in der Rede

des Wahrsagers also Wirklichkeit geworden. Er lehrte den Übermenschen, aber

inzwischen wurde jeder ein letzter Mensch.

Zarathustras figürlicher Angsttraum wird in der zweiten Episode des Kapitels

ein wirklicher Angsttraum. Nachdem Zarathustra den Wahrsager reden gehört hat, 102 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 74.

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„verwandelt“ er sich: „Traurig ging er umher und müde; und er wurde Denen gleich,

von welchen der Wahrsager geredet hatte“. [Z 172-173] Eines Tages schläft Zarathustra

ein. Wenn er aufwacht, erzählt er seinen Schülern über einen Traum, den er während

des Schlafens hatte. Er bittet um eine Deutung, denn „ein Räthsel ist er [ihm] noch,

dieser Traum; sein Sinn ist verborgen in ihm“. [Z 173] Wie Bennholdt-Thomsen

bemerkt, knüpft der Traum Zarathustras an das Ende der Wahrsagers Rede an.103 Die

Welt, die der Wahrsager umschrieb, war eine, in der man schon zu müde zum Sterben

geworden ist, eine, in der man einfach wacht und fortlebt „in Grabkammern!“ [Z 172]

Im Traum ist Zarathustra zum Nacht- und Grabwächter geworden, „auf der einsamen

Berg-Burg des Todes“. [Z 173] Tatsächlich, so kann man behaupten, ist er – zumindest

im Traum – denen gleich geworden, über die der Wahrsager sprach. Zarathustra ist im

Traum aber nicht nur einer, der in Grabkammern lebt, sondern ist auch Grabwächter.

Obwohl der ‚wirkliche’ Zarathustra das Ja-sagen zum Leben predigt, ist der Traum-

Zarathustra – man kann sich natürlich fragen, wie unwirklich dieser ist – gerade

derjenige, der das Nein-sagen bewacht. Zarathustra assoziiert das Nein-sagen, was das

Leben im Tode im Grunde ist, paradoxerweise mit einem Sieg, mit Überwindung. Er

sagt, „[d]roben [=auf dem Berg des Todes] hütete ich seine Särge [=die des Todes]: voll

standen die dumpfen Gewölbe von solchen Siegeszeichen. Aus gläsernen Särgen blickte

mich überwundenes Leben an“. [Z 173] Die unendlich Toten haben das endliche Leben

überwunden. Sie werden unter Glas aufgebahrt, damit Zarathustra sie sehen, aber nicht

berühren kann. Lampert bemerkt, „what gazes lifelessly out at him from glass coffins is

the whole of the past, passed out of life into dusty eternities, visible but inaccessible, as

if under glass“.104 Lampert porträtiert Zarathustra als Hüter einer Vergangenheit, die für

ihn unzugänglich ist. Zarathustra befindet sich also in diesem Todesleben, an dem er

nur räumlich Teil hat (er ist in der Berg-Burg, aber liegt nicht selber unter Glas), aber

von dem er die Schlüssel führt. [Z 174] Buchstäblich hält er die Schlüssel in seinen

Händen, aber auch figürlich, so werde ich später erklären. Zarathustra „verstand es“, so

103 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 75. Wie ich schon beim Kapitel “Das Kind mit dem Spiegel” erwähnt habe, deutet Bennholdt-Thomsen den Traum vor allem psychoanalytisch und biographisch. Obwohl die Psychoanalyse in diesem Fall tatsächlich nützliche Konzepte bietet, werde ich den Traum nicht aus psychoanalytischer Perspektive analysieren, sondern versuche, vor allem textnahe zu lesen und anhand eines close reading den Traum zu interpretieren. 104 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 138.

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sagt er selber, mit diesen Schlüsseln „das knarrendste aller Thore zu öffnen“. [Z 174]

Wenn er das Tor öffnet, hört er ein „bitterböse[s] Gekrächze“. [Z 174] Er erklärt selber

den Lärm: „unhold schrie dieser Vogel, ungern wollte er geweckt sein“. [Z 174] Wenn

Zarathustra den knarrenden Raum („diese[n] Vogel“) öffnet, weckt er ihn auch.

Zarathustra, träumend, weckt einen Raum, in dem gerade das passiert, was Zarathustra

selber aufweckt. Plötzlich wurde nämlich alles stille und „geschah das, was

[Zarathustra] weckte“ [Z 174]:

Dreimal schlugen Schläge an’s Thor, gleich Donnern, es hallten und heulten die Gewölbe dreimal wieder: da gieng ich zum Thore. Alpa! rief ich, wer trägt seine Asche zu Berge? Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge? [Z 174]

Zarathustra scheint zu erwarten, so meint Bennholdt-Thomsen, dass man Asche

bringt.105 Die Frage, die Zarathustra diesmal selber stellt, ist mehr oder weniger die

Wiederholung einer Bemerkung, die der Greis in der Vorrede über Zarathustra machte,

so behauptet auch Lampert.106 Als er Zarathustra sah, sagte der Greis nämlich: „Damals

trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen?“ [Z 12]

Lampert deutet das Phönixmotiv als ein Symbol für Zarathustras Willen zur

Regeneration. 107 Obwohl ich verstehe, was Lampert meint, finde ich das Wort

Regeneration unzulänglich. Regeneration impliziert eine Erneuerung, die es bei

Zarathustra tatsächlich gab, impliziert aber nicht die zirkuläre Neuschöpfung, die dem

Phönix inhärent ist. Die Aussage des Heiligen ist auf zwei Ebenen wichtig: Er sieht,

dass Zarathustra sich geändert hat, und er beschreibt diese Verwandlung anhand des

Symbols eines circulus vitiosus. Wenn Zarathustra in diesem Kapitel die Aussage

übernimmt, um jemanden anders zu umschreiben, übernimmt er meines Erachtens ganz

und gar nicht die ursprüngliche Bedeutung. Zarathustra wiederholt förmlich einen Satz

105 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 75. Der Ausruf “Alpa!” ist sehr schwierig zu deuten. Bennholdt-Thomsen zitiert eine Erklärung von Andler, der meint, dass Zarathustras “Alpa!” auf Dante hinweise. Der vierzehnte Kreis des Hölles wird nämlich, so Andler, von Plutos bewacht, der die Passanten ständig mit dem Ausruf “Aleppe!” aufschreckt. Siehe dazu: Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 75-76. Der Ausruf taucht auch in den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches auf. Siehe z.B.: Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1875-1879. Kritische Studienausgabe: Band 8. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV 1999. S. 474; Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882. Kritische Studienausgabe: Band 9. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV 1999. S. 418; Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1882-1884. Kritische Studienausgabe: Band 10. München: DTV 1999. S. 368, 369, 370. 106 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 138. 107 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 138.

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des Heiligen, weist inhaltlich auf die Rede des Wahrsagers hin, der sagte, „und fällt

Feuer auf uns, so stäuben wir der Asche gleich: – ja, das Feuer selber machten wir

müde“. [Z 172] Derjenige, der im Traum seine Asche zu Berge trägt, will zwar hinauf,

aber hinauf zur Berg-Burg des Todes. Ich glaube also, dass Lampert sich irrt, wenn er

meint, dass Zarathustras Frage „suggests the hope of the watching and waiting herald

that redemption from the past is possible through the one who is yet to come, one for

whom it is high time“.108 Die Asche, die zu Berge getragen wird, ist keine Hoffnung auf

Erlösung aus der Vergangenheit, sondern gerade eine Bestätigung der Vergangenheit.

Dass Zarathustra, meiner Meinung nach also unbewusst, das Bild einer zirkulären

Neuschöpfung verwendet, demonstriert, dass Zarathustra in der Tat auch figürlich schon

die Schlüssel in den Händen hat, aber noch nicht versteht, wie er sie gebrauchen kann.

Zarathustra versucht darauf das Tor zu öffnen, aber dies gelingt ihm nicht:

Da riss ein brausender Wind seine Flügel auseinander: pfeifend, schrillend und schneidend warf er mir einen schwarzen Sarg zu: Und im Brausen und Pfeifen und Schrillen zerbarst der Sarg und spie tausendfältiges Gelächter aus. Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen lachte und höhnte und brauste es wider mich. [Z 174]

Zarathustra öffnet das Tor also nicht selber, sondern ein Wind reißt seine Flügel

auseinander und wirft ihm einen Sarg zu. Es war ein Sarg, der zu Berge getragen wurde;

Zarathustra ist ja auch Grabwächter, hütet die Särge. Außer dem Wind überrascht die

Szene nicht. Was schon überrascht, ist, dass der Sarg zerbarst, damit seine Inhalt

freigelassen wird. Der Inhalt des Sarges ist dem Spiegelbild aus dem ersten Traum, in

„Das Kind mit dem Spiegel“, sehr ähnlich. Der Sarg barg Gelächter und Fratzen, die

jetzt über Zarathustra lachen und ihn verhöhnen. Das Kind zeigte im Spiegel „eines

Teufels Fratze und Hohnlachen“. [Z 105] In den beiden Fällen erschrickt Zarathustra

und schreit. Dasjenige, das er sieht, beängstigt ihn deutlich. Bennholdt-Thomsen

interpretiert den Sarginhalt als das „auferstehende Leben“, als dasjenige, das „wieder

zum Leben erwacht“.109 Obwohl ich mit ihrer späteren Analyse – die Angst sei eine

Konsequenz des schon latent vorhandenen Wiederkunftsgedankens – einverstanden bin,

würde ich nicht behaupten, dass dasjenige, das sich im Sarg befindet, aufersteht bzw.

erwacht. Das Gelächter und die Fratzen brechen nicht aus dem Sarg, sondern fallen aus 108 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 138. 109 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 76.

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ihm. Die Berg-Burg, die Zarathustra bewacht, ist eine des toten Lebens, ist die Welt der

letzten Menschen, die am Anfang des zweiten Teils seine Lehre versuchten zu

korrumpieren, wenn sie über ihn lachten („eines Teufels Fratze und Hohnlachen“ [Z

105]), die jetzt immer noch über ihn lachen („Und aus tausend Fratzen von Kindern,

Engeln, Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen lachte und höhnte und

brauste es wider mich“ [Z 174]) als Zeichen eines passiven Schutzes gegen den, der

meint, dass man nicht nein, sondern ja zum Leben sagen soll. Zarathustra reagiert auf

dieser zweiten Konfrontation mit einem Schrei, der ihn aufweckt („aber der eigne

Schrei weckte mich auf“ [Z 174]).

Nachdem er über den Traum erzählt hat, versucht der Jünger, „den er

[=Zarathustra] am meisten Lieb hatte“, den Traum zu deuten. [Z 174] Bevor er spricht,

fasst er die Hand Zarathustras. Der Kontakt zwischen ihnen manifestiert sich auf zwei

Ebenen: Der Jünger redet sprachlich zu Zarathustra, aber auch physisch. Nach der

Interpretation des Jüngers greifen auch die anderen Schüler Zarathustra bei den Händen,

so wie zum Beispiel auch der Seiltänzer Zarathustras Hand fasste, bevor er starb. Die

Berührung der Hände scheint mir also etwas typisch für das Lehrer-Schüler-Verhältnis

zu sein. Indem die Gefährten seine Hand greifen, erkennen sie Zarathustra als Lehrer. In

dem Fall seiner Jünger verehren sie ihn sogar als Lehrer. Wie schon einige Male der

Fall war, wird diese Verehrung problematisiert, diesmal indirekt, in der Traumdeutung.

Obwohl Zarathustra den Traum aus einer Ich-Perspektive heraus erzählte, also selber

der Grabwächter ist, meint der Jünger, dass Zarathustra sich seine Feinde träumte:

„Wahrlich, s i e s e l b e r t r ä u m t e s t d u , deine Feinde“. [Z 175] Der Kern des

Jüngers Traumdeutung, den die Typographie betont, ist der umgekehrte Traum. Laut

dem Jünger ist Zarathustra nicht derjenige, der ängstig schreit, sondern derjenige, der

schreien macht. Zarathustra sei selber der Wind, „der die Thore aufreisst“, sei selber

„der Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen des Lebens“. [Z 175] Lampert meint,

dass Zarathustra die Interpretation verneine.110 Obwohl Zarathustra nicht sprachlich auf

die Traumdeutung reagiert, hat Lampert trotzdem Recht hat. Wenn alle Schüler

Zarathustras Hände gefasst haben und um seine Rückkehr aus der Traurigkeit bitten,

beschreibt der Erzähler:

110 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 137.

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Zarathustra aber sass aufgerichtet auf seinem Lager, und mit fremdem Blicke. Gleichwie Einer, der aus langer Fremde heimkehrt, sah er auf seine Jünger und prüfte ihre Gesichter; und noch erkannte er sie nicht. Als sie aber ihn hoben und auf die Füsse stellten, siehe, da verwandelte sich mit Einem Male sein Auge. [Z 175]

Die Blindheit seiner Schüler, die anhand der Traumdeutung deutlich wurde, veranlasst

Zarathustra, sie jetzt anders, wirklicher zu sehen. Tatsächlich, so hatte Zarathustra schon

am Ende des ersten Teils und aufs Neue also im Motto dieses Teils vorhergesagt, sieht

er sie „mit andern A u g e n “. [Z 104] Die Interpretation des Traums demonstriert, dass

die Jünger nicht imstande sind, Zarathustra auch in seiner Schwäche zu erkennen.

Deshalb deuten sie Zarathustra als die kräftige Figur des Traums, nicht als denjenigen,

der vor Angst aufschreit. Lampert bemerkt aber, dass der Jünger für diese Interpretation

gute Gründe hat: „[T]he Zarathustra of that interpretation is true to what Zarathustra has

presented himself as being“. 111 Als Lehrer des Übermenschen ist Zarathustra

eindimensional, ist er nur Fürsprecher des Lebens, ist er tatsächlich der Wind, „der [...]

die Thore aufreisst“. [Z 175] Die Kombination des Traumes und seiner falschen

Deutung macht Zarathustra klar, dass er nicht nur Lehrer des Übermenschen bleiben

kann. Er versteht, dass seine Schüler nicht diejenige sind, die seine Lehre realisieren

werden. Sie verstehen ihn nicht, gerade, weil er ihrer Lehrer ist. Sie sagen zwar ja, aber

nicht zum Leben, sondern zu Zarathustra selbst. Sie verfügen daher nicht über die

Fähigkeit, zugleich die Gefahren der Lehre zu erkennen. Wenn Zarathustra die Zukunft

des Übermenschen auf sie beschränkt, wird die zukünftige Welt immer eine vergangene

sein: eine Welt des letzten Menschen, in der niemand gebärt und jeder tot weiterlebt.

Zarathustra wurde in seinem Traum mit einer Ewigkeit konfrontiert, die beängstigt.

Seine Jünger sind aber nicht imstande, diesem ewigen Nein ein Ja gegenüberzusetzen.

Trotzdem endet das Kapitel mit einer neuen Hoffnung. In seiner Rede verlangte der

Wahrsager ein Meer, „in dem man ertrinken könnte“. [Z 172] Bennholdt-Thomsen

verbindet die Aussage mit einer Zarathustras.112 Als er das Volk in der Vorrede zu

überreden versuchte, sagte er: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess

Meer“. [Z 15; Hervorhebung von mir, sj] Am Ende des Kapitels über den Wahrsager

bittet Zarathustra seine Schüler, eine gute Mahlzeit vorzubereiten. Während dieser

Mahlzeit soll der Wahrsager an seiner Seite sitzen. Zarathustra fügt hinzu, „und 111 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 137. 112 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 74.

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wahrlich, ich will ihm noch ein Meer zeigen, in dem man ertrinken kann!“ [Z 176] Mit

dem Verlust seiner Jünger als Keime des Übermenschen hat Zarathustra nicht den

Übermenschen selber verloren. Statt seiner Lehre nach außen zu richten, so wie er bis

jetzt immer machte, wird er sie ab jetzt auf sich übertragen. Der Fokus in Zarathustras

Reden ändert sich ab jetzt sehr deutlich. Während vor allem die Reden in „Die Reden

Zarathustra’s“ auf seine Schüler gerichtet waren und deshalb insbesondere sie und ihre

Herausforderungen thematisierten, stellt sich Zarathustra jetzt selbst in den Mittelpunkt.

Der thematische Wechsel wurde schon am Anfang des zweiten Teils antizipiert,

vielleicht eben am Ende des ersten Teils, wenn Zarathustra indirekt mehr und mehr

selbst zum Thema wurde (z.B. via seinen Traum). Zarathustra dachte sich selbst damals

aber ausschließlich als Lehrer. Die Reden, die jetzt folgen, konzentrieren nicht nur

direkt statt indirekt auf Zarathustra, sondern problematisieren auch explizit seine

Identität. Im nächsten Kapitel stellt Zarathustra, meines Erachtens sowohl seinen

Jüngern als auch sich selbst, die Frage: „[W]er ist uns Zarathustra?“ [179] Nach dem

Traum über den Grabkammer versteht Zarathustra, dass er selbst nicht nur Lehrer sein

kann, sondern auch mehr als ein Lehrer werden muss. Die eigene Frage, wer

Zarathustra ist, ist für die Identitätssuche, die es immer gab, aber die Zarathustra jetzt

wirklich als eine Suche betrachtet, exemplarisch.

