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1 Beobachten. Elemente zu einer Kultur- und Literaturgeschichte der Observation Beobachtungen sind grundlegende und überaus komplexe Zugangsweisen zur natürlichen, politisch-sozialen und geistig-kulturellen Welt. Beobachtet wird im Alltag, in den Expertenkulturen der Wissenschaft und in den fiktionalen Welten der Literatur. Wahrnehmen und Unterscheiden bilden die Basis für ein Erfahrungswissen, das in/ mit kulturell konditionierten Praktiken benannt und aufgezeichnet, gespeichert und weitergegeben wird, um Anschlusskognitionen und weitergehende epistemische Prozesse in Gang zu setzen. Kurz gesagt: Erst aufmerksame und zeitintensive Beobachtungen – die sich auf natürliche Zusammenhänge und die eigene Subjektivität ebenso beziehen können wie auf andere Subjekte und intersubjektive Verhältnisse – machen Orientierungen und Handlungsweisen überhaupt möglich. Beobachtungen schaffen Voraussetzung für Prognosen und damit für ein Handeln, das sich auf Zukunft richtet. Doch trotz ihrer fundamentalen Bedeutung wurden die kulturellen Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen dieser zielgerichteten Wahrnehmungs- und Formbildungsprozesse erst in Ansätzen systematisch untersucht und historisch vor allem mit Blick auf apparative Konstellationen und Laboranordnungen rekonstruiert. Das Forschungsprojekt Beobachten. Konditionen und Praktiken der Beobachtung und die Wissensformate der Literatur zielt deshalb auf eine umfassende und interdisziplinär ausgerichtete Kultur- und Literaturgeschichte der Observation mit folgenden, untereinander verschränkten Schwerpunkten: (a) Epistemologie der Beobachtung; (b) Wissensgeschichte der Beobachtung; (c) Zeichenökonomien und Textverfahren der Beobachtung. Ein solches Projekt bietet vielfältige Möglichkeiten für fruchtbare Kooperationen mit wissens- und wissenschaftsgeschichtlich sowie wissenschaftstheoretisch interessierten Forschern. Es bündelt die Potentiale epistemologischer Forschungseinsätze und kann durch Rückgriff auf Sammlungen und Archive empirische Rückbindungen und Inspirationen durch die hier versammelten Materialien erfahren.

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 Beobachten. Elemente zu einer Kultur- und Literaturgeschichte der Observation Beobachtungen sind grundlegende und überaus komplexe Zugangsweisen zur natürlichen, politisch-sozialen und geistig-kulturellen Welt. Beobachtet wird im Alltag, in den Expertenkulturen der Wissenschaft und in den fiktionalen Welten der Literatur. Wahrnehmen und Unterscheiden bilden die Basis für ein Erfahrungswissen, das in/ mit kulturell konditionierten Praktiken benannt und aufgezeichnet, gespeichert und weitergegeben wird, um Anschlusskognitionen und weitergehende epistemische Prozesse in Gang zu setzen. Kurz gesagt: Erst aufmerksame und zeitintensive Beobachtungen – die sich auf natürliche Zusammenhänge und die eigene Subjektivität ebenso beziehen können wie auf andere Subjekte und intersubjektive Verhältnisse – machen Orientierungen und Handlungsweisen überhaupt möglich. Beobachtungen schaffen Voraussetzung für Prognosen und damit für ein Handeln, das sich auf Zukunft richtet. Doch trotz ihrer fundamentalen Bedeutung wurden die kulturellen Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen dieser zielgerichteten Wahrnehmungs- und Formbildungsprozesse erst in Ansätzen systematisch untersucht und historisch vor allem mit Blick auf apparative Konstellationen und Laboranordnungen rekonstruiert. Das Forschungsprojekt Beobachten. Konditionen und Praktiken der Beobachtung und die Wissensformate der Literatur zielt deshalb auf eine umfassende und interdisziplinär ausgerichtete Kultur- und Literaturgeschichte der Observation mit folgenden, untereinander verschränkten Schwerpunkten: (a) Epistemologie der Beobachtung; (b) Wissensgeschichte der Beobachtung; (c) Zeichenökonomien und Textverfahren der Beobachtung. Ein solches Projekt bietet vielfältige Möglichkeiten für fruchtbare Kooperationen mit wissens- und wissenschaftsgeschichtlich sowie wissenschaftstheoretisch interessierten Forschern. Es bündelt die Potentiale epistemologischer Forschungseinsätze und kann durch Rückgriff auf Sammlungen und Archive empirische Rückbindungen und Inspirationen durch die hier versammelten Materialien erfahren.

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I. Problemstellungen – II. Forschungsstand und Fragen – III. Teilprojekte – IV. Literatur I. Problemstellungen

Beobachten ist ein grundlegender Modus des Erkennens und Basis allen Erfahrungswissens. Beobachtungen sind

in lebensweltlichen Zusammenhängen und spezialisierten Expertenkulturen von ebenso zentraler Bedeutung wie

in literarischen Texten und wissenschaftlichen Textumgangsformen.

