bürgerrecht und kultteilnahme (politische und kultische rechte und pflichten in griechischen...

14
Kapitel 2 Theologische Fragestellungen Eine Überprüfung der vorgestellten Modelle Ein den Quellen kann weder unternommen werden, indem man sich eines von ihnen als Referenzrah- men auswählt und von ihm aus an die Quellenuntersuchung herangeht, noch indem man sich auf einen neutralen Standpunkt außerhalb ihrer zu stellen versucht. Im Falle der Anwendung eines Modells wäre die Gefahr eines Zirkelschlusses groß: Die Voraussetzungen bestätigen sich selbst, weil alles, was nicht zu ihnen paßt, aus der Beobachtung ausgeblendet wird. Andererseits wäre der Versuch, ohne Bezugnahme auf die zur Er- fassung des Zusammenhanges von politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in der Antike entwickelten Modelle die Quellen auf die- se Fragestellung zu untersuchen, nichts anderes als ein Rückfall in die „naive" Herangehensweise der antiquarischen Forschung. Es ist vielmehr nötig, in kritischer Auseinandersetzung mit den Modellen zu klären, wo eine Überprüfung ansetzen und wie sie vorgehen kann. In diese kritische Auseinandersetzung kann man aber nur treten, wenn man sich zuvor den eigenen Fragehorizont klargemacht hat - und dieser Fragehorizont ist in einer theologischen Arbeit selbstverständlich ein theologischer. 2.1 Die historische Relevanz des Themas für die Theologie Es ist einsichtig, daß eine Klärung des Verhältnisses von Bürgerrecht und Kultteilnahme in der Antike für die Theologie von historischem Interesse ist. Für ein Verständnis der Welt des antiken Judentums und Urchristentums, d. h. für die Exegese des Neuen Testaments und für die Kirchengeschichte, spielt das Thema eine wichtige Rolle. Die Juden der Antike waren keine isolierte Minderheit, sondern er- hielten selbstbewußt ihre eigene religiöse Identität aufrecht und lebten doch zugleich in vielfältigem, engem Kontakt mit ihren griechischen und römischen Nachbarn. Sie hatten sich mit deren Kultur, deren stets prä- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Upload: stefan

Post on 09-Apr-2017

212 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

Kapitel 2

Theologische Fragestellungen

Eine Überprüfung der vorgestellten Modelle Ein den Quellen kann weder unternommen werden, indem man sich eines von ihnen als Referenzrah-men auswählt und von ihm aus an die Quellenuntersuchung herangeht, noch indem man sich auf einen neutralen Standpunkt außerhalb ihrer zu stellen versucht. Im Falle der Anwendung eines Modells wäre die Gefahr eines Zirkelschlusses groß: Die Voraussetzungen bestätigen sich selbst, weil alles, was nicht zu ihnen paßt, aus der Beobachtung ausgeblendet wird. Andererseits wäre der Versuch, ohne Bezugnahme auf die zur Er-fassung des Zusammenhanges von politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in der Antike entwickelten Modelle die Quellen auf die-se Fragestellung zu untersuchen, nichts anderes als ein Rückfall in die „naive" Herangehensweise der antiquarischen Forschung. Es ist vielmehr nötig, in kritischer Auseinandersetzung mit den Modellen zu klären, wo eine Überprüfung ansetzen und wie sie vorgehen kann. In diese kritische Auseinandersetzung kann man aber nur treten, wenn man sich zuvor den eigenen Fragehorizont klargemacht hat - und dieser Fragehorizont ist in einer theologischen Arbeit selbstverständlich ein theologischer.

2.1 Die historische Relevanz des Themas für die Theologie

Es ist einsichtig, daß eine Klärung des Verhältnisses von Bürgerrecht und Kultteilnahme in der Antike für die Theologie von historischem Interesse ist. Für ein Verständnis der Welt des antiken Judentums und Urchristentums, d. h. für die Exegese des Neuen Testaments und für die Kirchengeschichte, spielt das Thema eine wichtige Rolle.

Die Juden der Antike waren keine isolierte Minderheit, sondern er-hielten selbstbewußt ihre eigene religiöse Identität aufrecht und lebten doch zugleich in vielfältigem, engem Kontakt mit ihren griechischen und römischen Nachbarn. Sie hatten sich mit deren Kultur, deren stets prä-

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 2: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

30 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

sentem Kult und vor allem auch mit deren politischen Forderungen aus-einanderzusetzen - lebte doch die in der Diaspora ansässige Mehrheit der Juden während der ganzen Antike unter deren Herrschaft, die im Lande Israel wohnenden immerhin die längste Zeit. Dabei kam es auch zu Konflikten: dem Aufstand der Makkabäer angesichts der zwangswei-sen Integration des Judentums in die griechische Religion, dem Streit zwischen Juden und griechischen Poleis um Bürgerrechte und bestimm-te Privilegien, den wiederholten Ausweisungen von Juden aus Rom, den bei griechischen und römischen Schriftstellern überlieferten Anfeindun-gen gegen die jüdische Lebensweise, schließlich den großen Aufständen der Juden gegen die römische Herrschaft. Für diese Konflikte zwischen den Juden der Antike und ihren griechischen und römischen Nachbarn bieten die vorgestellten Modelle eine einheitliche, elegante Erklärung; und umgekehrt sind diese Konflikte die Paradebeispiele für die Richtig-keit der Modelle bzw. der ihnen gemeinsamen Grundidee: Politische und religiöse Zugehörigkeit waren untrennbar verbunden, ja fielen letztlich ineins - und darum waren Konflikte um das Judentum, das die Teilnah-me am nichtjüdischen Kult strikt verweigerte, unvermeidlich.

