bohmische elegie

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Andreas Hoffmann

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Erstes Kapitel

Im silbernen Toaster von Ehepaar Ringel hrt man den spten Herbstwind singen. Er singt einen Choral, denn es ist Sonntagmorgen.

Vom Frhstckstisch aus lsst er das fertig getoastete Brot meterweit durch den Raum schwirren. So ist das im Oktober bei besonders preiswerten Gerten. Schnppchenpreisesorgen jetzt fr gengend Schwungkraft. Und Konkurrenz belebt das Geschft: Wessen Schnittchen fliegen weiter? Wir sollten uns ein besseres Gert leisten, seufzt Brbel Ringel und sammelt die beiden fertigen Scheiben wieder vom Fuboden auf. Weit du, Eduard, Schmckrings haben einen guten Toaster! Der ist mir zu grn! Quietschgrn! urteilt Euard Ringel. Aber seine Frau kmpft um den Fortschritt: Dort wo Preis und Leistungstimmen, macht man sich einen korrekten Beamten zu Diensten. Er runzelt die Stirn, zieht seine krftigen Augenbrauen hoch: Ja, wenn die Werbung es will, spricht dasBrot mit dir. Schiebt den gebrunten Oberkrper aus der Versenkung und sagt: Mein Name ist Jonny und ich bin fertig. Du willst dich nur nicht von diesem Billigteil trennen! Brbel trstet sich mit Sauerkirschmarmelade. Sauerkirschmarmelade ist nichtso sentimental wie jene fette Nougatcreme, bei deren Anblick Eduard Ringel behauptet: Immer muss diese braune Masse mit auf dem Tisch stehen. Es ist zum Heulen!Die Tischdecke bekommt davon nur Flecken. Doch eine richtige Tischdecke zhlt ihreFlecken, deutet damit die eigene Wertigkeit und brstet sich spter in der Waschtrommel gegenber den Bettlaken. Manchmal gibt es auch Verlierer unter den Tischdecken. Nicht so Eduard Ringel, auch wenn er erst beim dritten Schlag mit dem blauen Plastiklffel die Schale seines gekochten Frhstckeis zum Reien bringt. Kein Handwerk frSanftmtige! Freundliches Eierlffelschwingen reicht bei solchen Dickschdeln leidernicht aus. Alois, ihren gelb-grnen Singsittich, scheint dieses Ritual zu nerven:Kaum fngt sein Herrchen mit Eierlffelschwingen an, startet er eine hochfrequentierte, lautstarke Schimpfkanonade. Er bentigt auch keine zweieinhalb Tassen Kaffee mit wenig Milch und viel Zucker, sondern schttelt sich zufrieden ber trb abgestandenem, im Glcksfall nur zwei Tage altem Wasser. Es geht nichts ber Weichkse mit grnem Pfeffer, meint Eduard gensslich. Brbel strt das nicht, denn die ganze Welt des kernlosen Glcks findet sie in ihrer Sauerkirschmarmelade. Nur heute ist etwas anders: Esgibt keine wirkliche Begrndung fr Eduards pltzlich auftretenden Schwindelanfall. Der Kaffee ist nicht zu stark, das Frhstcksei besiegt, die gemeinsamen Gesprche flieen noch geruhsam. Da bekommt die Muskulatur seines Mundes ein zitterndes Eigenleben, provoziert unangenehm starken Speichelfluss. Brbel schttelt den Kopf: Nun lassdich nicht gehen. Wie dein Vater? Doch nicht genug: Hinter seinen pltzlich angeschwollenen Lippen wird ein Ausbruch vorbereitet. Schon besetzen erste Vorboten derRebellion jede seiner Bewegungen im Gesicht. Aber was wird passieren? Schnell ist es Brbel klar. Aus irgendwelchen Rachen-, Mund-, Gehirnhhlen steigen Worte, ausgemergelte Gestalten, welche ohne Rcksicht jedes Hindernis berwinden und auf die weie Feiertagstischdecke strzen. Dabei formieren sie sich pfeilschnell zu ganzen Zeilen, Strophen, zeigen so ihre Strke. Der Sonntagmorgen bleibt irritiert. Eduard,vom Verlust seines Bewusstseins berzeugt, wird zum Medium ihrer Revolte. Er muss, mit geschlossenen Augen, die ans Tageslicht gerckten Zeilenaussprechen. Eine einzige verzweifelte Rezitation:

Sie jagen die Gerechtigkeitber die alten, treuen Wege ins Gebirge,streifen ihr die Haut ber den Kopf,verbrennen das letzte Versteck im Schnee

auch alle Jacken, Hosen, Rcke und den Lebensmutziehen sie uns aus

werfen ihn mit den Strmpfen ins Feuer.

Bluthunde lecken die Verzweiflung unserer Tage auf, lstern,zahlen Gold fr jede giftige Schlange.

Fertig! Er ist fertig! Auftrag erfllt! Die Worte wurden in die Welt gesendet. Zuerst allerdings beschrnkt auf die Wohnkche von Ehepaar Ringel.

Brbel schaut ihn zu Recht besorgt an: Hast du schlecht getrumt?Ich habe gar nicht getrumt. Es regt ihn auf, jetzt nach einer Rechtfertigung zu suchen. Vielleicht hatte sich ein emotional schon lnger in seinem Unterbewusstsein hngen gebliebenes Gedicht eben erbrochen. Ach so, lenkt sie vershnlich ein, du brauchst mehr Ruhe. Schalte doch wenigstens heute einmal ab. Es ist unser Tag: Zeit fr dich und mich. Diese fette Nougatcreme, denkt er es muss einem ja dabei komisch werden. Einen Erklrungsversuch fr das spontan aufgesagte Gedicht gibt es noch: Seinguter alter Literaturlehrer Klebe, dieser beeindruckende Mensch mit der Mrchenerzhlerstimme er ist schuld. Hat ihm einst, in schulischer Vorzeit, lyrische Werke von Eichendorf, Storm, Mrike, Uhland, aber auch Goethe und Schiller, und Rilke, mit Hilfe pdagogischer Zwangsmanahmen ins Gedchtnis eingebrannt. Rilke ist schuld undnatrlich Klebe. Ich bin das literarische Opfer, werde nach Jahrzehnten wieder geqult von lebensfernen Gedichten. Eduard Ringels Gesundheit leidet darunter, die Nerven, das Gedchtnis: Gedichte machen nachdenklich und einsam!Was ihm auffllt, ist die pltzlich eingetretene, unglaubliche Stille im Raum. Selbst das nchste Toastbrot kann nicht zum Sprung aus dem angeschaltenen Toaster ansetzen. Die Wanduhr vergisst das Luftholen, bleibt in ihrem Lauf stehen: Und Alois,der nervende Singsittich, gibt keinen Ton von sich, nicht einmal einen quietschenden!Brbel stellt keine Fragen mehr, der Kaffee ist getrunken, das Frhstck damit beendet.Ob man die Strophe wiederholen kann?Eduard Ringel murmelt die Worte ganz leise noch einmal, wartet allerdings, bis Brbel den Raum verlassen hat. Die Worte kommen wieder, der Text sitzt. Gelernt isteben gelernt. Aber ich habe ihn nie gelernt, seufzt Eduard. Ist so ein starkesLangzeitgedchtnis nicht wie ein Geschenk, Grund zur grenzenlosen Dankbarkeit?Eduard grbelt in sich hinein: Wann habe ich denn von dieser Strophe berhaupt gehrt?Mir ist es nicht bekannt!Was hilft das Jammern! Nach dieser morgendlichen Stunde hat ihn das Schicksal auserkoren, mit einer tragischen Strophe im Kopf zu leben. Klassische Gedichte knnen bis zum Tod bereichern. Aber nicht Zeilen wie: Sie jagen die Gerechtigkeit ber die alten, treuen Wege ins Gebirge, streifen ihr die Haut ber den Kopf Eduard sprt eine tiefe Vernderung, glaubt fast dem pltzlichen Anfall von Schttelfrost ausgeliefert zu sein.Eben ist noch Oktober! Und im November prft er manchmal, etwas ngstlich, die weitere Anwesenheit der Worte. Sie sind da, klettern aus ihrem Versteck, klar und ein

deutig.Brbel scheint die Situation vergessen zu haben, spricht nicht mehr von seinem literarischen berraschungsangriff. Da sie als Krankenschwester zur Schichtarbeit verpflichtet ist, bleibt wenig Zeit fr das gemeinsame Sonntagmorgenfrhstck.Eduards Zoohandlung fordert geregelte Zeiten, das heit von 9 Uhr bis 18.30 Uhr. Zum Glck! Denn wer will schon abends um 22 Uhr Nymphensittiche oder Farbmuse kaufen. Natrlich bleibt er oft lnger im Geschft, betreibt gewissenhaft Inventur, schreibtBestelllisten, berprft vorhandene Bestnde, widersteht jeder Form von Mdigkeit.Es ist Ende November, Sonntag und Frhstckszeit. Brbel hat frei. So knnen sie das morgendliche Ritualwieder gemeinsam pflegen. Mit dem dritten Schlag des blauen Eierlffels ist die Schale des Fnf Minuten Frhstckseis gerissen. Warum gelingt das Brbel beim ersten Mal und dann noch unspektakulr auf der Tischkante. Mit Kaffee, dazu viel Milch und Zucker, kann er den aufkommenden Neid wegsplen. In dem Moment, in dem Eduard zu schwingen beginnt, startet Alois, der Singsittich, seinen nervendenSingsang.Die ersten zwei Scheiben Weibrot springen aus dem Toaster. Es ist wie immer. Erneut steht Sauerkirschmarmelade auf dem Tisch, diesmal gleich neben einem neuen Trockenblumengesteck. Nougatcreme, die alte Bekannte, leuchtet selbstbewusst und fett. Wenn doch nur ihr Glas endlich leer wrde! In diesem Moment versprt Eduard einstarkes Hungergefhl. Wieder bilden sich unerwartet Schweiperlen auf der Stirn, reagiert das Gesicht schlagartig mit blassen Zuckungen. Besonders die Mundpartie ist betroffen. Geht es los, Eduard? Trink etwas! Schnell! Bring den Anfall hinterdich! Nein, er sieht nicht mehr, wie Brbel ihm ein Glas Wasser reicht. Es ist gerade jener Augenblick, wo das Bewusstsein, vielleicht nur achtelsekundenlang, aussetzt.Die Ruhe im Glas zittert! Zerbricht dieser Moment? Tief durchatmen! Der Hunger bleibt, das unsgliche Schwindelgefhl auch! Kein Ende in Sicht!In diesen Augenblick hinein ffnet sich sein Mund. Kein Schrei! Schwere klebrige Worte eines Gedichtes berfluten seine Gedanken. Alles wie vor einem Monat:

Dickbuchig sind die Tage und laut,oft treten ihre Adern hervor, geschwollen vom Weg,den wir mhsam gehen.Bewegt mich das Halbdunkel der Rume zum Tun?Wasche tglich den glsernen Krper meiner Pflichtund flle ihn mit Sinn, nurzerbrechen manche zu frh, bleiben tausend Splitterauf einem eisigen Boden zurck.Schon nach den Stunden sind sie vergessen.Das ist Ordnung!

