borges leipzig

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Frankfurter Allgemeine Zeitung Mittwoch, 24. Oktober 2001, Nr. 247 / Seite 53 Feuilleton „Laßt die Welt einen Tag lächeln“, flehte vor fünfundzwanzig Jahren per Zeitungsan- zeige der Musikmanager Sid Bernstein die „Fab Four“ an, sie sollten doch zurücktre- ten von ihrem Rücktritt, und bot ihnen für ein einziges gemeinsames Konzert die Ga- rantiesumme von 230 Millionen Dollar. Auf diesen Tag wartet die Welt bis heute. Es wird ihn auch nicht geben; jedenfalls nicht, solange John Lennon tot ist, wie der für Humorbeiträge sonst wenig bekannte George Harrison einmal anmerkte. Die „Beatles“, die erfolgreichste Boygroup al- ler Zeiten, sind seit dem April 1970 Ge- schichte. Es funktionierte einfach nicht mehr; die fröhliche Burschenschaft, von Egoismus und künstlerischen Differenzen schon seit 1966 gefährdet, war am Ende. Die britischen „Spice Girls“ galten als das um dreißig Jahre zeitverschobene weibliche Pendant der „Beatles“. Das hat mit ihrer musikalischen Qualität natürlich nichts zu tun. Es wäre sinnlos, sich dar- über aufzuregen, daß diejenigen, die in der Popmusik den Ton angeben, oft gar nicht besonders gut singen können und auch ihre Instrumente nicht richtig beherr- schen, womöglich sogar playback singen, während hinter den Kulissen jemand ande- rer die Fäden zieht. Daß letzteres bei den „Spice Girls“ der Fall war, diesen Ver- dacht haben auch die Soloalben ihrer Mit- glieder nicht eben ausräumen können. Ein- zig Melanie Chisholm, als „Sporty Spice“ die wohl unauffälligste Erscheinung im ehemals fünf-, zuletzt vierköpfigen Ensem- ble, hat als Mel C. mit ihrer Platte „Nor- thern Star“ die besonders kulturpessimisti- schen Popkritiker von ihrer ewigen Lita- nei abbringen können, es gehe ja nur ums Marketing. Die „Spice Girls“ waren in hohem Maße ein Marketingprodukt. Daß die von ihnen so fröhlich wie ideologiefrei vertre- tene girl power in der von Blair, Britpop sowie den Boygroups beinahe restlos be- herrschten Cool-Britannia-Ära Mitte der neunziger Jahre überhaupt noch Platz zur Entfaltung hatte, war hauptsächlich frem- der Hilfe zu verdanken. Victoria Beckham („Posh Spice“), Melanie Brown („Scary Spice“), Emma Bunton („Baby Spice“), Melanie Chisholm und die zuerst ausge- stiegene Geri Halliwell („Ginger Spice“) sahen noch nicht einmal besonders gut aus und bewegten sich auch nicht elegant, machten dies aber mit Charisma und Chuzpe mehr als wett. Den Rest besorg- ten ihre Manager. Nun, nach dem schätzungsweise zwei- hundertsten Trennungsgerücht, scheint das Ende gekommen. Die britische Presse meldet, „Posh Spice“ und „Scary Spice“ hätten ihre Managerin Nancy Phillips ge- feuert, die nun nur noch „Sporty Spice“ Melanie Chisholm und „Baby Spice“ Emma Bunton vertrete. Man habe sich noch nicht einmal auf eine gemeinsame Erklärung für diese Maßnahme einigen können. Das Ende aller Kommunikation also: Das war damals auch bei den „Beatles“ der Anfang vom Ende. edo. Für die tatarisch-russische Komponistin Sofia Gubaidulina gilt, was auf viele Künst- ler ihrer Generation zutrifft, die wesentli- che Abschnitte ihres Lebens in der Sowjet- union verbracht haben. Jede öffentliche Äu- ßerung, die sich dem individuellen Willen des Künstlers und nicht der herrschenden Kunstdoktrin verdankte, war eine Gratwan- derung zwischen Duldung und Auffüh- rungsverbot. Was Sergei Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch erfahren haben, die ihre Werke nicht selten auf Weisung höchster politischer Autoritäten revidieren mußten, ist später mehr oder weniger rigi- de auch mit Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Edison Denissow, Andrej Wolkonski, Giya Kantscheli und einer ganzen Phalanx jünge- rer Komponisten versucht worden. Um so höher ist es einzuschätzen, wenn diese Komponisten beharrlich ästhetischen Widerstand leisteten, wie Sofia Gubaiduli- na mit ihrem Offertorium beispielsweise, ei- nem Konzert für Violine und Orchester, gleich in doppelter Hinsicht. Sie schrieb ein Werk im religiösen Kontext, und sie widme- te es zudem noch einem Künstler, der seit Jahren im Westen lebte, in der Sowjetunion deshalb persona non grata gewesen ist: dem Geiger Gidon Kremer. Gidon Kremer hat die Komponistin