bindungsorientierte fruehpraevention
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Prof. Dr. Ariane Schorn Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Sokratesplatz 2, 24149 Kiel [email protected]
Bindungsorientierte Frühprävention und das Medium Video1 Die Befunde der Psychoanalyse und Bindungsforschung belegen die
außerordentlich große Bedeutung, die frühkindlichen Bindungsbeziehungen für
die weitere Entwicklung haben. Mit dem Leitgedanken „besser vorsorgen als
nachsorgen“ zielt bindungsorientierte Frühprävention darauf ab, Hilfen zur
Verfügung zu stellen und Kompetenzen zu fördern, die den Aufbau einer
positiven und sicheren Eltern-Kind-Beziehung unterstützen. Ein wichtiges
methodisches Instrument ist dabei das Medium Video. Bevor wir im Weiteren
anhand von praktischen Beispielen (Fallvignetten, Videoaufnahmen)
Möglichkeiten und Besonderheiten der videogestützten Beratungsarbeit
verdeutlichen, einige Bemerkungen zu den wissenschaftlichen Grundlagen
bindungsorientierter Frühprävention. Folgende Punkte möchte ich dabei
thematisieren:
1. Warum bindungsorientierte Frühprävention?
2. Zentrale Erkenntnisse der Bindungstheorie und -forschung
3. Ziele bindungsorientierter Frühprävention
4. Konzepte bindungsorientierter Frühprävention und die besondere Bedeutung
des Mediums Video
1. Warum bindungsorientierte Frühprävention? Psychoanalyse, Bindungsforschung und Neurowissenschaften2 haben eine
Vielzahl von Befunden vorgelegt, die die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen
für die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung aufzeigen: Die
1 Überarbeiteter Einführungsvortrag des gleichnamigen Workshop, den Frau Dipl. Psych. Lidija Baumann und ich im Rahmen der Fachtagung „Wahrnehmen, Bewerten, Handeln. Methoden der Frühen Hilfen“, Fortbildungsreihe Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialer Dienst (Lübeck, 7.11.2006) durchgeführt haben. 2 Siegel spricht von der „herausragende(n) Bedeutung“ der frühen Kindheit „hinsichtlich des Einflusses zwischenmenschlicher Erfahrungen auf die Struktur und Funktion des Gehirns und die Organisation der Psyche“ (ders. 1998, S. 1, zit. n. Dornes 2000, S. 149; s.a. Roth 1994, Hüther 2003, 2006)
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Erfahrungen, die wir in der Kindheit, insbesondere in der frühen Kindheit
machen – und damit sind besonders Beziehungs- und Interaktionserfahrungen
gemeint, Erfahrungen im Kontakt und im Austausch mit unseren
Bezugspersonen –, haben tief greifende und langfristige Auswirkungen auf die
weitere Entwicklung. In den frühen Interaktionen lernen wir die grundlegenden
Lektionen des Gefühlslebens (vgl. Stern 1996); hier werden Weichen für die
weitere Entwicklung und damit auch für den weiteren Lebenslauf gestellt.
Verdichtet kann man sagen: Das Selbst formiert sich in und durch die frühen
Interaktionserfahrungen oder anders formuliert: das Selbst entwickelt sich im
Dialog oder Austausch mit bedeutsamen Anderen.
„Besser vorsorgen als nachsorgen“ heißt ein Aufsatz von Cierpka (2005), der
damit treffend auf den Punkt bringt, welche Schlussfolgerung zu ziehen wäre:
Wenn das, was uns in der Sozialen Arbeit als „psychosoziale Not“ begegnet
(vgl. Rauchfleisch 1996), auf inadäquate, d.h. die Entwicklung hemmende
Beziehungserfahrungen in der frühen Kindheit verweist, dann sollten mehr
Anstrengungen als bisher unternommen werden, gerade belastete Familien
beim Auf- und Ausbau einer positiven Eltern-Kind-Beziehung zu unterstützen;
und darum geht es in der bindungsorientierten Frühprävention.
2. Zentrale Erkenntnisse der Bindungstheorie und -forschung Eine zentrale Grundaussage der Bindungstheorie ist, dass ein Säugling die
angeborene Neigung hat, die Nähe zu einer vertrauten Person zu suchen – in
der Regel die Bezugsperson – und zu dieser eine intensive emotionale Bindung
aufbaut (Bindungsbedürfnis). Das ist auch biologisch betrachtet sinnvoll; als
biologische Frühgeburten sind Menschenkinder auf die intensive Fürsorge
eines Gegenübers angewiesen. Fühlt sich der Säugling unsicher und/oder allein
und somit bedroht, wird das Bindungssystem und damit auch das so genannte
Bindungsverhalten aktiviert (Bowlby 1958, 1975, 1976). Das Kind zeigt dann
Verhaltensweisen wie Schreien, Weinen, Anklammern, Ankuscheln, Rufen oder
Nachfolgen; Verhaltensweisen, mit denen es das Bedürfnis nach Kontakt,
Schutz und Unterstützung signalisiert. Der Sinn bzw. das Ziel besagten
Bindungsverhaltens ist, die räumliche und psychologische Nähe zur
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Hauptbindungsperson herzustellen und damit auch wieder emotionale
Sicherheit zu gewinnen. Wird das Bedürfnis nach Kontakt, Schutz und
Unterstützung befriedigt, beruhigt sich das Bindungssystem. Erst wenn das
Bindungssystem beruhigt ist, kann ein anderes Motivationssystem zur Geltung
kommen, das Explorationsystem. Dieses gilt ebenfalls als biologisch angelegt:
Der Säugling ist seiner Umwelt zugewandt, zeigt Interesse, etwas Neues bzw.