Eduard tupft sich den Speichel aus den Mundwinkeln, ringt um Rechtfertigung: Esfindet nichts: Werde ich jetzt verrckt?Dieses sorgenvolle Gesicht von Brbel! Eduard, irgendetwas belastet dich. Wenn ichnur dahinter kme. Sie schweigt eine Weile, berlegt, mchte ihm etwas Gutes bieten: Wirsollten Urlaub machen. Vielleicht wre Sdtirol richtig, Bergtouren blasen den Kopffrei. Oder doch lieber auf die Kanarischen Inseln? Ihr Mund nhert sich seiner Stirn, um sie liebevoll zu kssen. Jetzt bin ich wirklich krank, denkt er. Alles zu spt. Hinlegen, Puls und Blutdruck messen. Vielleicht ruft Brbel den Notarzt, mglicherweise gleich den Psychiater? Eduard ringt um eine Alternative, findet sie und bergibt die Idee, wie eine Patientenverfgung, an Brbel, ehe ihn das Bewusstsein endgltig verlsst. Ich werde Alexander anrufen! Er kennt sich als Deutschlehrer mit Lyrik aus. Der Mann muss es wissen! Noch heute Nachmittag setze ich mich mit Alexander in Verbindung. Dann finden sich bestimmt Zusammenhnge. Ein Glck, dass ihm der Freund aus alten Tagen einfiel, dieser Meister schwieriger Dramen kennt das Versma,die Metrik und berhaupt jeden literarischen Schleier, der das Gemt verdunkeln knnte. Auch Brbel ist beruhigt: Noch eine Scheibe Toastbrot mit Sauerkirschkonfitre wird sie mit ruhigem Gewissen essen knnen.An diesem Sonntag ruft er Alexander nicht an. Dafr meldet sich ihre aufgeregte Tochter Franziska: Knntet ihr denn, am Wochenende, auf eure lieben Enkel Dora und Paul aufpassen? Sie haben bei euch so viel Spa! Haben mir auch versprochen, ganz lieb zu sein. Dann folgt, ohne groe Pause, ihre Begrndung: Ich habe einen ganz tollenMann kennengelernt, Falco. Ja sie nennen ihn alle Falco! Er sieht aus wie Falco,singt wie dieser, heit aber Friedrich und ist wirklich toll. Und du willst das Wochenende mit diesem Friedrich verbringen? Ja wir zwei fahren irgendwohin. Ach wie s! Eduard muss schmunzeln: Das kann er nun wirklich nicht verhindern. Franziska ruspert sich, erklrt etwas beleidigt: Du bist bld! Falco fhrt einen tollen Cabriolet. Falco und Franziska im Cabriolet, er natrlich Sonnenbrille, sportlich, sizilianischerHaarschnitt, kantig, mnnliche Gesichtszge alles im Griff, ob Lenkrad oder Tochter. Sie glcklich daneben, einen langen, flauschigen, hellen Schal um den Hals. Zu viel Glck oder Schal, denn dieser verwickelt sich nach einiger Zeit im Rad des gelb mediterranen Fahrzeuges, so stark, dass Franziska erst Panik, dann keine Luftmehr bekommtschlielich durch die gar nicht mehr flauschige Zugkraft hinausgezogen wird: Keine Mglichkeit, Hilfe zu rufen. Er unbeeindruckt am Steuer, immer noch alles im Griff: Rock me Amadeus auf den Lippen Nein, Eduard stellt sich die Szene jetzt nicht weiter vor. Zu schrecklich! Wieder die zirpende Stimme Franziskasan seinem Ohr: Also knnte ich Freitagabend die Kinder bringen? Soll er der Tochtersagen, dass ihn momentan ein Nervenproblem plagt und sein Gehirn sich nur auf dramatische Gedichte konzentrieren kann? Nun sag doch schon mal was, Papa.Klick! War das jetzt das ausschlaggebende Zauberwort: Ganze Heerscharen an vertrauten, kindlich liebevollen Bildern tauchen auf. Ja, Franziska, bringe die Kinderund wir werden schon was Schnes unternehmen. Vergiss ihre Zahnbrsten nicht. Nein, nein, beschwichtigt sie, ich pack in ihre Taschenausreichend Kleidung, Zahnpasta und Seife. Die hrbar erleichterte Tochter atmet soeben vernehmbar durch! Die Kinder mssen auf ihre Sachen aufpassen. Nichts ins Feuer werfen. Wie, ins Feuer werfen?, fragt Franziska irritiert nach. Er relativiert seinen Ausrutscher: Ich meine, sie sollen keine Dummheiten machen. Das war jetzt nur so ein Spruch.Sicher htte sie jetzt noch gern einen Gru an ihren Falco gehrt: Nein, den gibt es nicht. Wer Luxusfahrten unternimmt und nicht auf ihre Tochter aufpasst! Da gibt es keinen Gru. Auerdem existierte real, seit der Trennung von Schwiegersohn Rainer,bereits ein phantastischer Fred und auch jener praktische Alfons. Brbel und Eduard pflegen immer noch guten Kontakt zu Rainer. Sie wei das. Erst mal warten, wiealles weitergeht.Dora und Paul jedenfalls sind die reinste Freude! Brbel sagt:Da kommt wieder Stimmung ins Haus. Ein Wochenende Enkelbesuch lenkt ab. Mehr muss allerdings nicht sein,bremst er: Gern geben wir danach die temperamentvollen Sprsslinge in Franziskas

Obhut zurck.Alles ist besprochen. Alles bleibt geregelt. Die beiden Enkel, den Kopf voller Ideen, treten pnktlich ihren Besuch bei Oma und Opa an. So startet der Alltag durch.

Sie jagen die Gerechtigkeit ber die alten treuen Wege ins Gebirge Diese Zeilen sindso nervend, liegen, Tage spter, zentnerschwer im Kopf und lassen sich jederzeit wiederholen. Auch wenn Eduard Ringel gerade lebendes Futter fr seine Zoohandlung entgegennimmt: Da winden sich im Glaskasten winzige graue Maden, eingesperrte Plagen, ahnungslos hoffend, gleich die ganze Welt auffressen zu knnen. Doch sie werden zum Frae vorgeworfen, genauso wie jene dunkelgrnen Heupferdchen und die Mehlwrmer. Weiter denkt er: streifen ihr die Haut ber den Kopf, verbrennen das letzte Versteck im Schnee bietet whrenddessen Ergnzungsfutter fr Hunde an: schmackhafte Knabbersacks aus rein natrlichen Zutaten, zum Beispiel Truthahn oder Lamm, dazu Reis. Eduard reicht, ganz nach Wunsch der Kundschaft, Schnurries mit Lachs, diesmal Ergnzungsfutter fr Katzen aus dem Regal, rezitiert still die nchsten Zeilen: auch alle Jacken, Hosen, Rcke und den Lebensmut ziehen sie uns aus werfen ihn mit den Strmpfen ins Feuer! Zwnge, denkt er: Zwnge lassen kein Gras wachsen.Auch beim Verkauf von diversen Kratzbumen qulen sie mit ihren scharfen Krallen sein Gedchtnis: Bluthunde lecken die Verzweiflung unserer Tage auf, lstern, zahlen Goldfr jede giftige Schlange Schlangen fhre ich nicht im Angebot, knnte sie jederzeit bestellen: Lnge, Farbe, Giftmenge wie gewnscht. Der Kunde ist Knig!Eduard wird Alexander auch die nchsten Tage nicht anrufen. Er nennt es Blockade.Ein Besuch bei ihm erfordert Zeit. Alexander raucht Pfeife, schaut viel aus demFenster, braucht Stunden zum berlegen. Aber wer hat im Dezember schon Zeit? Da gibt es traditionsgem gengend Arbeit. Eduard Ringel wgt ab: Alexander kann ich auch nach den Feiertagen fragen. Dagegen kommt ihm ein anderer Gedanke. Durch den Besuch der Enkel, sah er Franziska wieder. Lange Zeiten umgibt sich die Tochter mit Schweigen. Doch pltzlich berschlgt sich ihr Bedrfnis nach Kontakten. Und doch, habenRingels sich immer gut mit ihrer Tochter verstanden. Daher ist sich Eduard sicher, mit Franziska ber die Gedichte sprechen zu knnen. Nein, den Autor wird sie nicht kennen. Aber er bekommt eine Mglichkeit zur Aussprache. Und vielleicht ist dernchste Mittwoch eine gute, zeitnahe Gelegenheit fr ein Gesprch. Die Entscheidung steht!Temperaturmig werden tagsber zweistellige Pluswerte erreicht das gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. berhaupt scheint heutzutage jede Jahreszeit, ob Winter oder Sommer, irgendwie einmalig.Es ist inzwischen blich, dass Eduard immer mittwochs, ab 13 Uhr, in seiner Zoohandlung entbehrlich ist. Dann bernimmt Frau Klimpel, mit dem richtigen Blick fr Hundefutter und Katzenkratzbume, die Verantwortung. Die kleine, energiegeladene Frauarbeitet zwanzig Stunden die Woche, schafft unermdlich, dekoriert, ordnet, bert mit einem spielerischen Gespr fr Verkauf. Eduard kommt so in den Genuss zeitlicher Unabhngigkeit. Nach einer kurzen, vertrauten Geschftsbergabe fhrt er los. Es sind immerhin fnfzig Kilometer bis zu ihrem Wohnort, an dem sie eine nderungsschneiderei mit angeschlossenem Kostmverleih betreibt. Brbel meint: Hat Franziska die Mglichkeitzum Verkleiden, geht es mit ihr durch. Das war als Kind bereits so! In einer Laienspielgruppe engagiert, ging sie tagelang auf Tournee. Eduard und Brbel vertrauten ihr, wussten um ihr Glck. Schon immer verkleidete Franziska gern andere Menschen, bezieht diese gnadenlos in ein improvisiertes Spiel ein. Fr all diese Mglichkeiten hat sie Rume im alten Grnderzeitfabrikgebude angemietet. Eduard steht begeistert vor diesem rtlichen Klinkerbau, liebt dessen Architektur, sprt seine Anziehungskraft und freut sich ber die gelungene Vermischung eines solide gebauten Fossilsmit zeitgemen Bedrfnissen. Immer noch strahlen Ornamentik und SteinunnachahmlicheWrde aus. Eduard spricht von Wellness fr das Auge. Heute bevlkern Fahrschule, Anwaltskanzlei, Schuldnerberatung, Kochstudio, ein Parteibro, einer Praxis fr Logopdie u

nd eben Franziskas nderungsschneiderei das Haus.Er versprt eine Art Lampenfieber, luft hin und her, hlt herzklopfend inne, berlegt,schliet die Augen, geht weiter: Dann erst ist es ihm mglicheinzutreten, sich von dem groen, herrschaftlichen Flur begren zu lassen. Dessen alter praktischer Geist ist von Jugendstil und Dmmerlicht verkleidet.Er kommt, klopft nicht an, tritt ein: Franziska bgelt eben eine dunkle Anzugshose, summt dazu leise: Springt auf ihn zu, federnd, ganz der gro gewordene Gummiball, drckt ihren Vater, Ping, Pong, links, rechts. Sie ist ein Temperamentsbndel, stellt Eduard fest.

Schn, dass du mich besuchst, Papa. Es wurde mal wieder Zeit, bemerkt er dazu selbstkritisch. Sie lacht: Das stimmt, fhle mich ganz schn vernachlssigt! Dabei haben wir uns doch so viel zu erzhlen. Lass mich nur die Hose zu Ende bgeln. Sprichts, hpft zurckzum Bgelbrett: Es riecht nach Stoff. Eduard betrachtet die vielen Filmplakate anden Wnden: Daniel Craig als James Bond und Dustin Hoffman in Tootsie. Dann wieder diese Urfilme mit dem melancholischen Charme alter Bonbonglser: Miss Marple, der Schwarze Abt, Charlies Tante, schlielichDie fabelhafte Welt der Amelie, Die zwei Leben der Veronika, Zweiohrhase, Ein Chinese zum Mitnehmen. Das Bgeleisen dampft nicht mer, dafr jene zwei Tassen Kaffee, mit denen Franziska hereinkommt. Das sind alles Lieblingsfilme von mir, tolle Streifen, die man einfach gesehen haben muss. Er schaut sie von der Seite an: Du wrst selbst gern Schauspielerin? Sie stellt die zwei Tassen auf einem kleinen runden Tisch ab, wirft sich in eine selbstbewusste Pose:Bin ich, bin ganz und gar Komdiantin. Werde dir gleich Einblick in meinen Kostmfundus gewhren. Und du musst dann unbedingt mitspielen. Eduard antwortet leicht abwinkend:Eigentlich mchte ich dich heute verwhnen und in ein gemtliches Kaffee einladen.Bei dieser Gelegenheit wollte er der Tochter von den Gedichtstrophen erzhlen. Franziska kontert mit einem Gegenvorschlag: Wir spielen Theater und spter gehts mit Dora und Paul zum Pizzaessen. Einverstanden? Das Pizzaessen ist in Ordnung nur Theaterspielen muss nicht sein. Franziska, du weit doch, ich habe kein Talent fr die Bhne: Einmal, in meiner Jugendzeit, hat man mich, den schlanken Jungen, als Mller Mehlsack ausgestopft. Die vielen Kissen um meinen Bauch halfen aber nicht ber die mittelmige Leistung hinweg, Text vergessen, falsche Betonung. Es war ein Jammer, damals. Franziska schttelt den Kopf: Dir suche ich das perfekte Kostm und du wirst begeistert in meinem Rampenlicht stehen. Wieder hpft sie vor ihm her, eben der kleineGummiball, fhrt Eduard mitten in ihre farbig flimmernde Verkleidungswelt. Der Geruch von Stoff ist hier schwerer, fast slich, so als betritt man eine Confiserie.Durch die groen Fenster fllt ausreichend Licht gegen Altersflecken, Motten und Missverstndnisse. Sie zeigt ihrem Vater, mit quirliger Begeisterung, die zuckerse Weltunterschiedlichster Kleider, Rcke, Hosen, Herrenwesten, Hauben, Zylinder, Fcher,Krbe, aber auch Percken und Glasaugen: alles korrekt unterteilt in Damen , Herrenund Kinderverkleidung. Franziska fordert ihn gerade auf, ein Kostm auszusuchen,da versprt Eduard pltzliche Schwindelgefhle. Warte, ich muss mich setzen Die Tochterschaut ihn berrascht an: Was ist los? Du siehst auch pltzlich blass aus. Eduard whrtmit der Hand ab. Ihm ist die Situation peinlich. Aber verhindern kann er nun nichts mehr. Nicht, dass ihm glnzender Schwei auf die Stirn tritt, seine Muskulatur versagt, der Speichel die Grenzen des Mundes berschreitet. Eduard wei was jetzt folgt. Aber die Tochter kann er nicht mehr vorwarnen. Sein ganzes Gesicht ist gefhlttaub, angeschwollen als berkommen ihn schlimme Zahnschmerzen. Nur fern sieht ernoch die besorgte Tochter. Dann ist Schluss. Ohnmacht. Nur der Mund bewegt sich.Und die Worte sind klar gesprochen:

Ordnung der alten Zeit!Aber Zeit verwandelt, bleibt nurihr Nachruf auf die Tage leichtfiger Spiele.

Barfu. Sonntags mit weien Strmpfen.berall wuchsen gelbe, rote, blaue Pnktchen.Lieen sich so selbstverstndlich fangen,diese lachenden Ideen,die nun vergessen sind.Selbst das kinderleichte Gold einstiger berraschungen,fllt aus seiner Inschrift.Die Worte sind zu schwer geworden.