Das frühe Christentum, aus dem antiken Judentum hervorgegangen, doch alsbald vor allem unter Nichtjuden seine Anhänger gewinnend, mußte seinen Platz in diesem Spannungsfeld angesichts der Bindungsan-sprüche von Seiten des römischen Reiches, der griechischen Heimatstädte der meisten Christen und des Judentums finden. Das Verhältnis zur Ob-rigkeit war zu klären (Mk 12,13-17par; Rom 13,1-7; IPetr 2,13-17), die Stellung zu Israel (Rom 9-11), das Verhalten angesichts griechischer und römischer Kulte (IKor 8; 10,14-22), die Vereinbarkeit von Zugehörigkeit zur Gemeinde - der „Bürgerschaft im Himmel" - mit irdischen Bindun-gen (Gal 3,25; Eph 2,11-22; Phil 3,20; Hebr 13,14). Bereits im Neuen Testament zeichnen sich Konflikte ab (Mk 13,9-13par; Joh 9,22; 12,42; IPetr 4,12-19; Apk 2,9f; 6,9-11), die in der generellen Koppelung poli-tischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit eine scheinbar einfache, einleuchtende Erklärung finden.

2.2 Die systematische Relevanz des Themas für die Theologie

Uber diese historischen Fragestellungen hinaus hat die Theologie an dem Zusammenhang von politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in der Antike aber auch ein biblisch-theologisches und systematisches Interesse. Dies soll im folgenden an zwei Beispielen verdeutlicht werden,

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 3: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.2. Die systematische Relevanz des Themas für die Theologie 31

die in enger Verbindung miteinander in der gegenwärtigen theologischen Forschung intensiv diskutiert werden: der Frage nach dem „Neuen" des Christentums gegenüber dem antiken Judentum und der darauf aufbau-enden Frage nach dem Verhältnis zwischen Israel und Kirche als „Volk Gottes". Besonderes Augenmerk soll darauf gelegt werden, wie die vor-gestellten religionswissenschaftlichen Modelle - bzw. bestimmte Aspekte dieser Modelle - in der theologischen Debatte aufgenommen werden.

2.2.1 Die „New Perspective on Paul"

Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in der Paulus-exegese ein tiefgreifender Wandel vollzogen. War zuvor das traditionell lutherische Auslegungsparadigma in seiner existentialistischen Zuspit-zung durch die Bultmannschule herrschend, so verbreitete sich nun aus-gehend vom englischsprachigen Raum die „New Perspective on Paul". Angesichts zahlreicher Forschungsberichte1 soll hier nicht noch einmal diese Entwicklung nachgezeichnet werden, sondern aufgezeigt werden, wie sich die neue Perspektive in den besonders einflußreichen Entwürfen von J. D. G. Dunn und N. T. Wright auf die Frage nach dem Verhält-nis von nationaler und religiöser Identität im antiken Judentum und im entstehenden Christentum zuspitzt.

Dazu ist indes ein kurzer Rückgriff auf eine der Wurzeln der New Per-spective notwendig,2 das epochemachende Werk „Paul and Palestinian Judaism" von E. P. Sanders (1977). Es gilt allgemein als Meilenstein auf dem Weg zur Überwindung des in der christlichen Theologie lange Zeit vorherrschenden Zerrbildes vom antiken Judentum als Leistungsreligion oder Religion der Werkgerechtigkeit. An seine Stelle setzt Sanders das Modell des „covenantal nomism", nach dem das grundlegende „getting in", das Hineinkommen in den Heilsbereich des Bundes, auf göttlicher Gnade beruht. Das „staying in", das Verbleiben in diesem Heil, ist durch Gebote geregelt, die Belohnung bei Befolgung, Bestrafung, aber auch Wiedergutmachung bei Übertretung vorsehen.3

Diese Aussagen sind inzwischen - leicht modifiziert - zum Allgemein-gut geworden.4 Kaum wird aber reflektiert, welchen systematischen

1 Vgl. z. B. GAGER, Reinventing Paul, 21-42 (Darstellung der traditionellen Auslegung), 43-75 (Grundlinien der neuen Interpretation); HORN, Paulusforschung, 50-59; NIE-BUHR, Rechtfertigungslehre, 107-112; STRECKER, Paulus; STUHLMACHER, Biblische Theologie, Bd. 1, 239-243; THEOBALD, Römerbrief, 189-202.

2 Die andere ist K. Stendahls Aufsatz „The Apostle Paul and the Introspective Con-science of the West" (1963).

3 SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, 543. 4 Aktuelle kritische Bestandsaufnahme bei CARSON/O'BRIEN/SEIFRIED, Justification.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 4: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

32 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

Stellenwert sie haben, obwohl Sanders darüber bereits im Untertitel sei-nes Werkes „A Comparison of Patterns of Religion" und in einem ein-leitenden Methodenkapitel Auskunft gibt. Covenantal nomism ist ein pattern of religion, und dies wiederum ist die „description of how a re-ligion is perceived by its adherents to function. 'Perceived to function' has the sense not of what an adherent does on a day-to-day basis, but of how getting in and staying in are understood"5. Sanders sagt selbst, dies entspreche ungefähr dem, was die systematische Theologie als So-teriologie bezeichne.6 Es handelt sich somit um eine Zugangsweise, die von der Selbstwahrnehmung der Anhänger einer Religion ihren Ausgang nimmt,7 also eine theologische Zugangsweise. Sie ist auf ein so hohes Ab-straktionsniveau gebracht, daß mit ihrer Hilfe auch Religionen, die keine explizite systematische Theologie haben, erfaßt werden können.