seine Umgebung zu erkunden. Bindungsbedürfnisse und Explorationswünsche
bilden ein dynamisches Gleichgewicht und sind wechselseitig voneinander
abhängig. Es bietet sich das Bild der Waage an: Je stärker das
Bindungsverhalten ausgeprägt ist, desto weniger Explorationsverhalten ist
vorhanden und umgekehrt.
Die Bindungsthorie geht davon aus, dass der Aufbau einer stabilen und
entwicklungsfördernden Bindung eine der ersten und elementarsten
Entwicklungsaufgaben ist, auf die viele spätere Entwicklungsaufgaben
aufsatteln. Jedes Kind entwickelt eine Bindung an seine Bezugsperson (vgl.
Mietzel 2002), entscheidend ist jedoch, dass diese Bindung eine sehr
unterschiedliche Qualität oder auch Färbung annehmen kann. Unterschieden
wird zwischen sicheren, unsicheren und desorganisierten/desorientierten (oder
auch hochunsicheren) Bindungen (Ainsworth et al. 1978, Main & Solomon
1986). Geht man der Frage nach, wieso manche Kinder eine sichere Bindung,
andere eine unsichere entwickeln, dann rückt die Eltern-Kind-Interaktion bzw.
die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern in Kontakt gehen/den Kontakt
gestalten in den Blick. Die zuvor benannten Bindungsmuster (sicher, unsicher,
desorganisiert gebunden) sind das Resultat bestimmter Interaktionserfahrungen
und deren Verarbeitung. Das Gesamt an auf das Kind bezogenen
Verhaltensweisen, die für die Entwicklung des kindlichen Bindungsstils relevant
sind, wird mit dem Begriff der Feinfühligkeit gefasst (Ainsworth et al. 1978).
Feinfühligkeit zeichnet sich Ainsworth zufolge dadurch aus, dass die
Bezugsperson:
1. die Signale und Feinzeichen ihres Kindes wahrnimmt,
2. diese zutreffend zu interpretieren weiß sowie
3. angemessen
4. und prompt auf diese reagiert (wobei Kontext, Zustand und
Entwicklungsniveau des Kindes berücksichtigt werden).
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Das Konzept der Feinfühligkeit ist erweitert und ausdifferenziert worden, was
auch mit der Erkenntnis zu tun hat, dass die Bindungsqualität noch von
weiteren, weniger gut beobachtbaren Aspekten abhängig ist. Eine feinfühlige
Bezugsperson vermag sich in den seelischen Zustand des Kindes
hineinzuversetzen und Dinge/Ereignisse aus der Perspektive des Kindes
wahrzunehmen. Sie greift die Affekte des Kindes (insbesondere die negativen)
nicht nur empathisch auf, sondern hilft ihm dabei, diese zu regulieren und damit
erträglicher zu machen (das gilt auch für den Aufmerksamkeits- und
Erregungszustand).3 Eine feinfühlige Bezugsperson nimmt Zeichen
beginnender Belastung rechtzeitig wahr und weiß diese zu reduzieren
(Ziegenhain et al. 2004, S. 49). Sie kann sich mit dem Kind emotional
abstimmen („affect-attument“/Affektabstimmung), mit ihm in einen
vorsprachlichen Dialog gehen, und dieser „Tanz“ gibt dem Kind das
beruhigende Gefühl, verbunden zu sein (Stern 1986). Und last not least:
Feinfühlige Bezugspersonen anerkennen die Bindungs- und
Explorationsbedürfnisse bzw. Autonomiestrebungen des Kindes.
3 Bion (1962) fasst mit seinem „Containment-Konzept“ die wichtige Fähigkeit der Bezugsperson zur Aufnahme und Modulation der kindlichen Affekte; Fonagy stellt die Bedeutung einer elterlichen Kompetenz heraus, die er als „Mentalisierung“ bzw. „Fähigkeit zur Mentalisierung“ bezeichnet (kurz gefasst meint dies die Fähigkeit, sich Gedanken darüber zu machen, was im Säugling/in ihnen selbst psychisch vor sich gehen mag, vgl. Fonagy 1996, Fonagy et al. 2002).
Kreis der SicherheitWie Eltern auf die Bedürfnisse ihres Kindes achten
Sichere Basis
SichererHafen
Ich brauche Dich, damit…
Pass auf mich aufHilf mir
Freu Dich mit mir
Ich brauche Dich, damit...
