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Kapitel 1 Religionswissenschaftliche Modelle Die These über die Gesellschaft der Antike, für die der Name Pustel de Coulanges steht, hat in allen Bereichen der Altertumswissenschaft eine große Rolle gespielt, 1 vor allem aber in der Religionswissenschaft. Dort erlangte sie zentrale Bedeutung für Theorien, die die Eigenart antiker Religion erfassen wollen. Die oft bis heute materialreichsten Forschungen zum Thema zeich- nen sich allerdings dadurch aus, daß sie die Ausarbeitung solcher Theo- rien programmatisch in den Hintergrund stellen. Es handelt sich um Arbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die, von der Altphilolo- gie herkommend, von dem damals vorherrschenden antiquarischen Geist bestimmt sind, z.B. C. A. Lobecks „Agloaphamus sive de theologiae mysticae Graecorum causis libri tres" (1829), die Dissertation T. Wäch- ters „Reinheitsvorschriften im griechischen Kult" (1910), die Arbeiten L. Ziehens, R. Herzogs und P. Stengels, einschließlich seines Handbu- ches „Die griechischen Kultusaltertümer" ( 3 1920). In einem sehr weiten Sinne kann man auch noch die beiden Standardwerke von G. Wissowa (1859-1931) zur römischen und M. P. Nilsson (1874-1967) zur griechi- schen Religion als „antiquarisch" bezeichnen, doch sucht Wissowa den Anschluß an geschichtswissenschaftliche Theoriebildung - insbesondere an T. Mommsen 2 - und Nilsson steht in der Tradition der skandinavi- schen Folkloristik. 3 In allen diesen Arbeiten wird - wie auch bei Fustel de Coulanges selbst - „naiv" an die Fragestellung herangegangen. Was Religion ist, was ein Bürger und was ein Fremder, was ein Volk, all dies wird meistens 1 Vgl. dazu HANSEN, Polis and City-State, 84-91; DERS., Introduction, 13-18. 2 Zu Wissowas über Mommsen letztlich auf Herder und Hegel zurückgehender Vorstel- lung, in der römischen Staatsreligion drücke sich der römische Volksgeist aus, vgl. BENDLIN, Civic Compromise, 116-118. 3 Dies wird besonders deutlich in seinem Werk „Griechische Feste von religiöser Bedeu- tung mit Ausschluß der Attischen" (1906), in dem die griechischen Feste mit Hilfe von Analogien in zeitgenössischen Ernte- und Karnevalsbräuchen interpretiert werden. Vgl. AUFFARTH, S. v. Nilsson. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:17 PM

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Page 1: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

Kapitel 1

Religionswissenschaftliche Modelle

Die These über die Gesellschaft der Antike, für die der Name Pustel de Coulanges steht, hat in allen Bereichen der Altertumswissenschaft eine große Rolle gespielt,1 vor allem aber in der Religionswissenschaft. Dort erlangte sie zentrale Bedeutung für Theorien, die die Eigenart antiker Religion erfassen wollen.

Die oft bis heute materialreichsten Forschungen zum Thema zeich-nen sich allerdings dadurch aus, daß sie die Ausarbeitung solcher Theo-rien programmatisch in den Hintergrund stellen. Es handelt sich um Arbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die, von der Altphilolo-gie herkommend, von dem damals vorherrschenden antiquarischen Geist bestimmt sind, z.B. C. A. Lobecks „Agloaphamus sive de theologiae mysticae Graecorum causis libri tres" (1829), die Dissertation T. Wäch-ters „Reinheitsvorschriften im griechischen Kult" (1910), die Arbeiten L. Ziehens, R. Herzogs und P. Stengels, einschließlich seines Handbu-ches „Die griechischen Kultusaltertümer" (31920). In einem sehr weiten Sinne kann man auch noch die beiden Standardwerke von G. Wissowa (1859-1931) zur römischen und M. P. Nilsson (1874-1967) zur griechi-schen Religion als „antiquarisch" bezeichnen, doch sucht Wissowa den Anschluß an geschichtswissenschaftliche Theoriebildung - insbesondere an T. Mommsen2 - und Nilsson steht in der Tradition der skandinavi-schen Folkloristik.3

In allen diesen Arbeiten wird - wie auch bei Fustel de Coulanges selbst - „naiv" an die Fragestellung herangegangen. Was Religion ist, was ein Bürger und was ein Fremder, was ein Volk, all dies wird meistens

1 Vgl. d a z u HANSEN, Pol i s a n d C i t y - S t a t e , 84-91; DERS., I n t r o d u c t i o n , 13-18. 2 Zu Wissowas über Mommsen letztlich auf Herder und Hegel zurückgehender Vorstel-

lung, in der römischen Staatsreligion drücke sich der römische Volksgeist aus, vgl. BENDLIN, Civic Compromise, 116-118.

3 Dies wird besonders deutlich in seinem Werk „Griechische Feste von religiöser Bedeu-tung mit Ausschluß der Attischen" (1906), in dem die griechischen Feste mit Hilfe von Analogien in zeitgenössischen Ernte- und Karnevalsbräuchen interpretiert werden. Vgl. AUFFARTH, S. v . Ni lsson .