Als komplexe Operationen eines aktiven und zielgerichteten Wahrnehmens sind Beobachtungen gebunden an (a)

Subjekte oder kommunikative Systeme, die (b) Zeit und Aufmerksamkeit investieren, um (c) Umweltausschnitte

oder sich selbst segmentierend zu observieren und dabei (d) qualitative und quantitative Daten gewinnen, die in

weitergehenden epistemischen Prozeduren verarbeitet werden.

Untrennbar damit verbunden sind Praktiken der Aufzeichnung und Speicherung sowie der Deutung und

Erklärung: Beobachtungen beziehen sich grundsätzlich auf bereits gemachte Beobachtungen sowie auf

Vorannahmen und bereits vorhandene Wissensbestände. Erst wiederholte Beobachtungen schaffen „Tatsachen“

– und zwar in einer vorliegenden oder neuen Beschreibungssprache sowie durch weitere komplexe Verfahren

zeichenhafter Vergegenständlichung. In vielfältigen Bewegungen des epistemischen Transfers werden

Beobachtungen kommuniziert, mit anderen Beobachtungen verglichen und theoretisch verallgemeinert.

Beobachtungsleistungen sind nicht an Wahrnehmungsprozesse des Menschen gebunden, sondern finden sich

bereits bei höheren tierischen Lebensformen. Gleichwohl hat erst der Mensch spezielle Kulturtechniken der

Beobachtung entwickelt, die von der Fixierung und Speicherung observierter Zusammenhänge (etwa

astronomischer Konstellationen und Wasserständen des Nil durch ägyptische Priester) über die Entwicklung

technischer Instrumente (Mikroskop und Teleskop, Radar und Sonar, Gravimeter etc) bis zu Reflexionen der

Beobachtungsbedingungen und Verfahren der Fehlerkorrektur bei Beobachtungsverzerrungen reichen. Auch das

systematische Nachdenken über die Bedeutung von Erfahrungswissen und die Rolle des Beobachters sind

menschliche Leistungen, die nicht erst mit neuzeitlichen Observations- und Experimentalkulturen beginnen. Die

unterschiedlichen Einsätze führen schließlich zur Einsicht in die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen, die

sich gegen eine noch im Wiener Kreis konzeptualisierte Trennung von (auf Beobachtung beruhenden)

„Protokollsätzen“ und „Deutung“ durchgesetzt hat und von neueren Überlegungen zu den Konstitutionsweisen

„epistemischer Dinge“ und ihrer apparativen Herstellung ergänzt werden.

Doch trotz ihrer fundamentalen Bedeutung haben die komplexen Voraussetzungen und epistemischen Praktiken

der Beobachtung erst ansatzweise systematische und historische Aufmerksamkeit gefunden. Eine umfassende

Wissensgeschichte der Observation, die vor allem die Zusammenhänge zwischen kulturellen Konditionen und

diskursiven Verfahren, technischen Prozeduren und sozialen Institutionen thematisiert, steht ebenso aus wie eine

Literatur- und Kulturgeschichte des Beobachtens, die insbesondere die ästhetischen Dimensionen des

aufmerksamen und zeitintensiven Wahrnehmens rekonstruiert.

Das Spektrum der hier zu verhandelnden Probleme reicht von der Formulierung von Beobachtungs-Imperativen

(die nicht erst, doch in besonderer Weise in der Frühen Neuzeit entstehen und Francis Bacon im ersten

Aphorismus des Neuen Organon postulieren lassen, der Mensch könne nur so viel bewirken und begreifen, „als

er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder durch den Geist beobachten kann: mehr weiß oder vermag er

nicht“ [„Homo, naturae minister et interpres, tantum facit et intellegit, quantum de naturae ordine, re vel mente

observaverit: nec amplius scit aut potest“]; Bacon 1620/1990, Aph. 1, I, 80f) bis zur Institutionalisierung von

Observationen „nach einer festen Regel in Ordnung und Zusammenhang“ (Bacon 1620/1990, Aph. 100) an

Orten regulierter Praktiken, wie sie sich in der Royal Society ausbilden („The business of their weekly Meetings

shall be, To order, take account, consider, and discourse of Philosophical Experiments, and Observations“; Sprat

1667, 145).