(vgl. Marvin, Cooper, Hoffmann & Powell 2003, S. 29)
Du meinen Erkundungs-drang unterstützt
Du mich willkommen heißt,wenn ich zu Dir komme
Beschütze michTröste mich
Freu Dich an mirOrdne meine Gefühle
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Umgekehrt können die kindlichen Signale gar nicht, verzögert oder verzerrt
wahrgenommen werden (z.B. durch Übertragungen und Projektionen, vgl.
Brazelton & Cramer 1994, Richter 1992). Fehlinterpretationen kindlicher Signale
und Bedürfnisse können zu einem Teufelskreis wechselseitiger Enttäuschung
und Frustration bzw. zu einer negativen Gegenseitigkeit und damit zu negativen
Interaktionskreisläufen führen (Brisch 2003). Ein Beispiel: Die Mutter sucht
Kontakt zu ihrem Kind, nimmt es auf den Arm, sucht seinen Blick. Das Kind
dreht den Kopf zur Seite, auf weitere Stimulationsversuche der Mutter hin
stemmt es sich von der Mutter weg. Erlebt die Mutter das kindliche Verhalten
als gegen sich gerichtet (es lehnt mich ab, will mich nicht…), so befördert dies
eine andere Beziehungsdynamik, als wenn das kindliche Verhalten als
Ausdruck von Müdigkeit interpretiert würde. Die Vorstellung, vom eigenen Kind
abgelehnt zu werden, stellt eine tiefe Kränkung dar, die weitere Gefühle und
Reaktionen evoziert. Sucht das Kind vielleicht etwas später die Nähe und
Zuwendung der Mutter, so reagiert sie möglicherweise verzögert oder ignoriert
sie die Signale, woraufhin das Kind quengelig wird, was die Mutter wiederum in
der Überzeugung bestärkt, ein schwieriges, anstrengendes Kind zu haben…
Interaktionserfahrungen und Bindungsmuster Reagiert die Bezugsperson feinfühlig auf Zeichen und Signale des Kindes,
antwortet sie verlässlich auf die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe und
Schutz4, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es im ersten Lebensjahr eine
sichere Bindung entwickelt. Das sicher gebundene Kind spielt und „forscht“
begeistert in Anwesenheit der Bezugsperson. Es sucht dabei immer wieder
Kontakt (Lächeln, Blick, Lautäußerung). In Trennungssituationen zeigt das Kind
Bindungsverhalten: Es versucht der Mutter zu folgen, ruft, weint. Fühlt sich ein
sicher gebundenes Kind bedroht, wendet es sich an seine Bezugsperson, da es
erwartet, dort Geborgenheit, Trost und Schutz zu finden. Trost vermag das
4 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, dass die Bezugsperson immer und ständig feinfühlig reagiert. Dazu ist kein Mensch in der Lage. Das Interaktionsverhalten von Eltern, deren Kinder eine sichere Bindung entwickeln, ist „good-enough“ (Winnicott 1974). Weiterhin sind situative Anforderungen zu berücksichtigen: Nicht immer ist Feinfühligkeit angesagt. Wichtig zu erwähnen ist ferner, dass nicht die Zeit, die miteinander verbracht wird, relevant ist, sondern die Qualität der Interaktion.
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sicher gebundene Kind anzunehmen. Man spricht hier auch vom „sicheren
Hafen“ (Bowlby1975), in dem das Kind emotional auftanken kann (Mahler et al.
1993).
Macht ein Kind über Monate die Erfahrung, dass seine Bezugsperson feinfühlig
und verlässlich reagiert, lernt es zu vertrauen, dass diese Person für es da sein
wird. Es entwickelt Zutrauen in seine Fähigkeit, diese Zuwendung auszulösen,
ja die Umwelt beeinflussen zu können („Es funktioniert, wenn ich ein Zeichen
gebe“, Erickson & Egeland 2006, S. 33). Und das wiederum ist auch für die
Zukunft relevant…
Macht das Kind eher zurückweisende, ignorierende Erfahrungen, wenn es
Bindungsverhalten zeigt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich mit
einer unsicher-vermeidenden Bindungshaltung an seine Bezugsperson
bindet. Ein solches Kind sucht, wenn es unsicher wird oder sich bedroht fühlt,
nicht die Bezugsperson auf. Nähewünsche werden von ihm erst gar nicht so
intensiv geäußert, schließlich hat es ja „gelernt“, dass eher nicht zu erwarten ist,
dass diese wahrgenommen und positiv beantwortet werden. In
Trennungssituationen wirken diese Kinder erstaunlich unabhängig und
selbständig: Die Mutter verlässt den Raum, sie spielen scheinbar konzentriert
weiter, scheinen das Gehen der Mutter gar nicht zu realisieren.
Psychophysiologische Messungen zeigen jedoch, dass sie erheblich unter
Stress stehen: In der Trennungssituation zeigen diese Kinder eine erhöhte
Herzfrequenz sowie einen deutlich erhöhten Cortisol-Spiegel (Spangler &
Schieche 1997).