denn auch als Missionarin bezeichnet, deren Werk so attraktiv wirke, weil die Quellen, aus denen sie ihre Inspira- tion schöpfe, offenbar verborgen blieben. Was Kremer fühlte, hing vermutlich nicht nur mit dem religiösen Aspekt ihrer Werke zusammen, die keine Kirchenmusiken, viel- mehr oft musikalische Deutungen religiö- ser Symbole darstellen. Es hängt vermut- lich mit der Radikalität ihrer Klangsprache zusammen, dem Gestus der Versenkung, wie man ihn auch in der hermetischen Ly- rik des Dichters Gennadij Ajgi spürt, den Sofia Gubaidulina vertont hat und der sich selbst als Suchenden „im Dienste der Stil- le“ bezeichnete. Welche Werke man von der aus Tschi- stopol stammenden, in der tatarischen Hauptstadt Kasan aufgewachsenen Kom- ponistin erwarten konnte, dürfte aller- dings sehr früh schon deutlich geworden sein. Bei ihrem Kompositionsexamen im Juni 1959 in Moskau wurde sie zwar mit der besten Note – auf Vorschlag ihres Leh- rers Nikolaj Pejko – ausgezeichnet, aber drei der Prüfer hatten doch Bedenken we- gen angeblicher „formalistischer Tenden- zen“ in ihrer ersten Symphonie, mit der sie die Künstlerin auf dem falschen Kom- positionsweg wähnten. Dmitri Schostako- witsch, der sich als Vorsitzender der Prü- fungskommission dem Vorschlag der be- sten Note anschloß, hat Sofia Gubaidulina auch noch einen Rat mitgegeben, den sie seither stets befolgt hat: „Ich wünsche Ih- nen, daß Sie auf Ihrem eigenen falschen Weg weitergehen.“ Wie gefährlich dieser „falsche Weg“ sein konnte, hat übrigens nach dem Examen Sofia Gubaidulinas der Prüfer Nikolaj Pejko am eigenen Leibe er- fahren müssen. Er verlor prompt seine Stelle am Moskauer Konservatorium. Nach ihrer Ausbildung als Komponistin und Pianistin begann Sofia Gubaidulina zwar in den sechziger Jahren, ein stattli- ches Œuvre zu veröffentlichen. Daß sie mit ihrem Werk, das die Experimente der Avantgarde, die vielfältigen stilistischen Umbrüche der Neuen Musik von der Dodekaphonie zur Postmoderne reflek- tierte, eine große Rolle im Konzertleben der Sowjetunion gespielt hätte, wäre frei- lich übertrieben. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich – wie viele nicht zu stili- stischen Kompromissen bereite Künstler – mit Gebrauchsmusik für den Film. Größe- re Anerkennung erfuhr sie im Grunde erst nach der politischen Wende, wenn man einmal davon absieht, daß sich Inter- preten wie Gidon Kremer auch früher schon für sie – durch Einladungen nach Lockenhaus – und für ihre von ihm gespiel- ten Werke einsetzten. So hat er etwa in Wien 1981 die Uraufführung des Offer- toriums (übrigens eine große Variation über das Thema aus Bachs „Musikali- schem Opfer“) gespielt, das später von ihm als CD aufgenommen wurde und den Koussevitzky-Preis erhielt. Sofia Gubaidulina durfte 1984 zum er- sten Mal in den Westen reisen, zu den Musikfestwochen nach Helsinki, wo sie später noch mehrfach mit ihren Komposi- tionen vorgestellt wurde, etwa mit dem Cellokonzert sowie ihrem Konzert für Fa- gott und tiefe Streicher. Zwei Jahre später kam sie dann zu Kremers Festival nach Lockenhaus. 1992 wurde ihre „Stunde der Seele“ bei den Donaueschinger Musik- tagen aufgeführt, ein Jahr später setzte Kurt Masur beim Festakt zum zweihun- dertfünfzigsten Geburtstag des Leipziger Gewandhausorchesters ihr Offertorium, gewissermaßen als glühende Hommage einer Komponistin des zwanzigsten Jahr- hunderts an Johann Sebastian Bach, aufs Programm. Ihre Verehrung des Thomaskantors hat wohl auch Helmuth Rilling dazu veran- laßt, Sofia Gubaidulina zum sogenannten Bach-Jahr 2000 für sein Europäisches Mu- sikfest Stuttgart (neben Aufträgen für Wolfgang Rihm, Osvaldo Golijov und Tan Dun) um eine Johannes-Passion zu bitten, ein Werk in kirchenslawischer Sprache, bisweilen in einem geradezu archaisch-ein- fachen Kompositionsduktus gehalten, bis- weilen auch in clusterähnlichen Tonballun- gen kulminierend, im großen musikali- schen Apparat, der hier für eine Kombina- tion der Passionsgeschichte mit der Apo- kalypse in Bewegung gesetzt wird, aber von überwältigender Wirkung. Sofia Gu- baidulina, über die vor einigen Tagen eine von Michael Kurtz verfaßte bemerkens- werte Biographie erschien (Urachhaus), lebt seit über zehn Jahren in der Nähe von Hamburg. Heute wird