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Noch eminenter für eine literatur- und kulturgeschichtliche Erforschung von Beobachtungsverhältnissen sind

freilich die seit der Frühen Neuzeit generierten sozialen und politischen Epistemologien, die „Naturkörper“ und

„Staatskörper“ als analog zu observierende Aspekte auffassen und den Menschen mit einer in Physik und

Medizin entwickelten Rationalität beobachten. Bewegungsgesetze sozialen Handelns sollen nun ebenso ermittelt

werden wie die Bahnen der Gestirne oder die Bauformen animalischer Körper (dazu Shapin/Schaffer 1985, 99-

109; daran anschließend Vogl 2004, 35-53). Die sich ausbildende Staats- und Gesellschaftstheorie sucht die

Konstitution des „politischen Körpers“ durch analogisierende Beobachtungen zu erfassen; Natur, Gesellschaft,

Staat avancieren zum Gegenstandsbereich detaillierter Observationen, aus denen einheitliche Gesetze zu

gewinnen sind. (Entsprechend gliedert Hobbes seine zwischen 1642 und 1658 entstandenen Elementa

Philosophiae in eine „Lehre vom Körper“ [De corpore], „Lehre vom Menschen“ [De homine] und „Lehre vom

Bürger“ [De cive] und postuliert als ihre methodische Grundlage „die natürliche menschliche Vernunft, die alle

Dinge der Schöpfung sorgsam durchgeht, um über ihre Ordnung, ihre Ursachen und Wirkungen die schlichte

Wahrheit zu suchen und zu berichten“ (Hobbes 1655/1949, 3)). Als Spezifik der beobachtenden Methode

bestimmt Hobbes die Einheit von Unterscheidung, Bezeichnung und Klassifikation: „Das Verworrene muß

zerteilt und unterschieden werden und jegliches, nachdem es die ihm zukommende Bezeichnung erhalten hat,

seinen festen Platz bekommen, d.h. es bedarf einer Methode, die der Schöpfung der Dinge selbst entspricht“

(ebd., 3). – Die berühmte Einleitung zum 1651 veröffentlichten Hauptwerk bündelt die Voraussetzungen wie die

Konsequenzen von Beobachtungsverfahren, die das staatlich organisierte Gemeinwesen als „artificial man“

bestimmen und dessen Attribute explizit mit menschlichen Körperfunktionen parallelisieren: Um die Natur

dieses „künstlichen Menschen“ zu beschreiben, sei auf dessen „Material“ und seinen „Konstrukteur“

zurückzugehen und ein Verfahren anzuwenden, das von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Ursachen-

Ermittlung in sozialen Zusammenhängen werden sollte: das „Lesen“ in inneren, d.h. verborgenen Vorgängen, zu

denen die Introspektion einen privilegierten Zugang habe. Nicht Bücher, sondern Menschen seien zu studieren

(„not by reading of books, but of men“), um per Analogieschluss aus eigenen mentalen Vorgängen wie Denken

und Schließen, Hoffen und Fürchten die Beweggründe der anderen Menschen bei gleichen Anlässen zu

ergründen (Hobbes 1651/1639, Xf.).

Damit gelangen mehrere Aspekte in den Blick, die für eine zu erarbeitende Kultur- und Literaturgeschichte des

Beobachtens geradezu fundamentale Bedeutung gewinnen. Zum einen bilden nun Staat und Gesellschaft den

Gegenstand von Beobachtungen, die angesichts konfessioneller Konflikte und Bürgerkriege nicht länger die

Harmonie eines in sich ruhenden Ganzen studieren können, sondern Regularien aus veränderlichen Situationen

erschließen müssen. Die leitenden Beschreibungs- und Erklärungsverfahren entstammen der empirischen

Naturforschung und zielen auf Ermittlung einer kohärenten und in sich dynamisierten Ordnung hinter den

disparaten Phänomenen. Für die Formulierung genutzt wird ein Metaphernkomplex, dessen weitreichende

Aspekte durch eine philologisch informierte Ideengeschichte weiter aufzuklären sind. Denn gesetzmäßige

Beziehungen zwischen scheinbar ungeordneten Bewegungen und Dingen will nicht nur die Mechanik

beobachten, sondern auch Hobbes’ „Lehre vom Bürger“, die das Beispiel der sich selbst bewegenden Uhr als

Analogon für die Analyse des Staates heranzieht: „Schon bei einer Uhr, die sich selbst bewegt, bei jeder etwas

verwickelten Maschine kann man die Wirksamkeit der einzelnen Teile und Räder nicht verstehen, wenn sie nicht

auseinandergenommen werden und die Materie, die Gestalt und die Bewegung jedes Teiles für sich betrachtet

wird. Ebenso muß bei den Rechten des Staates und bei Ermittlung der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht

aufgelöst, aber doch wie ein aufgelöster betrachtet werden, d.h. es muß die menschliche Natur untersucht

werden, wieweit sie zur Bildung des Staates geeignet ist oder nicht, und wie die Menschen sich zusammentun

sollen, wenn sie eine Einheit werden wollen; denn nur so kann hier die rechte Einsicht gewonnen werden“

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(Hobbes 1642/1949, 72). – In Bernard Mandevilles wirkungsmächtiger Fable of the Bees fungieren dagegen

anatomische Studien als Vorbild für eine Untersuchung jener Bestandteile und Verhältnisse im „sozialen