Werden die Signale des Kindes manchmal zuverlässig und feinfühlig,
manchmal aber eher mit Zurückweisung beantwortet, dann ist die
Wahrscheinlichkeit groß, dass sich ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster entwickelt. Diese Kinder reagieren zumeist ausgesprochen
heftig und bestürzt auf Trennungssituationen. Kommt die Mutter zurück, sind sie
nur schwer zu beruhigen. Sie zeigen oft ein widersprüchliches Verhalten: So
wechseln sie zwischen aktivem Kontaktwiderstand (sie sind aggressiv, treten
vielleicht nach der Mutter und stoßen sich auf dem Arm von ihr weg) und
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verzweifelter Anklammerung (sie klammern sich mit einer Hand an der Mutter
fest).
Kindern mit einem desorganisierten/desorientierten Bindungsmuster zeigen
sich widersprechende Verhaltensmuster. So strecken sie die Arme nach der
Bezugsperson aus und verziehen im selben Moment das Gesicht. Sie
verstecken sich z.B nach einer Trennungssituation oder laufen zur Mutter hin,
bleiben plötzlich wie erstarrt stehen, um dann wegzulaufen. Dieses Verhalten
wird dahingehend interpretiert, dass besagten Kindern keine kohärenten
Strategien entwickeln konnten, ihre Bindungserfahrungen zu organisieren (vgl.
Brisch 2003). Ziegenhain et al. (2004) sprechen von einem hochunsicheren Bindungsmuster. Vorausgegangen sind hier zumeist ausgesprochen negative/
ängstigende Interaktionserfahrungen. Desorganisationsmuster wurden
überzufällig häufig bei Kindern von Eltern gefunden, die traumatische
Erfahrungen wie Verlusterlebnisse, Misshandlung, Missbrauch mit in die
Beziehung einbrachten (Brisch 1999).
Bindungsorganisation und weitere Entwicklung Unsichere Bindungsbeziehungen sind nicht per se pathologisch. Sie sind
abzugrenzen von hochunsicheren Bindungen und Bindungsstörungen, so wie
sie im ICD-10 aufgeführt sind.5
Fragt man nach der Bedeutung der Bindungsorganisation, dann ist eine erste
und wichtige Antwort, dass die Qualität der Bindungsorganisation einen
maßgeblichen Schutz- bzw. Risikofaktor für die weitere Entwicklung darstellt
(Brisch 2003). Hierauf verweisen Befunde der Deprivationsforschung wie auch
der Protektionsforschung,6 die ihrerseits durch die Beobachtung angestoßen
wurde, dass es Kinder gibt, die unter sehr belastenden Umständen
5 Der ICD-10 (1994) unterscheidet zwischen einer „reaktive(n) Bindungsstörung (F94.1) und einer „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ (F94.2). Da sich die Kriterien der kinderpsychiatrischen und bindungstheoretischen Klassifikation überschneiden, gibt es Vorschläge, die desorganisierte Bindung/hochunsichere Bindung mit klinischen Bindungsstörungen gleichzusetzen (vgl. Ziegenhain et al. 2004, S. 97 6 Die Deprivationsforschung fragt nach Kurz- und Langzeitfolgen negativer Kindheitserfahrungen, die Protektionsforschung versucht die Bedingungen zu bestimmen, die eine verhältnismäßig gelungene Entwicklung trotz ungünstiger Lebensumstände ermöglicht.
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aufwuchsen, als Erwachsene aber trotzdem relativ gesund waren. Und so
entstand die Frage: Was also ist es oder könnte es sein, was den Einfluss
verschiedener Risikofaktoren abschwächt? Dornes fasst eine Grundaussage
der Protektionsforschung wie folgt zusammen: „Die Existenz einer positiven
Beziehung zu mindestens einem Elternteil oder einem anderen vertrauten
Erwachsenen ist ein erstrangiger Schutzfaktor für die weitere Entwicklung“
(Dornes 2000, S. 107). Tress spricht in Anknüpfung an die Mannheimer
Längsschnittstudie von der „überragende(n) Bedeutung der zuverlässigen
frühkindlichen Bezugsperson, welche nach unserer Studie u.U. auch
außerordentlich stark belastende Momente der ersten Lebensjahre
aufzuwiegen vermag“ (Tress 1986, S. 56). Eine sichere Bindungsorganisation
ist ein „Risikopuffer“, sie hilft, eine kritische/belastende Lebenssituation besser
zu bewältigen (vgl. Spangler & Zimmermann 1999, S. 181). Kinder mit einem
sicheren Bindungsmuster reagieren mit größerer psychischer Widerstandskraft
auf emotionale Belastungen wie z.B. Scheidung (Brisch 2003) und haben
deutliche Entwicklungsvorteile.