2.2.3 „Die stillste Stunde“ Das letzte Kapitel des zweiten Teils enthält den letzten Traum. Das heißt, dass der

zweite Zarathustra mit einem Traum anfängt und auch endet. Gleich wie am Ende des

ersten Teils kündigt Zarathustra seinen Jüngern seinen Abschied an. Während der

Anfang des zweiten Teils Ähnlichkeiten mit dem Anfang des ersten Teils aufwies,

endet der zweite Teil gewissermaßen, wie der erste Teil endete: mit einem Abschied.

Der Fokus ist aber ganz anders. In meiner Analyse des ersten Teils habe ich zu zeigen

versucht, wie Zarathustra beim ersten Abschied schon zweifelt zwischen sich selber

(„denn er war ein Freund des Alleingehens“ [Z 97]) und seinen Jüngern („Nun heisse

ich euch, mich verlieren und euch finden“ [Z 101]). Die Liebe für sich selber und die

für seine Jünger widersprachen einander aber nicht: Die beiden Gründe sind

verschieden, aber beide Lieben, sowohl die für sich selber als die für seine Schüler,

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münden in den Abschied. Jetzt, am Ende des zweiten Teils, hat er die Aufmerksamkeit

völlig auf sich selber verschoben:

Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich verstört, fortgetrieben, unwillig-folgsam, bereit zu gehen – ach von e u c h fortzugehen! Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Einsamkeit: aber unlustig geht diessmal der Bär zurück in seine Höhle! Was geschah mir? Wer gebeut diess? – Ach, meine zornige Herrin will es so, sie sprach zu mir: nannte ich je euch schon ihren Namen? [Z 187; Hervorhebung von mir, sj]

Zarathustra legt deutlich den Fokus auf sich selbst. Das bedeutet nicht, dass Zarathustra

die Jünger nicht mehr betrachtet (Zarathustra geht von „e u c h “ fort), aber der Grund

für den Abschied ist ein rein persönlicher, der nur auf ihn bezogen ist: Seine zornige

Herrin, „[s ] e i n e s t i l l s t e S t u n d e “ will es so. Das heißt natürlich nicht, dass

Zarathustras Trennung nicht von Anderen beeinflusst ist. Die stillste Stunde ist ein

erweitertes Selbstgespräch – die stillste Stunde ist die Stunde, in der Zarathustra zu sich

selber spricht, dieses Selbst in dem Traum aber zu etwas umgebildet wird, das außer

ihm liegt –, aber wurde erst durch Andere ermöglicht. Schon die Wortwahl in den oben

zitierten Sätzen zeigt den stets sichtbaren Einfluss von anderen Figuren. „[U]nlustig

geht diessmal der Bär zurück in seine Höhle“ echot die Worte der Heiligen im Walde,

der Zarathustra fragte, „warum willst du nicht sein, wie ich, – ein Bär unter Bären“? [Z

13; Hervorhebung von mir, sj] Ein Bär unter Bären bedeutet für den Greis ‚ein

Einsiedler unter Einsiedlern’, das also, was Zarathustra verneinte, als er ohne Zögern zu

den Menschen hinabgehen wollte. Jetzt „muss“ [Z 187] Zarathustra in seine Einsamkeit,

der Bär geht also in seine Höhle zurück. Wenn ich behaupte, dass sich Zarathustra in

diesem Kapitel nicht auf seine Schüler, sondern auf sich selber konzentriert, meine ich

nicht, dass die externen Einflüsse (also auch die seiner Schüler) unwichtig geworden

sind, sondern dass Zarathustra sie einsetzt, um nicht mehr die Anderen, sondern sich

selber zu charakterisieren. Zarathustra entwickelte sich immer anhand seiner externen

Kontakte, aber seine eigene Entwicklung wird erst jetzt, wie ich schon betont habe,

auch explizit sein eigenes Thema.

Lampert beschreibt das Kapitel „Die stillste Stunde“ als einen „act of

masking“.113 Er glaubt nicht an die Ehrlichkeit Zarathustras, der seiner Meinung nach

113 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 152.

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seinen Jüngern nur einen Grund zum Abschied vorlüge. Tatsächlich, so meint Lampert,

„rede Zarathustra anders zu seinen Schülern – als zu sich selber“ [Z 182] – der Satz, mit

dem das Kapitel „Von der Erlösung“ abschloss. Am Anfang des dritten Teils, kurz nach

der Verabschiedung orientiert, reflektiert Zarathustra über seine „einsamste

Wanderung“. [Z 194] Lampert behauptet, dass der Zarathustra, über den Zarathustra zu

seinem Herzen spricht, ein anderer sei als der, über den Zarathustra anhand des Traumes

zu seinen Jüngern spricht. Der Zarathustra im Traum über die stillste Stunde ist in der

Tat ein zweifelnder, unsicherer („Ach, ist es m e i n Wort? Wer bin ich?“ [Z 188]),

während der Zarathustra in „Der Wanderer“ sich seines eigenen Ziels mehr bewusst ist

(„Ich erkenne mein Loos, sagte er endlich mit Trauer. Wohlan! Ich bin bereit. Eben

begann meine letzte Einsamkeit“ [Z 195]). Zarathustra porträtiert, so Lampert, sich

selber im zweiten Teil immer noch als der Lehrer des Übermenschen, obwohl er

inzwischen schon wisse, dass er selber des Übermenschen Hoffnung sei.114 Es scheint

mir aber sehr unwahrscheinlich zu sein, dass Zarathustra den Dialog mit sich selber

„creates“, d.h. erfindet, um den wahren Grund seines Abschieds für seine Schüler zu

verbergen. „Der Wanderer“ bildet ja auch den Anfang eines anderen, dritten Teils.

Diese formale Zäsur kann die inhaltliche erklären: So wie der Zarathustra des zweiten

Teils ein anderer Zarathustra ist als der des ersten Teils, scheint es mir gar nicht

merkwürdig zu sein, dass der Zarathustra des dritten Teils nicht der Zarathustra des

zweiten Teils ist, eben wenn der dritte Teil dem zweiten zeit- und räumlich sehr nahe

ist. Die Erklärung, der Traum über die stillste Stunde hat Zarathustra veranlasst, über

sich selber und seine Einsamkeit zu reflektieren, der Traum hat seine Zögerung also

langsam zur Anerkennung umgebogen, erscheint mir als logischer als Lamperts

Behauptung, Zarathustra lüge zu seinen Schülern, damit er sie verlassen kann. Eine

Lesung, die behauptet, dass Zarathustra seinen Jüngern, sobald er versteht, dass sie nie

den Übermenschen prokreieren werden, einfach eine Lüge erzählt, ignoriert außerdem

die Schlusssätze von „Der Wanderer“, in denen der Erzähler berichtet:

Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male: da aber gedachte er seiner verlassenen Freunde –, und wie als ob er sich mit seinen Gedanken an ihnen vergangen habe, zürnte er sich ob seiner Gedanken. Und alsbald geschah es, dass der Lachende weinte: – vor Zorn und Sehnsucht weinte Zarathustra bitterlich. [Z 196]

114 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 152.

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Die Trennung von seinen Jüngern schmerzt Zarathustra deutlich. Er hat eben das

Gefühl, dass er sie mit seinen jetzigen Gedanken, in denen er alleine die längste

Wanderung macht, vernachlässigt. Die Schmerzen sind an sich kein Argument pro oder

contra die Behauptung Lamperts: Zarathustra könne zu seinen Jüngern lügen und sie

nachher immer noch gedenken. Die Schmerzen zeigen meines Erachtens aber schon,

dass der Unterschied zwischen den ‚beiden’ Zarathustras nicht so extrem ist wie

Lampert meint. Die Schlusssätze des zweiten Teils enthalten nämlich ebenfalls einen

solchen Kummer: „Als Zarathustra aber diese Worte gesprochen hatte, überfiel ihn die

Gewalt des Schmerzes und die Nähe des Abschieds von seinen Freunden, also dass er

laut weinte“. [Z 190] Obwohl Zarathustra im dritten Teil in der Tat einen deutlicheren

Weg vor Augen hat – wie gesagt, ist das an sich nicht erstaunlich –, ist es falsch, zu

behaupten, dass der dritte Zarathustra den Jüngern gegenüber ein ganz anderer

geworden ist.

Zarathustra erzählt seinen Jüngern über den Traum. Er sagt, „Gestern, zur

stillsten Stunde, wich mich der Boden: der Traum begann“. [Z 187] Der Traum ist ein

lärmloser, nie hörte Zarathustra eine solche Stille. Plötzlich sprach „es“ ohne Stimme zu

ihm: „D u w e i ß t e s Z a r a t h u s t r a ?“ [Z 187] Was bzw. wer genau dieses „es“ ist,

wird nie wirklich verdeutlicht. Der Satz, der diesem vorangeht, heißt: „[N]ie hörte ich

solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak“. [Z 187] Die stillste Stunde ist

nicht dasjenige, das zu Zarathustra spricht. Die stillste Stunde ist die Stunde, an der sein

Herz zu ihm spricht. Sein Herz braucht ja auch keine Stimme, um mit Zarathustra reden

zu können. Als Teil seines Körpers, der im Dialog zwar externalisiert wird, fühlt

Zarathustra sein Herz reden. Aufs Neue sagt es ohne Stimme zu Zarathustra: „Du weißt

es, Zarathustra, aber du redest es nicht!“ [Z 188] Zarathustra antwortet, dass er „es“

tatsächlich weiß, aber „es“ nicht aussprechen will, dass er „des Würdigeren“ wartet,

nicht „werth [ist] an ihm [=seinem Wort] auch nur zu zerbrechen“, wie sein Herz

befohlen hat. [Z 188] Der ganze Dialog mit seinem Herzen bildet meines Erachtens den

Kulminationspunkt der innerlichen Krise, der innerlichen Gespaltenheit Zarathustras

zwischen Lehrer und Lehrling. Zarathustra weiß, dass er nicht nur der Lehrer bleiben

kann, weil seine Schüler zum Lernen unfähig sind und er als Lehrer, der selber die

Lehre nicht gelernt hat, ebenfalls seine Lehre nicht anwendet. Er betrachtet sich selber

aber nicht als einer, der des Übermenschen würdig ist; er kann sein Wort als Lehrer

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sprechen, will aber nicht an ihm zerbrechen. Sein Herz bemerkt: „[D]u hast die Macht,

und du willst nicht herrschen“. [Z 189] Zarathustra ist der Keim zum Übermenschen, er

muss aber auch wollen, einer zu werden. In seiner Antwort bezieht Zarathustra zum

ersten Mal ein Bild der drei Verwandlungen auf sich selber: „Mir fehlt des Löwen

Stimme zu allem Befehlen“. [Z 189] Er denkt sich selber noch nicht als derjenige, der

sich Freiheit raubt, denkt sich selber zugleich schon in seinen eigenen Begriffen (er

verwendet die Bilder, um sich selber darzustellen), aber auch nicht (ihm fehlt des

Löwen Stimme). Einige Sätze später verknüpft das Herz Zarathustra eben mit dem

Kind, das er noch werden muss. Es sagt, „aber wer zum Kinde werden will, muss auch

noch seine Jugend überwinden“ [Z 189], weist also auf die Metaphorik hin, die

Zarathustra selber in Bezug auf seine Schüler verwendete: Als Übermensch ist man

zugleich Kind und Elternteil. Deshalb muss man tatsächlich seine Jugend überwinden,

um selber Kind werden zu können. Zarathustra antwortet aber: „Ich will nicht“. [Z 189]

Die Merkwürdigkeit eines Lehrers, der seine eigene Lehre verkündigt, aber sie bisher

nicht geworden ist, eben nicht werden will, wird in dieser Konversation also auf die

Spitze getrieben. Zarathustra weiß, dass er selber den Weg zum Kind gehen muss, aber

sagt es noch nicht. Daher ist die Stunde in der Tat die stillste Stunde.

Nachdem Zarathustra sagte, „Ich will nicht“ [Z 189], hört er aufs Neue

Gelächter, so wie in jedem Traum, den Zarathustra bis hierher hatte. Zarathustra erzählt,

„Da geschah ein Lachen um mich. Wehe, wie diess Lachen mir die Eingeweide zerriss

und das Herz aufschlitzte!“ [Z 189] Darauf spricht das Herz zum letzten Male zu ihm:

„Oh Zarathustra, deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte! So

musst du wieder in die Einsamkeit: denn du sollst noch mürbe werden“. [Z 190] Wenn

das Herz schweigt, hört Zarathustra aufs Neue das Lachen. Jetzt aber „lachte es und

floh“. [Z 190] Der Eindruck entsteht, dass es Zarathustras Herz selber ist, das lacht, im

Grunde also selbstdestruktiv ist (das Lachen schlitzt das Herz auf), gleichwie er

selbstdestruktiv ist, insofern er nicht mürbe wird, insofern er nicht will. Das Lachen, in

allen Träumen ein Symbol für die Passivität seiner Feinde, kommt tatsächlich von

innen. Zarathustra muss versuchen, seine eigene Lehre zu lernen, muss selber ja sagen,

statt ja sagen zu lehren, damit seine Lehre Wirklichkeit wird. Wenn er sich selbst als

Lehrling verneint, wenn er nicht werden will, kreiert er einen Zustand des Stillstands, in

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dem gelacht wird. Bennholdt-Thomsen hat Recht, wenn sie behauptet, „dass Zarathustra

sich selbst überwinden muss zugunsten der Lehre“.115

Der Übergang zwischen Lehrer und Lehrling des Übermenschen ist inhaltlich

Hauptthema des Kapitels, wird aber auch im Titel „Die stillste Stunde“ und das ihm

entsprechende Paradigma des Sprechens bzw. Nicht-Sprechens deutlich. Als Lehrer des

Übermenschen hielt Zarathustra Reden, in denen er die Lehre verkündigte, d.h. sprach.

Die stillste Stunde ist die, in der Zarathustra aufhört, als Lehrer zu sprechen, aber noch

nicht imstande ist, die Wörter als Lehrling zu reden, obschon er sie kennt. Es ist deshalb

nicht so, dass Zarathustra noch nicht sprechen kann, sondern dass er etwas verschweigt.

Bennholdt-Thomsen bemerkt: „Aus diesem Grund wird er in die Einsamkeit

zurückgeschickt, damit er fähig werde, seine Lehre auszusprechen“.116 Ich würde

behaupten: Damit er fähig werde, seine Lehre aussprechen zu wollen. Kurz vor dem

Ende des Kapitels spricht Zarathustra zu seinen Jüngern über das Verschweigen:

Nun hörtet ihr Alles, und warum ich in meine Einsamkeit zurück muss. Nichts verschwieg ich euch, meine Freunde. Aber auch diess hörter ihr von mir, wer immer noch aller Menschen Verschwiegenster ist – und es sein will! Ach, meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn geizig? [Z 190]

In dem Kapitel erscheinen diese Worte als sehr ambig. Zarathustra hat den Jüngern alles

erzählt. Er hat alles über seine Stille gesagt. Er hat ihnen außerdem nichts über das

Verschweigen verschwiegen; er, der „aller Menschen Verschwiegenster ist“ und so

auch sein will. Trotzdem kann er nicht mehr der sein, der er ihnen zuvor war: Er kann

nicht mehr schenken, kann ihnen nicht mehr alles sagen. In seiner Entwicklung von

Lehrer zu Lerhling hält Zarathustra die Wörter für sich.

2.3 Fazit: Zarathustras Entwicklung als Traumdeutung Zarathustra träumt drei Mal. Wie ich schon bemerkt habe, beginnt und endet der zweite

Teil mit einem Traum. Die Träume, die jedes Mal Ähnlichkeiten zueinander aufweisen,

sind für den zweiten Teil aber nicht nur formal charakteristisch. Sie demonstrieren die

115 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 115. 116 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 115.

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Verinnerlichung, die meiner Meinung nach im zweiten Teil zentral ist.117 Ich habe die

Träume als Begegnungen gedeutet, obwohl sie das im Grunde nicht sind. Zarathustra

begegnet dem Kind mit dem Spiegel, dem höhnenden Sarge und dem Herz nämlich

nicht wirklich, sondern träumt die Begegnungen. Meines Erachtens gelten sie daher als

verinnerlichte Begegnungen, die sich im Kopf Zarathustras abspielen. Die Begegnung

ist also intern, sicherlich im letzten Traum ist der Gesprächspartner das auch.

Die Träume des zweiten Teils sind nicht nur wichtig, weil sie eine Tendenz zur

Verinnerlichung darlegen – ein Traum ist ja sowieso persönlicher als eine Rede –, sie

steuern auch deutlich die Entwicklung Zarathustras. Der erste Traum führt dazu, dass er

wieder zu seinen Jüngern hinuntergeht. Der zweite Traum zeigt ihm die Gefahr seiner

Lehre und das Unvermögen seiner Schüler, sowohl mit seiner Lehre als auch mit ihren

Gefahren umzugehen. Der letzte Traum schickt ihn wieder in die Einsamkeit zurück, in

der er lernen muss, werden zu wollen. Aufs Neue kann man also behaupten, dass die

Begegnungen die Figur Zarathustra und seine Entwicklung prägen. Weil die

Begegnungen jetzt aber verinnerlicht sind, kann oder muss man sich die Frage stellen,

ob er in diesen Fällen nicht eher sich selber bestimmt. Sicherlich beim letzten Traum ist

die Frage affirmativ zu beantworten. Die stillste Stunde ist die, in der sein Herz ohne

Stimme zu ihm redet. Das heißt, dass er im Grunde sein eigener Gesprächspartner ist.