sie siebzig Jahre alt. WOLFGANG SANDNER In einer seiner Schriften berichtet der deutsche Sinologe Franz Kuhn (1884 bis 1961) von einer altchinesischen Enzyklo- pädie, die eine Taxonomie der Tiergat- tungen in vierzehn Gruppen vorschlägt: „a) dem Kaiser gehörige b) einbalsamier- te c) gezähmte d) Milchschweine e) Sire- nen f) Fabeltiere g) streunende Hunde h) in diese Einteilung aufgenommene i) die sich wie toll gebärden j) unzählbare k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeich- nete l) und so weiter m) die den Wasser- krug zerbrochen haben n) die von wei- tem wie Fliegen aussehen“. Vergeblich werden Wissenschaftler nach Kuhns For- schungstext suchen und ebenso nach be- sagter Enzyklopädie. Es handelt sich um eine der hintersinnigsten literarischen Er- findungen des argentinischen Schriftstel- lers Jorge Luis Borges. Beunruhigend ist diese Taxonomie für einen Wissenschaft- ler aber aus einem anderen Grund. Mit den Mitteln der Sprache löst Borges hier eine Basis der akademischen Diskurses auf: die Ordnung des Wissens in festen Kategorien. Von höchster Brisanz ist diese episte- mologische Dimension, wenn sie im Rah- men eines wissenschaftlichen Kollo- quiums über Borges zur Sprache kommt, das verschiedene akademische Diszipli- nen gemeinsam an einen Tisch bringt. Das Ibero-Amerikanische Forschungs- seminar der Universität Leipzig hatte zu einem internationalen Kolloquium über Naturwissenschaft und Philosophie bei Borges eingeladen. Das – in Zeiten der Vorherrschaft des Englischen als Wissen- schaftssprache eine denkwürdige Aus- nahme – fast vollständig auf spanisch ab- gehaltene Symposion wollte Literaturwis- senschaftler, Philosophen, Chemiker, Physiker und Wissenschaftshistoriker zu einem gemeinsamen Dialog über den ar- gentinischen Autor bewegen. Überträgt man die eingangs zitierte Klassifizierung der Tiergattungen auf die der Wissen- schaften, wird diese verlockende Idee zu einem höchst schwierigen Unterfangen. Wie soll es möglich sein, auf der Basis von Kategorien wie Naturwissenschaft und Philosophie über einen Autor zu sprechen, der ebensolche Grenzziehun- gen durch die grenzüberschreitende Kraft der Sprache ad absurdum führt? Ließe ein Werk, das, wie Jaime Alazraki (New York) darlegte, „die Metaphysik als Zweig der phantastischen Literatur“ erscheinen läßt, eine andere Wahl, als sämtliche akademischen Fachbereiche zu Unterdisziplinen der Literaturwissen- schaft zu erklären? Von Beginn an beschränkten sich die Teilnehmer darauf, als Philosophen und Naturwissenschaftler Borges zu lesen, ohne sich seiner literarischen und zu- gleich die Grenzen des Literarischen sprengenden Dimension zu verschließen. Relativ unkompliziert gestaltet sich der Dialog zwischen Literaturforschung und Philosophie. Da Borges wiederholt philo- sophische Texte diverser Epochen zitiert, sind von den Wurzeln des abendländi- schen Denkens bis zur Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche er- giebige Querverbindungen herzustellen. Ein immer wiederkehrender Aspekt von Borges’ philosophischen Lektüren ist das Verhältnis von Wirklichkeit und Sprache und insbesondere von Realität und Fikti- on. Die von Alazraki unterstrichene Auf- nahme der Metaphysik und Theologie in das Gebiet der Fiktion führt dabei zur Entstehung einer Gattung der „metaphy- sischen Phantasien“, um die Worte von Borges’ engem Freund Bioy Casares zu zi- tieren. Zur ironischen Rezeption christlicher Metaphysik und mittelalterlicher Gottes- beweise, dargelegt etwa in den Vorträgen der Mexikaner Héctor Zagal und Enri- que G de la G, gesellen sich so die Rezep- tion des metaphysischen Skeptizismus David Humes und die Sprachgebunden- heit des Denkens in der Nachfolge von Wittgensteins Tractatus, die Zulma Mateos von der patagonischen Universi- tät Bahía Blanca schlüssig analysierte. Vorrangige Bedeutung besitzt das Spiel des Autors mit der Tradition des Mime- sis-Diskurses, etwa in der subtilen Verzer- rung des doppelten Mimesisbegriffs bei Platon durch Borges, vom israelischen Philosophen Shlomy Mualem (Ramat- Gan) in geradezu mathematischer Strin- genz vorgeführt. Alfonso de Toro (Leip- zig) weitete das Thema in Anlehnung an Borges auf die Konzeption virtueller Wel- ten bis hin zu Baudrillard und in