Kinder mit unsicheren Bindungsmustern haben Entwicklungsnachteile und auch
ein erhöhtes Entwicklungsrisiko (Romer 2003). Kommen weitere Risikofaktoren
hinzu, wird eine negative Entwicklungsprognose wahrscheinlich (Spangler &
Zimmermann 1999). Kinder mit unsicherem Bindungsmuster zeigen in späteren
Lebensabschnitten Einschränkungen im Sozialverhalten und in der kognitiven
Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die „ständige Aktivierung des
Bindungssystems, die mit Stressreaktionen verbunden ist, scheint Lern- und
Erfahrungsmöglichkeiten zu blockieren“ (Köckeritz 2004, S. 31).7
Ein desorganisiere Bindung verweist ebenso wie eine Bindungsstörung auf eine
Traumatisierung des Kindes und/oder auf eine Traumatisierung in der
Biographie der Bezugsperson und ist entwicklungspsychopathologisch auffällig
(Romer 2003, S. 214) – der Übergang zu psychopathologischen
Verhaltensweisen ist fließend. Zu beobachten sind hier schwerwiegende
7 Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster scheinen im Kindergarten eher Ärger und strafendes Verhalten auszulösen, was eine Wiederholung von familialen zurückweisenden Erfahrungen darstellt, während unsicher-amvibalent gebundene Kinder eher nachsichtiges, behütendes Verhalten evozieren (vgl. Spangler & Zimmermann 1999, S. 185).
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Störungen der Eltern-Kind-Beziehung, die ausgesprochen negative Folgen für
die weitere emotionale, soziale und kognitive Entwicklung haben. Um an dieser
Stelle auf nur einige der möglichen Probleme hinzuweisen: Probleme in der
Emotionsregulation, hochaggressives Verhalten, Selbstwertprobleme,
Verhaltensprobleme, kognitive Entwicklungsverzögerungen oder auch
dissoziative Symptome im Jugendalter (Hesse & Main 2006, Ziegenhain et al.
2004).
Vielleicht noch ein Blick auf die Gefährdungskonstellationen und Risikogruppen
für Bindungsstörungen: Besonders gefährdet sind Kinder, die misshandelt oder
vernachlässigt werden; hier finden sich gehäuft hochunsichere Bindungen.
Eltern, die Kinder misshandeln oder vernachlässigen, zeigen ihrerseits zu 90%
eine unsichere Bindungsrepräsentation: Misshandelnde Eltern fielen durch eine
unsicher-distanzierte Bindungshaltung, vernachlässigende durch eine unsicher-
verstrickte Bindungshaltung auf (Brisch 1999).8
Gefährdet sind auch Kinder aus Heimen oder Pflegestellen; gefährdet sind
weiterhin im besonderen Maße Kinder psychisch kranker Eltern
(depressiv/psychotisch/Angststörungen). Weitere Risiken sind der plötzliche,
unerwartete Verlust der Hauptbindungsperson oder auch lange stationäre
Klinikaufenthalte.
Wir können „davon ausgehen, dass Kinder, die in extrem schwierigen
psychosozialen Verhältnissen aufwachsen mit häufig wechselnden
Bezugspersonen, extrem unzuverlässigen Bezugspersonen, wie drogen- und
alkoholabhängigen Eltern, die Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind,
nicht in der Lage sein können, ein stabiles Arbeitsmodell von Bindung zu
entwickeln“ (Fremmer-Bombik 2003, S. 182).
Stabilität, Weitergabe und Veränderung von Bindungsmustern Längsschnittuntersuchungen, die in den USA, in England oder Deutschland
durchgeführt wurden, zeigen, dass die frühen Beziehungserfahrungen bzw. die
8 Mit Hilfe des Erwachsenen-Bindungs-Interviews (George et al. 2001) wurden die Bindungsrepräsentationen Erwachsener bestimmt. Unterschieden wird hier zwischen einer sicheren Bindungsrepräsentation, einer unsicher-distanzierten- und einer unsicher-verstrickten Bindungsrepräsentation sowie einer Bindungsrepräsentation mit ungelöstem Verlust und/oder Trauer.
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durch diese entstandenen Bindungsmuster ein großes Beharrungsvermögen
aufweisen. Anders formuliert: Bindungsmuster scheinen ein vergleichsweise
stabiles Merkmal zu sein. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass das
bindungsrelevante Verhalten von Einjährigen und sechsjährigen Kindern eine
Übereinstimmung von ca. 75% - 80% aufweist (Brisch 1999, S. 56).
Weiterhin zeigt sich ein starker transgenerationaler Effekt: Die
Wahrscheinlichkeit ist ausgesprochen hoch, dass die erworbenen
Bindungsmuster bzw. -repräsentationen an die Kindergeneration weitergegeben
wird: Studien, die den Zusammenhang zwischen der Bindungsrepräsentanz der
Mutter und dem Bindungsmuster einjähriger Kinder untersuchen, sprechen von
einer Übereinstimmung, die bei ca. 75% liegt (Brisch 2003, S. 57).