Organismus bürgerlicher Gesellschaften“, die „das ungewohnte Auge entweder übersieht oder doch nicht weiter

beachtet“ und die doch „die wichtigsten Organe [...] für die Erhaltung der Bewegung im ganzen Mechanismus

unseres Leibes“ sind (Mandeville 1714/1957, 19). Die Bienenfabel führt zugleich exemplarisch vor Augen, was

englische Philosophen, französische Moralisten und deutsche Naturrechtslehrer seit den frühneuzeitlichen

Anfängen politisch-sozialer Theoriebildung praktizieren: Jede Beobachtung sozialen Handelns geht von einer

vorgängig bestimmten „Natur“ des Menschen aus bzw. nimmt zu ihr Stellung. Damit verbundene Deutungen in

Gestalt „optimistischer“ bzw. „pessimistischer“ Anthropologien und die Situierung der menschlichen Natur vor

oder in vergesellschaftete Zusammenhänge korrespondieren einer neuen und mehrfach dimensionierten

Aufmerksamkeit, die sich einerseits auf ein (unterschiedlich definiertes) Gattungswesen und seine

Verhaltensweisen, andererseits auf die sozialen Determinanten individuellen und individuenübergreifenden

Handelns richtet. Die Folgen einer so sensibilisierten Wahrnehmung sind gravierend: Wenn nicht mehr

„Geselligkeitstrieb“, Mitleid oder Wohlwollen des Menschen als die Voraussetzungen von Sozialität erscheinen,

sondern „gerade seine schlechtesten und am meisten verabscheuten Eigenschaften“ als konstitutive Elemente

großer „glücklicher und blühender Gemeinschaften“ gelten (ebd., 19), werden Differenzierungen sichtbar, die

die Erforschung eines wechselhaften oder sogar feindseligen Verhaltens als Gründungsakt von Kultur zu einem

anthropologischen Wissensgebiet avancieren ließen. In dieser Perspektive sind individuelle Akteure und ihre

Verbindungen nicht mehr als unveränderliche Substanzen festzustellen, sondern als Schnittmengen aktueller

Verhaltensweisen und Relationen zu beobachten, deren problematische Aspekte man in Konzepten wie

„Selbstliebe“ und „Selbsterhaltung“ bearbeitet (vgl. Luhmann 1989, 178ff.; Vollhardt 2002).

Die Überzeugung von einer zeichenhaft strukturierten Natur und ihrer Lesbarkeit motiviert und katalysiert

zugleich Beobachtungen, die sich auf der Sichtbarkeit entzogene Zusammenhänge im sozialen und kulturellen

Raum richten. Dazu bedarf es spezifischer Zeichenlehren, die es erlauben, von sichtbaren Verbindungen auf

unsichtbare Ursachen zu schließen. Sie finden sich in Klugheits- und Morallehren wie Baldasarre Castigliones

1528 veröffentlichtem Il Libro del cortegiano, Niccolò Machiavellis erstmals 1532 gedruckter Abhandlung Il

Principe und Baltasar Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia von 1647, die zu einer signifikanten

Modernisierung privatpolitischer Verhaltensregeln führen und dabei vor allem die Selbst- und

Fremdbeobachtung in neue Bahnen lenken. Genaue Observationen in einem durch Misstrauen bestimmten Feld

sollen noch geringste Abweichungen im Verhalten als Zeichen von Unaufrichtigkeit lesen und auf verborgene

Gründe zurückführen. Der Jesuit Baltasar Gracián – der das individuelle Dasein als „Krieg gegen die Bosheit des

Menschen“ bestimmt – sucht sowohl eine verhaltensbezogene Kunst des Chiffrierens im Sinne einer

Regelgebung für raffiniertes Verstellen und Verrätseln der eigenen Absichten wie auch eine Kunst des

Dechiffrierens zu vermitteln: „man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele

herauszubuchstabieren“ (Gracián 1647/1967, Nr. 273, 115). Unterscheidungsfähigkeit („discretio“) und

Scharfsinn („agudeza“) sind die Mittel, um in die verborgenen Tiefen der Mitmenschen einzudringen und das

Innere selbst bei raffiniertesten Verstellungen zu erkennen (Gracián 1646/1997, 167 und 202). Die Leistungen

dieser Dechiffrierung von Absichten und Zielen („contracifra de intentiones“) wären groß; bedeutender aber sei,

wenn mehrere Männer mit solchen Fähigkeiten aufeinander treffen und sich mit ihren „mit gleichen Waffen der

Aufmerksamkeit (bzw. Vorsicht) und des Zweifels“ beim gegenseitigen Täuschen und Entlarven messen würden

(ebd., 313). Noch bedeutsamer als diese wechselseitige Sektion aber wäre der Zugewinn, wenn die großen

Dechiffrierer im Schutz von Freundschaft und Vertrauen zur Kooperation finden und ihre Beobachtungen

offenbaren könnten: „¡oh, lo que enseñan!, !oh, lo que illuminan!“ (ebd., 314).