den Be- reich der Naturwissenschaft aus. Daß Borges’ Lektüren sich nicht auf die abendländische Philosophie beschrän- ken, legte Luis Xavier López Farjeat (Me- xico) eindrucksvoll anhand der Reflexio- nen über die Probleme bei der Überset- zung des arabischen Aristoteles-Kom- mentators Averroes dar. Interaktion von Philosophie und Literatur stellt im Falle Borges’ aber keine einseitige Bewegung dar. So verwies der Münsteraner Kompa- ratist Achim Hölter darauf, daß Michel Foucault als Motivation seines für die Wissenschaftsgeschichte bahnbrechen- den Buchs „Die Ordnung der Dinge“ aus- drücklich Fritz Kuhns apokryphe Taxono- mie angibt. Die Demonstration einer gelungenen transdisziplinären Herangehensweise gab auch die gewissermaßen außerdiszi- plinäre María Kodama de Borges. Selbst Schriftstellerin und langjährige Schreibe- rin des erblindeten Autors, verband Bor- ges’ Witwe in ihrem Vortrag mit dem dop- peldeutigen Titel „La Memoria de Bor- ges“ („Borges’ Erinnerung“) ihre priva- ten Erinnerungen mit Konzeptionen der Erinnerung im Werk. Jenseits einer Sammlung verstreuter biographischer Anekdoten gelang es ihr mit großer Sen- sibilität und Intelligenz, ihr persönliches Gedächtnis in den Kontext eines akade- mischen Kongresses zu stellen. Etwas schwieriger gestaltete sich tradi- tionsgemäß der Dialog zwischen Litera- tur und Naturwissenschaften. Wenn- gleich etwa der Leipziger Chemiker Lothar Beyer einleuchtende Parallelen zwischen Borges und Wilhelm Ostwald sowie einen Brückenschlag zu Ruther- fords Atommodell und den Gesetzen der Thermodynamik aufzeigen und der Leip- ziger Anglist Elmar Schenkel die Doppel- helixstruktur der DNS und die Entschlüs- selung des Genoms in Antizipation bei Borges nachweisen konnten, blieb häufig eine Frage offen: inwieweit über struktu- relle Gemeinsamkeiten hinaus ein Dia- log zwischen den Disziplinen für beide Seiten bereichernd sein kann. Gewährleistet ist das wohl auf dem Ge- biet der Zufallsforschung. Wenn der Phi- losoph Juan Arana (Sevilla) und der Phy- siker Roberto Perazzo (Buenos Aires) Borges’ Konzeption des Zufalls in Texten wie „Die Lotterie in Babylon“ für ihre eigenen Forschungen nutzbar machen und in den Kontext der Quantenmecha- nik und der Heisenbergschen Unschärfe- relation stellen, dann sicherlich aus dem Beweggrund heraus, daß Philosophie, Na- turwissenschaft und Literatur hier eine Waffenbrüderschaft gegen die Tradition positivistischen Determinismus einge- hen. Der brasilianische Biologe und Phi- losoph Ricardo Waizbrot formulierte in den Abschlußworten seines Vortrags gar die Hoffnung, „die Naturwissenschaften einzuladen, sich selbst der Kunst anzu- nähern“. Es wäre aber sicherlich falsch, aus einer Nostalgie nach der verlorenen Tota- lität heraus die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen auszublenden und einen Bastard zu kreieren, der weder künstlerischen noch wissenschaftlichen Anforderungen genügt. Vielmehr müßte es darum gehen, und darin bestand die abschließende Beurteilung des Symposi- ons durch Shlomy Mualem, eine Sensibili- tät für den gemeinsamen Ursprung von Literatur, Wissenschaft und Philosophie zu entwickeln, in dem Mythos und Logos noch nicht getrennt sind: das Staunen, ge- mäß Aristoteles, als gemeinsame Basis je- der menschlichen Erkenntnis. Diese Er- fahrung der Verwirrung und Über- raschung erreicht Jorge Luis Borges mit- tels der kontinuierlichen Durchbrechung vorgegebener Kategorien von Mythos und Logos, von Literatur und Wissen- schaft, aber auch von Werk und Autor. Zu akzeptieren, daß Borges sich dadurch ihren gewöhnlichen Untersuchungs- methoden widersetzt, ist die Herausforde- rung an die Literaturforschung. FLORIAN BORCHMEYER Foto Reuters Schaut auf diese Mädchen! Die „Spice Girls“ stehen vor dem Aus Komponieren heute, mit Bach und Webern im Sinn: Sofia Gubaidulina Foto Charlotte Oswald XWvB www.das-erste.de FilmMittwoch Jede Woche Filmpremiere Ein Drama mit Katrin Saß und Dominique Horwitz. Heidi M. Heute 20.15 Uhr Dem Leben auf der Spur. Der Liebe auf den Fersen. Die Mimesis der Milchschweine Grenzüberschreitend: Eine Leipziger Tagung über das Werk von Jorge Luis Borges Auf stillen Wegen, ohne zu stolpern Der Komponistin Sofia Gubaidulina zum siebzigsten Geburtstag