Für seine innere Zerrissenheit ist die Externalisierung seiner eigenen Person

exemplarisch: Zarathustra weiß, dass er seine Lehre für sich selber verschweigt, weiß,

dass er noch reifen muss. Zarathustra führt sich selber in die Einsamkeit zurück. Das

bedeutet aber nicht, dass er auf eigener Kraft zu diesem Punkt angelangt ist. Der

Moment der Anagnorisis im zweiten Teil ist die Rede des Wahrsagers und ihre

Verarbeitung in Zarathustras Traum. Die stillste Stunde ist eine Konsequenz der

plötzlichen Einsicht, dass der Übermensch nicht aus seinen Jüngern hervorkommen 117 Wenn ich von einer Verinnerlichung rede, meine ich die merkwürdige Tendenz, in der Zarathustra sich mehr und mehr auf sich selbst konzentriert, seine persönliche Entwicklung daher mehr zum Thema wird. Ich nenne die Tendenz merkwürdig, weil Zarathustra sich in „Die Reden Zarathustra’s“ als Lehrer nur auf seine Lehre bzw. die Entwicklung seiner Schüler konzentrierte. Eine ‚Verinnerlichung’ meint in diesem Kontext nicht, dass Zarathustra sich isoliert (auch wenn er räumlich alleine ist, ist er es geistig nie), sondern, dass er seine Lehre persönlicher gestaltet und sie immer mehr auf sich selber bezieht. Am Ende des zweiten Teils führt sein ‚Herz’ ihn in die Einsamkeit zurück, damit er sich im dritten Teil völlig auf sich selbst konzentrieren kann. Wenn Zarathustra sich selbst am Ende des dritten Teils als „Lehrer der ewigen Wiederkunf t“ [Z 275] gefunden hat, wird er sich wieder nach außen kehren: Als derjenige, der das Rad ins Rollen bringt, beeinflusst er ja nicht nur sich selbst. Die Bewegung, in der Zarathustras Person mehr zum Thema wird und die Lehre auch auf ihn bezogen, ist für das Gelingen von Zarathustras Lehrertätigkeit notwendig.

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wird. Erst dann fängt die wirkliche Verinnerlichung an. Den zweiten Traum würde ich

also sicherlich nicht nur als Selbstbestimmung kategorisieren: Der Traum folgt

unmittelbar aus der Rede des Wahrsagers, ist durch die Worte des Wahrsagers geprägt.

Auch beim ersten Traum würde ich nicht behaupten, dass Zarathustra sich selber den

Spiegel vorhält, wie er das zum Beispiel in „Die stillste Stunde“ schon macht. Der

Traum erscheint eher als eine Prophezeiung, die Zarathustra (tatsächlich) erweckt, die

ihn vor den Versuchen seiner Feinde warnt, seine Lehre zu beschmutzen. Während der

Schlaf im ersten Teil mit Passivität, Nein-sagen, Unaufgeklärtheit assoziiert wurde, sind

es im zweiten Teil die Träume, die dazu führen, dass Zarathustra sich selbst entblendet.

„Wahrlich, mit andern A u g e n “ [Z 104] hat Zarathustra seine Schüler, und demzufolge

auch sich selber, gefunden.

3. Also sprach Zarathustra: Dritter Teil – Zarathustra als sein eigener

Lehrer

3.1 Einleitung Der dritte Teil fängt zeitlich unmittelbar nach dem zweiten Teil an. Nachdem die stillste

Stunde Zarathustra befohlen hat, in die Einsamkeit seiner Höhle zurückzukehren, geht

er diesen einsamen Weg. Der Anfang dieses Weges ist der Anfang des dritten Teils:

„Um Mitternacht war es, da nahm Zarathustra seinen Weg“. [Z 193] Obwohl die zeit-

und räumliche Situierung also sehr eng mit der des zweiten Teils verwandt ist, ist, wie

Bennholdt-Thomsen schreibt, der Unterschied zwischen beiden Teilen

kommunikationsorientiert ziemlich groß.118 Zarathustras Einsamkeit impliziert, dass er

seine Schüler, die er zwar nicht mehr als Hoffnung auf den Übermenschen betrachtet,

aber immer noch liebt, verlässt. Das heißt, das Zarathustra im Grunde kein festes

Publikum mehr hat, an das er sein Reden richten kann. Deshalb bemerkt Bennholdt-

Thomsen, dass der dritte Teil keine öffentlichen Reden mehr enthält, obschon

Zarathustra immer noch über die Lehrtätigkeit reflektiert.119 Er überdenke seine Lehre

immer noch, mache dies aber nicht mehr in öffentlichen Reden, sondern in

118 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 115. 119 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 117.

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„Monologe[n]“.120 Tatsächlich tauchen die Selbstgespräche in diesem Teil häufiger auf.

Da er kein festes Publikum mehr hat, ist Zarathustra ja auch häufiger zum

Selbstgespräch verpflichtet. Statt öffentlich sind die Reden im dritten Teil also öfters

privat. Bennholdt-Thomsen behauptet, „auch widerspräche eine unmittelbar dialogische

Situation der notwendigen Einsamkeit Zarathustras, seinem Insichgehen“.121 Was aber

auffällt, ist, dass Zarathustra, wenn er zu sich selber spricht, also einen „Monolog“ hält,

immer noch apostrophiert. In „Von alten und neuen Tafeln“ zum Beispiel, einem

Kapitel, das Bennholdt-Thomsen als Selbstgespräch kategorisiert, beginnt Zarathustra

den sechsten Teil mit dem Anruf „Oh meine Brüder“. [Z 250] Obwohl Zarathustra sein

Publikum verloren hat, inszeniert er in seinen Selbstreden immer noch ihre

Anwesenheit, gleichwie seine „Brüder“ in den vorhergehenden zwei Teilen immer

angerufen wurden. Solche Apostrophierungen sind keine Dialogisierungen,

widersprechen also der Behauptung Bennholdt-Thomsens nicht, zeigen aber schon, dass

die Kommunikationssituation zumindest für Zarathustra selber nicht so radikal ist, wie

Bennholdt-Thomsen behauptet. Zarathustra hat in den meisten Kapiteln niemand mehr,

der zuhört, scheint aber immer noch ein Publikum zu imaginieren. Eben wenn

Zarathustra nicht, laut Bennholdt-Thomsen, zu sich selber spreche, sondern deutlich mit

jemandem bzw. etwas, minimiert Bennholdt-Thomsen den dialogischen Charakter. Sie

meint, dass Zarathustra nur in zwei Kapiteln – das sind zugleich die Kapitel, die ich

ausführlich besprechen werde, „Vom Gesicht und Räthsel“ und „Der Genesende“ –

seine Entwicklungsgeschichte „teilt“.122 In der Tat „teilt“ Zarathustra etwas mit seinen

jeweiligen Gesprächspartnern, sicherlich in „Der Genesende“ teilen seine

Gesprächspartner auch etwas mit ihm. Die Teilung soll also meines Erachtens

dialogischer betrachtet werden, als Bennholdt-Thomsen in ihrem Überblick über die

Sprechsituation des dritten Teils macht. Außerdem konkludiert sie, dass gerade die

‚Selbstgespräche’ Zarathustras Entwicklung zum Lehrer des ewigen Wiederkunft des

Gleichen „dokumentieren“. Die wirklichen Selbstgespräche dokumentieren vielleicht

das Werden, meiner Meinung nach sind es gerade die Dialoge, die Bennholdt-Thomsen

aber als Monologe deutet, die das Werden bestimmen.

120 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 117. 121 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 117. 122 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 117.

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Ich habe dafür optiert, in diesem Kapitel nur die zwei ‚Begegnungen’

ausführlich zu analysieren, von denen ich meine, dass sie für Zarathustras

Entwicklungsgang entscheidend sind: „Vom Gesicht und Räthsel“ und „Der

Genesende“, die Kapitel also, in denen Zarathustra ein reales Publikum hat. Es gibt im

dritten Teil aber noch eine dritte Begegnung, die mit dem „Affen Zarathustra’s“ im

Kapitel „Vom Vorübergehen“. Ich habe mich dafür entschieden, die Begegnung in

dieser Arbeit nicht zu besprechen, weil ich meine, dass sie im Vergleich zu den zwei

anderen weniger den Erkenntniskampf Zarathustras, der diesen Teil charakterisiert,

illustriert. Das letzte Subkapitel widme ich den Begegnungen, die früher stattfanden,

aber die Zarathustra in diese Lehre des dritten Teils selber wieder aufnimmt. Das heißt,

dass ich analysieren werde, wie Zarathustra den Einfluss dieser Begegnungen in bzw.

für seine eigene Lehre betrachtet.

3.2 Die letzten Begegnungen: Die Vollendung einer Suche

3.2.1 „Vom Gesicht und Räthsel“ Zarathustra muss nicht nur, sondern will inzwischen auch („Ich bin bereit“ [Z 195]) in

seine Einsamkeit zurückgehen. Um die Höhle, den Ort dieser Einsamkeit, zu erreichen,

verlässt er die glückseligen Inseln, wo seine Jünger wandern. Auf dem Schiff sind die

anderen Leute sehr neugierig auf ihn. Jeder hat inzwischen von Zarathustra, Lehrer des

Übermenschen, gehört. Zarathustra aber verhält sich, wie er sich zum Beispiel auch

nach der Rede des Wahrsagers verhielt: Er schweigt, ist traurig, vermeidet Kontakt mit

den anderen Schiffsleuten, weder spricht noch hört zu. Nach zwei Tagen tritt er

teilweise aus seiner Isolation heraus. Das heißt, er öffnet seine Ohren für die

Geschichten der anderen Reisenden. Der Erzähler erzählt: „Zarathustra aber war ein

Freund aller Solchen, die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben mögen. Und

siehe! zuletzt wurde ihm im Zuhören die eigne Zunge gelöst, und das Eis seines

Herzens brach“. [Z 197] Er fängt zu reden an. Dass es Mitreisende sind, die ihm

zuhören werden, ist ihm also nicht unwichtig. Lampert bemerkt,

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they are [...] symbolic of the spirit of adventure. [...] The actual sailors can not themselves be the men Zarathustra needs as followers, it may well have served his purposes to address his vision of eternal return to them.123

Die Schiffsleute sind ihm seines Gesichts und Rätsels würdig. Zarathustra sagt ihnen

eben, „euch allein erzähle ich das Räthsel, [...] das Gesicht des Einsamsten“. [Z 197]

Nachdem er es ihnen erzählt hat, bittet er sie um ihre Deutung („so rathet mir doch das

Räthsel, [...] do deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten“ [Z 202]). Obwohl

Lampert meines Erachtens Recht hat, wenn er meint, dass die Schiffsleute die

zurückgelassenen Jünger nicht ersetzen, versucht Zarathustra schon die Leere zu füllen,

als brauche er eine Gruppe, die nicht nur zuhört, sondern auch deuten kann. Zarathustra

verlangt von diesen Reisenden genau, was er von seinen Schülern verlangt hat. Der

einzige Unterschied ist, dass die Reisenden sich nicht an einer Deutung heranwagen, ihr

Versuch wird allerdings nicht wiedergegeben. Bennholdt-Thomsen wirft mit Recht die

Frage auf, inwieweit Zarathustra um eine Deutung bittet, weil er das Gesicht selber

noch nicht deuten kann.124 Zarathustra sagt nämlich zu den Schiffsleuten, „und, wo ihr

e r r a t h e n könnt, da hasst ihr es, zu e r s c h l i e s s e n “. [Z 197] Zarathustra erzählt

also ein Rätsel, das, wenn die Schiffsleute es erraten, geöffnet wird; ein Rätsel, bei dem

im Wort „erraten“ vorausgesetzt wird, dass es eine Lösung gibt und Zarathustra diese

Lösung kennt, als wolle er sie testen. Erst nach der Erzählung wird deutlich, dass auch

Zarathustra selber das Rätsel noch nicht erraten kann. Im nächsten Kapitel, so gibt

Bennholdt-Thomsen an, fährt Zarathustra zum Beispiel „mit solchen Räthseln und

Bitternissen im Herzen“ [Z 203] über das Meer, überdenke er also immer noch selber

eine Erklärung, die ihm erst im Kapitel „Der Genesende“ deutlich wird. Was

Zarathustra genau von seinem Publikum wünscht, ist deshalb unklar. Er fragt sie zwar

nach einer Deutung, führt aber nur selber das Wort. So weckt er vor allem den

Eindruck, als eignen die Schiffsleute sich besonders als zuhörendes Publikum, und

bittet er sie pro forma um eine Deutung, eine Bitte, die aber inhaltlich an sich selber

gerichtet ist. Bennholdt-Thomsen bezeichnet das Kapitel als ein erweitertes

Selbstgespräch. Meines Erachtens spricht Zarathustra anhand des Gesichts tatsächlich

vor allem zu sich selber. Dass die Rolle des Publikums so eine formale wird, bedeutet

aber nicht, dass seine Anwesenheit unwichtig geworden wäre. Die Schiffsleute

123 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 161. 124 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 89.

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veranlassen Zarathustra, das Gesicht zu erzählen, das er in der Erzählung für sich selber

zu deuten versucht. Bennholdt-Thomsen spricht außerdem von einem erweiterten

Selbstgespräch, weil die „Angesprochenen in gewissem Sinne mit Zarathustra verwandt

sind“.125 Die einzige Verwandtschaft ist aber, dass sowohl Zarathustra als auch die

Schiffsleute Reisende sind. Ich bin mit Lampert einverstanden, wenn er behauptet, dass

ihrer reisende Charakter Zarathustra dazu bringt, ihnen das Rätsel zu erzählen, glaube

aber, dass die Verwandtschaft zwischen ihnen zu gering ist, um von einem erweiterten

Selbstgespräch reden zu können.

Das Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ enthält zwei Teile. Im ersten Teil

erzählt Zarathustra über den Geist der Schwere, den Zwerg, der auf seiner Schulter sitzt.

Im zweiten Teil erzählt er seine Auseinandersetzung mit dem Zwerg über seinen

abgründlichen Gedanken. Zarathustra berichtet den Schiffsleuten also über eine

Begegnung im Gesicht. Deswegen ist die Begegnung in „Vom Gesicht und Räthsel“

eigentlich eine doppelte: Extern begegnet Zarathustra den Schiffsleuten, intern begegnet

Zarathustra dem Zwerg. Plötzlich verschiebt die Erzählung sich. Zarathustra hört einen

Hund heulen, der ihn an seine Kindheit erinnert, während der Zwerg inzwischen

verschwunden ist. Im Folgenden sieht er einen Menschen liegen, um den der Hund

heult. Auch dieses Bild verschwindet, denn Zarathustra beschreibt darauf nicht mehr

den Menschen mit dem Hund, sondern einen jungen Hirten, „dem eine schwarze

schwere Schlange aus dem Munde hieng“. [Z 201] Wenn er die Schiffsleute bittet, das

Rätsel zu deuten, fragt er: „W e r ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund

kroch? W e r ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund

kriechen wird?“ [Z 202] Er fragt sie also nur nach den letzten Szenen, nicht nach der

Begegnung mit dem Zwerg. Bennholdt-Thomsen benennt deshalb nur diese letzten

Szenen als das Gesicht. Sie unterscheidet zwischen „seine[r] Begegnung mit dem

Zwerg“ und „sein[em] Gesicht von dem Hirten“.126 Obwohl Zarathustra am Ende

tatsächlich die letzten Szenen befragt, wenn er eine Deutung des Gesichts verlangt,

scheint mir die Trennung schwierig zu belegen. Wenn Zarathustra am Anfang

verkündigt, „euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich s a h , – das Gesicht des

Einsamsten“ [Z 197], erzählt er zuerst über den Zwerg. Der Geist der Schwere ist also

125 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 118. 126 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 88.

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für Zarathustra der Beginn des Gesichts. Es ist nicht so, dass Zarathustra eine

Geschichte erzählt, die Geschichte plötzlich zerfällt und nur die Szenen nach der

Desintegration als Gesicht bezeichnet werden. Die Verschiebung in der Erzählung

scheint mir hingegen gerade Teil des Rätselhaften zu sein. Außerdem erwähnt

Bennholdt-Thomsen selber ein weiteres Argument, das einer inhaltlichen Trennung –

formal gibt es, wie ich gesagt habe, schon eine Trennung zwischen zwei Teilen –

widerspricht. Sie bemerkt nämlich, dass, sowohl wenn Zarathustra über den Geist der

Schwere spricht, als auch wenn die Erzählung verschiebt, die Titelfigur suggeriert, dass

er träumt. In Bezug auf den Zwerg sagt er, „ich stieg, ich stieg, ich träumte, ich dachte“.