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Auch die nach dem Modell empirischer Naturerfahrung konzeptualisierte Gesellschaftstheorie der Frühen

Neuzeit projektiert die Beobachtung sozialer Verhältnisse als ein „Lesen“: Die an der Leitmetapher des Lesens

entwickelte Observation mentaler Vorgänge und das Prinzip der Analogisierung sollen den „Schlüssel“

bereitstellen, um aus sichtbaren Handlungen auf Absichten, Gedanken und Leidenschaften schließen zu können

(Hobbes 1651/1639, VIf). Da aber die „Inschriften des menschlichen Herzens“ durch Heuchelei, Lügen,

Nachahmung und Irrlehren „befleckt und durcheinander“ wären, sind sie nur von kompetenten Spezialisten zu

entziffern. Da jedoch auch die Entzifferung der verborgenen Herzensschrift fehlschlagen und man „die Guten“

von den „Bösen“ nicht hinreichend unterscheiden könne, „müssen auch die Guten und Bescheidenen

fortwährend Mißtrauen hegen, sich vorsehen, versorgen, sich verbinden und auf alle Weise sich verteidigen“

(Hobbes 1642/1949, 73).

Die hier nur ausgewählt und fragmentarisch vorgestellten Aspekte der Beobachtung zeigen die mehrfachen

Dimensionen eines Problemfeldes, das sich aufgrund seiner Verortung zwischen unterschiedlichen Diskursen

nur interdisziplinär bearbeiten lässt. Eine fundierte und begrifflich präzise Bestimmung des Beobachtungs-

Begriffs ist dabei von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Klärung von zentralen Kategorien:

– Zeit und Aufmerksamkeit (als wichtigste Ressourcen des Menschen, die bei Observationen eine

grundlegende Rolle spielen);

– Detail, Zusammenhang, Ganzes (als wesentliche Bezugselemente von Beobachtungen);

– Gedächtnis – Sprache – Schrift/ Zeichen (als körperinterne und -externe Notationssysteme);

– Anschlusskognitionen und Emotionen (als wesentliche Verarbeitungsroutinen).

Diese Bestimmungen sind auch deshalb wichtig, weil sie für eine Rekonstruktionen der mehrfach

dimensionierten Beobachtungsverhältnisse in literarischer Kommunikation gleichfalls grundlegend sind. In

starker Vereinfachung lassen sich hier folgende Aspekte isolieren:

(a) „Beobachten“ und „Beobachtungen“ erscheinen in literarischen Texten als Prozesse bzw. Ergebnisse

figurengebundener Wahrnehmungsakte. Wenn Odysseus „sämtliche Freier beobachtend“ an der Feuerstelle steht

Odyssee 18, 344) oder die „scharfe Beobachtung“ der ihn erkennenden Magd Eurykleia lobt (Odyssee 19, 385)

werden Observationen dargestellt und evaluiert, die von Textfiguren ausgehen. Wesentlich ist, dass diese

figurenbezogenen Beobachtungsleistungen mit Schlussfolgerungen und Emotionen verbunden werden, die zu

(textinternen sowie textexternen) Anschlusskognitionen und Emotionen respektive Handlungsimpulsen führen.

Sie funktionieren also ähnlich wie Kognitionsleistungen, die im lebensweltlichen Beobachten stattfinden und die

Grundlage für ein (mehr oder minder formulierbares) Erfahrungswissen bilden. Die von Textfiguren

beobachteten Sachverhalte sind ebenso wie die Prozesse ihrer Beobachtung ein Ergebnis literarischer

Simulation; mithin ein Ergebnis von Beobachtungen zweiter Ordnung. Als Wahrnehmungen von Textfiguren

tragen sie wesentlich zur Ausgestaltung der mimetisch bzw. diegetisch konstituierten Welt und ihres

Figurenarsenals bei; sie übernehmen direkte und/oder indirekte Konstitutions- und Charakterisierungsfunktionen

(Jannidis 2004). Im Rahmen der literarischen Kommunikation agiert der Leser demnach als Beobachter dritter

Ordnung, der feststellen kann, wie und mit welchen Folgen innerhalb einer literarischen

Beobachtungsanordnung (etwa der fiktionalen Welt eines Romans) Figuren beobachten und also ein spezifisches

Wissen gewinnen bzw. ihrerseits beobachtet werden. Beobachten wird damit zu einem mehrfach

dimensionierten Differenzverhalten, das in und von Texten immer auch ausgestellt und problematisiert werden

kann; so etwa, wenn Wahrnehmungsakte von Textfiguren simuliert und zur Täuschung von Textfiguren bzw.

Lesern eingesetzt werden. – Ein besonderer Aspekt figurengebundener Beobachtung ist der Augenzeugenbericht

im Drama bzw. in dramatischen Schreibweisen, der ein gleichzeitiges Geschehen wiedergibt (Teichoskopie, d.h.