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WOLFGANG SANDNER FLORIAN BORCHMEYER Frankfurter Allgemeine Zeitung Mittwoch, 24. Oktober 2001, Nr. 247 / Seite 53 Komponieren heute, mit Bach und Webern im Sinn: Sofia Gubaidulina Foto Charlotte Oswald Ein Drama mit Katrin Saß und Dominique Horwitz. www.das-erste.de Foto Reuters XWvB

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Frankfurter Allgemeine Zeitung Mittwoch, 24. Oktober 2001, Nr. 247 / Seite 53Feuilleton

„Laßt die Welt einen Tag lächeln“, flehtevor fünfundzwanzig Jahren per Zeitungsan-zeige der Musikmanager Sid Bernstein die„Fab Four“ an, sie sollten doch zurücktre-ten von ihrem Rücktritt, und bot ihnen fürein einziges gemeinsames Konzert die Ga-rantiesumme von 230 Millionen Dollar.Auf diesen Tag wartet die Welt bis heute.Es wird ihn auch nicht geben; jedenfallsnicht, solange John Lennon tot ist, wie derfür Humorbeiträge sonst wenig bekannteGeorge Harrison einmal anmerkte. Die„Beatles“, die erfolgreichste Boygroup al-ler Zeiten, sind seit dem April 1970 Ge-schichte. Es funktionierte einfach nichtmehr; die fröhliche Burschenschaft, vonEgoismus und künstlerischen Differenzenschon seit 1966 gefährdet, war am Ende.

Die britischen „Spice Girls“ galten alsdas um dreißig Jahre zeitverschobeneweibliche Pendant der „Beatles“. Das hatmit ihrer musikalischen Qualität natürlichnichts zu tun. Es wäre sinnlos, sich dar-über aufzuregen, daß diejenigen, die in

der Popmusik den Ton angeben, oft garnicht besonders gut singen können undauch ihre Instrumente nicht richtig beherr-schen, womöglich sogar playback singen,während hinter den Kulissen jemand ande-rer die Fäden zieht. Daß letzteres bei den„Spice Girls“ der Fall war, diesen Ver-dacht haben auch die Soloalben ihrer Mit-glieder nicht eben ausräumen können. Ein-zig Melanie Chisholm, als „Sporty Spice“die wohl unauffälligste Erscheinung imehemals fünf-, zuletzt vierköpfigen Ensem-ble, hat als Mel C. mit ihrer Platte „Nor-thern Star“ die besonders kulturpessimisti-schen Popkritiker von ihrer ewigen Lita-nei abbringen können, es gehe ja nur umsMarketing.

Die „Spice Girls“ waren in hohemMaße ein Marketingprodukt. Daß die vonihnen so fröhlich wie ideologiefrei vertre-tene girl power in der von Blair, Britpopsowie den Boygroups beinahe restlos be-herrschten Cool-Britannia-Ära Mitte derneunziger Jahre überhaupt noch Platz zur

Entfaltung hatte, war hauptsächlich frem-der Hilfe zu verdanken. Victoria Beckham(„Posh Spice“), Melanie Brown („ScarySpice“), Emma Bunton („Baby Spice“),Melanie Chisholm und die zuerst ausge-stiegene Geri Halliwell („Ginger Spice“)sahen noch nicht einmal besonders gutaus und bewegten sich auch nicht elegant,machten dies aber mit Charisma undChuzpe mehr als wett. Den Rest besorg-ten ihre Manager.

Nun, nach dem schätzungsweise zwei-hundertsten Trennungsgerücht, scheintdas Ende gekommen. Die britische Pressemeldet, „Posh Spice“ und „Scary Spice“hätten ihre Managerin Nancy Phillips ge-feuert, die nun nur noch „Sporty Spice“Melanie Chisholm und „Baby Spice“Emma Bunton vertrete. Man habe sichnoch nicht einmal auf eine gemeinsameErklärung für diese Maßnahme einigenkönnen. Das Ende aller Kommunikationalso: Das war damals auch bei den„Beatles“ der Anfang vom Ende. edo.

Für die tatarisch-russische KomponistinSofia Gubaidulina gilt, was auf viele Künst-ler ihrer Generation zutrifft, die wesentli-che Abschnitte ihres Lebens in der Sowjet-union verbracht haben. Jede öffentliche Äu-ßerung, die sich dem individuellen Willendes Künstlers und nicht der herrschendenKunstdoktrin verdankte, war eine Gratwan-derung zwischen Duldung und Auffüh-rungsverbot. Was Sergei Prokofjew undDmitri Schostakowitsch erfahren haben,die ihre Werke nicht selten auf Weisunghöchster politischer Autoritäten revidierenmußten, ist später mehr oder weniger rigi-de auch mit Arvo Pärt, Alfred Schnittke,Edison Denissow, Andrej Wolkonski, Giya

Kantscheli und einer ganzen Phalanx jünge-rer Komponisten versucht worden.