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6 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

als fraglos klar vorausgesetzt. Die an den Quellen mit großer Liebe zum Detail beobachteten Phänomene werden mit ad hoc plausiblen Erklärun-gen versehen und auf der Basis von common sense-Annahmen verallge-meinert. Dies läßt sich besonders gut anhand der Äußerungen Wächters über die Gründe für den Ausschluß von Fremden aus griechischen Kulten aufzeigen: „Für manche dieser Vorschriften, hauptsächlich unter denen, die nur bestimmte, besonders genannte Fremde ausschließen, mögen be-sondere, sich nur auf den speziellen Fall beziehende Gründe, z. B. in früherer Zeit geführte Kriege, vorhanden sein. Für die meisten Fälle aber ist die Tatsache maßgebend, daß in ältester Zeit Fremde am Kult zweifellos nicht teilnehmen durften. [ . . . ] Gerade im Kult ist der Aus-schluß der Fremden besonders verständlich; sie stehen unter dem Einfluß fremder, für Andere schädlicher Dämonen, ihre Teilnahme am Gottes-dienst bedeutet also eine Verunreinigung. Diese alte Übung hat sich nun in manchen Kulten teils unverändert, teils modifiziert erhalten."4

Die Regelungen werden nicht synchron in ihrer Bedeutung für die jewei-lige Gesellschaft betrachtet, sondern diachron aus einzelnen Vorgängen in der Vergangenheit hergeleitet. Letztendlich beruht aber die Erklärung auf dem Rückgriff auf eine in die Vorzeit projizierte, nicht durch Quellen belegbare, aber umso gewisser behauptete anthropologische Konstante.

Dieser Vorgehensweise stehen Bemühungen späterer Religionswissen-schaftler gegenüber, Konzepte und Begriffe zu entwickeln, mit denen der behauptete Zusammenhang politischer, ethnischer und religiöser Zuge-hörigkeit in der Antike klar, adäquat und systematisch erfaßt werden kann. Sie sollen im folgenden vorgestellt werden.

1.1 Volksreligion und Universalreligion

Das klassische Modell, die Zuordnung von Volkszugehörigkeit und Reli-gionszugehörigkeit zu beschreiben, ist die typologische Unterscheidung von Volksreligionen und Menschheits- oder Universalreligionen. Es wur-de vor allem von zwei bedeutenden deutschen Religionswissenschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, von Joachim Wach (1898-1955) und Gustav Mensching (1901-1978).5 Wach emigrierte 1935 nach Amerika und wirkte dort vor allem in Chicago. Sein Standardwerk „Sociology of Religion" erschien 1944 (zahlreiche Neuauflagen, deutsch

4 WÄCHTER, ReinheitsVorschriften, 123; ähnlich, aber vorsichtiger und differenzierter ZIEHEN im Kommentar zu LGS II 106.

5 Ahnlich, aber nicht in dieser Form ausgearbeitet, auch bei anderen Religionswissen-schaftlern dieser Zeit, z .B. VAN DER LEEUW, Phänomenologie, 303f.

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1.1. Volksreligion und Universalreligion 7

1951).6 Mensching7 widmete der Unterscheidung 1938 eine eigene Mo-nographie „Volksreligion und Weltreligion" und verwendete sie in seinen Überblickswerken „Allgemeine Religionsgeschichte" von 1940 und „So-ziologie der Religion" von 1947 als Grundstruktur für die Gliederung des Materials. Er gehörte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu den einflußreichsten Religionswissenschaftlern in Deutschland.8

Im folgenden sollen die beiden zwar in der Grundidee ähnlichen, in der Durchführung jedoch deutlich unterschiedlichen Entwürfe von Wach und Mensching vorgestellt und dann in Hinblick auf ihre geistes-geschichtlichen Wurzeln und ihre Leistungsfähigkeit diskutiert werden.

1.1.1 Joachim Wach

Wach versteht unter Religion das Erlebnis des Heiligen, ein Erlebnis sui generis, das sich in Lehre (theoretisch), Kult (praktisch) und Grup-penbildung (soziologisch) ausdrückt. Der soziologische Ausdruck des Erlebnisses des Heiligen in Gruppenbildung ermöglicht die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft, also die Grundfrage der Religionssoziologie.9

Bei der Bearbeitung dieser Frage sind zunächst verschiedene Arten von Gruppen zu unterscheiden, insbesondere natürliche und gestiftete Gruppen. Mitglied einer natürlichen Gruppe wird man durch Geburt und Erziehung; man kann sich zwar von ihr lossagen, bleibt aber doch immer an sie gebunden. Im Falle einer gestifteten Gruppe beruhen hin-gegen Eintritt und Austritt auf Freiwilligkeit.10

6 Vgl. auch WACH, S.V. Religionssoziologie (RGG2); DERS., S.V. Religionssoziologie (Handwörterbuch der Soziologie); DERS., Einführung. Kurze Biographie und Wür-digung Wachs: RUDOLPH, Joachim Wach; ausführliche Darstellung und Auseinander-setzung mit seinem Werk: FLASCHE, Religionswissenschaft.