Dementsprechend wird auch der Konflikt zwischen antikem Juden-tum und paulinischem Christentum als theologischer Konflikt aufgefaßt. Paulus entwickelt ausgehend von dem überwältigenden Eindruck der Christuserfahrung ein anderes pattern of religion, „participationist es-chatology", und gerät beim Versuch, die Kontinuität dieser neuen Reli-gion mit dem Judentum zu erweisen, in vielfältige Aporien.

Das Unbehagen an diesem Bild von Paulus als aporetischem Denker und dem von Sanders behaupteten Bruch zwischen den beiden patterns of religion, covenantal nomism und participationist eschatology, führt in den Entwürfen von J. D. G. Dunn und N. T. Wright zu einer tiefgehen-den Neuinterpretation.

Grundlage für getting in und staying in sind der Bund mit Israel und die Gebote für Israel. Hier setzen Dunn und Wright an und erklären, das antike Judentum habe sie zunehmend als Bund und Gebote nur für das Volk Israel verstanden. Die Einhaltung der Gebote, insbesondere von Speisegeboten, Sabbatgebot und Beschneidungsgebot, habe eine sozia-le Funktion als nationaler boundary marker nach außen bzw. identity marker nach innen erhalten. Gegen dieses Mißverständnis des Bundes als „national righteousness"8 habe sich Paulus gewandt: „Here again we should keep the precise limitations of Paul's distinction between faith in Christ and works of law before us. What he is concerned to exclude is the racial not the ritual expression of faith; it is nationalism which he denies not activism. Whatever their basis in the Scriptures, these works

5 SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, 17; Hervorhebungen im Original. Vgl. auch DERS., Pat terns , 455-457.

6 SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, 17. 7 Vgl. auch SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, 18: „It is the adherents' perception

of the significance of cult that is important." (Hervorhebung im Original). 8 DUNN, Romans, Bd. 1, lxxi.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 5: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.2. Die systematische Relevanz des Themas für die Theologie 33

of the law had become identified as indices of Jewishness, as badges be-tokening race and nation - inevitably so when race and religion axe so inextricably intertwined as they were, and are, in Judaism. What Jesus has done by his death and resurrection, in Paul's understanding is to free the grace of God in justifying from its nationalistically restrictive clamps for a broader experience (beyond the circumcised Jew) and a fuller expression (beyond concern for ritual purity)."9

Hier hat eine folgenreiche Verschiebung stattgefunden. Wurde bei Sanders nach der „Funktion" der kultischen Praxis einer Religion in den Augen ihrer Anhänger gefragt, so ist hier ihre soziale „Punktion", wie sie von einem Außenstehenden wahrgenommen wird, von Interesse. Es handelt sich nicht um eine theologische Zugangsweise, sondern es werden Elemente kulturanthropologischer Theorien aufgenommen,10 die sich in ähnlicher Weise auch im Modell der civic religion finden: Rituelles Han-deln erzeugt Gruppenidentität, wobei religiöse und nationale Identität übereinstimmen. Nicht an sich, sondern in ihrer Funktion zur Aufrecht-erhaltung dieser Identität sind die kultischen Praktiken wichtig.11 Bei dieser Außenperspektive bleibt es aber nicht, denn die Behauptung, Pau-lus kritisiere dieses nationalistische Mißverständnis des Bundes, setzt ja voraus, daß er und seine Gegner die soziale Funktion der Gebote als nationalreligiöse boundary markers bewußt wahrgenommen haben. Fremd- und Selbstwahrnehmung werden also in der Argumentation auf eine Weise vermischt, die antiken Menschen wie Paulus äußerst moderne, voraussetzungsreiche Erkenntnisse zuschreibt.12

Zu diesem prinzipiellen Problem kommt hinzu, daß manche der For-mulierungen bei Dunn und Wright den Eindruck erwecken, hier werde, um die eine Seite des Zerrbildes vom Judentum loszuwerden, das die christliche Theologie lange beherrschte, nämlich die Werkgerechtigkeit, die andere wiederbelebt, daß das Judentum nur partikular, eng und na-tional sei, während das Christentum universal, offen und übernational sei. So bleibt das Judentum die dunkle Folie des Christentums.13

In den neuen Publikationen der „New Perspective" wird denn auch der Schwerpunkt anders gesetzt. Gegen das Mißverständnis, Paulus wende sich bei seiner Torakritik ausschließlich gegen die boundary mar-

9 DUNN, New Perspective, 198; Hervorhebungen im Original. 10 Vgl. DUNN, Works of the Law, 216f; ein Beispiel für eine explizite Übernahme solcher

Theorien ist LIEU, Ramparts. 11 Vgl. DUNN, Works of the Law, 218. 12 Also ganz ähnlich, wie in der traditionell lutherischen oder existentialistischen Deu-

tung Paulus „the introspective conscience of the West" zugeschrieben wurde. Vgl. die ähnliche Kritik bei SÖDING, Skopos, 413.