Franziska hat sich neben ihren Vater gesetzt. Sie nimmt seine Hand, sieht wie erlangsam die Augen wieder ffnet. Eduard muss sich neu orientieren. Die Erinnerungkehrt zurck. Es ist Mittwochnachmittag und er befindet sich in der Werkstatt vonFranziska. Wollte sie besuchen, um ber seine Gedichte zu reden. Nun hat die Tochter es erlebt. Eduard schiebt ihre besorgte Hand zurck: Danke Franziska, es ist wieder gut. Ich erzhle dir alles. Mit einem Tuch fhrt er sich bers Gesicht und den Mund, bringt so die Welt neu in Ordnung. Die Tochter kann ihre Besorgtheit noch nicht fallen lassen. Was war das, Vater? Er richtet sich auf, fragt nach einem Glas Wasser und beginnt dann zu erzhlen. Wegen dieser Gedichte wollte ich mit dir reden.Mich berkommen seit einiger Zeit, vielleicht so sechs Wochen, Zustnde, in denen ich nicht mehr Herr ber meine Sinne bin. Das Bewusstsein tritt einfach ab. Fort! Ich schwitze, mir luft der Speichel aus dem Mund und man knnte annehmen, Herr Ringel bekommt einen epileptischen Anfall. Aber es ist ja nicht so. Stattdessen, rezitiere ich irgendwelche Gedichtstrophen. Und das Besondere! Ich kenne die Gedichte nicht! Keine Erinnerung! Auerdem interessieren Gedichte mich nicht!Franziska berlegt. Hast du nicht deinen alten Schulfreund, Alexander? Mit ihm knntest du doch darber sprechen. Eduard nickt: Das habe ich vor. Doch zuerst wollte ichmit dir sprechen. Vielleicht ber die psychologische Seite. Die Tochter zuckt mit den Schultern, blickt trotzdem nachdenklich: Was soll ich dazu sagen? Ich finde keinen Zusammenhang zwischen deinen Gedichten und persnlichen Problemen. Wenn du graue Haare bekmest, oder Verdauungsprobleme , dann knnte ich mir Sorgen machen. AberGedichte? Und dann noch aus deinem literarisch vllig unbegabten Mund vorgetragen! Da kann ich mir keinen Reim drauf macheDie nachdenkliche Situation wird unterbrochen, durch das pltzliche Eintreffen vonKundschaft. Ausgerechnet Ehepaar Schmckring! Stren wir vielleicht! Ausgeschriebeneffnungszeiten muss man ja heutzutage nicht ernst nehmen. Manche verdienen ihr Geld im Spiel. Eduard knnte diesem Zyniker Schmckring an die Kehle springen! Franziska dagegen, meistert die Situation professionell, kann ihren rger perfekt berspielen: alles Rollenspiel. Wie schn, dass Sie heute kommen. Herr Schmckring, eben habe ich Ihre Anzughose fertig gendert. Sie knnen diese gleich anprobieren. Meinem Vatermusste ich nur gerade, fr seinen Vereinsfasching, ein passendes Kostm empfehlen.Er kann sich immer so schwer entscheiden. Sie lacht und ihre Scheinheiligkeit leuchtet wie eine auffllige Zahnlcke. Welcher Vereinsfasching, denkt Eduard.Schmckrings sind beschftigt, damit abgelenkt, und Eduard kann schnell seine Rolleals Chefdirigent verlassen. Flink springt er aus den Sachen, bevor sich noch irgendwelche Luftprobleme einstellen.

Nachdem Herrn Schmckrings dunkle Anzugshose, gut gebgelt, wirklich passt, macht Eduard den Vorschlag:Franziska, gnne dir heute eine Stunde frher Feierabend. Dann holen wir die Kinder ab und fahren Pizzaessen. Sie ist sofort damit einverstanden. Es reicht. Schnell schliet sie die Fenster, prft alle Gerte auf Standby und hngt einSchild an die Tr: Heute ab 17 Uhr geschlossen. Unterwegs redet er ber sein Thema: Franziska, ich werde mit Alexander reden. Und dann sehen wir weiter. Sie ist damit einverstanden, fgt aber noch hinzu: Ein Gedanke kommt mir! Vielleicht ist ein dicker Brocken in deinem Unterbewusstsein hngen geblieben. Eventuell heit er Frank. BeimNennen dieses Namens senkt er den Kopf, schnauft rgerlich vor sich hin. Ja, mglich wre es. Vielleicht hast du Recht, meine liebe Tochter. Vielleicht. Der letzte Besuch bei Frank lief nicht gut. Ich werde es wiederholen. Franziska triumphiert: Wichtig ist eine Aussprache zwischen euch beiden. Warum? Warum hat er den Kontakt zuuns abgebrochen, damals? Weit du, wie Brbel darunter gelitten hat! Franziska wechselt die Stimmungslage, fngt an zu singen: Waren sie denn schon einmal in Sansibar,wenn ja, wenn ja, wie fanden sies denn da.... Wo hat sie nun dieses Lied wieder aufgestbert? Dora und Paul, die wir aus ihrer sie rundum beschftigenden Ganztagsschule abholen, sind von der Idee mit der Pizza begeistert. Wenn Opa mitkommt, machen wir immer etwas Besonderes. Was soll denn das jetzt wieder bedeuten, reagiert Franziska gekrnkt, wir unternehmen doch stndig etwas! Paul, der so stolz auf den Besuchseiner ersten Klasse ist, drckt die Mutter schnell und trstet sie damit. Und whrend sie spter Pizza essen, kann er alles aus der Schule erzhlen. Natrlich nur, wenn ihn seine vier Jahre ltere Schwester lsst. Doch Pizzaessen ist demokratisch. Da kommt jeder zum Zug.

Zweites Kapitel

Tage spter ist die erste Blockade berwunden und Eduard besucht den Sohn, Mittwochvormittag, in dessen Geschft.Was treibt dich zu mir, Vater? Wenn da nicht sein provokativer Unterton wre! Dabeimacht der Sohn im weien Verkaufsstellenleiterkittel eine wirklich vertrauenswrdigeFigur. Steht hinter der groen Glasauslage, die Welt des gut sortierten Fisches bewachend. Er ist ein richtiger Chef! Gibt es Probleme, zappeln die Furchen auf seiner Stirn wie Heringsschwnze. Unter dem dichten schwarzen Haar existiert ein groes Fanggebiet fr Stimmungen aller Art. Bereits als Kind bildeten sich schnell aufder kindlichen Stirn Falten als Unwetterboten. Fisch, schon gar nicht diese suerliche Version, hat er damals in trotziger Regelmigkeit abgelehnt. Ob Fischstbchen,Filet oder entgrtete Forelle, sie alle versetzten seinen Magen in einen unvertrglichen Ausnahmezustand. Paradox! Inzwischen leitet er selbstverstndlich und routiniert diesen Speisefischladen. Hier sollte man das Jahresende riechen. Schlielich ist Karpfenzeit. Doch Eduard setzt sich irgendwie der Geruch von gebrannten Mandeln, Popcorn und Zuckerwatte in die Nase. Das typische, raffiniert abgestimmte Jahrmarktduftgemisch! Woher kommt im gut sortierten Fachfischgeschft, diese Zuckeroder Schokoladenspur? Schon beginnt die Tuschung der Sinne. Er muss jetzt etwasVterliches sagen: Was spricht der kluge Karpfen? Schlamm drber! Also lass dich vonmeinem Besuch nicht durcheinanderbringen. Einfach weitermachen und zuschauen lassen. Frank zieht genervt die dunklen Augenbrauen hoch: Was soll das jetzt? Eduard blickt in die Auslagen: Da liegt der frische Fisch, aufgebahrt auf vielen Eiswrfeln, neben dem ebenfalls toten gerucherten. Dann folgen marinierte Produkte, Spiee und schlielich ein reichhaltiges Imbissangebot. Sein Sohn legt eben Wert auf die gut sortierte Auswahl. Er knnte vermutlich von allen Filetstcken sofort die Herkunf

t nennen, den Stammbume herunterrasseln, zu jeder einzelnen Grte und Schwanzflosseeine passende Geschichte erzhlen. Hilft nichts, Eduard tun diese tierischen Fragmente trotzdem leid. Smtliche vorhandenen Fischaugen, die der Forellen, Welse unddes Rotbarsches schauen hoffnungslos ins Leere. Fr sie ist hier, gut gekhlt, Schluss: Keine Rettung oder Verheiung. Und der Sohn zuckt nur mit seinen, unter einemweien, fleckenlosen Kittel versteckten Achseln.Mchtest du etwas probieren, Vater? Kann dir nach Wunsch ein gutes Frhstck servieren.

Eduard schaut auf die ganze gefrorene Filetlandschaft herab, Eiswrfel, dazu ansprechend verteilte Zwiebelringe, Kchenkruter und Preisschilder. Es ist doch selbstverstndlich, dass der Mensch Fisch isst! Eduard appelliert an die Erinnerung des Sohnes: Frher hast du nicht so gedacht, da lste jede Schwanzflosse bei dir Ekel aus. Frhe, ja frher, antwortet der trotzig. So kommen sie nicht berein. Vielleicht sollte erdem Sohn jetzt doch von den Gedichten erzhlen. Oder doch lieber nach dem neugeborenen, sechs Monate alten Albert fragen? Hier im Fischladen? Nein! Rucherfilet und Babycreme passen nicht zusammen. An den letzten Tagen des Jahres glaubt Eduardregelmig aberglubig zu werden.Besucht uns doch irgendwann um die Feiertage dann braucht ihr nicht kochen. Mutter wrde sich auch ber ein Wiedersehen freuen. Frank prft seinen Vater, fragt: Und Klara, darf sie mitkommen? Dieser zuckt mit den Achseln: Natrlich darf Klara mitkommen.Ihr seid als Familie eingeladen.Der Sohn scheint mit der Antwort zufrieden. Er kreiert seinem Vater das klassische Bismarckheringsbrtchen. Eduard bleibt misstrauisch. Frank fragt weiter:Erzhl vondir. Ich wei sehr wenig. Eduard greift sich das Brtchen und meint, bevor er hineinbeit: Von was soll ich erzhlen? Von artgerechter Haltung empfindlicher Regenbogenfische, dem Frhwarnsystem der Zwergkaninchen, ber Altersdepression bei Schildkrten oder Atembungen kurzlebiger Hamster?

Kundschaft betritt in diesem Moment den Laden. Stilvoll empfiehlt Frank sofort eine Beratung. Ich wei schon, was ich will, antwortet die ltere Dame mit lila Hut. Einen Karpfen. Sind die aus der Region? Natrlich, besttigt Frank souvern. Gerade bei Karfen ist regionale Nhe ein Verkaufshit. Fr seinen Vater sind Silvesterkarpfen der Gipfel geplanter Tierqulerei. Da ist ein vllig berflltes, riesiges, wei gefliestes Becken, in dem sich diese dicken, dunklen, traurigen Jahresenddelikatessen vergeblich versuchen zu drehen. Nichts ist hier im Fluss! Gewollt! Von seinem Sohn Frank, der frher so einen ausgeprgten Gerechtigkeitssinn hatte! Haben diese Lebewesen nicht auch Anspruch auf gengend Schwimmflche, frischen Sauerstoff, einen leckeren Wurm? Mit der Zeit verschwindet einer nach dem anderen aus der Enge. Nur den Letzten ist gegnnt, eine grere Abschiedsrunde zu drehen. Doch irgendwann sind auch dieseBurschen verkauft, das Becken leer.

Und? fragt Eduard. Was und!, schttelt Frank unverstndlich den Kopf. Die ltere Dame mt eben: Aber bitte nicht sofort schlachten! Dabei beobachtet sie zu gleichen Teilen selbstbewusst, dazu misstrauisch, wie Frank sich eine grne Schrze umbindet und mit einem kleinen Netz versucht, den von ihr gewnschten Karpfen zu fangen. Es gelingt sofort, der Auserkorene ist in dieser Enge zu phlegmatisch geworden. Bitte nicht schlachten, wiederholt die Dame noch einmal und beugt das zappelnde Tier. Ich will ihn nicht schlachten. Ich hau ihm nur eins ber den Kopf, versichert er. Das war es dann fr den Karpfen. Hinter einem Vorhang in der Fischabteilung bekommt er einen harten Schlag auf den Kopf und landet in einer Plastiktte mit Wasser. Er bewegt noch das Maul, denkt Eduard und verfolgt stumm die ganze, grausige Szene. DieFrau ist zufrieden, bezahlt, verschwindet, damit der nchste wartende Kunde seinenWunsch uern kann: Einen schnen, groen Karpfen, aber geschlachtet. Das dauert lnger.uard will nicht wieder Zeuge sein, nicht warten, verabschiedet sich rasch: Ihr kommt die Feiertage mal vorbei? Versprochen! Frank kann jetzt nicht anders, seine gnadenlosen Fanghnde im Becken, den freundlichen Blick auf die Kundschaft gerichtet: Wir melden uns wieder bei euch, ich spreche alles mit Klara ab. Ohne sie passi

ert nichts. Eduard verlsst den Laden, in der Hoffnung auf ihren lngst flligen Besuch. Annherung nach Jahren. Beim Hinausgehen fllt ihm ein Herr mit groen, glasigen, ziemlich nach auen gewlbten Augen auf: Hsslich! So sieht man aus, wenn zu viel Karpfen auf dem Speisezettel steht.Drauen auf der Strae, in der eisigen Klte dieses Dezembers, denkt er an die fnf Jahre Funkstille in ihrer Beziehung. Noch letzten Oktober hatte Frank behauptet, vier Jahre in sterreich studiert zu haben. Nein, sie haben nachgezhlt, es waren wirklich fnf Jahre. Oder doch nicht?