[Z 198; Hervorhebung von mir, sj] Später, wenn er den Hund heulen hört, bevor er den

Menschen sieht, fragt er sich, „träumte ich denn? Wachte ich auf?“ [Z 201;

Hervorhebung von mir, sj] Wenn Zarathustra träumt, träumt er sich das Ganze. Ich

pflichte also Lampert bei, der „das Gesicht des Einsamsten“ unproblematisch als

Benennung für die beiden thematischen Teile verwendet.127

Das Rätsel – Rätsel und Gesicht gehören für Zarathustra deutlich zusammen:

„erzähle ich das Räthsel [...] – das Gesicht des Einsamsten“ [Z 197] – bekommt anhand

dieser Traumsuggestion den Eindruck, eine Traumdeutung zu fordern. Zarathustra

nennt sein Gesicht nie buchstäblich einen Traum, aber der Zweifel im Gesicht, ob es

vielleicht ein Traum sein könne, und die explizite Frage nach einer Deutung echoen das

Kapitel „Der Wahrsager“ aus dem zweiten Teil (cf. supra: 2.2.2). Ein solches Echo zeigt

Übereinstimmungen, in diesem Fall aber sicherlich auch Unterschiede. Wie ich schon

erwähnt habe, fragt Zarathustra zwar nach einer Deutung, antworten die Zuhörenden

aber nicht. Während in „Der Wahrsager“ die Deutung des Jünglings genau so wichtig

war wie der Traum selber – der Traum lehrte Zarathustra über den kleinen Menschen,

die Deutung lehrte ihn über seine Position als Lehrer –, ist die externe Deutung im

vierten Teil völlig unwichtig geworden. Zarathustra braucht ein Publikum, zu dem er

reden kann, aber scheint im Grunde vor allem für und zu sich selber zu reden. Das heißt

nicht, dass die Begegnung an sich weniger wichtig geworden sei – Zarathustra erzählt,

weil er ein Publikum hat –, sondern dass die Rolle der anderen Personen sich geändert

hat. Sie sind, in diesem Kapitel, nur anwesend. Schon die Anwesenheit ist aber für

Zarathustras Gedankengang entscheidend. Weil sie eine erzählwürdige Gruppe sind, 127 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 162.

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erzählt er – auch wenn er primär für sich selber spricht – über das Gesicht, das er am

Ende deutlich selber noch nicht bestimmen kann. Die Begegnung mit den Schiffsleuten

bietet ihm die Möglichkeit, erzählend über seine Begegnungen im Gesicht zu

reflektieren. Während der Traum über den Gräbwachter sowohl für Zarathustras

Selbsterkenntnisse als auch für die Kenntnisse über seine Jünger maßgeblich war, öffnet

„Vom Gesicht und Räthsel“ ‚nur’ Zarathustras eigenen Erkenntnisweg.

Zarathustras Gesicht fängt mit einer Wanderung an. Er geht einem Pfad

aufwärts, „dem Geiste zum Trotz, der ihn [=seinen Fuss] abwärts zog, abgrundwärts“.

[Z 198] Dieser Geist ist der Geist der Schwere, Zarathustras „Teufel und Erzfeinde“. [Z

198] Der Geist der Schwere, der für die Hälfte die Konturen eines Zwerges, für die

andere Hälfte die Konturen eines Maulwurfs annimmt, sitzt auf Zarathustras Schulter,

drückt ihn also buchstäblich abwärts. Der Zwerg bezeichnet Zarathustra als einen Stein,

einen „Stein der Weisheit“, einen „Stern-Zertrümmerer“. [Z 198] Zarathustra ist für den

Zwerg derjenige, der so hoch steigen will, dass er die Sterne zertrümmert, d.h. zerbricht,

was man als kleiner Mensch in die Höhe denkt, und ersetzt, indem Zarathustra selber

hoch werden will. Lampert stellt fest, „Zarathustra is addressed as a ‚stone’ that has

thrown itself high“.128 Zarathustra ist in der Metaphorik des Zwerges sowohl der Stein

als derjenige, der den Stein wirft. Der Zwerg sagt, „du warfst dich hoch“, wiederholt

eben, „dich selber warfst du so hoch“. [Z 198] Die Bewegung Zarathustras ist – der

Zwerg bietet eine korrekte Analyse – eine doppelte: Zarathustra ist zugleich derjenige,

der das Rad ins Rollen gebracht hat, als derjenige, der jetzt selber im Rad läuft. Weil

Zarathustra selber den Stein wirft und außerdem selber der Stein ist, wird er auch auf

sich selber zurückfallen, denn „jeder geworfene Stein – muss fallen!“ [Z 198] In seiner

eigenen Metaphorik ist der Zwerg selber nur implizit anwesend, in seiner Rede zu

Zarathustra expliziert er sich selber nicht. Es ist aber der Geist der Schwere, die

Schwerkraft, der den Stein fallen lässt. Der Zwerg ist also sowohl derjenige, der

Zarathustra im Hinaufgehen beschwert (er sitzt auf seiner Schulter), als auch derjenige,

der Zarathustra, einmal hinauf, wieder hinab wirft – obwohl der Zwerg, sich selber nur

implizierend, behaupten würde, dass Zarathustra sich selber hinab wirft. Zarathustra

aber will der Schwere des Zwerges etwas gegenüberstellen. Er, der hinauf will, will die

Schwerkraft mit seinem Mut totschlagen: „Muth nämlich ist der beste Todtschläger, – 128 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 163.

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Muth, welcher a n g r e i f t : denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel“. [Z 199] Indem

man Mut zeigt, sich einer Situation bzw. einer Kraft widersetzt, übertrifft man sich

selber, überwindet man sich selber eben. So behauptet Zarathustra, „Der Mensch ist das

muthigste Thier: damit überwand er jedes Thier“. [Z 199] Der Mut, der angreift, ist

dasjenige, anhand dessen der Mensch die Tierenstufe hat überwinden können. Der Mut,

so Zarathustra, könne auch den jetzigen „Menschen-Schmerz“, der „der tiefste

Schmerz“ ist, überwinden: Schwindel, Mitleiden und der Tod, laut Lampert „aspects

which exemplify the Schopenhauerian charakter of the pain now experienced by the

human spirit“.129 Der Mensch, wie Zarathustra ihn sieht, soll auch „den Schwindel an

Abgründen“ totschlagen, damit er überhaupt die Abgründe, die das Leben bilden, sehen

kann („Ist sehen nicht selber – Abgründe sehen?“ [Z 199]). Der Mensch, wie

Zarathustra ihn sieht, soll auch das Mitleiden, den „tiefste[n] Abgrund“, totschlagen.

Der Mensch, wie Zarathustra ihn sieht, soll zuletzt auch den Tod selber totschlagen,

damit dieser das Leben nicht überherrscht. In diesem letzten Totschlag wird sogar die

ewige Wiederkunft vorweggenommen. Als Beispielsatz sagt Zarathustra nämlich, „War

d a s das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!“ [Z 199], Worte, die, so auch Lampert,

„presage the affirmation of life in eternal return“.130 Zarathustra behauptet eben, „In

solchem Spruche ist viel klingendes Spiel“. [Z 199; Hervorhebung von mir, sj]

Tatsächlich ist schon in dieser beschränkten Wiederkunft – es geht hier immer noch um

„noch Ein Mal“ das Leben, das Zarathustra sich wünscht, noch nicht um das Leben, das

Zarathustra nicht wünscht, d.h. das kleine Leben – das Spiel sichtbar, denn mit Mut ist

man imstande, sich selber zu schaffen.

Nach seiner Reflektion über die Kraft des Mutes fängt der zweite Teil des

Kapitels an. „Halt! Zwerg!“, spricht Zarathustra, „Ich! Oder du! Ich aber bin der

Stärkere von uns Beiden –: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den –

könntest du nicht tragen!“ [Z 199] Zarathustra, der jetzt seinen Mut zeigt, den Zwerg

wörtlich angreift, skizziert die Unmöglichkeit ihres Zusammengehens: „Ich! Oder du!“

– im ersten Teil des Kapitels sagte er schon „Du! Oder ich!“, die Reihenfolge hat er also

129 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 163. Lampert deutet den Geist der Schwere als “the rational spirit of Socratism or Platonism”, “modern or Schopenhauerian pessimism that […] is in fact the final outcome of Platonism”. Siehe dazu: Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 162-171. Auch Paul Loeb bietet eine solche philosophische Erklärung in The Death of Nietzsche’s Zarathustra. Cambridge: University Press 2010. S. 45-85. 130 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 164.

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exemplarisch umgekehrt –, denn man kann nicht hinaufgehen wollen und zugleich

zurückgezogen werden. Die Kraft hinauf, Zarathustra selber, sei nach ihm, die

„Stärkere“. Als ‚Beweis’ für seine Stärke nennt er den abgründlichen Gedanken. Der

Zwerg springt darauf selber von seiner Schulter (Zarathustra fühlt sich erleichtert), aber

setzt sich dann gerade auf einen Stein – im ersten Teil verglich er Zarathustra selber mit

einem Stein. So halten sie bei einem „Thorweg“. [Z 199] Dass der Zwerg nicht mehr

auf Zarathustras Schulter sitzt, heißt meines Erachtens nicht, dass er sich selber

unmittelbar als der Schwächere erkennt, denn er springt selber von der Schulter und

beschwert jetzt vielleicht nicht mehr Zarathustra, aber immer noch den Stein.

Zarathustra benützt den Torweg, um seinen abgründlichen Gedanken, der, wie

Lampert bemerkt, den Zwerg weder kennt noch tragen kann, zu illustrieren. 131

Zarathustra personifiziert den Torweg als jemanden mit „zwei Gesichter[n]“, die

zusammen eine Einheit bilden, als einen Punkt, an dem „zwei Wege zusammen“

kommen. [Z 199] Der eine Weg ist ein ewiger Weg zurück, ein Weg in die

Vergangenheit, der andere Weg ist ein ewiger Weg hinauf, ein Weg in die Zukunft. Im

Grunde, zumindest nach einer linearen Zeitauffassung, „widersprechen“ sie sich, „sie

stossen sich gerade vor dem Kopf“. [Z 200] Beide Wege, der vergangene und der

zukünftige, kommen in einem Punkt zusammen, „an diesem Thorwege“, der heißt

„Augenblick“. [Z 200] Zarathustra fragt den Zwerg, ob auch er glaubt, dass die Wege,

die Zarathustra dargelegt hat, sich ewig widersprechen. Der Zwerg antwortet

überraschend: „Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“. [Z 200]

Zarathustras Reaktion (er spricht „zürnend“) zeigt, dass die Antwort nicht diejenige ist,

die er erwartete. Der Zwerg entnimmt Zarathustra seinen abgründlichen Gedanken,

wenn er, bevor Zarathustra die Möglichkeit hatte, selber die zirkuläre Zeitauffassung

verkündigt. Zarathustra wirft dem Zwerg als ironische Reaktion vor, dass er es sich

selber als Geist der Schwere „zu leicht“ macht. [Z 200] Wie Loeb meines Erachtens zu

Recht bemerkt, ist es nicht so, dass der Zwerg wirklich an den Kreis glaubt.132 Bevor er

den Wiederkunftsgedanken ausspricht, „mürmelt“ der Zwerg ja „verächtlich“, „Alles

Gerade lügt“. [200; Hervorhebung von mir, sj] Dass er unmittelbar nachher über den

Kreis spricht, entnimmt der Aussage ihre Glaubwürdigkeit. Er versucht, Zarathustras

131 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 164. 132 Loeb: The Death of Nietzsche’s Zarathustra. S. 54.

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Stärke zu schütteln, indem er unerwartet den abgründlichen Gedanken seines Gegners

vorwegnimmt. Wenn Zarathustra abwertend reagiert, verneint er nicht die Behauptung,

dass die Zeit selber ein Kreis ist, sondern denjenigen, der eine Behauptung macht, die er

selber nicht wirklich kennt oder trägt. Obwohl der Zwerg über sein Verständnis einer

zirkulären Ewigkeit lügt, ist die Lüge meiner Meinung nach eine der wichtigsten

Aussagen einer anderen Figur im ganzen Zarathustra. Das weitere Gespräch mit dem

Zwerg, in dem nur noch Zarathustra spricht, reflektiert Zarathustra über seinen

abgründlichen Gedanken. Zarathustra gebraucht bzw. braucht den restlichen

Augenblick „to prove precisely this“, nämlich „that time is a circle“.133 Zarathustra

richtet seine Argumentation – und ist es das, was die Lüge des Zwerges so wichtig

macht – zwar an den Zwerg („was hältst du Zwerg von diesem Augenblick?“), aber er

argumentiert vor allem mit und in sich selber. Nachdem er zu seiner Schlussfolgerung

gekommen ist („und ich und du im Thorwege [...] – müssen wir nicht Alle schon

dagewesen sein? – und wiederkommen [...]? [Z 200; Hervorhebung von mir, sj]),

erkennt Zarathustra selber, dass er „immer leiser“ redete, „denn ich fürchtete mich vor

meinen eignen Gedanken und Hintergedanken“. [Z 201] Zarathustra erschrickt von

demjenigen, das er selber sagt. Die Konklusion, dass alle Menschen, sowohl die kleinen

als auch die großen, ewig wiederkehren, beängstigt ihn, weil er sie erst jetzt, während

seiner Auseinandersetzung, denkt. Er redet leiser, weil Reflektion und Sprache simultan

laufen und er sich erst im Sprechen zum ersten Mal der Kraft seiner Aussage bewusst

wird. Dass Zarathustra in dem Moment nicht mehr zum Zwerg redet, sondern vor allem

zu sich selber, unterstreichen auch die nächsten Szenen. Plötzlich hört Zarathustra einen

Hund heulen, der ihn an seine Kindheit erinnert. Er fragt sich, „hörte ich jemals einen

Hund so heulen? Mein Gedanke lief zurück. Ja! Als ich Kind war, in fernster Kindheit“.

[Z 201] Nachdem er seine Erinnerung erweitert hat, denkt er plötzlich an den Zwerg

zurück und fragt sich: „Wohin war jetzt Zwerg? Und Thorweg? Und Spinne? Und alles

Flüstern?“ [Z 201] Zarathustra sitzt während seiner Argumentation über die ewige

Wiederkunft so sehr in seinen eigenen Gedanken fest, in denen er plötzlich den Hund

heulen hört, dass er den Zwerg und den Torweg einfach vergisst. Die Verschiebung ist

also nicht eine thematische, sondern eine kommunikationsorientierte. Zarathustra

spricht nicht mehr zu einer äußeren, sondern zu einer inneren Welt, in der er für sich 133 Loeb: The Death of Nietzsche’s Zarathustra. S. 200.

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selber seinen abgründlichen Gedanken überdenkt. Das Gesicht über den Hund, den

Menschen, den Hirten und die Schlange ist meines Erachtens, so wird Zarathustra im

Kapitel „Der Genesende“ auch selber bestätigen, Zarathustras persönliche Verarbeitung

seines eben jetzt ausgesprochenen Gedankens. Obwohl die Erinnerung an den Hund und

die Szene mit dem Hirten einander inhaltlich fernzustehen scheinen – sie werden auch

in der Erzählung nicht miteinander verbunden, die Szenen wechseln einfach plötzlich –,

sind sie in diesem „Augenblick“ schon miteinander verbunden. Die beiden

thematischen Linien spiegeln die zwei Wege wider, über die Zarathustra zum Zwerg

sprach, die zwei Gesichter, die in diesem Augenblick eine Einheit bilden. Die „lange

Gasse zurück“, das ist der Weg der Vergangenheit, die Erinnerung an den heulenden

Hund, über den Zarathustra sagte, „Mein Gedanke lief zurück“. [Z 201; Hervorhebung

von mir, sj] Die lange Gasse zurück ist ein Weg, der gerade in dem Augenblick auch

mit der Gegenwart verknüpft ist, so wie auch Zarathustra den Hund im Jetzigen sieht.

Der Augenblick wird aber nicht nur von der Vergangenheit bestimmt, sondern auch von

der Zukunft, von der „lange[n] Gasse hinaus“ [Z 199], von dem Hirten, „dem eine

schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng“. [201] In der Szene über die

Schlange ist Zarathustra selber nur ein Zuschauer, in seinem Miterleben zeigt er aber,

dass seine Rolle nicht nur passiv ist. Wenn die Schlange dem Hirten in den Schlund

kriecht, schreit er: „Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!“ [Z 201] Er berichtet

über dieses Schreien; „[M]ein Grauen, mein Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein

Gutes und Schlimmes schrie mit Einem Schrei aus mir“. [Z 202] Das Gesicht, per

definitionem eine Zukunft in der Gegenwart, erleichtert ihn. Zarathustra weist in seiner

Frage an sich selber bzw. an die Schiffsleute explizit auf die zukünftige Funktion seiner

Geschichte hin. Er fragt: „Und w e r ist, der einst noch kommen muss? Wer ist der Hirt,

dem also die Schlange in den Schlund kroch? W e r ist der Mensch, dem also alles

Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?“ [Z 202; Hervorhebung von

mir, sj] Wenn der Hirt, so erzählt Zarathustra, nachdem er seine Frage gestellt hat, den

Kopf der Schlange abbeißt, verschwindet er. Er ist eben kein Mensch mehr, sondern

„ein Verwandelter“, [Z 202] der lacht, wie kein Mensch lacht. Zarathustra erzählt den

Schiffsleuten: „[N]un frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird“.