13 Vgl. AVEMARIE, Werke des Gesetzes, 285; GAGER, Reinventing Paul, 49f; SÖDLNG, Skopos, 413.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 6: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

34 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

kers Beschneidung, Sabbat und Speisegebote, wird gesagt, die abge-lehnten ipyoc v6[iou seien alle Werke der Tora, insbesondere jedoch die boundary markers.14 Außerdem wird der Schritt von der Behauptung, diese Gebote seien identity markers, zu der, sie markierten eine nationa-le Identität, nicht mehr oder sehr viel zurückhaltender getan. Zunächst wurde versucht, die Umstände, unter denen die Verknüpfung von reli-giöser und nationaler Identität wichtig wurde, genauer zu bestimmen. Nicht „das" antike Judentum sei nationalreligiös partikularistisch gewe-sen, sondern in der akuten politischen Krise nach dem Tod Agrippas I. seien die zunächst eher unproblematische Offenheit der frühen Chri-sten gegenüber Nichtjuden und ihr lockerer Umgang mit den boundary markers in der Mission zum Gegenstand erbitterten Streits geworden.15

In den neuesten Werken schließlich wird der nationale Aspekt der Ab-grenzung der Juden von den Nichtjuden kaum mehr erwähnt. Das von Paulus kritisierte Mißverständnis der Tora bestehe vielmehr nur in „Je-wish attempts to maintain their covenant distinctiveness from Gentiles and [... ] Christian Jews' attempts to require Christian Gentiles to adopt such covenant distinctiveness"16. Hier ist indes zu fragen, wo ei-gentlich das Mißverständnis liegen soll. Durch die Umformung hat das Modell nämlich nicht nur seine Probleme, sondern auch einen Großteil seiner Erklärungskraft eingebüßt.17 Paulus wendet sich ja kaum gegen religiöse boundary markers überhaupt. Die Grenze, die er zwischen den Christen und den Nichtchristen zieht, ist nicht weniger scharf als die zwischen Juden und Nichtjuden und findet ebenfalls ihren Ausdruck in ritueller Form.18 Man muß also von neuem fragen, warum er gerade die jüdischen boundary markers ablehnt.

2.2.2 Die Kirche und Israel als Volk Gottes

Der Ansatz der „New Perspective on Paul" stieß nicht nur in der neute-stamentlichen Exegese auf großes Interesse, sondern vor allem auch in den Bereichen der systematischen Theologie, die sich um eine Neube-stimmung des Verhältnisses von Juden und Christen bemühen.19

14 DUNN, Theology of Paul, 358. 15 DUNN, Part ings , 127. 16 DUNN, Theology of Paul, 366. Vgl. DERS., Galatians, 136. 17 Es stimmt also nicht, wenn AVEMARIE, Werke des Gesetzes, 285, behauptet, die „Ver-

quickung von Verhaltensnormen mit Nationalität oder gar Rasse" sei eine unnötige „Metabasis" gewesen; sie war die Pointe des ganzen Entwurfes.

18 Vgl. die treffenden Einwände von AVEMARIE, Werke des Gesetzes, 286, gegen die Er-klärung, Paulus wolle für Nichtjuden die Schwelle für eine Bekehrung niedriger machen.

19 Vgl. z. B . STRECKER, Pau lus .

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 7: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.2. Die systematische Relevanz des Themas für die Theologie 35

Systematische Theologie, die auf der traditionellen Paulusauslegung aufbaut, versteht die Rechtfertigungslehre als fundamental anthropologi-sche Aussage, die für alle Menschen - Nichtjuden wie Juden - gleicher-maßen gültig ist („Subsumtionsmodell"). Wenn die Juden gegenüber den Nichtjuden überhaupt herausgehoben werden, dann als Musterbeispiel für die negative Seite des Menschseins, das Streben nach Selbstrechtfer-tigung durch Werke („Illustrationsmodell"). Das Verhältnis von Kirche und Israel kann dann nur im Sinne einer Ablösung und Beerbung ver-standen werden („Substitutionsmodell"), allenfalls gemildert durch die auf Rom 9-11 aufbauende Hoffnung auf eine endzeitliche Rettung der Juden durch ihre Bekehrung zum Glauben der Kirche („Integrationsmo-dell").20

Die neue Paulusexegese sieht die Pointe paulinischer Theologie hin-gegen gerade nicht in Antworten auf existentielle Fragen „des Menschen" schlechthin, sondern in Antworten auf spezielle soziale Probleme des an-tiken Judentums. Dieser exegetische Neuansatz stellt die systematische Theologie vor die Aufgabe, die bleibende theologische Bedeutung des konkreten, geschichtlichen Judentums - sowohl des antiken, aus dem das Christentum entstand, als auch des späteren, dem Christentum gleich-zeitigen - neu zu erkennen und zu durchdenken. Dann wird auch ei-ne Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Israel notwendig. Die Äußerungen der Vertreter der New Perspective selbst lassen sich dem „Erweiterungsmodell" zuordnen: Die bleibend gültigen Verheißun-gen Gottes an Israel werden durch Christus nicht aufgehoben, ersetzt oder verändert, aber sie werden entschränkt, universalisiert; alle Völker können nun an ihnen Anteil haben.21

Wie bereits im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, werden in diesem Modell die antijüdischen Vorurteile traditioneller christlicher Theologie nicht wirklich überwunden. Das partikulare Judentum bleibt doch in gewisser Hinsicht die Negativfolie für das universale Christentum. In der Diskussion zur Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Israel hat sich d^rum auch ein anderes Modell in verschiedenen Spielarten durchgesetzt, das als „christologisches Partizipationsmodell" bezeichnet

20 KLAPPERT, Israel, 14-24. 21 Darstellung und Kritik dieses Modells bei KLAPPERT, Wurzel, 26f. Genaugenommen

behauptet die New Perspective allerdings nicht, die Verheißungen Gottes an Israel seien partikular und würden durch Christus auf alle Völker ausgeweitet, sondern das antike Judentum (bzw. ein Teil von ihm) habe sie partikularistisch mißverstanden und das Christentum, insbesondere Paulus, habe dieses Mißverständnis überwunden. Als weiteres Beispiel für das Erweiterungsmodell kann CHRISTEN UND JUDEN, 12f, dienen: „In der christlichen Verkündigung werden die Schranken der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk aufgehoben; alle, die an Jesus Christus glauben, sind Abrahams Kinder und Erben der Verheißung, die dem Volk Israel gegeben ist."