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‚Mauerschau‘). Wie im Botenbericht werden in der Mauerschau nicht sichtbare Sachverhalte repräsentiert,

wobei die (suggerierte) Gleichzeitigkeit von Geschehen und Observation besondere testimoniale Funktionen

übernimmt.

(b) Über figurengebundene Beobachtungen hinausgehend lassen sich in literarischen Texten zahlreiche

weitere Observationspraktiken finden, die von bezeichnenden Äußerungen einer auktorialen Erzählinstanz bis

zur unterscheidenden Darstellung vermeintlich unscheinbarer Details der erzählten oder gezeigten Welt reichen.

Wenn in Goethes Wahlverwandtschaften der „reiche Baron im besten Mannesalter“ – den „wir“ mit dem

auktorialen Erzähler „Eduard“ nennen – nach vollendetem Geschäft in seiner Baumschule die vollbrachte Arbeit

„mit Vergnügen“ (!) „betrachtet“, wird der Leser nicht nur zum Beobachter des beobachtenden Barons, sondern

der gesamten durch die textuelle Darstellungsgesamtheit zugänglichen Welt – und also auch jener Details, die

dem Beobachter erster Ordnung aufgrund seiner spezifisch eingeschränkten Wahrnehmungen nicht zugänglich

sind. Im Fall von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) gilt dies sogar für die gesamte Romanstruktur, insofern

sich am Ende zeigt, dass Wilhelms Bildungsweg sich unter ständiger Beobachtung und probeweiser Steuerung

der Mitglieder der Turmgesellschaft vollzogen hat. Auch hier beobachtet der Leser also eine umfassende

Beobachtungsanordnung bzw. liest dasjenige Protokoll dieser Beobachtung, das im Archiv des Turms über

Wilhelm aufbewahrt wird. – Auch aus diesem Grund wird literarischen Texten bzw. der Literatur die Fähigkeit

eines besonderen Beobachtens attestiert: Sie erzählt nicht nur über Beobachtungen, sondern reflektiert auch

deren Bedingungen und Grenzen: „Wenn ‚Umwelt’ – also das, wovon sie sich abgrenzt – für Literatur nicht die

Welt, die Gesellschaft, oder andere Texte oder künstlerische Artefakte sind, sondern die historisch variablen

Selektionen anderer Systeme, verstärkt sie diese Selektionen nicht nur [...] vielmehr beobachtet Literatur diese

Selektionen auf ihre blinden Flecke hin“ (Theisen 2000, 225f.). Das gilt zumal, wenn die Literatur andere

gesellschaftliche Subsysteme zum Gegenstand ihrer Beobachtung macht und also etwa die blinden Flecken der

empirischen Medizin (in Georg Büchners Woyzeck), der Politik (z.B. Danton’s Tod) oder der Theologie (Lenz) –

aber durchaus auch des Literatursystems selbst (wie in Leonce und Lena) – offenlegt (dazu Plumpe/ Werber

1995).

Inwieweit diesen Beobachtungsleistungen kognitive Signifikanz zugeschrieben werden kann, ist eine seit der

Trennungsgeschichte von Poesie und Wissen umstrittene Frage (vgl. Rösler 1980; Schlaffer 1990/2005).

Während Platon die Wahrheitsansprüche literarischer Texte mit epistemologischen und moralischen Argumenten

bestreitet und ihre Beobachtungen als täuschenden Schein disqualifiziert (weil Nachahmung „mit einem im

dritten Grade von der Wahrheit entfernten Objekte sich beschäftigt“ und das „Nachahmungsgenie“ also „gar

kein ordentliches Wissen besitzt von dem, was es nachahmt“ bzw. „der Dichter mit seinen Worten und

Wendungen nur oberflächlich die Farben jeder einzelnen Kunst malt, ohne selbst etwas anderes zu verstehen als

das Nachahmen“, Platon: Politeia, 598e-601b), erkennt sein Schüler Aristoteles in der (auf Observationen

beruhenden) Mimesis handelnder Menschen eine Qualität, die mit ihrer Präsentation im Modus des Allgemeinen

den Vorrang vor der (singulär beschreibenden) Geschichtsschreibung garantiert (Aristoteles Poetik, 1451 a36–

38). Wenn es in der um 335 v.Chr. entstandenen Vorlesung Über die Poetik heißt, das von der Dichtung

dargestellte „Allgemeine“ bestehe darin, „dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der

Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut“, werden weitreichende Einsichten in die

Qualität literarischer Beobachtungsverfahren formuliert: Diese Modalattribute können nur nach wiederholter

Observation festgestellt bzw. zugeschrieben werden.