Am 29. Dezember ist die Zoohandlung letztmalig im alten Jahr geffnet. Es Samstagund gegen Mittag schickt Eduard Filomena nach Hause, nicht ohne ihr den obligatorischen Guten Rutsch zu wnschen. Er selbst lsst das Geschft noch zwei Stunden geffnetum nicht verkaufte Tiere zu fttern und Inventur zu betreiben. Mit Kundenansturm rechnet er jetzt nicht mehr gro. Schlielich gibt es bei ihm keine Silvesterkarpfen.Anders bei Frank. Der wird sogar am 31., zumindest bis Mittag geffnet haben.Eduard ist ber sein grtes Aquarium gebeugt. Hier haben die mittelgroen Zierfische ein bergangsdomizil. Verkauft hat er die letzten Tage wenig. Daher kennt er fast jedes einzelne Tier, wei um ihre bevorzugten Verstecke. Mit leicht melancholischenBlick, es ist eben Jahresende, verfolgt er ihr ewiges Spiel, diese, nach uraltenGesetzen ablaufenden Bewegungsablufe. Pltzlich glaubt er jemanden hinter sich. Bevor Eduard etwas tun kann, sprt er zwei Hnde an seinem Hals. Sie klammern sich fest, drcken zu. Strker. Eduard wundert es noch, warum er nicht mehr Gegenwehr leistet. Zu spt! Die Hnde drcken fester. Es schmerzt und nimmt ihm die Luft. Jetzt hat der Fremde Gewalt ber ihn, drckt seinen Kopf ins Wasser des Aquariums. Der gefhlte Schmerz wird grer. Auch die Ohnmacht nichts mehr dagegen tun zu knnen. Sein verzweifeltes, schwaches Aufbegehren verfngt sich in den phosphoreszierenden Wasserpflanzen. Ist das so, wenn man stirbt? Eduard sieht die Welt grer wie sie ist. Kleine Zierfische sehen aus wie Karpfen, glotzen ihn provozierend an. Ihre Muler bewegen sich, machen vor, wie man zu Luft kommt. Sie wenden sich ab, schwimmen davon. Eduard ist ein hoffnungsloser Fall. Der kommt nie wieder zu Luft. Wei nicht wie man unter Wasser atmet. Der Schmerz den die ganze Wrgerei auslst wird unertrglich. Ich will jetzt sterben, denkt Eduard Ringel. Aber er stirbt nicht.Stattdessen ruft Brbel nach ihm: Kannst du nicht mal von deiner Couch aufstehen, wenn es geklingelt hat? Frank ist mit seiner Familie zu Besuch gekommen.Eduard springt hoch, reibt sich die Augen: Er lebt, befindet sich nicht im Laden, sondern liegt zu Hause auf der Couch. Haben sie ihn gefunden? Bewusstlos? DieGedanken rasen durcheinander. Zusammenreien Eduard, sagt er sich und verschwindetim Bad. Kaltes Wasser war zur Wiederbelebung schon immer geeignet. Ein letzterBlick an den Hals. Nirgends sind Folgen des Wrgegriffs zu erkennen. Also gut, sagt er sich noch einmal: Eduard, du hast getrumt. Kehr zurck ins normale Leben. Mitdiesem Entschluss im Kopf, begibt er sich zu Brbel und den Gsten.

Das ist ja wirklich ein ser Fratz, schwrmt seine Frau gerade lautstark vom eben ngstlch schauenden Enkelkind Albert.Alle begren nun Eduard, welcher langsam die Wohnstube betritt. Bestimmt sind sie froh dass er lebt. Eigentlich ist er froh, dass Frank lebt und eine Familie gegrndet hat. Nach vielen Jahren ist Ordnung in sein Leben gekommen.Brbel fragt gerade nach: Wollt ihr was zu trinken. Da wren Limonade, Wasser, Apfelsaft und natrlich Bier fr Frank! Und Albert? Klara gibt keine Antwort, hat sich zgerlich neben Frank auf die Couch gesetzt. Er nimmt ihr, mit sicherem Griff, den neugierig strampelnden Sohn ab. Dieser zupft und blubbert! Frank entscheidet: Wasser. Bier trinke ich um diese Zeit nicht! Auerdem gibt es sowieso gleich Kaffee, dennBrbel verschwindet in die Kche, lsst Eduard mit den Gsten allein. Wir haben dieses Jahr Stollen selbst gebacken, hat sie schnell noch gerufen. Eduard schmunzelt und

ergnzt: Wir sind inzwischen in dem Alter, wo man die einfache Handarbeit, das Selbstgemachte wiederentdeckt. Und das ist schn! Es klappt kurz mit der Lockerheit beim Reden! Dafr haben wir keine Zeit, hlt Frank mit bleiernen Worten dagegen, der Ladenfordert seinen Preis. Schaut auf Albert, erklrt: Und er braucht uns auch. Klara lsstihren stummen Blick nicht vom Sohn. Das zappelnde Bndel will gerade zu seinem Vater zurck. Dessen schwarzes Hemd ist gar nicht so streng, wie es aussieht, dientvielen drehbaren Knpfen als Versteck.Frank verzieht missmutig sein Gesicht, meint khl: Es riecht bei euch immer noch nach knstlichen Blumen. Albert hat einen seiner Knpfe erwischt, bedient sich neugierig daran. Eduard reagiert: Es liegt an den vielen Knpfen. Jeder steht fr einen anderen Geruch. Du, lieber Frank, drehst manchmal an den Falschen. Darauf wei der Sohnkeine Antwort, reagiert mit unwilligem Kopfschtteln.Eduard macht eine Pause, lsst sich Zeit fr das Gesprch. Er versucht das Thema zu wechseln und fragt: Gibt es auch schne Erinnerungen? Frank muss jetzt nicht lange berlegen, lchelt: Die Zuckerdose, diese alte bauchige Zuckerdose, wo man auch kleine Bonbons hinein tun konnte. Besitzt ihr sie noch? Eduard vermutet, welche er meint,geht zum Schrank, findet in der hinteren Reihe diesen porzellanweien Hauch von Nostalgie. Wirklich, ruft Frank sofort begeistert, goldfarbener Knopfdeckel und pastellfarben der Zierrand das ist sie. Wunderbar! Er strahlt, und ein frischer Luftzug weht durch den Raum. Albert dreht mit seinen wurstdicken Hndchen am zweiten Knopf. Vielleicht deswegen! Es gibt noch Wunder zwischen Himmel und Erde. Man braucht nur am richtigen Knopf zu drehen.Momentan wird der Abstand fr Alberts kleine Finger zu den begehrten Knpfen grer, gewollt unerreichbar. Das besagt: jetzt nicht. Albert akzeptiert die Botschaft keineswegs, leistet Widerstand, fngt sofort an zu schluchzen. Geduldig greift sich die Mutter das strampelnde Bndel, reicht einen groen knstlichen Schnuller, an dem erbeleidigt lutscht. Frank dreht weiterhin die Zuckerdose in seinen Hnden. Wie habeich sie geliebt! Ihr hattet euch einmal gestritten, Mutter und du: Ich brachte sie in Sicherheit, sollte nicht dem rger der Eltern geopfert werden. Er lacht dazu:Mir hatte es erst geschmeckt, wenn sie mit auf dem Tisch stand, diese kleine Gottheit meiner Kindheit!Aber Fisch hattest du damals trotzdem nicht gegessen, beeilt Eduard schnell zu bemerken. Das Thema! Seine Antwort: Ihr hattet eben keine passende Porzellandose fr Fisch!In diesem Moment trgt Brbel auf einem Tablett den Kaffee und viel Stollen herein. Der Kaffee ist fertig, intoniert sie eine bekannte Melodie zum Pausenzeichen. Ja,wir machen Pause.Frank stellt die Zuckerdose nur zgernd zurck. Seine Kindheitsliebe!Nach Kaffee und Kuchen folgt die Bescherung. Es ist eben Weihnachten. Mit gnnerhafter Geste steht der Sohn von der Couch auf, holt eine vllig ins Abseits gestellte rote Geschenktte. Eduards Nase betrgt nicht: Da ist Fisch drin. Ja, wir dachten,wir schenken euch eine Auswahl Fisch. Alles Ware aus meinem Laden, gesund und regional. Zum Beispiel der Heilbutt kommt direkt aus dem Kuhlebach, witzelt Brbel undergnzt fast entschuldigend fr den spontanen Spa, das ist ganz lieb von euch.

Klara versucht Albert inzwischen mit Hoppe, hoppe Reiter zu vershnen. Zumindest spuckt er den Nuckel freiwillig aus. Noch Kaffee? Brbel wartet die Antwort nicht ab, sondern giet mit verschwenderischer Frsorge die Tasse randvoll. wenn er fllt, dann schreit er Es kommt neuerlich Bewegung in die Welt. Alle Medien schreiben viel. Und wenn sie jemanden fallen lassen wollen, dann lassen sie ihn eben fallen. So ist das. Die Mnner mssen sich immer ber Politik unterhalten, denkt Brbel. Am liebsten wrdesie mit Klara sprechen, doch die reagiert nicht, lsst den kleinen Albert hpfen, singt immer wieder fllt er in den Graben, fressen ihn die Raben. Nicht dass ihm noch sc

hlecht wird! Die alten Spiele kennt heute kaum noch jemand, versucht Brbel den Gesprchsfaden dnn zu knpfen. Klara schaut sie nicht einmal an. fllt er in den Sumpf, dannmacht der Reiter na was macht er plumps.

Zeit fr das abschlieende Wort durch Brbel: Schn, dass ihr da wart! Sie freut sich wirlich. Ihr Junge! Redet ihm nicht ins Gewissen. Und irgendwann wird auch mit Klara ein Gesprch mglich sein. Hauptsache die Verbindung wird nicht wieder unterbrochen, weil sterreich dazwischen lag. Albert wehrt sich, strampelt gegen die Wagenwand. Widerspenstig wie sein Vater es frher war, denkt Eduard. Gibt eine Vorschau auf den Januar:Ich komme wieder in den Laden. Frank nickt: Dann nimmst du aber etwas Fisch fr euchmit. Schmunzeln auf beiden Seiten. Eduard versucht den Abschlussspa:Auf deine Gefrierstrecke ist sicher Verlass! Den Karpfen bitte nicht schlachten, den essen wirimmer lebendig. Wenn sein Schwanz beim Schlucken noch zappelt und die Luftblasepumpt, ein Genuss. Frank grinst, das ist Humor, den er liebt. Schnell ergnzt er: Stell dir vor, wie er in deine Speiserhre glotzt, sieht genau, wo es hingeht, nmlichabwrts! Doch Spa beiseite: Lieber frisch geschlachteten Fisch, als welchen, der bereits mehrmals die lauwarmen Temperaturen der Tiefkhltruhen groer Einkaufsmrkte gewechselt hat.Zum Glck wird Klein Albert nicht zwischen frische Eiswrfel gepackt, sondern untereine karierte Decke, welche von Klaraaufgeschttelt wird. Eines muss Frank noch sagen:Nchstes Jahr bekomme ich wieder einige besondere Fische ins Angebot. Da kann ich euch viel empfehlen, zum Beispiel Meerbarben oder Rotzungen. Wie bitte?, unterbricht Eduard misstrauisch. Lasst euch berraschen! Frank drckt Brbel die Hand, kneift die Augen hintersinnig zusammen, verabschiedet sich artig mit dem obligatorischen: Guten Rutsch. Alles andere spter. Eduard mustert noch einmal den zurckgekehrten Sohn. Seine dunklen Haare sind doch weniger geworden. Und Klara? In einer der Schichten ihres Gesichtes lchelt sie bestimmt.Der Januar schleicht diesmal als alter, mder Mann dahin. Mit jedem neu erwachtenTag versprt Eduard eine dumpfe, tief sitzende Angst. Als erwarte ihn eine unkalkulierbare Rechnung, welche die Gefahr persnlicher Insolvenz birgt. Hoffentlich hatsich Franziska, ihre prophezeiende Tochter, nicht geirrt! Immerhin schafft er es ohne neue Strophe bis zum 20. Januar.An diesem Tag kommen wenige Kunden zu erwarten. Warum auch immer! Filomena Klimpel behauptet es. Fahren Sie doch zu ihrem Sohn. Ein Glck, dass ihr wieder miteinander redet. Was Filomena Klimpel empfiehlt, sollte man ernst nehmen. Eduard nimmtes ernst und fhrt.Frank trgt heute den blichen, weien Kaufmannskittel. Seine dunklen Haare zeigen sich auffallend steif und unbeweglich. Die Lcken sind mit Gel zugespachtelt. Eine andere Generation! Der Sohn konzentriert sich auf das Sortieren der Ware, besitztden siebenten Sinn eines guten Verkufers: Guten Morgen, Vater, und ein gesundes neues Jahr mit vielen guten Geschften. Der Angesprochene lacht: Wnsche ich dir auch. Leider wollen die Leute einfach keine warmen Wollkleidchen fr frierende Mpse kaufen. Und Schildkrten sind im Winter auch nicht der Verkaufsschlager! Pltzlich liegt diese penetrante Geruchsmischung aus kandierten pfeln und gebrannten Mandeln wiederin der Luft. Nein, er sagt Frank nichts von seiner seltsamen Wahrnehmung. Sonstist der rger vorprogrammiert.Du hast einen guten Zeitpunkt gewhlt, Vater, Kufer von Fisch kommen meist gegen Mittag. Vielleicht passt zu Morgenkaffee und Marmeladenbrtchen kein Rotbarsch. Eduardwiderspricht: Kenne genug Leute, die auch zum Frhstck Fisch essen. Die kaufen dann aber nicht bei mir, hlt Frank freundlich dagegen. Bevor sie nun weiter ber die Gewohnheiten von Fischliebhabern streiten, betritt eine jngere, hoch gewachsene Frau den Laden und verlangt selbstbewusst: Gelbstreifendoraden. Wie bitte, denkt Eduard,sind das nicht ungeniebare kleine Swasserfische?