[Z 202] Seitdem er im Jetzt, in diesem Augenblick, seine Zukunft gesehen hat, verlangt

Zarathustra nichts anderes als diese Zukunft. In der Verknüpfung von Vergangenheit

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und Zukunft ist dieses Augenblick von Zarathustra so gewollt, dass er es eben „ertrüge

[...], jetzt zu sterben“. [Z 202] Es gelingt Zarathustra trotzdem nicht, das Gesicht zu

deuten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzudenken, obwohl er aufs

Neue schon die Schlüssel des Rätsels in seinen Händen trägt. Erst wenn Zarathustra die

Zukunft deuten kann, kann die Zukunft werden.

Obwohl die inhaltliche Rolle des Gesprächspartners, sowohl in der externen als

auch in der internen Begegnung, eigentlich minimal ist, ist ihre formale Anwesenheit

für Zarathustras Entwicklung, die in diesem dritten Teil zur ewigen Wiederkunft führt,

fundamental. Die Schiffsleute vertreten inhaltlich eben keine minimale Rolle, ihr

Dasein bietet Zarathustra aber die Möglichkeit, sich selber zu lehren. Das inhaltliche

Gewicht des Zwerges ist größer: Nicht nur ist er in Zarathustras schwerem Kampf durch

den ganzen dritten Teil hindurch ein permanenter Faktor; anhand seines Statements

über den abgründlichen Gedankens zwingt er Zarathustra auch, über diesen

abgründlichen Gedanken zu reflektieren. Zarathustra schlussfolgert zwar, dass nicht das

große, sondern auch das kleine Leben ewig wiederkehrt, aber, da das Gesicht auch für

ihn noch ein Rätsel bleibt, hat er die Schlussfolgerung selber noch nicht gelernt.

3.2.2 „Der Genesende“

Das Kapitel „Der Genesende“ enthält den zweiten bestimmenden Dialog dieses dritten

Teils und baut thematisch und inhaltlich auf „Vom Gesicht und Räthsel“ weiter. Die

Gesprächspartner sind in diesem Kapitel die Tiere, die eine viel aktivere Rolle spielen

als das Publikum in „Vom Gesicht und Räthsel“, das tatsächlich ein Publikum war, das

zuhörte. Die Tiere hören Zarathustra nicht nur zu, sondern reden auch zu ihm. Während

die Begegnungen (sowohl die ‚echte’ mit den Schiffsleuten als auch die ‚visionäre’ mit

dem Zwerg) in „Vom Gesicht und Räthsel“ prägend waren, weil sie Zarathustra zur

Reflektion zwangen, ist der Einfluss des Gesprächs mit den Tieren für Zarathustra vor

allem um ihrer spezifischen Worten willen groß. So wie „Vom Gesicht und Räthsel“ ist

auch „Der Genesende“ in zwei Teile verteilt. Der erste Teil berichtet über Zarathustras

Heraufbeschwören des abgründlichen Gedankens. Der zweite Teil ist die eigentliche

Konversation zwischen Zarathustra und seinen Tieren, die ihm erzählen, dass er der

Lehrer der ewigen Wiederkunft ist.

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Das Kapitel fängt „eines Morgens“ an, wenn Zarathustra noch nicht lange zu

seiner Höhle – im ganzen Zarathustra einem Ort der wachsenden Weisheit –

zurückgekehrt ist. An dem Morgen „sprang Zarathustra von seinem Lager auf wie ein

Toller, schrie mit furchtbarer Stimme und gebärdete sich, als ob noch Einer auf dem

Lager läge, der nicht davon aufstehn wolle“. [Z 270] Derjenige, der sich zu ihm gesellt

und den er jetzt wachruft, ist der abgründliche Gedanke, über den er schon im Gesicht

theoretisch reflektierte, aber als Rätsel noch nicht deuten konnte. Das Geschrei weckt

auch seine Tiere, die, im Gegensatz zu den anderen Tieren, die „davon huschte[n]“ [Z

270], Zarathustra nähern und ihn zu seinem abgründlichen Gedanken reden hören.

Zarathustra redet:

Herauf, abgründlicher Gedanke [...]! Ich bin dein Hahn und Morgen-Grauen, verschlafener Wurm [...]! Meine Stimme soll dich schon wach krähen! Knüpfe die Fessel deiner Ohren los: horche! Denn ich will hören! [...] Und wische den Schlaf und alles Blöde, Blinde aus deinen Augen! Höre mich auch mit deinen Augen: meine Stimme ist ein Heilmittel noch für Blindgeborne. Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben. [...] Heil mir! Heran! Gieb die Hand [...]! [Z 270-271]

Sehr auffallend in Zarathustras Anrede ist die doppelte Beziehung zwischen ihm und

seinem Gedanken, die er fast in jeder Metapher betont. So ist Zarathustra derjenige, der

seinem Gedanken befiehlt, die Ohren ‚loszuknüpfen’, gerade weil er selber hören will.

Zarathustra ist derjenige, der ihm befiehlt, zuzuhören und geheilt zu werden, gerade

weil er selber geheilt werden will. Indem er sich selber als krähender Hahn darstellt,

suggeriert er zugleich, er will selber geweckt werden. Der Imperativ „Gieb die Hand“

ist für ihre Verknüpfung, so wie Zarathustra sie hier kreiert, exemplarisch: Wenn er

seinen abgründlichen Gedanken bei den Händen fasst, weckt er ihn auf (er verbindet

sich mit seinem Gedanken), aber auch umgekehrt (der Gedanke verbindet sich mit ihm).

Weil der abgründliche Gedanke sich nur schlafend zu ihm gesellte, konnte er selber

nicht aufwachen, d.h., der abgründliche Gedanke war ihm nur latent klar, war schon

fassbar, aber noch nicht völlig (er)kennbar, daher auch nicht tragbar. Schon in diesen

Worten Zarathustras spiegelt sich also der Titel des Kapitels wider: Zarathustra ist

derjenige, der geheilt wird, indem er gebärt. Am Ende seiner Rede zu dem

abgründlichen Gedanken endet auch der erste Teil des Kapitels.

Der Anfang des zweiten Teils beschreibt den Effekt, den Zarathustras Worte auf

ihn selber haben. Er stützt „gleich einem Todten“ [Z 271] nieder. Sieben Tage will er

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nicht essen oder trinken. Bennholdt-Thomsen spricht von einem „Erkenntnistod“.134 Sie

behauptet, dass Zarathustra während dieser sieben Tage seinen abgründlichen Gedanken

anerkennen lerne. Ich würde aber jetzt noch nicht von Erkenntnis reden, weil der

Begriff die erkennende Rolle der Tiere minimiert. Meines Erachtens sind Zarathustras

Schlaf, in dem er einem Toten gleicht, und seine Verweigerung, zum essen und trinken

– beide tauchten übrigens auch im Kapitel „Der Wahrsager“ auf, wo Zarathustra

ebenfalls schläft und drei Tage weder isst noch trinkt, nachdem er die Rede des

Wahrsagers gehört hat – vor allem eine Weise, sich dem externen Leben zu entziehen

und lediglich in Gedanken zu verweilen. Solche Krisen Zarathustras tauchen nämlich

immer auf, nachdem er oder jemand anders für seine Entwicklung weittragende Worte

gesprochen hat; Worte, die Zarathustra in sich selber durchdenken muss.

Während seiner Isolation gesellen sich seine Tiere Tag und Nacht zu ihm. Bis

hierher war die Rolle der Tiere ziemlich beschränkt, obgleich sie oft anwesend waren.

Sie, ein Adler und eine Schlange, umgaben ihn schon im ersten Teil der Vorrede (als

Zarathustra zu der Sonne redete, sagte er, „du würdest seines Lichtes und dieses Weges

satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange“ [Z 11]), fliegen am

Ende der Vorrede durch die Luft (Zarathustra bezeichnet sie als „das stolzeste Thier

unter der Sonne und das klügste Thier unter der Sonne“ [Z 27]), werden von Zarathustra

nach dem Traum über das Kind mit dem Spiegel angeredet („Was geschah mir doch,

meine Thiere?“ [Z 106]) und werden in „Die Heimkehr“ als Hinweis auf das Ende der

Vorrede genannt als die, die Zarathustra führen würden („als du sprachst: mögen mich

meine Thiere führen!“ [Z 232]). Obwohl die Tiere nicht immer expliziert werden,

bekommt man das Gefühl, dass sie Zarathustra im Laufe der drei Teile immer nahe

sind. Die permanente implizite Anwesenheit ist dasjenige, auf dem meines Erachtens

ihre Autorität, die sie in „Der Genesende“ demonstrieren werden, beruht. Sie haben sich

in jeder Phase seiner Entwicklung zu Zarathustra gesellt. Wenn jemand Zarathustra

kennt (außer Zarathustra selbst), dann die Tiere. Wenn Zarathustra nach sieben Tagen

wieder aufwacht – es wird beschrieben, wie er „einen Rosenapfel in die Hand [nahm],

daran [roch] und seinen Geruch lieblich“ fand; dieser Rosenapfel wurde von dem Adler

geholt – fangen seine Tiere an, mit ihm zu reden, denn „die Zeit sei gekommen“. [Z

271] Sie laden Zarathustra dazu ein, aus seiner Einsamkeit herauszutreten. Die Welt 134 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 92.

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warte auf ihn: „alle Bäche möchten dir nachlaufen“, „alle Dinge sehnen nach dir“. [Z

272] Aufs Neue, diesmal also in den Worten der Tiere, fällt eine doppelte Beziehung

auf, so wie es auch in Zarathustras Rede zum abgründlichen Gedanken der Fall war. Die

Welt wartet auf Zarathustra, als wolle sie von ihm geweckt werden, zugleich aber

wollen „alle Dinge [...] deine Ärzte sein!“ [Z 272] Zarathustra, der als „Fürsprecher des

Lebens“ [Z 271] aufwachen will, wird zugleich von allen Dingen, d.h. von der Welt

selber geweckt. Die Tiere, die da waren, als Zarathustras Becher in der Vorrede fast

überfloss, und auch als Zarathustras Fülle am Anfang des zweiten Teil sogar schmerzte,

sagen ihm jetzt: „Kam wohl eine neue Erkenntnis zu dir, [...] deine Seele gieng auf und

schwoll über alle ihre Ränder“. [Z 272] Diesmal ist es also nicht Zarathustra, sondern

sind es seine Tiere, die das Bild des überfließenden Bechers variieren. Anhand dieser

Frage zeigen sie, dass sie nicht nur Zarathustra kennen (sie sehen seine Weisheit

wachsen), sondern auch seine Rhetorik. Obwohl ich meine, dass Lampert Recht hat,

wenn er zum Beispiel behauptet, dass Heidegger zu viel von den Tieren erwarte, und

dass die Tiere nicht Zarathustras Perspektive teilen, glaube ich, dass er die Bedeutung

der Tiere unterschätzt.135 In Bezug auf die ewige Wiederkunft bemerkt Lampert, dass,

obwohl auch die Tiere über „das [ewig rollende] Rad des Seins“ reden, sie trotzdem

nicht Zarathustras Sprache sprechen: Sie erwecken den Eindruck, als ob sie meinen,

was Zarathustra später selber meint, aber laut Lampert „they represent the point of view

of things redeemed, not that of the redeemer“.136 Ob diese Analyse eine korrekte ist, soll

später deutlich werden. Es wäre meines Erachtens aber nuancierter gewesen, wenn

Lampert zugleich erkannt hätte, dass die Tiere zum Beispiel in Bezug auf die

schwellende Erkenntnis schon Zarathustras Rhetorik übernehmen, nicht in der Form

leerer Wörter. Weil Lampert nur auf ihre Wiederkunftsprache achtet, ist seine

Interpretation der Tiere eine reduzierte.

Auf die Fragen seiner Tiere reagiert Zarathustra sowohl abwertend als auch

amüsiert. Er antwortet: „Oh meine Thiere, [...] schwätzt also weiter und lasst mich

zuhören! Es erquickt mich so, dass ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da liegt mir schon

die Welt wie ein Garten“. [Z 272] Zarathustra betrachtet die Wörter seiner Tiere als

„[G]eschwätz“ [Z 272], d.h., er nimmt sie nicht ernst, aber findet sie schon amüsant.

135 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 213. Heidegger: Nietzsche I. Pfullingen: Neske 1961. S. 308. 136 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 213.

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Obwohl er ihnen ironisch befiehlt, ihn zuhören zu lassen, als wolle er gar nicht zuhören,

zeigt er aber zugleich, dass er seine Tiere tatsächlich gehört hat. In ihrem Versuch,

Zarathustra davon zu überzeugen, aus seiner Höhle hinauszutreten, sprechen sie zu ihm:

„[D]ie Welt wartet dein wie ein Garten“. [Z 271-272] Zarathustra übernimmt den Satz

in seiner Antwort, bewertet ihn als Geschwätz, aber signalisiert so, dass er über ihre

Fragen nachgedacht hat. Seine ganze Antwort ist im Grunde eine Reflexion über die

Wirkung von Sprache. Die Sprache seiner Tiere, das Geschwätz, in dem ihm die Welt

tatsächlich wie ein Garten liegt, ist für Zarathustra ein Anlass, über die ganze

lügnerische Sprache zu sprechen. Für Zarathustra sind Worte und Töne „Regenbogen

und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem“. [Z 272] Anhand der Sprache

„lügt“ [Z 272] man Verbindungen, verknüpft man die Dinge, die ‚ursprünglich’ nicht

zusammen gehören. Zarathustra stellt sich deshalb die Frage: „Für mich – wie gäbe es

ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen!“ [Z 272] Die Welt kann laut dieser

Sprachauffassung keine dem Menschen externe Gegebenheit sein, sondern existiert als

Ganzes, als Einheit nur in der und durch die Sprache. Zarathustra konkludiert: „das

Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge“. [Z 272] Anders gesagt, das

Sprechen ist für Zarathustra immer ein Tanz, ein Spiel. Anhand der Sprache schafft man

sich die Dinge. Obwohl die plötzliche sprachliche Reflexion etwas fremd anmutet, zeigt

sie sehr gut das Verhältnis zwischen Zarathustra und seinen Tieren. Die Tiere antworten

nämlich: „Solchen, die denken wie wir, tanzen alle Dinge selber“. [Z 272] In Bezug auf

diesen Satz bemerkt Lampert, dass die Tiere den Unterschied zu Zarathustra markieren,

indem sie nicht nur Zarathustras Schlussfolgerung widersprechen, sondern auch

Folgendes hinzufügen: „Solchen, die denken wie wir“, also eigentlich sagen (und

anerkennen), dass Zarathustra nicht denkt, wie sie denken.137 „The difference between

what Zarathustra and his animals say is a difference of perspective“, so meint

Lampert.138 Für die Tiere ist die Welt, zu der sie selber gehören, an sich tanzend. Für

Zarathustra ist die Welt, zu der er gehört, denn es gibt kein Außen, erst tanzend in

seinem Schaffen. Wenn die Tiere in ihrer jetzigen Antwort auf eine Version der ewigen

Wiederkunft hinweisen – eine Version, denn sicherlich nicht die, von der Zarathustra

später genesen wird –, hat Zarathustra diese Version schon auf zwei Ebenen im Voraus

137 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 214. 138 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 214.

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verneint. Anhand ihrer Antwort, so bemerkt auch Lampert, nehmen sie Zarathustras

Einladung an, weiter zu schwätzen und ihn zuhören zu lassen.139 Das bedeutet, dass,

unabhängig von dem, was sie jetzt sagen, Zarathustra ihre Antwort sowieso als

Geschwätz betrachtet. Zarathustra entnimmt ihren Aussagen jede Glaubwürdigkeit. Das

heißt aber nicht, dass die Aussagen unglaubwürdig sind. Außerdem sind die Tiere sich

ihres Geschwätzes nicht bewusst, denn sie glauben zum Beispiel, dass die Welt

tatsächlich wie ein Garten wartet und dass das Warten eine außersprachliche

Wirklichkeit ist; ein Perspektivwechsel, den sie selber hervorheben. Dasjenige, was sie

über die Welt sagen, kann also einfach nicht Zarathustras Perspektive sein. Meines

Erachtens, und das meinen auch Lampert und Salaquarda, bedeutet das nicht, dass ihre

Antworte unwichtig wären.140 Die Tiere fassen einfach eine andere Perspektive in

Worte, eine Perspektive, auf die Zarathustra reagiert, und die also zu seiner eigenen

Position Anlass gibt. In ihrer Kreismetaphorik konzentrieren sich die Tiere stark auf das

Sein. So sagen sie, „ewig rollt das Rad des Seins. [...] [E]wig läuft das Jahr des Seins.

[...] [E]wig baut sich das gleiche Haus des Seins. [...] [E]wig bleibt sich treu der Ring

des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein“. [Z 272-273; Hervorhebungen von mir, sj]

Obwohl sie für eine zirkuläre Zeitauffassung plädieren, ist ihre Ewigkeit deutlich eine,

die ist. Ihre Idee der ewigen Wiederkunft ist eine Konsequenz ihrer Weltauffassung:

Die Dinge sind für sie tanzende Dinge. Für Zarathustra ist es der Mensch, der über alle

Dinge tanzt, d.h., durch den die Dinge tanzend werden. Zarathustras ewige Wiederkunft

ist nicht eine, die ist, sondern eine, die wird.