(c) Beobachtungen finden nicht nur in literarischen Texten statt, sondern auch in lebensweltlichen und

wissenschaftlichen Zusammenhängen. Um kommunikativ in Erscheinung zu treten, müssen diese Observationen

aufgezeichnet und formiert werden. Damit lässt sich eine weitere Relation zwischen Beobachtungen, Wissen und

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Literatur feststellen: Literarische Formen tragen zur Konstitution von Beobachtungen bei, indem sie die Mittel

bereitstellen, ohne die Observationen nicht formuliert und ausgetauscht werden könnten. Das Spektrum dieser

konstitutiven Formatierungen von Beobachtungen ist weit gefächert: Es reicht von Beschreibungssprachen (mit

metaphorischen und metonymischen Ausdrücken zur Schließung von Bezeichnungslücken) bis zu narrativen

Mustern, die Geschehensmomente verknüpfen und Verlaufsformen strukturieren. Zeichenhaft

vergegenständlichte Beobachtungen fremder Kulturen manifestieren sich beispielsweise in den Arbeiten von

Clifford Geertz und James Clifford, die – auch im Gefolge des linguistic turn – zu einer intensivierten

Wahrnehmung von Ethnologie und Ethnographie als Textwissenschaft beigetragen haben. Sie dokumentieren

das ethnografische Schreiben als narrativen Akt der Bedeutungskonstitution; zugleich belegen sie die

Schwierigkeiten von Beobachtungspraktiken, bei denen teilnehmende Beobachtungsinstanzen in der

beobachteten Gruppe aktiv sind (und im going native den Gefahren des Distanzverlustes unterliegen). Darüber

hinaus machen sie literarische Texte als Orte der Beobachtung von Differenz und Identität mit Konzepten einer

„literarischen Anthropologie“ traktierbar (Bachmann-Medick 1996; Benthien 2002; Fauser 2004, 41-65). – Die

konstruktiven Leistungen der Geschichtsschreibung im Umgang mit Beobachtungen diskutieren die Arbeiten des

Historikers Hayden White: Sein bereits 1973 erschienenes Buch Metahistory. The Historical Imagination in

Nineteenth-Century Europe und die 1986 auf Deutsch veröffentlichten Studien mit dem programmatischen Titel

Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen erläutern die Organisationsschemata der

Geschichtsschreibung als tropologische Konstrukte, die Beobachtungen und empirisch verifizierbare Daten in

master tropes und also in mehr oder weniger archetypische Muster integrieren (dazu Stückrath, Zbinden 1997;

kritisch Weimar 1990, zur Differenz historiographischen und fiktionalen Erzählens Süssmann 2000).

(d) Beobachtet werden auch die Formen und Formate der Literatur – und zwar von unterschiedlichen

Akteuren in unterschiedlichen Zusammenhängen. Schon die Subjekte dieser Observationen sind außerordentlich

vielfältig: Sie reichen von Lesern mit je eigenen Textumgangsformen (applikativ, hedonistisch, distanziert etc.)

über kommunikative Systeme wie Literaturkritik und Literaturwissenschaft bis zu einer Marktforschung, die das

Verkaufsverhalten von Titeln studiert. Auch die Beobachtungsgegenstände sind divers. Zu ihnen gehören mehr

oder weniger alle Bestandteile der literarischen Kommunikation und also Autoren, deren Äußerungen ebenso

beobachtet werden können wie ihre medialen Zurichtungen bzw. Images; Texte als schriftsprachliche

Zeichenfolgen, die auf graphemisch-phonologischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene zu

observieren sind; Rezipienten, die in ihren emotionalen und kognitiven Interaktionen mit Literatur untersucht

werden können. Literarische Texten können so als Objekte beobachtet und also einer Umgangsweise unterzogen

werden, die von anderen Textumgangsformen unterschieden ist – etwa in Aussagen über Baumgarten und

Klopstock, die „am Schreibtisch, im akademischen Kollegium und vor dem Publikum schlicht und ergreifend

literarische Texte beobachten, sie analysieren, synthetisieren, perspektivieren, kontextualisieren“ (Berndt 2011,

3).

II. Forschungsstand und Fragestellungen

Trotz ihrer grundlegenden Bedeutung haben die komplexen Voraussetzungen und epistemischen Praktiken der

Beobachtung erst begrenzte Aufmerksamkeit gefunden. Erkenntnistheoretisch ausgerichtete Unternehmen der

Philosophie und der Wissenschaftstheorie konzentrierten sich bislang auf die Erzeugung von Wissen, das als

wahre, gerechtfertigte Meinung an restriktive Bedingungen (Wahrheit, Überzeugung, Rechtfertigung) gebunden

ist und vorrangig unter den Gesichtspunkten ihrer Genese und Geltung erforscht wurde. –Labor-Forschungen,

die im Anschluss an Bruno Latour und Steve S. Woolgar intensiv betrieben wurden, konzentrieren sich dagegen

in besonderer Weise auf soziale Aushandlungsprozesse und technische Anordnungen, mit den Erkenntnisse

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produziert bzw. „sozial konstruiert“ werden (Latour/Woolgar 1979; Mulkay/Knorr-Cetina 1983; Rheinberger

1998 et al.). Eine umfassende Wissensgeschichte der Observation, die vor allem auch die Zusammenhänge

zwischen kulturellen Konditionen und diskursiven Verfahren, technischen Prozeduren und sozialen Institutionen

thematisiert steht also noch aus. Eine Desiderat ist auch eine Geschichte der Beobachtung in den Bereichen der

Kultur- und Geisteswissenschaften; bezeichnenderweise beziehen sich die Beiträge in der jüngsten avancierten

Publikation zum Thema, die unter dem Titel Histories of Scientific Observation erschien, ausschließlich auf die

Naturwissenschaften (Daston/ Lunbeck 2011).