Whrend Frank, mit geschickten Handgriffen, das Gewnschte, was gar nicht so klein und wenig aussieht, einpackt, beobachtet der Vater, von seinem Seitenplatz, bemhtunauffllig das ganze Geschehen. Nachdem die Frau wieder verschwunden ist, erklrt der Sohn: Ein sehr guter Speisefisch, mit festem Fleisch und wenig Grten. Schmecktvorzglich. Am besten allerdings im Sptsommer. Richtig angerichtet ist er auch fr den Januar eine Kstlichkeit. Eduards Allgemeinwissen vergrert sich soeben! Und ich dachte, es handelt sich um die berauschende Wirkung von hellem Zierfischfleisch. Als Betreiber einer Zoohandlung solltest du dich schon auskennen! Der kluge Sohn schttelt den Kopf, fragt weiter: berhaupt, wieso bist du nicht in deinem Laden? Werden Hamster auch erst gegen Mittag gekauft, weil sie sich nicht mit Pflaumenmus vertragen? Eduard reagiert prompt: Lieber Frank, besuche mich und du lernst das Filetieren von Hamstern! Pflaumenmus ist dann die Krnung des tierischen Witzes.Vater, ich wrde dir gern einige Schwanzflossen zur Vershnung reichen! Im Januar sind besonders charakterstarke, schmackhafte Fische im Angebot. Ich packe euch einMedley zusammen und ihr probiert aus. Nicht dass Eduard jetzt begeistert wre, nurdem kaufmnnischen Eifer seines Sohnes kann schwer widersprochen werden. Die Situation wre erneut verloren. Zaghaft kommt die letzte vterliche Bemerkung Du weit, dasswir nicht ganz so experimentierfreudig sind in Sachen Fisch. Wir lieben die gewohnten Sorten. Ja, ich wei, dass sich euer Geschmack am Angebot eines alten Kolonialwarenladen orientiert: Hering aus dem Fass, die deftige Zwiebelmakrele oder derbeleibte Rollmops, natrlich mit Gurke. Dann ist fast schon Schluss. Auch hier kann Eduard nur mitspielen. Lieber Sohn, Kolonialwarenlden kamen in meinem Leben nicht mehr vor! Bin etwas spter geboren! Dann seid ausnahmsweise mal mutig und entdecktdie ganze globale Welt der Speisefische. Eduards Gedanken schwimmen in das ausgelegte Netz des Sohnes. Global gemischtes Fischfutter fr Zierfische kennt er bereits, nun kommen die Macken der Essbaren hinzu. Grten aller Lnder vereinigt euch! Frank kann Fisch wunderbar verpacken, benutzt dazu einen mit Eiswrfeln randvoll gefllten Behlter. Es macht ihm sichtlich Freude, seinem Vater das ganze Angebot vorzufhren. Das ist eben die charmante Auswahl des Fachgeschftes. Er hat die dankbare Kundschaft verdient.Inzwischen betritt eine ltere Dame den Laden, wirft ihren gepflegten Kennerblickzwischen die Eiswrfel hinter der Theke. Man sieht, die schnelle Entscheidung istnicht ihre Sache. Schon folgt ein jngeres Prchen, das den Wunsch nach einem Imbissuert: Bitte zwei Bratfischbrtchen. Nachdem noch zwei Herren mittleren Alters wissen,was sie wollen, ist klar: Der Kundenansturm hat begonnen.

Zum Glck macht Frank das Geschenkpaket gerade fertig. Eduard reicht ihm dafr einengreren Geldschein ber die Theke. Frank wehrt ab: Das ist zu viel. Nimm, kauft was flbert. Der Sohn berlegt kurz: Okay.Htte Eduard, whrend Frank sich geduldig der lteren Dame zuwendet, den Ort schnell verlassen, wre alles gut gegangen. So trifft er die verhngnisvolle Entscheidung, noch einen Moment jene Szene zu beobachten. Er steht direkt neben dem Karpfenbecken, wo jetzt sichtlich weniger los ist als vor Weihnachten. Verwhnt werden die Tiere immer noch nicht mit Schwimmflche. Doch mehr Sauerstoff pro QuadratzentimeterWasser ist garantiert. Unter den Flossen vermutet Eduard Schweiflecken. Die Tieresind grozgige Bewegungen nicht mehr gewhnt. Pltzlich frbt sich das Wasser dunkel. Aufgewhlter Schlamm! Eduard sprt diesen Karpfenschlamm auch im Bauch. Ihm wird bel! Gerade noch kann seine zitternde Hand den Beckenrand finden. Vorwarnen geht nichtmehr! Diese dunkelbraunen aufgewhlten Wellen im Fischbecken. Und mittendrin schwimmt der Vormittag als andchtiger Eiswrfel, schmilzt, sobald Eduard seinen Mund aufmacht. Alles wird anders! Ich muss doch sprechen, anfangen zu schreien:

Und du? In welchem Leder steckt deine Wahrheit?

Wirfst sie wie einen narbigen Stockden hetzenden Hunden vor ihr lsternes Maul.Dein Ruf bleibt zurck als splitternder Schmerz:Da, fass! Fass!Aus den Enden des weien Tuches tropft Speichel,blutrot. Zerrissen die Sprache.Zu Ende geht das Leben!Und ihr Herren, ihr Mchtigen ruft in dieses Spiel:Brav! Gut so!Ist das euer trstendes Wort?

Jetzt ist das Schiff doch untergegangen! Die wenigen Karpfen im Wasserbecken scheint das nicht zu beeindrucken. Aber die vielen Kufer schauen entsetzt. Eben nochschienen sie fest zu wissen, was sie kaufen mchten, den Fisch bereits in der Tasche, das Filet auf der Zunge. Nun bleibt unklar, ob man hier noch Vertrauen in die Verkaufsseriositt haben kann. Ein Verrckter im Laden! Ihre Blicke sind entsetzt, irritiert, mitleidig, manche auch angeekelt abgestoen. Die ltere Dame drckt ihr Missfallen ber die Situation so aus, dass sie Kopf schttelnd umkehrt und den Ladenverlsst. Ebenso das junge Prchen. Schadenfrohes Gelchter folgt: Hier ist was los! UndFrank steht fassungslos hinter der Theke: Er, der Kapitn auf diesem Schiff, spricht zu seinem erbrmlichsten Matrosen: Geh, verlass augenblicklich den Laden, Vater! Wieder hat er diese schmerzende Entschiedenheit in seiner Stimme. Eduard Ringelknnte verzweifeln.Aus welchen vergangenen Lebensschichten steigen diese Strophen empor? Eine wiederentdeckte Art, von der nicht klar ist: Sind es Pflanzen oder Fleischfresser? Wie soll er verlangen, dass Frank die Situation versteht? Der Sohn kann nur sagen: Mach dich endlich ans Abfischen, Vater, komm der Sache auf den Grund.Die Wirklichkeit ist anders: Verschwinde Vater und komme nicht wieder. Das Schlimmste, was jetzt aber passiert, ist, dass er den eben erhaltenen Geldschein zurck auf den Boden seines Ladens wirft. Pure Erniedrigung. Der verbliebene Rest Kundschaft tritt zur Seite, beobachtet die Situation: Was passiert jetzt? Frank, wir sprechen uns spter. Mit diesen Worten, den Geldschein auf dem Fuboden liegen lassend,verlsst Eduard Ringel das Fischspezialittengeschft von Frank Ringel. Drauen wird ihm wieder schwindlig. Dazu bahnen sich Trnen einen mitleidvollen Weg. Was ist dasnur fr eine Dichtkunst? Wie ein Richterschwert schlgt jede Zeile zu. Sie wei etwas,missachtet jedoch scheinbar die Gefhle der Betroffenen.Nun wird er seinen alten Freund Alexander doch schnell anrufen und einen Besuchvereinbaren. Es ist beschlossen! Alexander bleibt der Fachmann. Seine Recherchebraucht erfahrungsgem wieder viel Zeit, gengend Tabakdampf, damit die Sache rasch in Gang kommt, denn Alexander ist Pfeifenraucher.

Drittes Kapitel

Ende Januar macht sich Eduard endlich auf den Weg zu Alexander. Wie lange hatteer den Besuch vor sich hingeschoben! Das Problem hat sich ausgeweitet. Nun musses sein! Es sind genau 135 Kilometer. Die Fahrt beginnt.Eduard klickt auf den Knopf seines Autoradios. Rockmusik schnauft rhythmisch ausden Lautsprechern. Er kann whrend der Fahrt keine Klassik hren. Brbel versteht dasnicht. Sitzt sie neben ihm, diskutiert sie mit ihm genervt ber um Hrgewohnheiten,allerdings ohne Sieger.Alexander, das ist der elegante, aber nicht diskrete Tabakgeruch! Der Freund istPfeifenraucher! Er pflegt brgerliche Gewohnheiten: den Stolz auf wertvolle Uhren, seine Frau Lena und die zwei Tchter. Stilvoll hat er sie alle in angrenzende Rume rund um sein Arbeitszimmer verteilt. Alexander, der Monarch. Vielleicht ist das nur so, wenn Eduard seinen Besuch anmeldet. Der Freund arbeitet als Deutschlehrer, vermag ausschweifend von Pdagogik zu erzhlen:Lasset die Kindlein zu ihm kommen. Alexanders Leben hat das Temperament eines Abreikalenders: Das Leben wird dnner.Doch schpft es jeden Tag neu Kraft aus alten Weisheiten oder flotten Aphorismen.Sein Lieblingsthema ist klassische Literatur: Was sind dann Raum und Zeit, die ausfhrliche Erluterung von Biografien, im Gegensatz zur Geduld seiner Zuhrer. Er hatviel gelesen: Darstellung von Inhalten bedeutet immer die Invasion der Worte unter seiner mchtigen Fhrung. Grenzen der Ausdauer werden berschritten. Eduard denktheute: Auf in die Schlacht! Lass dann mal die Worte angreifen. Vielleicht folgtim Kampfgetmmel die Erkenntnis: Zum Beispiel: Dieses Gedicht stammt von Rilke unddu hast es in der neunten Klasse gelernt. Am Telefon galt noch: Fr mich ist es nicht erstaunlich, dass du dich mit fnfzig daran erinnerst. Aber wir kommen ja alle ins Rilke Alter!Eduard ist beruhigt, noch ganze vierzig Kilometer muss er fahren.Vielleicht wartet Alexander bereits! Bedchtig, er, der den Fensterrahmen fllende Literaturmller, jener gute Geist aller Prosawerke. Schaut in rosiger Ruhe dem Tagwerk der lesenden Bauern zu, die ihre schweigetrnkten Getreidescke, mit einem frhlichen Gedicht auf den Lippen, vor der klappernden Mhle abstellen. Auch Eduard bringtsein Scherflein.Die Begrung fllt herzlich aus: Nur herein, alter Junge. Ein halbes Jahr oder lnger hast du dich nicht blicken lassen. Schon steht der Freund zufrieden brummend im Flur. Seine Frau grt als flchtige Erscheinung, zieht sich, wie erwartet, schnell zurck.Eduard htte gern noch ein Wort mit ihr gesprochen: Lena wirkt jugendlich, zugleich sportlich. Ganz bestimmt fhrt sie viel Rad oder joggt. Jeder, der sportlich oder jnger wirkt, joggt stundenlang oder fhrt Rad.Eine ltere Tochter wohnt nicht mehr zu Hause, die jngere geruscharm nebenan. Alexanders Reich hat viele Rume, und er ist der Landesvater. Es bleibt der geheimnisvolle Schleier, das unbekannte Dahinter, welches Eduard auch nie erkunden will. Schlielich glaubt er an dort lauernde Giftpfeile oder aufschumende Seeungeheuer. Im Arbeitszimmer schlielich, diesem Mekka der Buchregale, trifft ihre Mnnerfreundschaft aufeinander. Der Freund mit einer Buchempfehlung in der Hand: Weit du, wo ich das Exemplar gekauft habe? Eduard muss es nicht wissen, denn die Antwort folgt prompt: In eurer sonderbaren Kleistl Buchhandlung. Da hast du mich doch frher fters mithingenommen. Der, wenn ich mich erinnere, ziemlich alte Buchhndler fhrte uns regelmig an eines der fnf Regale, wo er auf die mindestens einen Meter lange Bibliothekdes Sieges aufmerksam machte. Wir konnten diesem Mann nicht wirklich trauen: Wusste er doch genau um deine pazifistische Einstellung. Und Pazifisten lagerten bei

ihm unter dem Ladentisch: Bll, Grass, Bachmann: Aber bitte sehr, wir sollten immer und immer wieder jene dubiose Bibliothek der U Boot und Panzerschlachten beachten!Ach ja, ein Genuss sich zu erinnern, denkt Eduard, diese Kleistl Buchhandlung berdauerte unseren kleinstdtischen Sozialismus als einzige private. Er verkaufte, in seiner hlzernen Ladeneinrichtung, welche scheinbar aus Zeiten des Siebenjhrigen Krieges stammte, Bcher ber russische Erfolge des Zweiten Weltkrieges. Krieg ist Krieg!Es kam auf die eigene Haltung an! Kleistl hatte bei mir kein Glck! Dafr waren derdreibndige Rilke und die Ingeborg Bachmann Ausgabe schnell vergriffen, sicherlich whrend eines U Boot Kampfes unter dem Ladentisch versenkt worden.Natrlich erschienen Bestseller immer in kleinen Auflagen, wirft Alexander ein und zndelt schon wieder an seiner Tabakspfeife herum.Rilke habe ich spter doch erstanden, sogar in unserer Volksbuchhandlung. Eigentlichwollte Eduard mit dem Namen dieses Dichters eine Brcke zum Thema schlagen. DochAlexander geht nicht darauf ein. Er verzieht gerade das Gesicht knurrig: Diesenstark aromatisierten Tabak will er nicht rauchen, sondern die neue Sorte. Aber wo ist sie? Er kratzt sich etwas unsicher am Kopf, klimpert weinerlich mit der Stimme: In letzter Zeit suche ich viel. Stets ist etwas verschwunden. Eduard hat kein Mitleid, denn ewig lange, wiederkehrende Suchaktionen nerven ihn. Gegen Zerstreutheit muss man etwas tun. Mit Lena joggen und Rad fahren. Doch Alexander sitztmit Lenau in der Hand und pafft kratzigen Tabakqualm in die Luft. Dabei liebt er die Bestndigkeit: So diese dunkelblaue Breitbandcordhose und den seit Jahren verdchtig gleichbleibend weien Pullover!