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 8: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

36 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

wird. Der partikulare Bund Gottes mit seinem Volk Israel hat schon immer eine universale, alle anderen Völker betreffende Tragweite. Das Ziel dieses Bundes mit einem Volk wird in Christus verwirklicht, der allen Völkern Anteil am Heil dieses Bundes gibt.22

Es würde hier zu weit führen, alle Spielarten dieses Modells ausführ-lich zu besprechen. Die Untersuchung konzentriert sich vielmehr auf eine, besonders prominente und - da sie Eingang in in viele kirchliche Verlautbarungen und Synodalerklärungen gefunden hat23 - wirkungsrei-che Strömung der Israeltheologie und deren Bezugnahme auf religions-wissenschaftliche Modelle zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. Es handelt sich um die Israeltheologie, die in der Tradition der Bekennenden Kirche steht, angelegt bei K. Barth, G. Eichholz und H. J. Iwand, vertreten insbe-sondere durch B. Klappert und H.-J. Kraus. Es werden auch einige Beiträge von F. Mußner herangezogen, der als Katholik allerdings in einer anderen Tradition steht.

Ein tragender Aspekt dieses Ansatzes ist die Auseinandersetzung mit dem Modell ,yolksreligion - Menschheitsreligion". Den Bezugspunkt bil-den dabei freilich nicht die in Kapitel 1 vorgestellten systematischen Entwürfe von G. Mensching und J. Wach, sondern diesen Entwürfen kurz vorausgehende oder gleichzeitige, eher unsystematische und noch wesentlich stärker von nationalistischen (oder sogar rassistischen) Ideo-logien geprägte Vorstellungen innerhalb der evangelischen Theologie.24

In der Tradition der liberalen Theologie wird dort behauptet, die Ent-stehung des Christentums aus dem antiken Judentum sei nur historisch zufällig. Der Gehalt des Christentums sei davon unabhängig und univer-sal gültig. Christliche Mission habe nur diesen universalen Gehalt, nicht die zufällige, partikulare jüdische Vorgeschichte und Hülle zu transpor-tieren. Vielmehr sei zum Erfolg der Mission eine Anknüpfung an die eigene ursprüngliche Tradition des jeweiligen Volkes notwendig. Dies wird mit einer natürlichen Theologie gerechtfertigt: Im Wesen eines je-den Volkes, in seinen kulturellen und sittlichen Traditionen, äußere sich die ursprüngliche GottesofFenbarung25 und darum seien sie als natürli-che Grundlage für die universale christliche Botschaft den Traditionen des jüdischen Volkes ebenbürtig - wenn nicht überlegen.26

22 KLAPPERT, Israel, 32-37. 23 Gesammelt bei RENDTORFF/HENRIX, Kirchen, und HENRIX/KRAUS, Kirchen. 24 Vgl. dazu CLASSEN, S. V. Völkische Bewegung; GRAF, S. V. Germanisierung des Chri-

stentums; JAEGER, S. v. Germanisierung des Christentums; WEINEL, S. V. Völkische Bewegung, 1624-1626.

25 Vgl. Rom l,19f. 26 KRAUS, Tora, 224. Die Entsprechung im ausgeformten System Menschings wäre das

„übervölkische, wenngleich völkisch differenzierte" Christentum; s.o. S. 10.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 9: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.2. Die systematische Relevanz des Themas für die Theologie 37

Mit diesem „Ethnopathos"27 der deutschen Missionstheologie rechnen Klappert und Kraus scharf ab. Sie weisen die ideologische Überhöhung des „Volkscharakters" als natürliche Gottesoffenbarung zurück und be-tonen immer wieder die nicht zufällig historische, sondern bleibend kon-stitutive Bezogenheit des Christentums auf das Judentum. Die Tora ist nicht eine Form der natürlichen Gottesoffenbarung neben (oder gar un-ter) anderen, auf der das Christentum aufbaut. Durch Christus werden die Völker in die von der Tora bezeugte Erwählung des Gottesvolkes Is-rael bzw. in den Bund Gottes mit diesem Volk hineingenommen.28 Dar-über hinaus wird aber auch das prinzipielle Vorgehen abgelehnt, Israel in die Religionsgeschichte einzuordnen und aus der Religionswissenschaft übernommene Begriffe auf es anzuwenden. In der Tradition der dialek-tischen Theologie wird jeder Versuch, das Judentum als „Religion" und nicht als Gottesoffenbarung zu beschreiben, scharf verurteilt.29

Gerade in der Negation bleibt jedoch diese Israeltheologie dem Mo-dell „Volksreligion" verhaftet, und zwar sowohl was die Beschreibung des Judentums als auch die des „Heidentums" angeht.