Um die weitreichenden, epistemisch und soziokulturell konditionierten Prozesse des Beobachtens angemessen

erforschen zu können, sind leitende Fragestellungen zu formulieren und Segmentierungen vorzunehmen. Diese

richten sich auf die Instanzen von Observationen, auf die Praktiken der Beobachtungsvorgänge und die

Konditionen ihrer medialen bzw. medientechnischen Aufzeichnung sowie auf die Umgangsformen mit

Beobachtungen:

- Wer bzw. welche individuellen und institutionellen Instanzen beobachten intentional und zielgerichtet –

und wie, mit welchen Intentionen und welchen Praktiken tun sie das?

- Wie gehen Vorannahmen, kulturelle Konventionen und mediale bzw. medientechnische Bedingungen

der Aufzeichnung in die Beobachtungspraxis ein?

- Welches Wissen gewinnen die Instanzen der Beobachtung und die Adressaten eines Beobachtungen

weitergebenden Wissenstransfers?

III. Teilprojekte Für eine differenzierte Bearbeitung des Themas soll in drei Teilschritten vorgegangen werden. (1) Beobachten/ Beschreiben. Epistemologie der Beobachtung

Dieses Teilprojekt zielt auf eine systematische Klärung des Beobachtungsbegriffs. Von besonderer Relevanz ist

dabei eine Rekonstruktion der Operationen des Beobachtens, die ja zunächst darin bestehen, Einzelnes aus einer

Fülle gegebener Eindrücke zu unterscheiden und zu benennen. Beobachten heißt also zuerst einmal Formen zu

bilden, die als diskriminierende Informationen („das und nicht jenes“) in weitere Operationen eingespeist werden

können. Zu klären sind in diesem Zusammenhang ebenfalls die komplexen Bedingungen der zugleich

ablaufenden Prozesse von Unterscheidung und Bezeichnung – denn ohne Zweifel bilden die rekursiven

Vernetzungen mit Gedächtnisinhalten (die Vergangenes repräsentieren) und die Herstellung von Anschlüssen

(an mitlaufende bzw. künftige Ereignisse) wichtige Voraussetzungen wie Antriebsmomente von Beobachtungen.

(2) Praktiken der Observationen/ Formate des Wissens. Wissensgeschichte der Beobachtung

Im Zentrum dieses Teilprojekts stehen Differenzierungen, die ihren Ausgang von verschiedenen Weisen der

Beobachtung zu nehmen haben. Unterscheiden lassen sich zunächst zufällige und methodische Observationen,

die weitergehend in qualitative, quantitative (messende) und experimentelle Beobachtungen untergliedert

werden können. Da alle diese Varianten von epistemischen Instruktionen und materialen Dispositiven ebenso

abhängig sind wie von Vorannahmen und theoretischen Rahmungen, erweisen sich entsprechende

Rekonstruktionen als notwendig. – Weitergehende Differenzierungen betreffen die unmittelbare Beobachtung,

bei der Eigenschaften von Vorgängen und Objekten direkt wahrgenommen werden, wohingegen bei der

mittelbaren Beobachtung (technische) Instrumente und Verfahren zur Verstärkung und Differenzierung von

Wahrnehmungen eingesetzt werden. – Zu fragen ist nach den Dispositionen und Limitationen dieser

Beobachtungsinstrumente sowie nach den kulturell festgelegten Konditionen und Vermögen des menschlichen

Beobachters (die seit Galileis Überlegungen zu Beobachtungsfehlern epistemologisch reflektiert werden).

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(3) Zeichenökonomien und Textverfahren literarischer Beobachtung

Dieses Projekt soll die Beobachtungsverhältnisse in literarischen Texten auf grundlegende Weise klären. Dabei

ist davon auszugehen, dass die in literarischen Texten präsentierten Observationen stets an individualisierende,

narrativierende und exemplifizierende Verfahren gebunden sind. Zugleich und nicht minder wichtig sind die

generischen Muster, in denen individuelle Ausdrucksinteressen kommuniziert werden. Deshalb ist in diesem

Zusammenhang auch nach den konditionierenden Wirkungen auktorialen Gattungswissens für die Gestaltung

von Beobachtungsverhältnissen zu fragen.

Literatur Aristoteles: Poetik. Übersetzung von Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1994. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft.

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