Die Dinge verschwinden in letzter Zeit hufiger als frher, behauptet der Regent und schaut unsicher auf seine lngst nicht mehr geordnete Hierarchie herab. Eduard schmunzelt. Du bist eben nicht mehr der Jngste. Willst aber ber ein bibliophiles Knigreich herrschen. Alexander sucht mit seinen Augen Schutz bei den Buchregalen. Knigreich ist gut: Ich erlebe aber gerade eine Intrige, mein Gedchtnis, die Nerven meutern. Vielleicht sind irgendwelche Grenzen berflssig geworden. Sie lehnen sich auf! Ganz sicher! Er hat immer noch keinen neuen Tabak gefunden. Entscheidet schlielich,auf die alte Sorte zurckzugreifen. Tolle Diskussion, denkt Eduard, kann noch dauern bis in alle Ewigkeit. Pltzlich wechselt Alexander berraschend das Thema: Ich mache uns Kaffee, schlgt er vor, und dann unterhalten wir uns ber August Khn. ber wengt Eduard etwas berfordert nach. Alexander klatscht triumphierend in seine Hnde: Kennst du nicht, habe ich mir schon gedacht. Das ist einer der Autoren, welche mitder Zeit zu Unrecht vergessen wurden. Wie du deinen neuen Tabak Sprachlosigkeit. Alexander begngt sich dann mit einem lapidaren, dem Zeitgeist hrigen: Okay.Er verschwindet und Eduard studiert Buchrcken. Bei jedem Besuch prft er Buchrcken.Das literarische Leder, in seinen nachdenklichen Farben, bedeutet Inspiration: Bll, blau Uhland, grn Jean Paul, braun.Zwischen den vielen schweren Klassikern liegen bestimmt jede Menge verrckter Strophen wie glitzernde Steine, verstecken sich die Worte als kostbare Buchsttzen. ImGeist ruft Eduard: Kommt, zeigt euch, ihr Gedichte!Alexander kehrt zurck, trgt eine silberne Kanne mit zwei Tassen herein: Du trinkstihn immer noch mit Zucker? Alexander wartet keine Antwort ab: Wenn ich ihn nur finden wrde. Eduard sucht Asyl in der Nhe der vier blauen Einbnde von Robert Musils Mannohne Eigenschaften. Der Freund verschwindet erneut in der Kche. Jetzt muss Eduardeingreifen, ruft hinterher: Du, lass mal: Mir schmeckt er auch ohne. Ob ihn das trstet? Jedenfalls verhindert dieser Ruf sein vlliges Verschwinden. Alexander kehrtzurck, kann sich setzen, Kaffee eingieen, rhrt sichtlich unglcklich in der Tasse, als befnde sich Zucker darin. Kommt dann auf das angekndigte Vergessen von Literatur zurck. Voraussetzung ist, dass Alexander sich mit dem alten Tabak arrangieren kann. Er kann! Und es wird ihm mglich, mit kissenweicher Geste ber August Khn zu sin

nieren. Ein Autor, der wirklich nicht mehr gelesen wird. Wer kennt schon seinenRoman Die Vorstadt. Alexander bastelt die Handlung, filigran, mit viel Zeit, wie ein mechanisches Uhrenwerk zusammen.Und dann, unerwartet Themenwechsel: Lieber Eduard, ich will dir von einem komischen Traum erzhlen. Dazu muss gesagt werden, meine Trume spielen meist im Herbst. Sostehe ich vor dem Grab von Gustav Leutelt, lese in dessen Erzhlungen aus dem Isergebirge. Kommt doch ein starker Wind auf, blst mir die losen Seiten aus der Hand. Ich versuche sie natrlich gleich wieder einzusammeln, schnell aufheben und weiterlesen es gelingt nicht. Der Wind blst strker und mir fhrt so etwas wie ein Hexenschuss durch den Rcken. Die Folge ist, dass ich mich nicht mehr aufrichten kann. Meine Schmerzen werden unertrglich, auch Rufen ntzt nichts, denn es ist niemand weiter auf dem Friedhof: So lassen sich die handgeschriebenen Seiten seiner Erzhlungen nicht mehr retten. Dann endet der Traum.Nun, Alexander giet sich neu eine Tasse Kaffee ein, was sagst du dazu? Eduard muss natrlich nicht lange berlegen, denn alles passt gut zur momentanen Situation. SeineEmpfehlung: Geh zur Gymnastik oder ins Fitnessstudio, beweg dich im ungewohnten Terrain. Da lacht Alexander lautstark auf, verschttet fast seinen nicht getrunkenenKaffee und die Antwort drhnt in Eduards Ohren. Seniorengymnastik, ja, soll ich vielleicht zum Sitz oder Bauchtanz, vielleicht auch Tai Shu, lieber Bogenschieen.Mein Freund, es gibt viele Mglichkeiten, sich lcherlich zu machen. Das war jetzt eine voluminse Explosion. So kommen wir nicht weiter! Besser ist, gerade zu schweigen oder einfach das Thema wechseln. Nachdem er ziemlich nervs wiederum in der Kcheverschwindet, dann doch zurckkehrt, sich geruschstark auf der Couch niederlsst, Eduard wechselt neuerlich das Thema: Es gelingt. Er kann von seinen lyrischen Offenbarungen in drei Teilen erzhlen. Na dann trage mir mal die Strophen vor, verlangtAlexander. Eduard rezitiert mhelos. Anschlieend Stille.Der Freund zieht an seiner Tabakspfeife, aus der weiterhin in disziplinierter Migkeit dunkler Rauch aufsteigt. Vielleicht wre weier Rauch jetzt gnstiger, denkt Eduard. Dann kommt die Frage aller Fragen: Kannst du mir sagen, um welche Gedichte essich handelt?Alexander berlegt nicht lange: Vllig unbekannt. Vom Ton her, schwer zu sagen: Nein,Rilke ist es nicht. Manche Methapern erinnern mich an Trakl. Aber auch der kommt nicht in Frage. Der Freund schaut etwas hilfesuchend in Richtung seiner Bcher: Wahrscheinlich musst du mir Zeit lassen. Zeit zum Suchen. Dann whlt er mit der linken Hand in seinem trotz vieler grauer Sprsslinge immer noch braunen Haarschopf, erklrt etwas unsicher: Auf alle Flle klingt es sehr elegisch! Alexander, der Lehrer!

Das Ganze hat sogar etwas Religises, versetzt dich in einen ekstatischen Zustand.Du bist der Empfnger, sollst die Worte sozusagen unter Schmerzen gebren. Dankeschn, mint Eduard etwas abfllig, ich will aber nicht unter Schmerzen gebren! Auerdem lehneich dieses Auserwhltsein ab. Mein Gebiet ist der Verkauf von Kleintieren und dazupassendem Futter.Alexander klopft sich auf den Bauch: Ja, was machen wir nun mit dir? Lass mich noch einige Tage nachdenken und suchen. Vielleicht lsst sich etwas Brauchbares finden. Fgt flsternd hinzu: Wenn ich wenigstens meinen Tabak dabei wiederfinde! Eduards Oberkrper verliert gerade seine Sttzkraft, sackt in sich zusammen, spiegelt die ganze Hilflosigkeit der Situation. Du musst sensibel fr diese Momente werden, ergnzt Alexander, die Stze lagerten verborgen und kehren bewusst in diesen Monaten zurck. Noch erkennst du den Sinn nicht. Noch nicht! Alle sprechen vom Unterbewusstsein. Auch der kluge Freund ist ja so ein prophetischer berflieger: Fast bereut Eduard, ihn gefragt zu haben. Diese wichtigen Hinweise helfen nicht. Machen wir noch einenSpaziergang, lenkt er ein.Alexander ist gegenber seinem Vorschlag nicht abgeneigt. Er will in den nchsten Tagen anrufen und fr Aufklrung sorgen. Versprochen!

Zu Hause erzhlt Brbel von ihrem Besuch bei Frank und Klara. Sie hatte ganz kurzfristig, nachdem Eduard am Morgen losgefahren war, die Entscheidung dazu getroffen.Eine gnstige Zugverbindung Richtung L., wo Frank mit seiner Familie wohnt, war schnell gefunden. Nein, sie wollte sich nicht anmelden, nicht das Argument fr eineAbsage liefern. Schlielich war Samstag und am Nachmittag sind vielleicht alle zuHause. Auf dem Weg kamen doch Zweifel auf: Ist das jetzt richtig?

Dann klingeln. Die Tr ffnete sich. Da stand Klara, geheimnisvoll lchelnd vor ihr: Schn, dass du gekommen bist. Brbel beschreibt ihre berraschung. Lass die Schuhe an, htKlara gesagt, und bat sie, mit schlichter Gestik, in die Wohnstube. Der Raum wrehell, gro, ganz im Zeitgeist stilvoll gestaltet. Frank konnte sie nicht entdecken: Wahrscheinlich registrierte Klara ihren suchenden Blick: Frank bereitet unserenUrlaub vor: Wir wollen nach Mecklenburg: Dort sind viele Seen und er angelt doch so gern. Sie ergnzte schmunzelnd: Schlielich braucht er frische Ware, denn auf seinen Ladentisch kommen nur Fische seines Vertrauens. Klara war so gastfreundlich!Spter bringt sie auch noch Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Vorher allerdingswurde Albert munter und auf den Arm genommen. Er tastete wieder mit seinen wurstigen Hndchen alle erreichbaren Krperteile seiner Mutter ab. Am liebsten war ihm jedoch die Silberkette um ihren Hals.ber das eigentliche Problem konnte ich doch nicht sprechen. Brbel macht eine Pause.Hast du gewusst, dass Klara Silberschmied ist? Fertigt ganz tolle Sachen. Dann erkundigt sie sich: Gibt es im Fall deiner Gedichtstrophen eine Erkenntnis? Konnte Alexander helfen? Eduard findet seine Sprache wieder: Alexander waren die Zeilen auch fremd. Vom Stil wre es eine Elegie, also so eine Art Klagegedicht, es stammt aus der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts. Hat versprochen weiter zu suchen. Wir mssen eben seinen Anruf in den nchsten Tagen abwarten. Welches Gedicht kennt Alexander nicht!

Viertes Kapitel

In den nchsten Tagen hat eine Art Winterfliege wieder eiskalt zugestochen. Irgendwo, vielleicht direkt vor Eduard Ringels Wohnung, ihre glnzend weien Eier abgelegt. Die Infizierung mit diesem Virus zeigt sich an blau gefrorenen Hnden. Das Gesicht, der ganze Krper in Thermo gewickelt, auf jeden Fall hilft Creme als Panzer frdie empfindliche Haut. Es ist bereits Februar. Auch Brbel meint: Du musst dir dieaufgesprungenen Lippen etwas eincremen. Prfend tastet Eduard die angesprochene Mundpartie mit der Zunge ab. Brbel, diesen Nivea Cremegeschmack will ich nicht, rechtfertigt er sich, lieber kleine Risse auf der Haut. Nichts ist perfekt. Sprdigkeitdes Materials gehrt zum Alter, bin auch schon ber fnfzig. Warm anziehen heit seine Devise: Und jenes winzig kleine Insekt finden, welches fr diese Extremklte die Schuld trgt. Vielleicht versteckt es sich hinter dem Thermostat des Heizkrpers, verhindert dessen geregelte Funktion, lacht hmisch auf unsere mit furchtsamer Winterkleidung bepackten Tage herab. Eduard wird nervs, fhlt sich verpflichtet zu handeln. Solche Klte ist kein Spa, sagt er.Das Thermometer zeigt bereits einen Wert von minusacht Grad an. Das Insekt mussgefunden werden. Als um fnf Uhr Brbels Wecker klingelt, gibt es vermutlich ein paar Minusgrade weniger. Um 5.50 Uhr verlsst sie das Haus, die Temperaturen sind unter den Nullpunkt gesunken. Brbel kann frh nichts essen. Ob das gegen Klte hilft? Fr