In bezug auf das Judentum wird gesagt, „daß ein Volk - im Unter-schied zu allen anderen Völkern - als Volk Relevanz hat: das jüdische Volk"30. Zwar wird nun meistens sofort hinzugefügt, der hier zur Be-schreibung des Judentums verwendete Volksbegriff sei weder soziologisch noch biologisch, sondern theologisch zu verstehen.31 Was aber ist damit gemeint? Wenn „Erwählung des Volkes Israel" oder „Bund Gottes mit dem Volk Israel" nicht theologische Leerformeln sein sollen, muß man ja beschreiben können, was mit diesen Bezeichnungen ausgedrückt werden soll. Insbesondere ist zu klären, was sie bezogen auf Israel im Unter-schied zur Kirche bedeuten. Äußerungen der genannten Autoren lassen vermuten, daß ihre konkrete Vorstellung vom „Volk" Israel dem, was Vertreter des Modells Volksreligion damit meinen, ziemlich nahekommt. Es ist die Rede von Israel als einem Volk „in einem völkischen Sinne"32, als einem ,,physische[n] Volk"33 oder als „volkhafte[r] Gottesgemeinde"34. Die Begrifflichkeit des Modells Volksreligion wird hier übernommen und ebenso die hinter ihr liegende Vorstellung vom Volk als Abstammungs-

27 KLAPPERT, Dieses Volk, 432-434. 28 So die Formulierung im Synodalbeschluß der Rheinischen Landeskirche „Zur Erneue-

rung des Verhältnisses von Christen und Juden" von 1980; abgedruckt bei REND-TORFF/HENRIX, K i r c h e n , 593-596, h ier : 594.

29 Vgl. BARTH, Ad Limina, 37; WASCHKE, Volk, 11. 30 EICHHOLZ, Begriff, 84; Hervorhebungen im Original. 31 MUSSNER, Traktat, 22; vgl. EICHHOLZ, Begriff, 84. 32 MUSSNER, Traktat, 26. 33 MUSSNER, Traktat, 26. 34 KLAPPERT, Miterben, 215.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 10: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

38 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

und Schicksalsgemeinschaft - freilich mit anderen Wertungen. Der An-satz wird sogar noch zugespitzt. So in der problematischen Behauptung, die aufklärerische Vorstellung von einem Humanum sei unbiblisch, die Bibel kenne nur das Nebeneinander von Volk und Völkern, das sich nicht auf ein Drittes, die Menschheit, hin entschränken lasse.35

Auch bei ihrer Beschreibung des „Heidentums" bleiben die genannten Autoren vielfach in den Vorstellungen und Begriffen des religionswissen-schaftlichen Konzepts „Volksreligion" gefangen - trotz ihrer diametral entgegengesetzten Wertungen. Dies zeigt sich schon an der betonten Verwendung der Bezeichnung „Völker". Sie nimmt freilich biblischen Sprachgebrauch auf, reflektiert aber weder, daß im modernen Sprach-gebrauch seit der Romantik und dem Zeitalter der Nationalstaaten un-vermeidlich mit „Völker" anderes assoziiert wird als in der Antike mit goyim oder e'övr), noch, daß auch der antike, biblische Sprachgebrauch, der „Völker" als etwas fest, ja überzeitlich Vorhandenes darstellt, kaum der sozialen Realität gerecht wird.36

Mit dem Begriff,Völker" wird auch die Vorstellung von einem „We-senscharakter" dieser Völker übernommen, nun jedoch negativ bewertet als das typisch „Heidnische". Zu diesem sollen etwa der Neid auf die Er-wählung Israels, das Gutheißen des Gegebenen und das vertikale Oben-unten-Denken37 sowie die Vorstellung von der Eigengesetzlichkeit des Politischen38 gehören. Jüdischem Denken hingegen entspreche prophe-tische Kritik an der Gegenwart und horizontale Ausrichtung auf die Zu-kunft sowie die Anerkennung des in der Tora offenbarten Gotteswillens als Grundlage des bürgerlichen Gemeinwesens. Hier werden moderne theologische Streitigkeiten im Gewand des Gegensatzes zwischen Juden und „Heiden" in die Antike projiziert. Eine zutreffende Beschreibung und Beurteilung der antiken nichtjüdischen Religion und Kultur wird dadurch unmöglich. Es wäre auch zu fragen, inwieweit die Weitergabe dieses Stereotyps des „Heidentums" der Aufgabe, die die Kirche - unge-schadet ihrer besonderen Beziehung zu Israel - auch hat, nämlich eine respektvolle Beziehung zu anderen Religionen und Weltanschauungen zu entwickeln, abträglich ist.

35 KLAPPERT, Wurzel, 31. Die exegetische Unhaltbarkeit dieser These erweist sich schon daran, daß die Bibel mit Gen 1 und nicht mit Gen 12 beginnt; vgl. RENDTORFF, Israel, 130f.

36 Vgl. die von THOMA, Einführung, 20-24, zitierte soziologisch begründete Kritik F. Dexingers an der Übernahme dieses Sprachgebrauchs; außerdem BAUSINGER, S. V. Volk und Volkstum, 1434f.

37 KRAUS, Systematische Theologie, 102.104.489; letztere Stelle zustimmend zitiert bei KLAPPERT, Miterben, 217f; vgl. auch die zusammenfassende Darstellung des Ansatzes von Kraus bei LOERBROKS, Weisung, 87-100.

38 KLAPPERT, Miterben, 215-217.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 11: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.3. Ergebnisse 39

Dem Bild vom „Heidentum" entspricht die Einschätzung der Ge-schichte des frühen Christentums. Es ist das Verdienst der Israeltheo-logie, eine neue Sichtweise dieser Geschichte angestoßen zu haben. Sie zeigt sich nun als tragischer Entfremdungsprozeß von Christen und Ju-den. In dessen Verlauf wurden die Judenchristen und ihre theologischen Traditionen aus der Kirche ausgegrenzt, Gemeinsamkeiten von Christen und Juden zugunsten des Trennenden immer mehr in den Hintergrund gedrängt und an dessen Ende die Juden vom christlich gewordenen Reich massiv bedrückt. Diese Darstellung korrigiert entschieden das Zerrbild der Theologie des 19. Jh. von einem von Anfang an dem Judentum we-sensfremden Christentum, das nur seine historischen Hüllen abzuwerfen hatte.