Um so höher ist es einzuschätzen, wenndiese Komponisten beharrlich ästhetischenWiderstand leisteten, wie Sofia Gubaiduli-na mit ihrem Offertorium beispielsweise, ei-nem Konzert für Violine und Orchester,gleich in doppelter Hinsicht. Sie schrieb einWerk im religiösen Kontext, und sie widme-te es zudem noch einem Künstler, der seitJahren im Westen lebte, in der Sowjetuniondeshalb persona non grata gewesen ist: demGeiger Gidon Kremer. Gidon Kremer hatdie Komponistin denn auch als Missionarinbezeichnet, deren Werk so attraktiv wirke,weil die Quellen, aus denen sie ihre Inspira-tion schöpfe, offenbar verborgen blieben.Was Kremer fühlte, hing vermutlich nichtnur mit dem religiösen Aspekt ihrer Werkezusammen, die keine Kirchenmusiken, viel-

mehr oft musikalische Deutungen religiö-ser Symbole darstellen. Es hängt vermut-lich mit der Radikalität ihrer Klangsprachezusammen, dem Gestus der Versenkung,wie man ihn auch in der hermetischen Ly-rik des Dichters Gennadij Ajgi spürt, denSofia Gubaidulina vertont hat und der sichselbst als Suchenden „im Dienste der Stil-le“ bezeichnete.

Welche Werke man von der aus Tschi-stopol stammenden, in der tatarischenHauptstadt Kasan aufgewachsenen Kom-ponistin erwarten konnte, dürfte aller-dings sehr früh schon deutlich gewordensein. Bei ihrem Kompositionsexamen imJuni 1959 in Moskau wurde sie zwar mit

der besten Note – auf Vorschlag ihres Leh-rers Nikolaj Pejko – ausgezeichnet, aberdrei der Prüfer hatten doch Bedenken we-gen angeblicher „formalistischer Tenden-zen“ in ihrer ersten Symphonie, mit dersie die Künstlerin auf dem falschen Kom-positionsweg wähnten. Dmitri Schostako-witsch, der sich als Vorsitzender der Prü-fungskommission dem Vorschlag der be-sten Note anschloß, hat Sofia Gubaidulinaauch noch einen Rat mitgegeben, den sieseither stets befolgt hat: „Ich wünsche Ih-nen, daß Sie auf Ihrem eigenen falschenWeg weitergehen.“ Wie gefährlich dieser„falsche Weg“ sein konnte, hat übrigensnach dem Examen Sofia Gubaidulinas derPrüfer Nikolaj Pejko am eigenen Leibe er-fahren müssen. Er verlor prompt seineStelle am Moskauer Konservatorium.Nach ihrer Ausbildung als Komponistin

und Pianistin begann Sofia Gubaidulinazwar in den sechziger Jahren, ein stattli-ches Œuvre zu veröffentlichen. Daß siemit ihrem Werk, das die Experimente derAvantgarde, die vielfältigen stilistischenUmbrüche der Neuen Musik von derDodekaphonie zur Postmoderne reflek-tierte, eine große Rolle im Konzertlebender Sowjetunion gespielt hätte, wäre frei-lich übertrieben. Ihren Lebensunterhaltverdiente sie sich – wie viele nicht zu stili-stischen Kompromissen bereite Künstler –mit Gebrauchsmusik für den Film. Größe-re Anerkennung erfuhr sie im Grundeerst nach der politischen Wende, wennman einmal davon absieht, daß sich Inter-preten wie Gidon Kremer auch früherschon für sie – durch Einladungen nachLockenhaus – und für ihre von ihm gespiel-ten Werke einsetzten. So hat er etwa inWien 1981 die Uraufführung des Offer-toriums (übrigens eine große Variationüber das Thema aus Bachs „Musikali-schem Opfer“) gespielt, das später vonihm als CD aufgenommen wurde und denKoussevitzky-Preis erhielt.

Sofia Gubaidulina durfte 1984 zum er-sten Mal in den Westen reisen, zu denMusikfestwochen nach Helsinki, wo siespäter noch mehrfach mit ihren Komposi-tionen vorgestellt wurde, etwa mit demCellokonzert sowie ihrem Konzert für Fa-gott und tiefe Streicher. Zwei Jahre späterkam sie dann zu Kremers Festival nachLockenhaus. 1992 wurde ihre „Stunde derSeele“ bei den Donaueschinger Musik-tagen aufgeführt, ein Jahr später setzteKurt Masur beim Festakt zum zweihun-dertfünfzigsten Geburtstag des LeipzigerGewandhausorchesters ihr Offertorium,gewissermaßen als glühende Hommageeiner Komponistin des zwanzigsten Jahr-hunderts an Johann Sebastian Bach, aufsProgramm.

Ihre Verehrung des Thomaskantors hatwohl auch Helmuth Rilling dazu veran-laßt, Sofia Gubaidulina zum sogenanntenBach-Jahr 2000 für sein Europäisches Mu-sikfest Stuttgart (neben Aufträgen fürWolfgang Rihm, Osvaldo Golijov und TanDun) um eine Johannes-Passion zu bitten,ein Werk in kirchenslawischer Sprache,bisweilen in einem geradezu archaisch-ein-fachen Kompositionsduktus gehalten, bis-weilen auch in clusterähnlichen Tonballun-gen kulminierend, im großen musikali-schen Apparat, der hier für eine Kombina-tion der Passionsgeschichte mit der Apo-kalypse in Bewegung gesetzt wird, abervon überwältigender Wirkung. Sofia Gu-baidulina, über die vor einigen Tagen einevon Michael Kurtz verfaßte bemerkens-werte Biographie erschien (Urachhaus),lebt seit über zehn Jahren in der Nähe vonHamburg. Heute wird sie siebzig Jahre alt. WOLFGANG SANDNER