Zarathustras Reaktion überrascht nicht: „Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln!

antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen

erfüllen musste“. [Z 273] Wie er vorhergesagt hat, erscheint die Antwort seiner Tiere

als lächerlich. Ironisch bemerkt er deshalb, dass sie fast den Eindruck erwecken, als

wissen sie, was er, während der sieben Tage, in denen er sich aus der Welt zurückzog,

erlebt bzw. erkannt hat. Die Ironie, die Lampert zum Beispiel nicht sieht, schließt

meines Erachtens nicht aus, dass Zarathustra ihre teilweise richtige Einschätzung

139 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 214. 140 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 214. Auch Salaquarda behauptet, dass Zarathustra die Perspektive seiner Tiere nicht teilen kann, ihre Worte aber trotzdem wichtig sind, da sie Zarathustra auffordern, sein Konzept der ewigen Wiederkunft zu überdenken. Siehe dazu: Jörg Salaquarda: “Die Grundconception des Zarathustra”. In: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Hg. von Volker Gerhardt. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 69-92. S. 89.

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erkennt. Unmittelbar nach dieser Aussage folgt ein Doppelpunkt, als werde Zarathustra

jetzt erweitern bzw. bestätigen, was sich in sieben Tagen erfüllt hat. In der

‚Erweiterung’ weist er auf das Gesicht aus „Vom Gesicht und Räthsel“ hin und deutet

es: „[U]nd wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss

ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir“. [Z 273; Hervorhebung von mir]

Zarathustra identifiziert sich jetzt mit dem Hirten, der die „schwarze schwere Schlange“

[Z 201; Hervorhebung von mir, sj], Symbol für den Geist der Schwere, letztendlich den

Kopf abbiss. Zarathustra beschwor seinen abgründlichen Gedanken herauf, befahl ihm,

seine Hand zu fassen. Nachher zieht er sich sieben Tage in vollkommene Isolation

zurück. Das, was „über alle [...] Ränder“ [Z 272] seiner Seele schwoll, ist dies: Wenn er

den abgründlichen Gedanken tragen will, muss er dem Geist der Schwere den Kopf

abbeißen, nicht, indem er die Wiederkunftsversion des Zwergs verneint, sondern ihn

gerade anerkennt. Wenn er der schweren Schlange den Kopf abbeißt, ist der Zwerg

keine Schlange mehr, die ihn beschwert. Zarathustra wirft den Tieren aber vor, dass sie

aus dieser Erkenntnis „ein Leier-Lied“ gemacht haben. Das heißt, dass sie laut

Zarathustra tatsächlich die Deutung des Gesichts schon kannten, aber daraus ein Lied

machten, das, so Lampert, „brings harmony to cosmic disorder“.141 Auch wenn sie

schon Zarathustra als den Hirten deuteten, ist das Lied, das sie aus dem Gesicht

machten, nicht die Deutung Zarathustras, weil sie eine Einheit in ihr Lied

hineinprojizieren, ohne zu erkennen, dass die Einheit nicht schon da war. Die

Sprachreflexion ist also nicht nur ein Intermezzo, sondern wird auch in den

Wiederkunftsgedanken, von dem das Gesicht handelt, sichtbar.

Zarathustra „erinnert sich seiner Krankheit“ [Z 275], so konkludiert der Erzähler

am Ende der Antwort Zarathustras. Seine Krankheit war der Kampf, den er mit seinem

abgründlichen Gedanken kämpfte, die Konsequenz seiner ewigen Wiederkunftsidee,

dass auch „der kleine Mensch ewig wieder[kehrt]“. [Z 274] Der Kampf war einer, den

er alleine kämpfte, so wirft er seinen Tieren vor. Obwohl sie wussten, welche

Schmerzen er erlitt, haben sie zuschauen wollen. Schon in dieser Konstellation zeigt

sich die Krankheit, das Unvermögen, um auch in aller Ewigkeit den kleinen Menschen

zu wollen: Die Tiere machten nichts, schauten einfach „[s]einem grossen Schmerze“ zu. 141 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 216. Lampert behauptet nämlich, “the lyre is […] the instrument that brings harmony to cosmic disorder. […] In Zarathustra’s own songs of redemption the Dionysian flute replaces the Apollonian lyre”.

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[Z 273; Hervorhebung von mir, sj] Zarathustra nennt sie daher „grausam“, so wie der

Mensch „das grausamste Thier“ ist. [Z 273] Das, was Zarathustra grausam nennt, ist die

Feigheit des kleinen Menschen, der nicht den Mut hat, sich selber zu erheben.

Zarathustra sagt: „Wenn der grosse Mensch schreit –: flugs läuft der kleine hinzu; und

die Zunge hängt ihm aus dem Halse vor Lüsternheit. Er aber heisst es sein ‚Mitleiden’“.

[Z 273] Der kleine Mensch ist also von Größe, die unvermeidlich schmerzt, fasziniert,

aber versucht nicht, selber die Größe zu erreichen, weil er seine Lüsternheit, die zur

aktiven Erhebung führen kann, zu Mitleiden umdeutet, das sowohl eine passive

Legitimation der eigenen Kleinheit als auch eine Abwertung der anderen Größe umfasst

und in dem Sinne eine Rache ist. Der Unwille des kleinen Menschen ist also ein

sprachlich umgewertetes Verlangen, dass das eigene Leben vereinfacht, eine Erfindung

des „Dichter[s]“. [Z 273] Nicht diese kleinen Menschen sind aber Zarathustras

Krankheit, sondern, so behauptet auch Lampert, seine Krankheit ist die Rache, die

Zarathustra den kleinen Menschen selber gegenüber fühlt.142 Die schwere Schlange, die

Zarathustra in den Schlund kroch, war „der grosse Überdruss am Menschen“, so sagt

Zarathustra selber, und die Wahrsagung des Wahrsagers, „Alles ist gleich, es lohnt sich

Nichts, Wissen würgt“. [Z 274] Wie ich schon dargelegt habe, beißt Zarathustra nicht

dem schweren, kleinen Menschen den Kopf ab, sondern der Tatsache, dass er sich von

ihm beschweren lässt. Die Krankheit, die Zarathustra „unkte und würgte und nagte und

klagte bei Tag und Nacht“ hieß: „ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine

Mensch kehrt ewig wieder!“ [Z 274] Die Tiere unterbrechen Zarathustras Rede. Sie

antworten, „Sprich nicht weiter, du Genesender! [...] sondern geh hinauf, wo die Welt

auf dich wartet gleich einem Garten“. [Z 275] Die Tiere sind die ersten, die Zarathustras

Krankheit eine Genesung gegenübersetzen. Sie sind die ersten, die Zarathustra

benennen als den, der, laut die doppelte Bedeutung von ‚genesen,’ zugleich geheilt ist

und gebärt, die ersten, die also die Metaphorik, die Zarathustra schon in Bezug auf seine

Schüler verwendete (cf. supra: 1.2.2), auf ihn beziehen. Das heißt, dass sie zum zweiten

Mal Zarathustras eigene Rhetorik übernehmen, um ihn anhand derselben korrekt zu

diagnostizieren. Anhand des Wortes „Genesender“ verdeutlichen sie, dass Zarathustra

sich von seiner Krankheit erlöst hat, also den abgründlichen Gedanken anerkennt, aber

dass er so zugleich etwas zur Welt bringt: die Lehre der ewigen Wiederkunft. Sie 142 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 217.

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betonen aber ihre eigene (für Zarathustra unglaubwürdige) Perspektive, da sie den Satz,

den Zarathustra als Beispiel ihres Geschwätzes nannte („wo die Welt auf dich wartet

gleich einem Garten“), gerade jetzt wiederholen. Das ‚Paradox’ der Tiere ist also, dass

sie Zarathustra, ohne seine Perspektive zu vertreten, doch deuten können. Auch er kann

sich selber inzwischen deuten, aber es sind die Tiere, die seine geistige Entwicklung

jedes Mal anhand eines Namens bestimmen. Wenn Zarathustra antwortet, „lächelt“ er

aufs Neue, sagt er, meines Erachtens, auch aufs Neue etwas Ironisches: „Wie gut ihr

wisst, welchen Trost ich mir selber in sieben Tagen erfand!“ [Z 275] Die Ironie hat das

Paradox inne: Zarathustra weiß, dass sie nicht denken, wie er denkt, aber ihn trotzdem

verstehen. Die Ironie verneint für mich also nicht ihre Erkenntnis. Die Tiere empfehlen

Zarathustra nämlich zu singen, denn „Singen nämlich ist für Genesende“. [Z 275] Jetzt

behauptet Zarathustra: „Dass ich wieder singen müsse, – d e n Trost erfand ich mir und

d i e s e Genesung: wollt ihr auch daraus gleich wieder ein Leier-Lied machen?“ [Z 275]

Tatsächlich, so zeigen „Das andere Tanzlied“ und „Die sieben Siegel“, wird Zarathustra

erst in den Liedern genesen, tatsächlich ist „Singen“ also „für Genesende“. [Z 275]

Zarathustra verneint also nicht, dass die Aussagen seiner Tiere schon glaubwürdig sind,

bestätigt sie eben, aber hebt zugleich ihr, so vermutet er, Unverständnis hervor in der

Frage, ob sie auch die Genesung zu einem Leierlied machen werden. Die Tiere aber

machen gar kein Lied daraus, sondern empfehlen Zarathustra gerade, zuerst selber eine

Leier zu machen und zu dieser neuen Leier neue Lieder zu komponieren. Sie erkennen

also, meiner Meinung nach, dass sie Zarathustras Lied nicht selber singen können. Die

Lieder Zarathustra seien nur Zarathustras Lieder, zu denen er eben ein neues

Instrument brauche, um sie überhaupt kreieren und spielen zu können. Das Lied, das die

Tiere singen, das Lied über Zarathustra, will also meines Erachtens nicht sein Lied

sein. In dem Sinne ist das Paradox der Tiere eben kein Paradox: Sie erkennen, dass sie

anders sind als Zarathustra, aber die selbstbewusste Andersheit impliziert nicht, dass sie

Zarathustra nicht verstehen, eben richtig deuten können. Die Konversation mit den

Tieren ist meines Erachtens nicht um ihrer Lieder willen wichtig, sondern um der

Benennungen willen, anhand deren sie Zarathustra deuten und anhand deren Zarathustra

sich selber deuten kann. Wie Lampert bemerkt, ist das ‚Lied’ der Tiere über die ewige

Wiederkunft, das sie jetzt zu singen anfangen, nicht Zarathustras Lied.143 Zarathustra, 143 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 220-222.

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den die Tiere den „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ [Z 275] nennen, soll ja sein eigenes

Lied singen. Die Tiere, nicht als Lehrer, sondern als Schüler der Lehre, behaupten zu

wissen, was Zarathustra lehrt. Nach Lampert machen sie aber aus Zarathustras Lehre

ihre eigene Version, die weniger groß sei (sie behaupten zum Beispiel: „so dass alle

diese Jahre sich selber gleich sind, im größten und auch im Kleinsten“ [Z 276]; so

konzentrieren sie zu stark auf ihre ewige Kleinheit), einfach, weil sie selber nicht groß

seien.144 Die Erklärung finde ich aber selber ‚zu klein’. Lampert hat Recht, wenn er

behauptet, dass die Tiere die ewige Wiederkunft nicht verstehen, wie Zarathustra sie

jetzt versteht. Trotzdem glaube ich, dass auch in ihrer Interpretation eine geistige

Entwicklung sichtbar wird, so wie auch Zarathustra den Gedanken während einer

langen Zeit entwickelt hat. Wenn die Tiere vorher über die ewige Wiederkunft redeten,

dachten sie sie als einen Zustand des Seins, wie ich erwähnt habe. Jetzt aber sprechen

sie nie über das Sein, sondern über „ein grosses Jahr des Werdens“. [Z 276;

Hervorhebung von mir, sj] Zwar ist ihre ewige Wiederkunft der Wiederkunft

Zarathustras nicht gleich, aber auch ihr Denken entwickelt sich. Heidegger bemerkt,

dass die Tiere Zarathustra außerdem nicht nur als den Lehrer der ewigen Wiederkunft

fixieren, sondern auch hinzufügen, „deine Tiere wissen es wohl, o Zarathustra, wer du

bist und werden musst“.145 [Z 275] Das bedeutet, dass die Tiere sowohl sehen, wer

Zarathustra ist, als auch verstehen, dass er diesen Lehrer erst noch werden muss. In den

drei letzten Kapitel wird Zarathustra sich als diesen Lehrer zeigen.

Wenn die Tiere zu reden aufhören, erwarten sie eine Reaktion. Zarathustra

antwortet aber nicht, hört eben nicht, dass sie schweigen. Zarathustra befindet sich aufs

Neue in einem Zustand der Kontemplation: „[E]r unterredete sich [...] mit seiner Seele“.

[Z 277] Die Schlange und der Adler bleiben diesmal aber nicht in Zarathustras Nähe,

sondern „ehrten die grosse Stille um ihn und machten sich behutsam davon“. [Z 277]

Obwohl der Erzähler eine Szene porträtiert, in der der eine Gesprächspartner nicht mehr

zuhört, die anderen weggehen, zeigt genau diese (Non-)Konstellation ihren

gegenseitigen Einfluss. Als Lehrer der ewigen Wiederkunft weiß Zarathustra, so wie er

es am Ende des ersten Teils schon wusste, dass seine Tiere ihre eigene Wiederkunft

suchen bzw. weiterentwickeln müssen. Das Schweigen interpretiere ich also nicht als

144 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 220-222. 145 Heidegger: “Wer ist Nietzsches Zarathustra?”. S. 104.

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Verneinung, sondern als Anerkennung. Seine Kontemplation demonstriert eben den

Effekt, der seine Tiere auf ihn haben, ihren Anlass zur Reflexion. Auch nach der Rede

des Wahrsagers, auch nach dem Heraufbeschweren seines abgründlichen Gedankens

tritt Zarathustra in sich selber zurück. Lampert hat Recht, wenn er bemerkt, dass

Zarathustra angibt, dass er während der sieben Tage aus sich selber das Singen als Trost

erfand, also selber schon singen wollte, bevor die Tiere das Singen empfahlen.146 Wenn

die Tiere aber behaupten, er solle sich zuerst eine neue Leier machen, mit der er neue

Lieder komponieren kann, und Zarathustra am Ende des Kapitels tatsächlich zwei

eigene Lieder singt, in denen er seine Liebe für die Ewigkeit affirmiert, zeigt das meines

Erachtens die beratende Kraft der Tiere, die Zarathustra auch als solche akzeptiert. Das

Schweigen enthält also ein doppeltes Geschenk: Zarathustra hindert die Tiere an ihrer

Entwicklung nicht, die Tiere prägen seine. Außerdem zeigen die Tiere, dass sie nicht

klein bleiben wollen. Während sie sich am Anfang des Kapitels zu Zarathustra in seiner

Isolation gesellten, seine schmerzende Größe anschauten, ehren sie jetzt dadurch „seine

grosse Stille“, dass sie gerade davongehen. In der Tat vertreten Zarathustra und seine

Tiere andere Perspektiven. Die Distanz, die meines Erachtens in der Entwicklung der

Tiere verkleinert, hindert sie aber nicht daran, einander richtig zu sehen. Die Tiere

verschieben den Fokus von dem Lehrer des Übermenschen zu dem Lehrer der ewigen

Wiederkunft, in dessen Gestalt Zarathustra sich in den drei folgenden, letzten Kapiteln

manifestiert. Wenn Zarathustra in „Die sieben Siegel“ singt, „Denn ich liebe dich, oh

Ewigkeit!“ [Z 289; Hervorhebung von mir, sj], hört man in dem Lied zwei Mal die

Worte seiner Tiere echoen: Zarathustra, der jetzt seine Tätigkeit als „Lehrer der ewigen

Wiederkunft“ umarmt, singt sein eigenes Lied.

3.3 Die Begegnungen in Zarathustras Betrachtung Zarathustra und der Erzähler berichten im dritten Teil nur über drei wirkliche

Begegnungen: die mit den Schiffsleuten, in der Zarathustra von dem Geist der Schwere

erzählt, die mit dem „Affen Zarathustra’s“ [Z 222] im Kapitel „Vom Vorübergehen“

und die mit seinen Tieren. Häufig reflektiert Zarathustra über die und andere

Begegnungen in anderen Kapiteln. Sowohl der Zwerg als auch der Possenreißer, mit

146 Lampert: Nietzsche’s Teaching. S. 220.

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dem Zarathustra in der Vorrede ‚sprach’, werden in den Reden im vierten Teil genannt.

Es handelt sich dann im Grunde nicht um neue Begegnungen: Im Mittelpunkt steht jetzt

die Art und Weise, auf die Zarathustra die ‚alten’ Begegnungen in seinen Betrachtungen

funktionalisiert. In diesem letzten Subkapitel werde ich die Begegnungen, wie sie in

Zarathustras Betrachtung erscheinen, analysieren. Nicht weil ich meine, dass

Zarathustras Betrachtung den Einfluss der Begegnungen zeigen würde (das setzt

nämlich voraus, Zarathustra betrachte ihren Wert für seine Entwicklung immer korrekt),

sondern weil es meines Erachtens für eine nuancierte Antwort auf meine Fragen wichtig

ist, auch zu analysieren, wie Zarathustra die Begegnungen in seinen Reden explizit

einsetzt. Dass Zarathustra sie gerade in diesem dritten Teil, in dem er genest, für sich

selber funktional macht, belegt ihren steuernden Wert (selbst wenn sie ex negativo

steuern).