Allerdings mischen sich zuweilen Töne in sie hinein, die vermuten lassen, daß die andere Hälfte dieses Zerrbildes, nämlich die Idee einer fortschreitenden Dekadenz der Kirche durch Hellenisierung, nicht über-wunden ist. Die ganze Geschichte der Alten Kirche wird dann als Ver-fall, als Paganisierung bzw. Ethnisierung angesehen, gipfelnd in antijü-dischen, griechischen, metaphysischen Dogmen.39 Auch hier verstellen übernommene Vorurteile und emotionale Betrachtungsweise ein sach-gemäßes historisches Urteil: Denn schon das antike Judentum, aus dem das Christentum entstand, war ja ein hellenistisches Judentum, das auf vielfältige Weise den Anschluß an griechische Kultur, Sprache und Phi-losophie suchte. Ebenso ist die Entwicklung der altkirchlichen Theologie nicht als Dekadenz oder Krise durch Paganisierung zu beschreiben. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die eigene Position nach den allgemein - auch vom Judentum - anerkannten wissenschaftlichen Stan-dards der Zeit für sich und vor den anderen zu klären.40

2.3 Ergebnisse

Die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Bürgerrecht und Kult-teilnahme bzw. politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in der Antike ist wichtig für die Erforschung des antiken Judentums und des frühen Christentums in der griechisch-römischen Welt und damit für das Verständnis des Neuen Testaments. Ihre Bedeutung geht dabei über die eines historischen Hintergrundumstandes deutlich hinaus. Sie hängt mit zentralen biblisch-theologischen Fragen zusammen, insbesondere mit der 39 KLAPPERT, Miterben, 218; KRAUS, Aspekte, 10; differenzierter DERS., Systematische

Theo log ie 12.76. 40 Vgl. d a z u MARKSCHIES, S. V. A l t e Kirche , 353-355; WYRWA, S. V. Hel len is ie rung des

Christentums, 1608f.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 12: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

40 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

Frage nach dem „Neuen" des Christentums bzw. des Neuen Testaments gegenüber dem antiken Judentum. Über diese biblisch-theologischen Fragestellungen steht sie auch in einem Zusammenhang mit wichtigen systematisch-theologischen Themen: dem Verhältnis des Christentums zum Judentum, dem Anspruch des christlichen Glaubens, heilbringen-de Wahrheit für alle Menschen zu sein, und dessen Verhältnis zu den gleichwohl bestehenden anderen, z. B. ethnischen oder politischen, Bin-dungen.

Die Ausführungen der vorangehenden Abschnitte haben gezeigt, daß unbefriedigende Lösungen dieser systematisch-theologischen Probleme - etwa Versuche, das Christentum als Vernunftreligion von seinen jü-dischen Wurzeln zu lösen, Versuche, das Christentum dergestalt in der Tradition des antiken Judentums zu verankern, daß dadurch der an-dersartigen Berufung des heutigen Judentums auf dieselbe Tradition ih-re Legitimität abgesprochen wird, oder Versuche, das Christentum an bestimmte ethnische oder politische Bindungen anzupassen (z. B. durch „Germanisierung") - immer auch mit mangelhafter Reflexion der zugrun-deliegenden biblisch-theologischen Fragestellungen und letztendlich mit falschen historischen Vorstellungen zusammenhängen. Umgekehrt ist also eine gründliche historische und religionsgeschichtliche Forschung ei-ner angemessenen Bearbeitung der systematisch-theologischen Themen dienlich.

Wenn nun im Rahmen der Theologie religionsgeschichtliche For-schung zum Verhältnis politischer, ethnischer und religiöser Zugehö-rigkeit in der Antike betrieben wird, dann kann man gar nicht anders, als sich mit der religionswissenschaftlichen Forschung zum selben Ge-genstand und ihren Modellen auseinanderzusetzen. Darum wurden die New Perspective on Paul und die Israeltheologie in der Tradition der Bekennenden Kirche in den vorangehenden Abschnitten auch mit der Fragestellung untersucht, wie in ihnen religionswissenschaftliche Modelle aufgenommen und verarbeitet werden.

Der Entwurf von Sanders, der der New Perspective on Paul zugrun-de liegt, entspricht im Kern dem Modell Menschings. Gemeinsam sind die holistische Herangehensweise und die zentrale Stellung der Soteriolo-gie für die Analyse einer Religion. Der Unterschied zwischen Judentum und Christentum bzw. zwischen Volksreligion und Universalreligion wird dementsprechend an der Verlagerung des Akzents von „staying in", d. h. Erhaltung der kollektiv gegebenen Güter, zu „getting in", d. h. indivi-dueller Erlangung des Heils, festgemacht.41 Die Nähe zu einem religi-onswissenschaftlichen Modell wird indes von Sanders nirgends explizit

41 RIEGER, Religion der Gnade, 140f.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 13: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

2.3. Ergebnisse 41

thematisiert und reflektiert. Es bleibt unklar, ob Übereinstimmungen auf Zufall, auf (indirekten) Einfluß, unbewußte Übernahme oder Ver-wurzelung in denselben geistesgeschichtlichen Traditionen zurückzufüh-ren sind - und damit auch, wie solche Übereinstimmungen zu bewerten sind.42

In der New Perspective werden Erkenntnisse der neueren Kulturan-thropologie und Religionssoziologie aufgenommen und für die Exegese und die auf ihr aufbauende biblisch-theologische Diskussion fruchtbar zu machen versucht. Dieses grundsätzlich sinnvolle Vorgehen leidet im kon-kreten Fall allerdings an einigen Schwächen. Religionswissenschaftliche Modelle werden in der New Perspective eher übernommen als in kriti-scher Auseinandersetzung aufgenommen. Insbesondere fehlt die Reflexi-on über den theoretischen Stellenwert religionswissenschaftlicher Aussa-gen im Verhältnis zu theologischen. Diese Unklarheit führt dazu, daß in einigen Punkten verschiedene Ebenen in verwirrender Weise vermischt werden: Aussagen, die grundsätzlich aus einer Außenperspektive auf die Religion gemacht sind, werden in hermeneutisch problematischer Wei-se zur Erklärung von Diskussionen, die aus der Innenperspektive einer Religion heraus geführt werden, eingesetzt.