In einer seiner Schriften berichtet derdeutsche Sinologe Franz Kuhn (1884 bis1961) von einer altchinesischen Enzyklo-pädie, die eine Taxonomie der Tiergat-tungen in vierzehn Gruppen vorschlägt:„a) dem Kaiser gehörige b) einbalsamier-te c) gezähmte d) Milchschweine e) Sire-nen f) Fabeltiere g) streunende Hundeh) in diese Einteilung aufgenommenei) die sich wie toll gebärden j) unzählbarek) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeich-nete l) und so weiter m) die den Wasser-krug zerbrochen haben n) die von wei-tem wie Fliegen aussehen“. Vergeblichwerden Wissenschaftler nach Kuhns For-schungstext suchen und ebenso nach be-sagter Enzyklopädie. Es handelt sich umeine der hintersinnigsten literarischen Er-findungen des argentinischen Schriftstel-lers Jorge Luis Borges. Beunruhigend istdiese Taxonomie für einen Wissenschaft-ler aber aus einem anderen Grund. Mitden Mitteln der Sprache löst Borges hiereine Basis der akademischen Diskursesauf: die Ordnung des Wissens in festenKategorien.

Von höchster Brisanz ist diese episte-mologische Dimension, wenn sie im Rah-men eines wissenschaftlichen Kollo-quiums über Borges zur Sprache kommt,das verschiedene akademische Diszipli-nen gemeinsam an einen Tisch bringt.Das Ibero-Amerikanische Forschungs-seminar der Universität Leipzig hatte zueinem internationalen Kolloquium überNaturwissenschaft und Philosophie beiBorges eingeladen. Das – in Zeiten derVorherrschaft des Englischen als Wissen-schaftssprache eine denkwürdige Aus-nahme – fast vollständig auf spanisch ab-gehaltene Symposion wollte Literaturwis-senschaftler, Philosophen, Chemiker,Physiker und Wissenschaftshistoriker zueinem gemeinsamen Dialog über den ar-gentinischen Autor bewegen. Überträgtman die eingangs zitierte Klassifizierungder Tiergattungen auf die der Wissen-schaften, wird diese verlockende Idee zueinem höchst schwierigen Unterfangen.Wie soll es möglich sein, auf der Basisvon Kategorien wie Naturwissenschaftund Philosophie über einen Autor zusprechen, der ebensolche Grenzziehun-gen durch die grenzüberschreitendeKraft der Sprache ad absurdum führt?Ließe ein Werk, das, wie Jaime Alazraki(New York) darlegte, „die Metaphysikals Zweig der phantastischen Literatur“erscheinen läßt, eine andere Wahl, alssämtliche akademischen Fachbereiche zuUnterdisziplinen der Literaturwissen-schaft zu erklären?

Von Beginn an beschränkten sich dieTeilnehmer darauf, als Philosophen undNaturwissenschaftler Borges zu lesen,ohne sich seiner literarischen und zu-gleich die Grenzen des Literarischensprengenden Dimension zu verschließen.

Relativ unkompliziert gestaltet sich derDialog zwischen Literaturforschung undPhilosophie. Da Borges wiederholt philo-sophische Texte diverser Epochen zitiert,sind von den Wurzeln des abendländi-schen Denkens bis zur Philosophie deszwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche er-giebige Querverbindungen herzustellen.Ein immer wiederkehrender Aspekt vonBorges’ philosophischen Lektüren ist dasVerhältnis von Wirklichkeit und Spracheund insbesondere von Realität und Fikti-on. Die von Alazraki unterstrichene Auf-nahme der Metaphysik und Theologie indas Gebiet der Fiktion führt dabei zurEntstehung einer Gattung der „metaphy-sischen Phantasien“, um die Worte vonBorges’ engem Freund Bioy Casares zu zi-tieren.

Zur ironischen Rezeption christlicherMetaphysik und mittelalterlicher Gottes-beweise, dargelegt etwa in den Vorträgender Mexikaner Héctor Zagal und Enri-que G de la G, gesellen sich so die Rezep-tion des metaphysischen SkeptizismusDavid Humes und die Sprachgebunden-heit des Denkens in der Nachfolge vonWittgensteins Tractatus, die ZulmaMateos von der patagonischen Universi-tät Bahía Blanca schlüssig analysierte.Vorrangige Bedeutung besitzt das Spieldes Autors mit der Tradition des Mime-sis-Diskurses, etwa in der subtilen Verzer-rung des doppelten Mimesisbegriffs beiPlaton durch Borges, vom israelischenPhilosophen Shlomy Mualem (Ramat-Gan) in geradezu mathematischer Strin-genz vorgeführt. Alfonso de Toro (Leip-zig) weitete das Thema in Anlehnung anBorges auf die Konzeption virtueller Wel-ten bis hin zu Baudrillard und in den Be-reich der Naturwissenschaft aus.