Eduard undenkbar! Vor Entkrftung und dem Gespr eines schnell gesunkenen Zuckerspiegels wrde er dem dritten Kunden entkrftet in die Arme fallen, vielleicht knapp daneben, vom Regal fr Katzenfutter aufgefangen. Schlimmer wren die Folgen eines Sturzes ins Terrarium der Mehlwrmer oder Heuschrecken. Denkbar ist ebenfalls ein Absturz mitten hinein in den Winterschlussverkauf fr Hunde. Auch Hunde frieren, spren den bissigen Einstich der Winterfliege in den Boden. Und wegen der groen Nachfragenach Norwegerpullis fr Dackel, natrlich, der frierende Mops bentigt zur moralischen Untersttzung farbenfrohe Schleifchen oder flauschige Pelzkragen, hat Eduard alldiese wichtigen Dinge in sein Sortiment aufgenommen. Bei Minusgraden sitzen Mensch und Tier in einem Boot. Einziger Trost ist die bereits bestellte Frhjahrskollektion.Eduard schlrft den letzten Rest lauwarmen Kaffee. Er beschftigt sich vorsichtshalber gedanklich mit gymnastischen bungen zur Strkung des Immunsystems. Soweit kommtes nicht, denn das Telefon klingelt, zeigt die Nummer von Alexander an. Endlich!In Eduards Kopf hielt sich die letzten drei Wochen das Bild vom eingeschneitenFreund, irgendwo in einer polaren Frosthhle kauernd, trotzdem Pfeife rauchend, das Gesicht blau glnzend, durch die dicke, schmierige Schicht von Seehundfett durchschimmernd. Auf dem Scho das Lieblingsbuch irgendeines vergessenen Autors, auch dessen Seiten sind inzwischen zusammengefroren. Aber er lebt noch. Guten Morgen, Alexander. Der Freund kommt gleich zur Sache: Eduard, das ist unglaublich mit deinen Strophen. Weder Rilke noch Trakl sind dafr zustndig, sondern ein Literaturarchivin Mnchen. Guter Freund, weit du, wie viele Stunden ich gesucht habe! War die pure Verzweiflung! Weitergeholfen hat mir, wie so oft, der Zufall. Ich fand ausgerechnet in diesen Tagen den Brief eines gewissen Professors Werzel, Josef Werzel.Das ist die Lsung! Dieser Mensch ist ein profunder Literaturkenner, mit der Spezialitt Bhmische Lnder. Ich rief also an und bekam ihn nicht gleich ans Telefon. DerHerr Professor ist momentan nicht zu sprechen. Aber drei Tage spter klappte es. Was soll ich dir sagen! Er bat mich um die schriftliche Zusendung der drei Strophen, was ich auch machte, rechnete aber nicht mit einer schnellen Antwort. Doch,hr zu, es kam anders: Bereits einen Tag spter rief er mich wieder an. Jetzt wollteer wissen, woher diese Strophen stammen. Eduard, damit kam dein Name ins Spiel.Und nun halt dich fest: Er bittet darum, dass du so schnell wie mglich mit ihm in Kontakt trittst. Am besten fhrst du noch morgen nach Mnchen mit. Fr die Fahrt, Verpflegung und eventuelle Unterkunft kommt er auf. Der gute Mann sprach von einemunglaublichen Ereignis. Was sagst du dazu? Gar nichts kann Eduard dazu sagen, nicht einmal denken. Er soll ganz schnell nach Mnchen kommen, um einem renommiertenWissenschaftler Rede und Antwort zu stehen. Was ist hier los? Eduards Irritation unternimmt gerade Hhenflge. Hat er etwas zu Herkunft oder Autor gesagt? Nein! GuterFreund, entscheide dich! Ich wrde mitkommen und dich fahren. Ist das ein Vorschlag? Kann ich sagen, wir kommen morgen zum Sonntag? Alexander lsst dem Freund keinen Spielraum fr Terminalternativen. Lngeres berlegen ist nicht mglich. Die Fahrzeit bis Mnchen betrgt vier Stunden. Und du holst mich ab, Alexander? Klare Sache, ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Eduard gelingtgerade kein Widerspruch. So ein ganz klein wenig kokettiert seine Eitelkeit schon mit dem Gedanken des Besonderen. Doch jetzt stellt er erschrocken fest, lngstim Geschft sein zu mssen. Nach einem elektronisch verstrkten telefonischen Ruspern verabschiedet sich Alexander.Mit dieser Nachricht allein gelassen soll Eduard sich auf die ganze bunte Welt der Kleintiere konzentrieren. Es geht nicht anders: Beherrschung fhrt zur Reife.uerdem sind inzwischen minus zwlf Grad erreicht und die Kltefliege noch nichtffen. Er muss sich ernsthaft an ihre Verfolgung machen: Ausgerechnet jetzt ist ihr eisiges Summen im Raum. Er schlgt krftig zu, gezielt: Klatsch! Ruhe! Diesesblem wre vorerst gelst. Nun kann sich der erfolgreiche Kammerjger schnell aufeg ins Geschft machen. Nur das Scheibenkratzen am Auto nervt.

AgetroProden W

Am Abend ruft, wie abgesprochen, Alexander wieder an: Es bleibt dabei, ProfessorWerzel ist mit deinem Terminvorschlag einverstanden. Da Sonntag ist, mchte er mituns gern erst zu Mittag essen. Er schlgt ein urbayrisches Wirtshaus vor: Das Bruh

aus im Ortsteil Schwabing.Brbel steht pltzlich hinter ihm im Raum. Mit mir redest du wohl nicht mehr? Er winktab, gestikuliert aber unsicher. Ein Ruck geht durch ihren Krper, trotzdem spricht sie mit ruhiger Stimme weiter: Ich bin froh, dass du endlich mit jemandem sprechen kannst. Dein stndiges Grbeln bringt kein brauchbares Ergebnis. Selbst der belesene Alexander wei nicht weiter. Dafr begleitet er dich nach Mnchen. Ein Glck!In der kommenden Nacht liegt sie ganz nah bei ihm, ein warmer Trost in diesen dunklen, schlaflosen Stunden.

Am Sonntag, um 7 Uhr, holt Alexander Eduard sogar zu Hause ab. Guten Morgen, singter seine Begrung. Spter im Autoradio luft natrlich Klassische Musik: Schlielich hrtn am Sonntagmorgen geistliche Werke von Bach, Telemann und Monteverdi. Nachdem er auf seinem Navigationsgert noch einmal vorsorglich herumgetippt hat, geht es Richtung Autobahn.

Viel haben sich beide whrend der Fahrtzeit nicht zu erzhlen: Alle Zuhrer werden miteiner Morgenandacht begrt. Dann folgen Chorwerke von Bruckner und Dvorak. In derFolge bekommt Alexander einen Reizhustenanfall, was ihm den Verdacht allergischer Einflsse einbringt. Anschlieend, whrend eines Features ber Sonntagsspaziergnge, drnt sie aggressiv aufgeblendet ein dunkler BMW von der Mittelspur, was wiederum Alexanders wtende Sprche aktiviert. Kaum zu Ende geflucht, folgen Streichquartette von Mozart und ein Oktett Schuberts. Schubert summt Alexander stellenweise mit. Inzwischen, whrend der bertragung eines Gottesdienstes, kommt das Ziel Mnchen nher. Alexander summt nicht mehr. Und zum Agnus Dei erreichen sie die Tiefgarage. So schnell kann es gehen, stellt Eduard lapidar fest und wnscht sich einen Blick auf dieSchaufenster der Grostadt, leider bei Minusgraden.

Eigentlich ist es zu kalt fr einen Stadtbummel. Alexander erinnert sich: Weit du, Anfang des Jahres las ich in einer Zeitung, dass die Menschen in Nordkorea whrendder Trauerfeier von Kim Jong il keine Mtzen, Schals oder Handschuhe tragen durften, trotz minus neun Grad. Sie sollten es dem Sohn jenes Verstorbenen gleich tunund aus Ehrerbietung die Eisesklte aushalten. Der Freund hat ein beeindruckendes Gedchtnis, auch fr koreanische Namen: Kim Jong il. Ich wei, Eduards Stimme frstelt, dTrauergste verwandelten sich allmhlich in eine geschlossene Eisbahn, auf der dannspter Korea die Winterolympiade gewann.Inzwischen ist es fnf vor zwlf und sie stehen vor dem angegebenen Bruhaus. EduardsAufregung setzt sich pnktlich wie ein Glockenspiel in Bewegung. Und es klingt garnicht harmonisch. So geht es an einem selbstbewussten bayrischen Kunstlwen vorbei, geradlinig auf Professor Werzel zu, welcher schnell als solcher erkannt wird.Der Mann, wie vermutet ein lterer, dazu kleiner Herr kommt ihnen erfreut entgegen, begrt Eduard mit festem Handschlag: Gr Gott, ich vermute Herrn Ringel. Herzlich willkommen in Mnchen. Und der Herr Burger ist Ihre nette Begleitung. Wunderbar, dass alles so schnell geklappt hat. Fr uns ist ein Tisch reserviert. Dort warten meine beiden Mitarbeiter, Herr Dr. Herzer und Frau Dr. Jablond. Beide sind schon sehr neugierig darauf, Sie kennen zu lernen, Herr Ringel. Professor Werzel, im korrekt sitzenden, grauen Anzug, mit schtterem, dnnem und bereits ergrautem Haar, begleitet sie an den Tisch. Eduard fhlt weiter diese groe innere Anspannung: Das Glockenspiel im Kopf drhnt. Das Hndeschtteln geht weiter! Die beiden wissenschaftlichenMitarbeiter vorerst unauffllig freundlich.Dann bringt der Kellner die Speisekarten: Entscheidung ist gefragt zwischen original bayrischer, sterreichischer und mediterraner Kche. Eduard hat sich entschieden: Ein alkoholfreies Hefeweizen, dazu Schweinebraten mit Kmmelkruste, Kartoffelklo und Kraut. Er ist eben in Mnchen und will das auch schmecken. Whrend die anderenihre Bestellung aufgeben, ist Zeit, sich beide Mitarbeiter nher anzuschauen. FrauDr. Jablond ist eine groe, hochgewachsene Frau mit fast maskulinen Gesichtszgen und gebildeter Unnahbarkeit. Sicherlich wird dieses Bild verstrkt durch eine berdim

ensionale, dunkelrahmige Brille. Dazu bieten allerdings ihre leuchtend rot gefrbten Lippen den kontrastreichen Blickfang. Was bestellt sich Frau Jablond? Kalbsbrust mit Breznfllung, dazu Blaukraut und Semmelklo.Dr. Herzer, welcher sich fr Forelle und Butterkartoffeln entscheidet, weckt bei Eduard durch seine auffllig braungebrannte Haut Misstrauen. Sieht so der wissenschaftliche Mitarbeiter in einem Literaturinstitut aus? Athletisch, strahlend, dieschwarzen Haare glatt nach hinten gekmmt. Nein, sagen braucht der nichts, nur nicken. Der Chef hat immer Recht!Der Herr Professor selbst bestellt sich ebenfalls Schweinsbraten mit Kmmelkrusteund Kartoffelklo. Nur Alexander entscheidet sich fr Mnchner Sauerbraten.

Professor Werzel verfgt ber ein groes Gedchtnis voller Mnchner Anekdoten, berbrckt sie Zeit des Wartens. Was er erzhlt, wirkt lebendig, voll bodenstndigem Witz. Er spricht von dem schrulligen Eigensinn der Bewohner: Denken Sie nur an Karl Valentin, oder unseren Mrchenknig. Bestellen Sie sich noch eine Leberkndelsuppe, Herr Ringel, kann ich nur empfehlen. Es folgt sein Resmee fr diese Stadt: Vieles hat sich verndert, ist verschwunden, wurde verglast, aufpoliert: Und doch lsst sich so manchesentdecken. Aber eigentlich gleicht die Stadt einem zerfahrenen Waldweg, unbegehbar geworden inmitten hektisch aufgeforsteten Waldes. Neues Bewusstsein soll entstehen, schnell, schnell. Nicht nur sonntags den Kopf des bayrischen Lwen zum Wackeln bringen. Professor Werzel nimmt sein Glas, erhebt sich, um mit allen Anwesenden auf gute Zeiten anzustoen: Auf unser Institut und das Gelingen vieler guter Projekte! Mge Europa sich seiner kulturellen und historischen Werte besinnen. Eduardberkommt ein Werteschwindelgefhl. Am Bier kann es nicht liegen. Auch Alexander scheint in seinem Element, erzhlt immer das Richtige, wei zu jeder Anekdote Professor Werzels den passenden Spruch.Inzwischen wird das Essen gebracht. Whrend des Zerschneidens des Schweinefleisches, dem Knirschen der Kruste, dabei den Semmelklo gekonnt mit der Gabel breitdrckend, zerpflcken Eduards Gedanken den Namen Jablond in alle Einzelteile. Jablond! Das hat so einen geknstelten Nachklang, Jablonski, das wrde gehen. Aber Jablond, nein, das passt nicht. Da fehlt etwas. Klingt falsch.Im Bruhaus selbst kommen sie nicht auf das eigentliche Thema, es bleibt bei der Anstandsrunde, dem gehaltvollen Essen. Aber so wollte es der Herr Professor auch.Danach ldt er zu einem Verdauungsspaziergang in das Institut ein: Dort msse noch ber eine wichtige Sache gesprochen werden. Also verlassen sie, nachdem Professor Werzel alles bezahlt hat, die Lokalitt und laufen, ihre Gesprche kurz zuknpfend, biszur S Bahn. Die fnf Stationen wren dann doch zu weit. Zumindest Frau Doktor Jablond scheint still zu protestieren.Das angesprochene Institut befindet sich in einem recht groen Jugendstilgebude, umrahmt vom passenden Garten, als abgrenzender Lebensraum fr alte Pflanzenarten undgeistreiche Rckzugsarchitektur. Das Ganze wird von einem schmiedeeisernen Zaun umgrenzt, dessen Mittelpunkt, ein schnrkelreiches Tor, die Gste misstrauisch beugt.Sie laufen einen sich schlngelnden Gartenweg, der beiderseitig von hochwachsendenStruchern begrenzt ist.Professor Werzel geht voran, am Eingang zum Haus werden sie von einer, sehr bescheiden wirkenden, schlanken Dame begrt, welche er als seine Frau vorstellt.Bis zum eigentlichen Arbeitszimmer mssen sie ber einen Flur, dessen Fenster Lichtnur in sakraler Vornehmheit vorkommen lassen. Dagegen zeigt sich das Arbeitszimmer als grozgiger, heller Raum, mit dunklem Interieur, vielen Sthlen und bergroem Schreibtisch. Professor Werzel bittet sie, Platz zu nehmen. Er selbst beansprucht den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Vorher aber ffnet er an einem der dunklen Schrnkedie Tr, zieht ein Fach auf und entnimmt zwei Bltter. Wrdevoll, als handle es sich