Wie kommt es zu diesen so deutlichen Zusammenhängen? Offensichtlich
beeinflusst die Bindungshaltung der Bezugsperson/Mutter das Verhalten
gegenüber dem Säugling. Empirische Studien zeigen, sicher gebundene Mütter
verhalten sich feinfühliger gegenüber ihren Kind, während traumatisierte eher
einen unsicheren, feindseligen oder hilflosen Interaktionsstil zeigen (Brisch
2003), was wiederum bedeutet, dass das Kind sie nicht als sicheren Hafen bzw.
sichere Basis „nutzen“ können.9
Wie lässt sich die relativ Beständigkeit erworbener Bindungsstrategien und
deren Übertragung auf den Umgang mit anderen Menschen erklären?
Die interaktiven und kommunikativen Erfahrungen, die das Kind mit seinen
Bezugspersonen macht, werden verinnerlicht; es entsteht eine innere
Repräsentanz dieser Beziehungserfahrungen. Anders formuliert: die
Erfahrungen werden zu einem „inneren (internen) Arbeitsmodell“ verknüpft
(Bowlby 1976),10 es formieren sich bestimmte Wahrnehmungs-, Bewertungs-
9 Wichtig anzumerken ist an dieser Stelle jedoch, dass Bindungsmuster und -repräsentanzen trotz ihrem Beharrungsvermögen sehr wohl veränderbar sind: Positive wie negative Beziehungserfahrungen oder auch belastende Lebensereignisse können die Weichen in eine andere Richtung stellen. 10 Unterschiedliche Erfahrungen werden schließlich in ein Gesamtmodell integriert: Gibt es mehrere Bezugspersonen, so entwickelt das Kind unterschiedliche Arbeitsmodelle und integriert diese Erfahrungen in ein kohärentes Arbeitsmodell, wobei sich vermutlich das Arbeitsmodell durchsetzt, das mit der Hauptbezugsperson entwickelt wurde.
11
und Handlungsschemata, die auch in neuen Situationen zum Tragen
kommen.11
Wie könnten nun Arbeitsmodelle der jeweiligen Bindungsmuster aussehen?
Macht ein Kind in Zuständen ängstlicher Anspannung wiederkehrend und
verlässlich Erfahrungen des einfühlsamen Gehalten- und Getröstetwerden, so
kann es die Erfahrung der sicheren Basis stabil verinnerlichen. Ein inneres
Arbeitsmodell von Zuversicht wird so Teil der psychischen Struktur. Eine Mutter,
die feinfühlig antwortet, vermittelt ihrem Kind die Erfahrung, etwas in seiner
Umwelt bewirken zu können, es erfährt eine frühe Form der Selbstwirksamkeit,
die vermutlich Vorläufer von Wirksamkeitserwartungen ist, die mit
Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer einhergehen (Mietzel 2003).
Kinder mit unsicherer Bindung entwickeln innere Arbeitsmodelle, denen zufolge
andere Menschen unberechenbar sind, das eigene Selbst relativ machtlos,
wenig Zutrauen und Hoffung auf Erfolg in neuen Unternehmungen und
Beziehungen, sie erwarten von anderen abgelehnt zu werden und verhalten
sich auch so, was oft tatsächlich Ablehnung hervorruft und die Überzeugung
bestärkt.
Reagieren Eltern kaum oder gar nicht auf die Bedürfnisäußerungen ihres
Kindes (vernachlässigende Eltern), können diese keinen Zusammenhang
zwischen ihrem Verhalten/Gefühlsäußerungen und den Reaktionen der Eltern
herstellen (Ziegenhain et al. 2004, S. 110f). Hilflosigkeit und Ohnmacht sind hier
die dominanten Erfahrungen.
In den Begrifflichkeiten eines anderen Theorierahmens beschäftigt sich die
Bindungstheorie mit Mikrotraumatisierungen, die auch durch im Einzelnen
unspektakuläre, nicht selten subtile, aber immer wiederkehrende
Interaktionsstörungen zustande kommen: Unsichere Bindungsmuster sind die
Folge chronischer, häufig undramatischer Zurückweisung oder aber
inkonsistenter Beantwortung von Bindungsbedürfnissen. Bindungsstörungen
sind die Folge emotionaler Vernachlässigung, was bedeutet, dass die
11 Bindungsmuster sind mentale und verhaltensbezogene Bewältigungsstrategien; sie sollen vor und in kritischen Situationen schützen. In dieser Perspektive ist auch ängstlich-vermeidendes oder -ambivalentes Verhalten eine Bewältigungsstrategie.
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Bezugspersonen dem Kind chronisch mit nicht-responsiven oder „nicht-
feinfühligen“ Verhalten begegnen und nicht oder unangemessen auf seine
kommunikativen Angebote „antworten“.
3. Ziele bindungsorientierter Frühprävention Bindungsorientierte Frühprävention stellt Hilfen zur Verfügung, die dem Auf-
und Ausbau einer positiven und sicheren Eltern-Kind-Beziehung zuträglich sind.
Bindungsorientierte Frühprävention zielt darauf ab:
- das elterliche Kompetenz- und damit Selbstwertgefühl zu stärken,
- die Eltern-Kind-Interaktion zu verbessern sowie die Eltern-Kind-
Beziehung zu stärken,
- die elterliche Feinfühligkeit und Responsivität zu verbessern,
- ein besseres Verständnis von der kindlichen Entwicklung zu vermitteln,12
- eine sichere häusliche Umgebung zu fördern, die dem Kind hinreichende
Entwicklungsmöglichkeiten bietet,
- transgenerationale Teufelskreise zu durchbrechen.