Daß Borges’ Lektüren sich nicht aufdie abendländische Philosophie beschrän-ken, legte Luis Xavier López Farjeat (Me-xico) eindrucksvoll anhand der Reflexio-nen über die Probleme bei der Überset-zung des arabischen Aristoteles-Kom-mentators Averroes dar. Interaktion vonPhilosophie und Literatur stellt im FalleBorges’ aber keine einseitige Bewegungdar. So verwies der Münsteraner Kompa-ratist Achim Hölter darauf, daß MichelFoucault als Motivation seines für dieWissenschaftsgeschichte bahnbrechen-den Buchs „Die Ordnung der Dinge“ aus-drücklich Fritz Kuhns apokryphe Taxono-mie angibt.

Die Demonstration einer gelungenentransdisziplinären Herangehensweisegab auch die gewissermaßen außerdiszi-plinäre María Kodama de Borges. SelbstSchriftstellerin und langjährige Schreibe-rin des erblindeten Autors, verband Bor-ges’ Witwe in ihrem Vortrag mit dem dop-peldeutigen Titel „La Memoria de Bor-ges“ („Borges’ Erinnerung“) ihre priva-ten Erinnerungen mit Konzeptionen derErinnerung im Werk. Jenseits einer

Sammlung verstreuter biographischerAnekdoten gelang es ihr mit großer Sen-sibilität und Intelligenz, ihr persönlichesGedächtnis in den Kontext eines akade-mischen Kongresses zu stellen.

Etwas schwieriger gestaltete sich tradi-tionsgemäß der Dialog zwischen Litera-tur und Naturwissenschaften. Wenn-gleich etwa der Leipziger ChemikerLothar Beyer einleuchtende Parallelenzwischen Borges und Wilhelm Ostwaldsowie einen Brückenschlag zu Ruther-fords Atommodell und den Gesetzen derThermodynamik aufzeigen und der Leip-ziger Anglist Elmar Schenkel die Doppel-helixstruktur der DNS und die Entschlüs-selung des Genoms in Antizipation beiBorges nachweisen konnten, blieb häufigeine Frage offen: inwieweit über struktu-relle Gemeinsamkeiten hinaus ein Dia-log zwischen den Disziplinen für beideSeiten bereichernd sein kann.

Gewährleistet ist das wohl auf dem Ge-biet der Zufallsforschung. Wenn der Phi-losoph Juan Arana (Sevilla) und der Phy-siker Roberto Perazzo (Buenos Aires)Borges’ Konzeption des Zufalls in Textenwie „Die Lotterie in Babylon“ für ihreeigenen Forschungen nutzbar machenund in den Kontext der Quantenmecha-nik und der Heisenbergschen Unschärfe-relation stellen, dann sicherlich aus demBeweggrund heraus, daß Philosophie, Na-turwissenschaft und Literatur hier eineWaffenbrüderschaft gegen die Traditionpositivistischen Determinismus einge-hen. Der brasilianische Biologe und Phi-losoph Ricardo Waizbrot formulierte inden Abschlußworten seines Vortrags gardie Hoffnung, „die Naturwissenschafteneinzuladen, sich selbst der Kunst anzu-nähern“.

Es wäre aber sicherlich falsch, auseiner Nostalgie nach der verlorenen Tota-lität heraus die Grenzen zwischen deneinzelnen Disziplinen auszublenden undeinen Bastard zu kreieren, der wederkünstlerischen noch wissenschaftlichenAnforderungen genügt. Vielmehr müßtees darum gehen, und darin bestand dieabschließende Beurteilung des Symposi-ons durch Shlomy Mualem, eine Sensibili-tät für den gemeinsamen Ursprung vonLiteratur, Wissenschaft und Philosophiezu entwickeln, in dem Mythos und Logosnoch nicht getrennt sind: das Staunen, ge-mäß Aristoteles, als gemeinsame Basis je-der menschlichen Erkenntnis. Diese Er-fahrung der Verwirrung und Über-raschung erreicht Jorge Luis Borges mit-tels der kontinuierlichen Durchbrechungvorgegebener Kategorien von Mythosund Logos, von Literatur und Wissen-schaft, aber auch von Werk und Autor.Zu akzeptieren, daß Borges sich dadurchihren gewöhnlichen Untersuchungs-methoden widersetzt, ist die Herausforde-rung an die Literaturforschung. FLORIAN BORCHMEYER

Foto Reuters

Schaut auf diese Mädchen! Die „Spice Girls“ stehen vor dem Aus

Komponieren heute, mit Bach und Webern im Sinn: Sofia Gubaidulina Foto Charlotte Oswald

XW

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www.das-erste.de

FilmMittwochJede Woche Filmpremiere

Ein Drama mit Katrin Saß und Dominique Horwitz.

Heidi M.Heute 20.15 Uhr

Dem Leben auf der Spur.Der Liebe auf den Fersen.

DieMimesis derMilchschweineGrenzüberschreitend: Eine Leipziger Tagung über das Werk von Jorge Luis Borges

Auf stillenWegen, ohne zu stolpernDer Komponistin Sofia Gubaidulina zum siebzigsten Geburtstag