um eine Reliquie, berreicht er diese als Erstem Eduard. Bitte sehr, das sind die letzten zwei Seiten eines Gedichtes der bhmischen Dichterin Anna Peterka. Eduard hltdas Papier mit von Ehrfurcht durchdrungener Vorsichtigkeit in den Hnden. BrauneAltersflecken, dazu eine geschwungene, sehr gleichmige, ausgeglichene altdeutscheHandschrift, verweisen die Bltter in den Bereich der wertvollen Dokumente. Professor Werzel lsst die Gste alles bestaunen und befhlen, bevor er dann eine Erklrung abgibt: Sie halten in Ihren Hnden die einzigen zwei Seiten eines ehemaligen, ganz groartigen lyrischen Werkes. Das ist der traurige Rest ihrer Bhmischen Elegie. Einstumfasste das Werk zehn Strophen, war in Kennerkreisen bekannt bis nach Prag.Wir wissen, dass die Dichterin im September 1938, mit dreiundvierzig Jahren, ermordet wurde. Kurz danach verbrannte das Werk. Unglaublich, aber wahr. Die gesamte kleine Auflage wurde vernichtet. Dabei war die Ausgabe, an verschiedenen Ortenverteilt, unter dem interessierten Volk zu finden. Das Ereignis ist noch nichtrichtig erforscht. Man muss allerdings von einer zentral geleiteten, stark vernetzten und langfristig vorbereiteten Aktion ausgehen. Bei den zwei Strophen, dieSie in Ihren Hnden halten, handelt es sich um Kopien. Durch einen glcklichen Umstand berlebten diese. Wieder macht er eine Pause. Eduard stellt zaghaft fest: Das sind zwei meiner Gedichtstrophen. Die Worte stimmen genau! Professor Werzel schaut ihn nachdenklich an, bittet Eduard dann, seine vier Strophen zu wiederholen. Dabei legt er besonderen Wert auf die letzten zwei Strophen. Eduard stellt sich in Position und leistet dem Wunsch, etwas aufgeregt, Folge. Fassungslose Gesichter.Es ist zu spren: Die Anwesenden werden Zeugen eines Wunders.Die Worte sind wiederholt. Stille. Feierlich, passend zu diesem Moment, lsst barock aufgeschwemmtes Sonnenlicht den Raum noch heller erscheinen. Der Professor lchelt nun zufrieden. Nickt. Dafr reagiert Frau Dr. Jablond, hochrot im Gesicht, ganz aufgeregt, so, dass die ber ihren schlanken Hals verlaufenden Adern dick anschwellen. Dr. Herzer wirft Frau Dr. Jablond triumphierende Blicke zu. Professor Werzel wendet sich beschwrend an Eduard: Ein Wunder! Die Strophen gehren zur Elegie, Wort fr Wort. Sie knnen diese aber nicht kennen! Wie bereits von mir erwhnt, ist dasOriginal und die kleine Auflage der Nachdrucke damals vernichtet worden. Es bleibt objektiv betrachtet unmglich, dass Sie diese kennen. Oder ist doch ein Exemplar bei Ihnen wieder aufgetaucht? Es wre von unschtzbarem Wert. Denn diese Frau nahm nicht nur literarisch, sondern auch politisch, durch besondere Kontakte, eineSchlsselposition ein. Hier steht die Wissenschaft vor einer groen Herausforderung.Aber der Aufwand lohnt sich. Denn die Zeiten des Kalten Krieges sind vorbei. Heute heit es, Geschichte neu zu betrachten. Dazu gehren gerade die bewusst verdrngten Persnlichkeiten und Schaffenswerke. Sie gilt es zu entdecken. Und da steht, imHinblick auf europisches Gedankengut, Anna Peterka an erster Stelle. Das waren groeWorte. Genau, besttigt Dr. Herzer und blickt wieder sich absichernd zu Frau Dr. Jablond.Eduard sprt ein Schwindelgefhl im Kopf. Es dauert einen Augenblick, bis er sich wieder gefasst hat und reagieren kann: Ich versichere Ihnen, keine heimlich aufgetauchte Kopie des Werkes zu besitzen! Die Strophen waren mir bisher vllig unbekannt! Und ich gebe ehrlich zu, dass Lyrik bisher nicht zu meinen Leidenschaften zhlte. Das Problem ist, die Worte sind pltzlich da und wollen aufgesagt sein. Dafr erleide ich Schweiausbrche und Herzrasen. Die Sache entwickelte sich so unerklrlich, dass ich mich an Herrn Burger gewandt habe.Professor Werzel beobachtet Eduard, whrend dessen Erklrung genau. Die Situation nimmt eine ungemtliche Wende. Alexander versteht seine Not und ergreift nun, als Freund und Verteidiger, das Wort: Wir kennen uns bereits viele Jahre und ich habe Herrn Ringel als vertrauenswrdig und Realist kennengelernt. Professor Werzel nickt,schaut in die schweigsame Runde seiner Mitarbeiter. Dr. Herzer zuckt mit den Schultern, wirkt unruhig. Seine Hnde liegen nicht mehr au dem Tisch. Sicher drngen ihn andere Termine. Er hat nicht die Zeit fr groe Reden. Eduard muss pltzlich an dasKarpfenschlachten denken. Warum jetzt? Geht Dr. Herzer gleich fort, weil er noch einigen Karpfen den entscheidenden dumpfen Schlag auf den Kopf geben muss. Fur

chtbarer Gedanke. Aber Eduard kann sich, beim Anblick des Mannes, nicht mehr davon lsen. In den Augen des Wissenschaftlers schimmert abgestandenes Fischwasser.Auch Frau Doktor Jablond wirkt nervs. Sie wartet ab, sucht nach Worten. Es scheint, als wolle sie die Rede des Professors bersetzen. Vielleicht beherrscht sie dessen Sprache nicht mehr? Es wird sich zeigen, ob ihre bersetzung gut ist: Wie der Herr Professor bereits ausgefhrt hat, wissen wir sehr wenig ber Frau Peterka. Warum? Sie war eine einfache Frau im nordbhmischen Vorland des Riesengebirges, war alsTschechin mit einem Deutschen verheiratet, der sich, nachdem sie drei Kinder hatten, von ihr im Jahr 1933 trennte. Frau Peterka arbeitete whrend der Zeit ihrerEhe als Hilfskraft in der Flaschenreinigung einer Brauerei. Sie muss sehr selbstbewusst und kritisch, aber auch fr die damalige Zeit emanzipiert gewesen sein. 1938 wurde sie ermordet, wir wissen nichts von Tter oder Auftraggeber. Ein Groteil ihres Werkes verschwand danach. Man staune, sogar smtliche, im Prager oder Zarmsker Archiv befindlichen Kopien sind verschwunden. Das war eventuell gewollt ordentliche, vielleicht deutsche Arbeit. Letztlich wissen wir es nicht. Es gibt auch keine speziellen nationalen Spuren. Frau Jablond hat es geschafft. Ihre Worte halten sich an die Ausfhrungen des Professors. Sie berspielt ihre nervse Unsicherheit mit Wiederholungen und Aufzhlung der Fakten. Dr. Herzer schaut auf die Uhr. Noch bleibt er sitzen, bemerkt freundlich: Ich kann die Worte von Frau Dr. Jablond nurbesttigen. Geht er jetzt vielleicht doch hinaus? Karpfenschlachten. Eduard sprt denkurzen Schlag auch auf seinem Kopf. Er schttelt sich. Nchtern bleiben! Die Nervensind gerade berfordert.Inzwischen redet Professor Werzel wieder: Immerhin hat eine Novellensammlung vonihr berlebt. Sie war, zusammen mit zwei Briefen, den angekohlten Resten der Elegie und einer Sammlung von Zeitungsartikeln ber Frau Peterka im Archiv Zarmsk ausgelagert. Davon wusste der Tter vermutlich nichts. Diese Dinge sind momentan nichtfr die ffentlichkeit zugnglich. Noch nicht.Deshalb, Herr Ringel, waren wir ber die Verlautbarungen ihres Freundes sehr berrascht und natrlich voller Erwartung. Ehrlich, wir hofften auf ein wiederaufgetauchtes Original. Aber wie Sie glaubhaft beteuern, befinden sich keinerlei Aufzeichnungen von Frau Anna Peterka in Ihrem Besitz. Bleibt die Frage im Raum, wie dieseStrophen in Ihren Kopf kommen.Jetzt fordert Alexander Eduard auf, die ekstatischen Zustnde zu beschreiben. Dieser berlegt eine Zeit: Kann man diese Momente wirklich in Worte fassen? Eduard versucht es. Den einzelnen Strophen geht ein starkes Schwindelgefhl voraus. Und das kommt pltzlich, vllig unberechenbar, ohne Rcksicht auf Zeit und Raum. Dazu gesellt sich ein unangenehmes Schwitzen und groer Speichelfluss. Steuern kann ich mein Verhalten in diesem Moment nicht. Es wchst mir sozusagen ber den Kopf. Frau Dr. Jablond scheint auch seine Worte bersetzen zu mssen. Ihrem misstrauischen Blick zufolge,bleiben Zweifel bestehen. Solche Zustnde kennen wir bisher nur aus der Religion.Nun gut, es ist natrlich nicht auszuschlieen, dass ein Knstler, im Moment des Schaffens, eine hnliche Stimmungslage erfhrt. Wir mssen wissenschaftlich prfen, ob hier wirklich etwas Auergewhnliches passiert. Damit streifen wir natrlich auch das Gebietder Psychologie. Gab es denn feste Zeitabstnde oder berhaupt Zeiten fr Ihre Ekstasen? Eduard berlegt: Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht.Dr. Herzer verabschiedet sich nun doch: Ich muss leider gehen, mich drngen noch termingebundene Verpflichtungen. Auf Wiedersehen! Jetzt ist es so weit. Eduard bermannt erneut das bekannte Schwindelgefhl. Um wen muss er sich nun ngstigen? Dr. Herzer flstert dem Professor noch etwas ins Ohr, bevor er endgltig den Raum verlsst.

So, berlegt der Professor, dann knnte, zumindest theoretisch, bald die nchste Strophefolgen. Er schaut auf den Kalender: Wir haben heute den zehnten Februar. Eduard erschrickt ber diese Wahrscheinlichkeit. Nun steht er in wissenschaftlicher Verantwortung! Die Geschichte der Literatur, die Historie der Politik warten auf seine Ekstasen. Professor Werzel bittet ihn eindringlich: Informieren Sie uns bitte ber j

ede neue Strophe. Dabei schmunzelt er und das dnne graue Haar verstrkt den vterlichen Vershnungscharakter dieser Szene.Das Treffen geht nach diesem Angebot seinem Ende entgegen.Whrend der Heimfahrt hat Alexander noch ein Problem mit seinem Auto: Im Display kommt die Warnung Strung in der Motorsteuerung. Er hat keine Ruhe, fhrt deshalb eineWerkstatt an. So unterhalten sie sich nicht ber Literatur, sondern ber Kfz Technik. Eduard steht abseits. Ihm brummt der Name Anna Peterka durch den Kopf. Irgendwann hat er ihn schon einmal gehrt! Der Mechaniker schliet das Fahrzeug an den Computer an. Minuten spter ist das ganze entstpselte Problem gelst. Eduard kommt die Erinnerung. Natrlich: Anna Peterka hie die Mutter seines Vaters, der kaum von ihr sprach, auer: Sie ist eine Tschechin gewesen. Sie hatten sich wiedergetrennt. Einmal konnte Eduard Ringel ihren Namen auf der Hochzeitsurkundeseiner Groeltern lesen: 1920. Ihre Hochzeit. Er hat nicht weiter geforscht, denn Familiengeschichte ist nicht seine Sache.So, der Motorschaden ist behoben, beeilt sich Alexander zu verknden, reibt dabei seine Hnde: Heutzutage muss niemand mehr unters Auto krabbeln, um Probleme zu beheben, das passiert zu groen Teilen ber den Computer. Eine verrckte Zeit! Damit verluft die Heimfahrt fehlerfrei.Jetzt bin ich auch noch mit einer Dichterin verwandt, sinniert Eduard. Was ist los mit dir, brummt Alexander, so schweigsam? Nein, er teilt Alexander seine Entdeckung, dass diese bhmische Anna Peterka mit ihm verwandt ist, nicht mit. Noch nicht!Der einfhlsame Freund akzeptiert Eduards Schweigen. Und so lauschen sie die restlichen 300 Kilometer, Dank des Autoradios, diversen Streichquartetten und schlielich jenen Liedern ohne Worte von Brahms. Alexander fhrt direkt vor die Haustr: Esist bereits dunkel: Na dann, Eduard, wir telefonieren in den nchsten Tagen.Nur Brbel erzhlt er, nach ausfhrlicher Berichterstattung, wer diese Dichterin seinknnte: Brbel, ich werde in den nchsten Tagen Nachforschungen betreiben. Mir will dasalles nicht in den Kopf. Sie streicht ihm, im Ergebnis dieser Aussage, ber den Kopf. Vielleicht brauchst du eben doch einen vertrauenswrdigen Psychologen zum Reden. Das ist keine Schande! Fr Eduard eine Empfehlung, welche pures Entsetzen auslst. Vorerst brauche ich keinen Psychologen. Bitte gib mir nicht noch einmal so eine Empfehlung. Noch nicht. Vorerst versuche ich, das Problem allein durchzustehen.Es ist zwei Tage spter, abends gegen 20 Uhr, nach einem anstrengenden Geschft. Vieles, was die Zoohandlung betrifft, geht ihm durch den Kopf, gemischt mit Gedanken an Frank und die unbekannten elegischen Strophen, das Auftauchen jener Urgromutter vterlicherseits, Anna Peterka. Auch der Besuch in Mnchen, der kleine Professor, das herbe Gesicht von Frau Dr. Jablond, der