Im Kapitel „Von den Abtrünnigen“ erzählt Zarathustra über die „jungen

Herzen“, die „alle schon alt geworden sind“, über die Jünger, die ihm nach seinem

Abschied untreu geworden sind und behaupten: „wir sind wieder fromm“. [Z 226] In

diesem Kontext unterscheidet Zarathustra zwischen den „Wenige[n], deren Herz einen

langen Muth und Übermuth hat“, und den Anderen, die „f e i g e “ sind, den „Viel-zu-

Vielen“. [226-227] Sich selber rechnet er zur ersten Gruppe und erklärt den Weg, den er

gegangen ist, d.h. den Weg des ersten und des zweiten Zarathustra, inklusiv seiner

wichtigsten Begegnungen. Zarathustra sagt Folgendes:

Wer meiner Art ist, dem werden auch die Erlebnisse meiner Art über den Weg laufen: also, dass seine ersten Gesellen Leichname und Possenreisser sein müssen. Seine zweiten Gesellen aber – die werden sich seine Gläubigen heissen: ein lebendiger Schwarm, viel Liebe, viel Thorheit, viel unbärtige Verehrung. An diese Gläubigen soll Der nicht sein Herz binden, wer meiner Art unter Menschen ist; an diese Lenze und bunte Wiesen soll Der nicht glauben, wer die flüchtig-feige Menschenart kennt! [Z 227]

Zarathustra bezeichnet als seine ersten Gesellen sowohl den Seiltänzer, als auch den

Possenreißer. Die Inkludierung des Seiltänzers soll nicht überraschen, denn Zarathustra

nannte ihn damals bereits seinen „todte[n] Gefährten“. [Z 25] Dass er aber auch den

Possenreißer zu seinen ersten Gesellen rechnet, überrascht vielleicht schon. Obwohl

Zarathustra dem Possenreißer als „Brandstifter“ [Z 12] nicht ferne war, eben „redete[...]

gleich einem Possenreisser“ [Z 23], bezeichnete er ihn nie als einen Gefährten, nannte

er ihn in und nach der Vorrede überhaupt nicht mehr. Die Überraschung hat meines

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Erachtens vor allem damit zu tun, dass Zarathustra die anderen „Gesellen“, die er nennt,

deutlich als Gefährten, als Schüler betrachtete, und wird „Gesellen“ deshalb intuitiv als

Gefährten interpretiert – die beiden Wörter haben ja mehr oder weniger dieselbe

Bedeutung. Wenn Zarathustra den Possenreißer in diese Reihe einfügt, kreiert er einen

überraschenden Effekt, obwohl er auch jetzt nicht behauptet, der Possenreißer sei einer

seiner ersten Gefährten, sondern ihn einen Gesellen nennt. Meiner Meinung nach sind

Gefährten und Gesellen hier nicht synonym. Der Seiltänzer, der Zarathustras erster

Gefährte war, und der Possenreißer gesellten sich zu ihm, nicht, wie seine Schüler sich

zu ihm gesellten, d.h. nicht physisch, sondern psychisch. Zarathustra bestätigt, was er

anhand seiner Sprachmimesis bereits kommunizierte: Dass der Possenreißer ihn nicht

nur zu seinem Weg führte, sondern ihn auch auf diesem begleitete (cf. supra: 1.1.3). Die

Gesellen begleiten aber nicht per definitionem zum Positiven. Wenn Zarathustra über

die zweite Gruppe von Gesellen, seine Schüler, spricht, erweckt er den Eindruck, als

wäre ihre Präsenz nur negativ. Die Schüler werden porträtiert als die „Gläubigen“, die

Zarathustra lieben und verehren, aber trotzdem nicht wirklich an ihn glauben. Sie lieben

ihren großen Lehrer, ohne aber selber groß werden zu wollen. Sobald er sie verlässt,

vergessen sie ihn außerdem sofort, so zeigt nicht nur dieses Kapitel, sondern auch der

Traum von dem Kind mit dem Spiegel, am Anfang des zweiten Teils (cf. supra: 2.2.1).

Aus ihrer Negativität heraus haben sie Zarathustra dazu geführt, seinen Weg neu zu

denken: Als er ihre Blindheit sah, sah er zugleich, dass er nicht sie, sondern sich selber

lehren müsste, (anders) zu sehen. Obwohl Zarathustra sagt, „[a]n diese Gläubigen soll

Der nicht sein Herz binden, wer meiner Art unter Menschen ist“, behauptet er aber

auch: „Wer meiner Art ist, dem werden auch die Erlebnisse meiner Art über den Weg

laufen“, also erkennt er, dass sie eine Funktion in seiner Entwicklung haben, auch wenn

er die Funktion negativ deutet. Nicht sie, sondern Zarathustra konstruierte noch vor

jeder Begegnung eine Identität des Lehrers für sich selber. In seiner eigenen

Betrachtung sollte er Lehrer sein. Seine Schüler boten ihm die Möglichkeit, Lehrer zu

sein, aber zeigten ihm auch, dass er sie nie etwas lehren werde, was dazu führte, dass er

den Fokus auf sich selber verschob. Zu dieser negativen Reihe passt der Possenreißer

schon. Indem der Possenreißer Zarathustra einen Spiegel vorhält („du redetest gleich

einem Possenreisser“ [Z 23]), zeigt er Zarathustra, wie er vom Volk betrachtet wird,

zeigt ihm also, wer dieser nicht sein will. Natürlich, so habe ich in meiner Analyse der

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Vorrede auch betont, sind sie einander in ihrer Bewegung (sie stürzen Andere hinab) im

Grunde ähnlich, aber Zarathustra versucht diese Bewegung seit „Die Reden

Zarathustra’s“ deutlich anders zu funktionalisieren. Das betont er außerdem selber im

vierten Teil des Kapitels „Von alten und neuen Tafeln“, in dem er also aufs Neue vom

Possenreißer spricht. In diesem Teil sagt Zarathustra: „Es giebt vielerlei Weg und

Weise der Überwindung: da siehe d u zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: „der

Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n werden’“. [Z 249] Meines Erachtens setzt

Zarathustra deutlich seine eigene Bewegung, die auf Überwindung gerichtet ist, der

Bewegung des Possenreißers gegenüber, der den Seiltänzer einfach übersprang, damit

er hinunterstürzen würde. Sowohl Überwinden als auch Überspringen setzen voraus,

man will über etwas hinausgehen, aber während der Possenreißer nur über den

Menschen springt, hebt Zarathustra den Menschen in seiner Überwindung mit auf.

Braun behauptet zu Recht, „Die Aktion des Possenreißers, das ‚Überspringen’, ist

dagegen bloß destruktiver Natur“.147 Zarathustras Überwindung ist nicht destruktiv,

sondern gerade konstruktiv, denn in der Überwindung geht man zwar unter, aber nur,

um später über sich selbst hinaufgehen zu können. Zarathustra erwähnt den

Possenreißer in einer Rede, die er an sich selber richtet („Niemand erzählt mir Neues: so

erzähle ich mir mich selber“ [Z 246]), als negatives Beispiel, also will er für sich selber

doch noch mal deutlich ihre unterschiedliche Orientierung unterstreichen.

Zarathustra nennt nicht nur wiederholt den Possenreißer, sondern auch den

Wahrsager, dem er im zweiten Teil begegnet und der in den Reden des dritten Teils

auftaucht. Das wichtigste und, aus seiner Perspektive heraus, deutlichste Mal habe ich

in meiner Analyse von „Der Genesende“ schon erwähnt. Wenn Zarathustra zu seinen

Tieren über seine Krankheit redet, deutet er die Wahrsagung des Wahrsagers, die

Zarathustra formuliert als „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt“, als das,

was ihm „in den Schlund“ kroch. [Z 274] So verknüpft er die Rede des Wahrsagers mit

der visionären Begegnung mit dem Zwerg, den er in seinen Reden ebenfalls häufig

erwähnt. Das hat zur Folge, dass das Kapitel „Der Wahrsager“ zu einem Teil seiner

Krankheit, vielleicht eben zu dem Beginn seiner Krankheit wird. Zarathustra verbindet

die Prophezeiung des Wahrsagers hier deutlich mit seinem Kampf mit den kleinen

Menschen, d.h. zugleich mit seinem Kampf mit der ewigen Wiederkunft, die zum 147 Braun: Quellmund der Geschichte. S. 300.

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Beispiel auch Bennholdt-Thomsen in ihrer Analyse des Wahrsagerstraums betonte.148

Indem Zarathustra die verschiedenen Teile des Rätsels zusammendenkt, ist er imstande,

seine Krankheit zu deuten. In seiner Deutung betont er das Gewicht dieser

Begegnungen für seine Selbstfindung (das Selbst als Lehrer der ewigen Wiederkunft),

hebt aber stärker noch die Totalität der Begegnungen hervor: Zusammen lösen sie sein

Rätsel. Auch auf eine andere Weise verknüpft Zarathustra den Wahrsager mit dem

Zwerg. Im Kapitel „Vom Geist der Schwere“ – Zarathustra deutete den Geist der

Schwere in „Vom Gesicht und Räthsel“ als „halb Zwerg, halb Maulwurf“ [Z 198] –

erklärt Zarathustra die Schwere als eine moralische Schwere, die uns „fast in der

Wiege“ auferlegt wird, die wir aber auch willig tragen. Doppeldeutig stellt Zarathustra

fest: „Dem Kameele gleich kniet er [der Mensch] nieder und lässt sich gut aufladen“. [Z

243; Hervorhebung von mir, sj] Aber, so behauptet Zarathustra, „[d]er aber hat sich

selber entdeckt, welcher spricht: Das ist mein Gutes und Böses: damit hat er den

Maulwurf und Zwerg stumm gemacht, welcher spricht „’Allen gut, Allen bös’“. [Z 243]

Derjenige also, der sich gut und böse nicht als eine Schwere auferlegen lässt, die er

einem Kamel gleich tragen soll, sondern der für sich selber bestimmt, was gut und böse

ist, wirft den Zwerg und den Maulwurf, den Geist der Schwere ab. Zarathustra

verwendet die Bilder, die ihm in dem Gesicht angereicht wurden, also, um seinen schon

vorhandenen Wortschatz (z.B. der der drei Verwandlungen) zu erweitern, um seine

Lehre vertiefen zu können. Im neunten Teil des Kapitels „Von alten und neuen Tafeln“

verknüpft Zarathustra die moralische Schwere aber mit einer anderen Figur: der des

Wahrsagers. Zarathustra redet: „Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Böse.

Um Wahrsager und Sterndeuter drehte sich bisher das Rad dieses Wahns. Einst

g l a u b t e man an Wahrsager und Sterndeuter“. [Z 253] In seinem Spiel zwischen

„Wahn“ und „wahr“ skizziert Zarathustra den Wahrsager als den, der bestimmt, was

Gut und Böse ist, so wie auch der Zwerg in „Vom Geist der Schwere“ derjenige war,

der Gut und Böse nannte. Obwohl Zarathustra nirgends angibt, dass der Wahrsager,

über den er jetzt redet, der Wahrsager des zweiten Teils ist, scheint es mir nicht

unbedeutend zu sein, dass er schon, noch bevor er den Wahrsager und den Zwerg in

„Der Genesende“ miteinander verknüpft und so das Rätsel deutet, eine (moralische)

Verbindung zwischen den beiden herstellt. Außerdem ist der kleine Mensch, den der 148 Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. S. 77.

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Wahrsager im zweiten Teil predigt, auch immer der Mensch, der sich anhand der Moral

verkleinern lässt. In dem Sinne passt der Wahrsager in „Von alten und neuen Tafeln“ zu

dem Wahrsager in „Der Wahrsager“. Das würde aber bedeuten, dass der Wahrsager

nicht nur derjenige ist, der über den kleinen Menschen berichtet, sondern auch

derjenige, der den kleinen Menschen auf seine Kleinheit fixiert. Die implizite

Verknüpfung zwischen dem Wahrsager und dem Zwerg zeigt meines Erachtens den

Denk- bzw. Entwicklungsprozess Zarathustras, dessen Äußerungen die Reden sind, und

der in „Der Genesende“ einmündet, wo die beiden Figuren explizit miteinander

verbunden werden. Im letzten Kapitel, „Die sieben Siegel (Oder: das Ja-und Amen-

Lied.)“, taucht der Wahrsager noch ein letztes Mal auf. 149 Diesmal inszeniert

Zarathustra sich aber selber als Wahrsager: „Wenn ich ein Wahrsager bin und voll jenes

wahrsagerischen Geistes [...]: zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erlösenden

Lichtstrahle, schwanger von Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahrsagerischen

Blitzstrahlen“. [Z 287] Der Wahrsager, der er selber ist, ist gerade der umgekehrte

Wahrsager als der, dem Zarathustra im zweiten Teil begegnete. Der ursprüngliche

Wahrsager war ein Nein-Sager, der sich nicht mehr die Mühe geben konnte, das Leben

zu bejahen. Der Wahrsager, der Zarathustra ist, verkündigt die ultimative

Lebensbejahung. Die Begegnungen sind also nicht nur wichtig, weil sie Zarathustra

helfen, sich selber zu entdecken und zu deuten, sondern Zarathustra funktionalisiert sie

auch in seiner Selbstprofilierung.

Die letzte Begegnung, die ich jetzt aus Zarathustras Perspektive heraus

besprechen werde, ist die letzte Traumbegegnung des zweiten Teils: die in der stillsten

Stunde, im Grunde also eine Selbstbegegnung, bei der das Selbst externalisiert wurde

(cf. supra: 2.2.3). Wie Zarathustra am Ende des zweiten Teils mit seiner stillsten Stunde

kämpfte, so kämpft er auch im dritten Teil immer noch mit ihr. Vor allem im Kapitel

„Von der Seligkeit wider Willen“ demonstriert er den psychischen Kampf. So heißt es:

„Und wahrlich, Zeit war’s, dass ich gieng; und des Wanderers Schatten und die längste

Weile und die stillste Stunde – alle redeten mir zu: „es ist höchste Zeit’“. [Z 204]

Zarathustra will die höchste Zeit aber nicht, wollte nicht in die Einsamkeit zurück, weil

er seine Kinder zu sehr liebte. Er geht aber schon. Die Seligkeit aus dem Titel, die in

149 „Ein letztes Mal“ heißt ein letztes Mal im dritten Teil. Im vierten Teil kehrt der Wahrsager schon im ersten Kapitel, „Der Notschrei”, wieder.

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Zarathustras Worten „du selige Stunde!“ [206] mit der stillsten Stunde verbunden wird,

ist also eine Seligkeit wider Willen. Die stillste Stunde, die eine Erweiterung des Selbst

ist, führt Zarathustra unwillig, so stellt er es dar, zur seligen Stunde, zu der er sagt:

„Hinweg mit dir, du selige Stunde! Mit dir kam mir eine Seligkeit wider Willen“. [Z

206] Zarathustra treibt die Gespaltenheit, die in „Die stillste Stunde“ deutlich sichtbar

wurde, ins Extreme. Als wäre die stillste Stunde nicht Zarathustra selber, führt sie ihn in

eine Richtung, die er selbst nicht gehen will. „Von der Seligkeit wider Willen“ erweitert

und radikalisiert Zarathustras Widerwillen, um seinen eigenen Willen zu wollen.

Während das wiederholte Auftauchen des Wahrsagers und des Zwergs vor allem einen

Erkenntniskampf widerspiegelt, betont die Metaphorik der (stillste) Stunde, auf die

Zarathustra hier weiterbaut, dass der Kampf einer ist, der innerhalb Zarathustra

gekämpft wird. Wenn der Erzähler am Ende des Kapitels „Der Genesende“ beschreibt:

„Die Schlange aber und der Adler, als sie ihn solchermaassen schweigsam fanden,

ehrten die grosse Stille um ihn und machten sich behutsam davon“ [Z 277;

Hervorhebung von mir, sj], und wenn man weiß, dass Zarathustra in den zwei letzten

Liedern gerade seinen Willen besingt, kann man behaupten, dass Zarathustra seine

stillste Stunde, und damit zugleich sich selber, anerkennt. Man soll aber nicht

vergessen, dass, indem die Tiere seine große Stille ehren, sie ebenfalls die Bedeutung

dieser Stunde, damit zugleich Zarathustra selber, verstehen, und in dem Verständnis

seiner Größe ihre eigene Größe demonstrieren. Nicht nur Zarathustra, sondern auch der

Erzähler und in ihrem Verständnis sogar die Tiere nehmen die Metaphorik der stillsten

Stunde im dritte Teil wieder auf, um Zarathustras innerlichen Bildungsweg zu gestalten.