12 Hierzu gehört auch die Vermittlung basaler entwicklungspsychologischer Grundkenntnisse.
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4. Konzepte bindungsorientierter Frühprävention und die besondere Bedeutung des Mediums Video Im Folgenden eine Zusammenschau verschiedener Konzepte und Programme
bindungsorientierter Frühprävention:
Die aufgeführten Konzepte weisen viele Gemeinsamkeiten (z.B. hinsichtlich
ihrer Zielsetzung), aber auch Unterschiede auf (das betrifft z.B. die Zielgruppe,
Setting, aber auch Fragen wie, wann setzt das Konzept an, über welche
Dauer?) In sie gehen pädagogische, therapeutische und sozialarbeiterische
Elemente ein. Konzepte bindungsorientierter Frühprävention sind „Zwei-
Generationen-Programme“, Klient ist die Beziehung.
Das Steep-Konzept zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass sowohl an
der aktuellen Eltern-Kind-Interaktion als auch an der Beziehungsvergangenheit
der Eltern gearbeitet wird (Erfragen, „Anschauen“ und Besprechen der
elterlichen Erinnerungen an die eigene Kindheit bzw. der elterlichen
Bindungserfahrungen). Zugrunde liegt diesem Vorgehen die psychoanalytisch
- Cramer 1991 (Genfer-Schule)- Fraiberg (USA), in der Nachfolge Liebermann, &Pawl 1993 (San Francisco-Gruppe) - Brisch et al. 1996 (Ulmer Modell)
Früherkennung und Behebung von sozialen Problemen und Entwicklungsrisiken
Aarts (2002, Niederlande)„Marte-Meo” (lat.: „aus eigener Kraft“)
zuerst jugendliche Mütter, später Familien, die Unterstützung suchen/brauchen, Hervorhebung der Perspektive des Kindes im Beratungsprozess, Einbindung entwicklungspsy. Erkenntnisse, systemisch-lösungsorientiert, Berater arbeitet mit den Eltern/der Bezugsperson
Ziegenhain et al. (2004, Ulm)„Entwicklungspsychologische Beratung“
ursprünglich Förderung von Eltern-Kind-Beziehungen in Risikofamilien (2-3 Jahre)Ziel: Vermeidung von Bindungsdesorganisation bis 10 Eltern-Kind-Paare, Einzel-/Familiensetting, nach der Geburt ergänzt um Gruppensetting
Erickson & Egeland (2006, USA)„Steep”(Steps towards effective, enjoyable parenting)
entwickelt für Kinder mit hohem EntwicklungsrisikoGruppensitzungen mit bis zu 6 Elternpaaren, Dauer 20 Wochen, basiert auf Ainsworth Idee der mütterlichen Basis und des Hafens der Sicherheit
Marvin et al. (2003, USA)„Kreis der Sicherheit“
Charakteristika
- Cramer 1991 (Genfer-Schule)- Fraiberg (USA), in der Nachfolge Liebermann, &Pawl 1993 (San Francisco-Gruppe) - Brisch et al. 1996 (Ulmer Modell)
Früherkennung und Behebung von sozialen Problemen und Entwicklungsrisiken
Aarts (2002, Niederlande)„Marte-Meo” (lat.: „aus eigener Kraft“)
zuerst jugendliche Mütter, später Familien, die Unterstützung suchen/brauchen, Hervorhebung der Perspektive des Kindes im Beratungsprozess, Einbindung entwicklungspsy. Erkenntnisse, systemisch-lösungsorientiert, Berater arbeitet mit den Eltern/der Bezugsperson
Ziegenhain et al. (2004, Ulm)„Entwicklungspsychologische Beratung“
ursprünglich Förderung von Eltern-Kind-Beziehungen in Risikofamilien (2-3 Jahre)Ziel: Vermeidung von Bindungsdesorganisation bis 10 Eltern-Kind-Paare, Einzel-/Familiensetting, nach der Geburt ergänzt um Gruppensetting
Erickson & Egeland (2006, USA)„Steep”(Steps towards effective, enjoyable parenting)
entwickelt für Kinder mit hohem EntwicklungsrisikoGruppensitzungen mit bis zu 6 Elternpaaren, Dauer 20 Wochen, basiert auf Ainsworth Idee der mütterlichen Basis und des Hafens der Sicherheit
Marvin et al. (2003, USA)„Kreis der Sicherheit“
Charakteristika
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und bindungstheoretisch begründete Annahme, dass sich eine nicht bewältigte
biographische Vergangenheit gewissermaßen als „ungeladener Gast“ in der
aktuellen Beziehung zum Kind Geltung verschafft (vgl. Fraiberg, Adellson &
Shapiro 2003; Brazelton & Cramer 1994; Richter 1992). Im Kontakt mit dem
Kind werden die Beziehungserfahrungen, die die Eltern ihrerseits als Kinder
gemacht haben, aktualisiert. Zeichnete sich die eigene Kindheit durch
Mangelerfahrungen aus, können die Anforderungen, die mit der (gerade auch)
emotionalen Versorgung eines Babys verbunden sind, schmerzhafte Gefühle
wie Trauer, Wut oder auch Neid auslösen („um mich hat sich niemand
gekümmert“) und den Umgang mit dem Kind beeinträchtigen. Nimmt eine
Mutter oder ein Vater diese Gefühle bewusst wahr, so ist dies ein wichtiger
Schritt, um aus der hier nur angedeuteten Dynamik aussteigen zu können.