Noch unbefriedigender stellt sich die Beziehung der Israeltheologie zur Religionswissenschaft dar. Die traditionelle lutherische bzw. Bult-mannsche Auslegung der neutestamentlichen Texte, die nach Aussagen sucht, die zeitlos für alle Menschen gültig sind, wird abgelehnt. Sie müsse letztendlich zu einem antijüdischen Selbstverständnis des Chri-stentums führen, weil sie die besondere, partikulare - und doch mit dem Ziel universalen Heils geschehene - Erwählung Israels leugne. Die-se Erwählung verlange vielmehr, die neutestamentlichen Texte immer mit dem konkreten geschichtlichen Judentum, dem antiken, den Texten gleichzeitigen, wie auch dem heutigen, den Auslegern gleichzeitigen, als Gegenüber zu lesen. Dies wäre ein vielversprechender Ansatz für eine tiefgehende, theologisch ertragreiche Auseinandersetzung mit der reli-gionsgeschichtlichen Forschung. Diese Chance wird jedoch nicht wahr-genommen. Im Gefolge der dialektischen Theologie werden Judentum und Christentum emphatisch nicht als „Religionen" verstanden. Das Ge-spräch mit der neueren religionswissenschaftlichen Forschung wird dar-um gar nicht erst gesucht, sie wird ignoriert. Nur auf die „traditionel-le", in der Übereilen Theologie rezipierte Religionswissenschaft wird be-zuggenommen. Dies allerdings nicht in kritischer Auseinandersetzung,

42 Rieger, Religion der Gnade, 140f, bewertet sie positiv als gegenseitige Bestätigung. Man könnte jedoch ebenso gut schließen, da& beide Entwürfe dieselben Schwachpunkte haben.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM

Page 14: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

42 Kapitel 2. Theologische Fragestellungen

sondern in polemischer Ablehnung. Auf diese Polemik fixiert, bleibt die Israeltheologie vielfach fragwürdigen Denkmustern der traditionel-len Religionswissenschaft verhaftet.

Gegenüber diesen eher enttäuschenden Ergebnissen ist die Aufga-be, eine sachliche und zugleich kritische Auseinandersetzung mit reli-gionswissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Modellen zu führen, verbunden mit eigener religionsgeschichtlicher Forschung an den Quel-len. Dabei sind den spezifischen Interessen der Theologie gemäß eigene Schwerpunkte zu setzen. Ein solcher Schwerpunkt ist sicher der besonde-re Stellenwert des antiken Judentums und der Entstehungsbedingungen des frühen Christentums. Der Behauptung, ein solches Vorgehen führe notwendigerweise zu einer verzerrten, von christianisierenden Vorurtei-len geprägten Sicht auf die antike Religionsgeschichte, ist - so berechtigt sie auch in Hinblick auf manche älteren theologischen Forschungsbeiträ-ge sein mag - entgegenzuhalten, daß eine Einbeziehung von Judentum und Christentum an prominenter Stelle sachgemäß und der Wichtigkeit dieser Religionen angemessen ist.

Andererseits sind Anregungen aus der Religionswissenschaft aufzu-nehmen. Kommt man von systematisch-theologischen Fragestellungen wie dem Verhältnis zwischen Kirche und Israel her, dann legt sich für die biblisch-theologische und exegetische Arbeit zunächst ein begriffs- und theologiegeschichtliches Vorgehen nahe, also die Untersuchung von Vor-stellungen wie „Volk Gottes" oder „Bund Gottes mit seinem Volk". Und tatsächlich liegt zu diesen Themen eine Vielzahl umfangreicher, aktuel-ler Beiträge vor.43 Dennoch ist von der religionswissenschaftlichen For-schung zu lernen, daß man antike Religion nicht verstehen kann, wenn man sie nicht vor allem auch als Handlung, als Kultvollzug, begreift. In Ergänzung zu solchen Arbeiten ist also die religiöse Praxis der Antike zu untersuchen, d. h. etwa für das antike Judentum das alltägliche Ver-halten angesichts von Götterbildern, Tempeln, Festen, Prozessionen und Opfern oder der praktische Umgang mit dem Wunsch von Nichtjuden nach Teilnahme am jüdischen Kult.

Zwischen Aufnahme von Anregungen aus der Religionswissenschaft, kritischer Auseinandersetzung mit ihrer Modellbildung und eigener Ak-zentsetzung ist also ein Weg zu finden, das Thema historisch und reli-gionsgeschichtlich präzise zu erforschen und gerade dadurch dem syste-matischen Interesse der Theologie zu dienen.

43 Vgl. z. B. zur Vorstellung vom „Volk Gottes" KRAUS, Volk Gottes, durch das die ältere Arbeit von DAHL, Volk Gottes, überholt ist; zu „Bund" den Sammelband AVEMA-RIE/LICHTENBERGER, Bund und Tora.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:13 PM