3.4 Fazit Wenn Zarathustra sich am Ende des zweiten Teils von seinen Schülern verabschiedet

und den zweiten Hinaufgang zu seiner Höhle anfängt, gibt er seine Lehrtätigkeit nicht

auf. Zarathustra richtet sich zwar nicht mehr auf seine Schüler, von denen er jetzt

versteht, dass sie nicht die Kinder seiner Hoffnung sind, richtet sich zwar immer noch

auf ein Publikum, das er belehren kann. Die erste Begegnung, die ich in diesem Kapitel

analysiert habe, zeigt diese neue Lehrorientierung sehr gut. Zarathustra richtet sich auf

ein Publikum, zu dem er eigentlich nur pro forma redet. Er redet sie zum Beispiel an,

aber erwartet keine Antwort. Das heißt nicht, dass er selber auch nur ein Lehrer pro

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forma ist. Obwohl Zarathustra seine Reden an einem Publikum orientiert, das er nicht

lehrt, lehrt er immer noch. Seine Lehre ist aber diesmal inhaltlich nicht auf ein externes

Publikum gerichtet, das noch anwesend ist, sondern auf ein internes. Zarathustra lehrt

sich selber. Er selber ist das Kind seiner Hoffnung. In der Rede zu den Schiffsleuten

zeigt Zarathustra seine eigene, werdende Erkenntnis. Die Begegnung in „Vom Gesicht

und Räthsel“ ist eine doppelte. Zarathustra erzählt den Schiffsleuten das Gesicht, aber

das Gesicht selber enthält auch eine Begegnung, nämlich die mit dem Zwerg. Das

Gespräch mit dem Zwerg über den abgründlichen Gedanken ist für den Zarathustra, der

zugleich Lehrer als Lehrling ist, exemplarisch. Während er zum Zwerg spricht, während

er lehrt, lernt er auch. Die formale Aneinanderreihung verschiedener thematischen

Szenen, in denen er sich eben bewusst wird, dass er den Zwerg vergessen hat,

demonstrieren die Doppelheit: Zarathustra berichtet über ein Gesicht, das er während

des Erzählens selber zu deuten versucht, aber nicht zusammenhalten kann. Indem er

spricht, lehrt Zarathustra sich selber. Er hat die Teile des Rätsels schon in seinen

Händen, aber muss sie als Lehrling auch noch zusammenbringen.

In dem Kapitel „Der Genesende“, in dem Zarathustra sich mit seinen Tieren

auseinandersetzt, ist er letztendlich imstande, die Teile des Rätsels zusammenzudenken.

Zarathustra geniest: Er heilt sich von seiner Krankheit und gebärt zugleich seine echte

Lehre, die der ewigen Wiederkunft, mit der er schon ab dem zweiten Teil kämpfte. Es

sind aber die Tiere, die Zarathustra für genesen erklären. Es sind außerdem die Tiere,

die ihn als Lehrer der ewigen Wiederkunft, in dessen Tätigkeit er sich ab dem nächsten

Kapitel manifestiert, bezeichnen. Obwohl Zarathustra also selber auf die Genesung hin

bewegt, selber die ewige Wiederkunft konsequent denkt, benimmt er sich erst als

Genesender bzw. als Lehrer der ewigen Wiederkunft, nachdem die Tiere ihn in ihren

Worten als solchen erkannt bzw. bestätigt haben. Auch wenn er sich selbst gefunden

hat, braucht Zarathustra eine Reaktion, die seine Selbstfindung fixiert. Zarathustra weiß,

dass er singen will, aber die Tiere bitten ihn darum, mit seiner eigenen Leier eigene

Lieder zu singen, also macht er es auch. Auch wenn Zarathustra sich völlig nach innen

kehrt, kehrt er sich meines Erachtens auch immer noch nach außen. Der Höhepunkt des

Buches ist somit seine beste Zusammenfassung: Zarathustra findet sich selber nur, weil

die anderen Figuren ihm, sowohl positiv als auch negativ, zu seinem Selbst verhelfen.

Das letzte Subkapitel, in dem ich erklärt habe, wie Zarathustra die früheren

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Begegnungen in seiner heutigen Lehre funktionalisiert, unterstreicht diese

Schlussfolgerung noch einmal. Die anderen Figuren in Also sprach Zarathustra sind für

seine geistige Entwicklung nicht nur momentan bestimmend, sondern werden auch

später von Zarathustra selber aufgegriffen, um ihren (negativen) Einfluss zu bestätigen

(der Possenreißer), sein Gesicht zu deuten (der Wahrsager), sich selber zu profilieren

(der Wahrsager) oder seinen inneren Kampf zu gestalten (die stillste Stunde). Für

Zarathustra sind sie also zum Teil seiner Lehre geworden.

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4. Schlussfolgerung Am Anfang dieser Magisterarbeit habe ich mich die folgende, zweiteilige Frage gestellt:

Wer ist Zarathustra, und wie steuern und bestimmen die anderen Figuren seine

Identität? In der Einleitung vermutete ich schon, dass Zarathustra sich in den bzw.

durch die Begegnungen zu der Figur entwickelt, die er, auf den Untertitel von Ecce

Homo anspielend, immer war, aber am Ende auch geworden ist.150 In meiner Arbeit

habe ich versucht, die Frage zu lösen bzw. die Vermutung zu belegen.

Während der Untersuchung des ersten Teils ergab sich, dass Zarathustra sich in

diesem Teil vor allem als Lehrer betrachtet. Trotzdem ist der Zarathustra aus

„Zarathustra’s Vorrede“ dem Zarathustra aus „Die Reden Zarathustra’s“ nicht völlig

gleich. Der Zarathustra aus der Vorrede ist der, der am Anfang für sich selber eine

Identität kreiert, die völlig auf dem Verschenken seiner Weisheit, d.h. auf dem Gelingen

einer Kommunikation basiert. Trotz der Warnungen des Heiligen – der ersten Person,

dem Zarathustra begegnet –, die er nicht ernst zu nehmen scheint, geht er zu den

Menschen hinunter. Wenn die Kommunikation scheitert, die Identität deshalb nicht

bestätigt wird, begegnet Zarathustra einer Reihe von Einzelpersonen, die ihm anhand

ihrer Sprache einen Spiegel vorhalten, in dem er sein gescheitertes Selbst sehen kann.

Der Possenreißer und die Totengräber zeigen ihm, wie er den Menschen jetzt

vorkommt: Zarathustra erscheint ihnen als Narr, als Dieb, als jemand, der er nicht sein

will. So setzen sie ihn auf den Weg, der nicht zu den Menschen, sondern von den

Menschen weg geht: Den Weg, auf dem er am Ende des dritten Teils sich selbst finden

wird. Der Seiltänzer zeigt Zarathustra, was er jetzt noch nicht sehen kann: wer er ist.

Die Identität des Lehrers verneint für Zarathustra die Möglichkeit, selber zu lernen.

Obwohl er seine Lehreridentität am Ende der Vorrede und in „Die Reden Zarathustra’s“

aufs Neue denkt, ist sie per definitionem nach wie vor auf das Verschenken gerichtet.

Zarathustra betrachtet sich selber nicht als derjenige, der empfängt. Nicht anhand seiner

Sprache, sondern anhand seiner Handlung hält auch der Seiltänzer Zarathustra einen

Spiegel vor. Zarathustra ist im ersten Teil zwar derjenige, der fallen lässt – ist in dem

Sinne dem Possenreisser gleich –, wenn er aber im zweiten Teil anerkennt, dass die

Jünger nicht untergehen wollen bzw. können, muss er selber fallen – ist in dem Sinne

150 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. Kritische Studienausgabe: Band 6. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV 1999.

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dem Seiltänzer gleich. Nur mit dem Seiltänzer kann Zarathustra direkt kommunizieren.

In der Kommunikation bestätigt der Seiltänzer Zarathustras Lehreridentität. Das heißt,

dass der Seiltänzer Zarathustra zeigt, wer er später wird, und auch erlaubt zu sein, wer

er jetzt sein will. Der Seiltänzer weist jetzt schon auf den Zwiespalt innerhalb

Zarathustra hin, der erst im dritten Teil wirklich thematisiert wird. Obschon die direkte

Kommunikation in den anderen Begegnungen nicht zu gelingen scheint, erkennt

Zarathustra anhand seiner Sprache, dass er seinen Gesprächspartnern trotzdem zugehört

hat. Zarathustra übernimmt nämlich ‚fremde’ Wörter, die ursprünglich von Anderen

über ihn gesagt wurden, in sein eigenes Vokabular. Er eignet sie sich aber noch nicht

inhaltlich zu, übernimmt mit dem Wort auch die Bedeutung. So spiegelt eine unsichere

Sprache eine unsichere Identität wider: Zarathustra ist der gescheiterte Lehrer, der sich

selber neu konzipieren muss, ist der suchende Lehrer, der anhand der Spiegel, die ihm

vorgehalten werden, sich selber zu finden versucht. Dass er die Sprache von denjenigen

übernimmt, die ihm den Weg zeigen, ist für die Identitätssuche exemplarisch. In „Die

Reden Zarathustra’s“, so ergab sich während meiner Analyse des ersten Teils, führt

Zarathustra die Sprachmimesis weiter. Er übernimmt immer noch ‚fremde’ Wörter,

eignet sie sich jetzt aber inhaltlich zu. Die ‚fremden’ Wörter werden seine eigenen

Wörter. Auch diese selbstbewusste Sprache reflektiert Zarathustras Identität. Weil er

sich als Lehrer jetzt einzelne Gefährten sucht, statt das ganze Volk überzeugen zu

wollen, hat er das Gefühl, dass er jetzt verschenken kann. Der Zarathustra der „Reden

Zarathustra’s“ ist kein suchender Lehrer mehr, sondern ein Lehrer, der sich selbst

gefunden zu haben glaubt. Sowohl die Begegnung mit dem Jüngling als auch der

Abschied von den Schülern zeigen diesen neuen Zarathustra, der sich tatsächlich als

Lehrer manifestieren kann. Zusammengefasst kann man also behaupten, dass

Zarathustra sich im ersten Teil nur als Lehrer sieht. Die Identität scheitert in der

Vorrede zwar, aber mithilfe der anderen Figuren gelingt es ihm, in „Die Reden

Zarathustra’s“ derjenige zu sein, der er (vorläufig) sein will.

Im zweiten Kapitel habe ich die drei Traumbegegnungen gedeutet. Schon die

Träume an sich, so habe ich argumentiert, suggerieren eine geänderte Orientierung. Im

ganzen ersten Teil kehrte Zarathustra sich nach außen. Als Lehrer wollte er

verschenken, d.h. dass er jemanden brauchte, um das Geschenk zu akzeptieren. Die

Bewegung Zarathustras im ersten Teil ist eine Bewegung nach außen. Das wiederholte

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Auftauchen der Träume im zweiten Teil zeigt eine schrittweise Verinnerlichung, eine

Bewegung nach innen. Die erste Traumbegegnung, die mit dem Kind mit dem Spiegel,

veranlasst ihn, wieder zu seinen Schülern hinunterzugehen. Obwohl das Kind ihn auf

den ersten Blick wieder in die Welt führt, d.h. nach außen, findet Zarathustra diesmal

nicht die Bestätigung, die er im ersten Teil bei seinen Schülern schon fand. Wenn

gerade sein Lieblingsjünger den Traum, den Zarathustra hat, nachdem er einen

Wahrsager reden gehört hat, so deutet, so dass es Zarathustra klar wird, dass die Schüler

selber nie zu Übermenschen unter- und übergehen werden, richtet er seine Hoffnung

nicht mehr auf Andere (d.h. nicht mehr nach außen), sondern auf sich selber (d.h. nach

innen). Der Einfluss der Schüler auf Zarathustras Entwicklung ist deswegen zwar

negativ, aber weil Zarathustra für sich selber eine Identität kreiert hatte, die nur eine des

Lehrers war, war er auch notwendig, um die eigene Identität umzudenken. ‚Umdenken’

heißt nicht, dass Zarathustra seine Tätigkeit als Lehrer aufgibt, sondern dass er mehr als

nur ein Lehrer sein wird. Die letzte Traumbegegnung, „Die stillste Stunde“, zeigt die

doppelte Position, die Zarathustra ab jetzt besetzt. Die Begegnung ist ein erweitertes

Selbstgespräch, in dem Zarathustra sein Herz externalisiert, als eine andere Person

betrachtet. Das (in diesem Fall buchstäblich) doppelte Selbst spiegelt die doppelte

Position wider, die Zarathustra vertritt: Zarathustra ist immer noch ein Lehrer, aber lehrt

jetzt sich selbst. Die ‚andere Person’ führt Zarathustra außerdem in seine Einsamkeit

zurück, damit er auszusprechen wagt, was er jetzt noch verschweigt: den abgründlichen

Gedanken, mit dem er im dritten Teil kämpft. Zarathustra betrachtet sich im zweiten

Teil immer noch als Lehrer, muss aber anerkennen, dass eben seine eigenen Schüler

seine Lehre nicht empfangen können und richtet sich deshalb auf sich selber. Der zweite

Teil ist ein Übergangsteil, in dem Zarathustra am Anfang noch der Lehrer ist, der er im

ersten Teil war, am Ende aber auch selber Lehrling geworden ist. Der Zarathustra des

zweiten Teils ist einer zwischen Lehrer und Lehrling.

Im dritten Teil habe ich sowohl die Kapitel „Vom Gesicht und Rätsel“ und „Der

Genesende“ als auch die schon vergangenen Begegnungen aus Zarathustras Perspektive

heraus analysiert. Zarathustra hat zwar sein festes Publikum verloren, er denkt immer

noch im dialogischen Stil. In „Vom Gesicht und Rätsel“ richtet er sich zum Beispiel zu

einem Publikum von Schiffsleuten, aber spricht eigentlich zu sich selber. Während er

das Gesicht, das von einer Begegnung mit einem Zwerg handelt, erzählt, wird die neue,

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doppelte Identität, die am Ende des dritten Teils ihre Vollendung findet, aufs Neue

sichtbar: Zarathustra lehrt nicht nur mehr, sondern lernt zugleich. Während des

Gesprächs mit dem Zwerg versucht Zarathustra als Lehrling zu denken, was er als

Lehrer sagt. Er verschweigt den abgründlichen Gedanken nicht mehr, kann ihn aber erst

in seinem Gespräch mit den Tieren im Kapitel „Der Genesende“ wirklich umfassen.

Nachdem Zarathustra das Gesicht gedeutet hat, sind es die Tiere, die Zarathustra für

genesen erklären, sind es außerdem die Tiere, die ihn als Lehrer der ewigen

Wiederkunft bezeichnen. Erst nach dieser Benennung verhält Zarathustra sich auch

tatsächlich so. Die Deutung des Gesichts ist die Bekrönung der Selbstsuche. Als Lehrer

konnte er den abgründlichen Gedanken (d.h. die totale Lehre Zarathustras, nicht nur die

beschränkte, erwünschte Lehre) nicht denken. Erst wenn er seine Lehre auch selber

lernt, ist er imstande, die Konsequenzen seiner eigenen Lehre durchzudenken und zu

akzeptieren. Das bedeutet, dass Zarathustra gerade sich selber seine Weisheit

verschenkt hat und der Kreis jetzt rund ist. Als sein eigener Lehrling ist er der Erste, der

seine Identität des Lehrers wirklich bestätigen kann. Als Genesender ist er aber mehr als

ein Lehrer: Er ist derjenige, der sich von seiner Krankheit erlöst hat, aber auch

derjenige, der in dieser Heilung die jetzt vollständige Lehre gebärt. Das bedeutet, dass

Zarathustra, gerade weil er den Kampf mit dem abgründlichen Gedanken gewonnen hat,

d.h. geheilt ist, den Weg hinunter und hinauf richtig sehen kann, d.h. gebären wird. Die

Kreisbewegung ist also keine Bewegung des Seins, sondern eine des Werdens. Mittels

der anderen Figuren, die Zarathustra systematisch auf diesem Punkt hin bewegt haben,

wie Zarathustra indirekt selber betont, indem er die Figuren in seiner Lehre

funktionalisiert, ist Zarathustra geworden, wer er schon war: Lehrer der ewigen

Wiederkunft und in der Tätigkeit derjenige, der wirklich das Rad ins Rollen bringt. Der

Zarathustra des dritten Teils ist einer, der zugleich Lehrer und Lehrling ist.

Zum Schluss wiederhole ich das Motto, das der Einleitung vorangeht: “We

define our identity always in dialogue with, sometimes in struggle against, the things

[…] others want to see in us. Even after we outgrow some of these others […] and they

disappear from our lives, the conversation with them continues within us”.151 Der

Zarathustra am Ende des dritten Teils ist nicht derselbe Zarathustra, der am Anfang der

151 Charles Taylor: „The Politics of Recognition“. In: Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition. Hg. von Amy Gutmann. Princeton: Princeton University Press 1994. S. 32-33.

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Vorrede zu der Sonne sprach. Die dialogische Identität, die Zarathustra in seinem

damaligen Gespräch betonte, erweist sich durch die drei Teile als eine permanente.

Nicht nur der Seiltänzer und die Tiere, Figuren, mit denen Zarathustra wirklich sprach,

sondern auch der Possenreißer und der Zwerg, Figuren, mit denen Zarathustra geistig

kämpfte, alle haben ihn alle zu demjenigen geführt, der er am Ende des dritten Teils

geworden ist. Eben wenn Zarathustra räumlich alleine war, so zeigt die Einbettung der

anderen Figuren in seine Reden zu sich selber, war er es geistig nie.

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