„Seeing is believing“13 – Video-Feedback in der bindungsorientierten Frühprävention Methodisch verbindet die genannten Konzepte das Arbeiten mit
Videoaufnahmen. Das Medium Video dient als Beobachtungs-, Analyse- und
Feedbackmittel, das die Eltern-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt der
Wahrnehmung rückt (Erickson & Egeland 2006, Downing & Ziegenhain 2001).
In Absprache und mit Einwilligung der Eltern werden alltägliche Eltern-Kind-
Interaktionen/Aktivitäten aufgenommen und in einem zweiten Schritt
besprochen. Das können Wickel-, Fütter- oder Spielsituationen sein. Was die
Auswahl betrifft, so kommen sowohl Situationen in Frage, von denen die Eltern
annehmen, dass sie ihnen und dem Kind Spaß machen, als auch solche, die
sie als schwierig erleben. Entscheidend ist die Haltung des Beraters/Coach:
Haltung und Interventionen sollten wertschätzend, respektvoll, beziehungs- und
ressourcenorientiert orientiert sein (Berater als sichere Basis).
Praktisch heißt das z.B., dass der Ausgangspunkt nicht vom Berater
wahrgenommene Defizite sind, sondern mögliche Stärken und Fähigkeiten, die
für die Beziehungsförderung genutzt werden. In den Videos gilt es, sich
zunächst auf positive, gelungene Szenen oder auch Interaktionssequenzen zu 13 Seeing is Believing („Was man sehen kann, das glaubt man auch“), ist ein bedeutsamer Leitsatz von STEEP.
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beziehen. Angestrebt wird ein Klima, das dazu einlädt, gemeinsam auf
Entdeckungsreise zu gehen. Hilfreich ist hier das Stellen offener Fragen, die die
Eltern/die Bezugsperson dabei unterstützen, selbst herauszufinden, wie sich
der Austausch zwischen ihnen und dem Kind gestaltet. Solcherart Fragen
können sein (vgl. Erickson & Egeland 2006): „Was meinen Sie, was Ihr Kind in
diesem Moment empfunden hat?“ „Schauen Sie, was Ihr Baby da gerade
gemacht hat. Was will es Ihnen damit sagen?“ „Ich frage mich, was ein Baby
wohl empfindet, wenn es…“ (Anknüpfen an ein beobachtetes elterliches
Verhalten). Es geht also nicht drum, die Eltern zu belehren, sondern vielmehr
darum, in ein Gespräch zu kommen: Was sehen die Eltern? Wie interpretieren
sie das, was sie sehen? Welche emotionalen Reaktionen werden hierdurch
hervorgerufen und welche Annahmen/Phantasien haben die Eltern über sich
und ihr Kind?
Videoaufnahmen ist zu Eigen, dass man sich etwas, das schon geschehen ist,
noch einmal angucken kann. Man kann das Bild anhalten, Bild für Bild in
Mikroschritten wirken lassen oder auch Wiederholungen einspielen.
Videoaufnahmen regen dazu an, von außen auf das Geschehen und die
Beziehung zum Kind zu schauen. Eltern können sich, das Kind und die
Interaktion aus dem zeitlichen und situativen Abstand „betrachten“, also
kurzzeitig aus der Rolle des Akteurs, der sich im Geschehen verhalten muss,
aussteigen. Die Arbeit mit Videoaufnahmen befördert somit eine reflexive
Haltung; sie lädt dazu ein, aus dem Blickwinkel der Kamera zu beobachten,
was zwischen den Akteuren geschieht. Die Eltern sehen sich mit den Augen
eines Beobachters (sie hören ihre Stimme, Tonlage, sehen ihre Körperhaltung)
und werden somit angeregt, gewissermaßen von außen auf das Geschehen
und die Beziehung zum Kind zu schauen).
Die Arbeit mit Videoaufzeichnungen zielt darauf ab:
- sich selbst und das Kind aus einem anderen Blickwinkel zu beobachten
- neue Einsichten in Verhaltensweisen und Gefühle der Beteiligten zu
gewinnen
- sensibler für die Signale des Kindes zu werden und darum feinfühliger
handeln zu können
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- Interaktionsmuster zu erkennen und darum verändern zu können
(Wechselwirkung positiver Reaktionen, das sich Aufschaukeln negativer
Reaktionen)
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