7 Zur Biographie vgl. TWORUSCHKA/TWORUSCHKA, Denkerinnen und Denker, 64-69; TWORUSCHKA, s. v. Mensching; ausführlich YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 27-90.

8 Mensching verfaSte z.B. die zentralen religionswissenschaftlichen Artikel in RGG3, insbesondere „Religion" (MENSCHING, S.V. Religion). Im dortigen Artikel „Religi-onssoziologie" zeichnet sich allerdings schon ein Wandel ab: Mensching wird zusam-men mit Weich als Vollender der älteren Religionssoziologie mit bleibenden Verdien-sten um systematische Grundlagenforschung und Begriffsbildung gewürdigt und doch zugleich von der neuen Religionssoziologie abgegrenzt, die sich vom hermeneutisch-systematischen Ansatz ab- und der Empirie zuwendet; FÜRSTENBERG, S. V. Religions-soziologie, 1028. Einflußreich ist Mensching bis heute in der von der Missionswissen-schaft betriebenen Erforschung nichtchristlicher Religionen, vgl. z. B. SUNDERMEIER, s.v. Religion, 414; YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 90-117.

9 WACH, Religionssoziologie, 2. 10 WACH, Religionssoziologie, 61f.

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8 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

Wach unterscheidet nun verschiedene natürliche Gruppen und unter-sucht ihr Verhältnis zu religiösen Gruppen. Die im Rahmen der hier zu besprechenden Themenstellung wichtigsten natürlichen Gruppen sind die folgenden:

1. Rasse: Wach rechnet mit der Vorstellung, es gebe „reine" Rassen als natürliche Gruppen, scharf ab. Reale, biologische Abstammung ist für die von ihm untersuchten soziologischen Phänomene völlig bedeutungslos.11

2. Volk/Nationalität: eine größere Gruppe mit gemeinsamem Schick-sal und gemeinsamen Erfahrungen, die sich als durch - fiktive! -gemeinsame Abstammung untereinander verbunden versteht.12

3. Staat/Nation sind davon zu unterscheiden: Bei ihnen handelt es sich um politisch zusammengehaltene Gruppen.13

Betrachtet man das Verhältnis dieser natürlichen zu den religiösen Grup-pen, so ist als erstes festzustellen, daß mit der Vorstellung von Rasse als natürlicher, im Sinne von biologischer Gruppe auch die Idee einer „arteigenen" Religion, die jede Rasse ursprünglich besaß, hinfällig ist.14

Religionszugehörigkeit und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder einem bestimmten Staat können hingegen zusammen- oder aber, wie in den großen Weltreligionen, auseinanderfallen. Eine chronologisch-evolutionäre Abfolge von Volks- zu Weltreligionen lehnt Wach ab.15

1.1.2 Gustav Mensching

Ebenso wie Wach versteht Mensching Religion „als erlebnishafte Begeg-nung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen"16. Religionssoziologie will er darum nicht als die Illusion aufdeckende Erklärung der Religion aus gesellschaftlichen Vorgängen mißverstanden wissen.17 Vielmehr vertritt er das Programm einer verstehenden Religionswissenschaft, die ihren Ausgangspunkt von der Gegenwartsfrage nimmt, welche Religion jetzt

11 WACH, Religionssoziologie, 98-103. 12 WACH , R e l i g i o n s s o z i o l o g i e , 103. 13 WACH , R e l i g i o n s s o z i o l o g i e , 105. 14 WACH , R e l i g i o n s s o z i o l o g i e , 98 -103 . 15 WACH, Religionssoziologie, 63f. 16 MENSCHING, S.V . R e l i g i o n , 961 . 17 MENSCHING, Soziologie der Religion, 15.

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Page 5: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

1.1. Volksreligion und Universalreligion 9

die richtige ist.18 Religionssoziologie ist dann „die Lehre von den sozio-logischen Phänomenen im Bereich der Religion und den soziologischen Beziehungen der Religion"19. Ihre Themen sind die natürlichen Gemein-schaftsformen (Familie, Stamm, Volk, Staat), die religiösen Gruppen (Kirche, Sekte, Orden), das Verhältnis der religiösen zu den natürlichen Gemeinschaften und das der religiösen untereinander.20 Ziel der Unter-suchung sind dabei nicht Detailergebnisse, sondern eine Typologie der Religionen, die Erkenntnis von Wesens-, d. h. grundlegenden Struktur-unterschieden zwischen ihnen.21

Ausgangspunkt für diese Typologie ist das Verhältnis von religiöser und natürlicher Gemeinschaft; je nachdem, wie es gestaltet ist, lassen sich verschiedene Typen von Religionen unterscheiden:22

1. Fallen religiöse und natürliche Gemeinschaft zusammen, handelt es sich um eine Volksreligion. Dabei ist wiederum zwischen zwei Fällen zu unterscheiden, abhängig davon, ob es sich bei der natürlichen Ge-meinschaft um einen Stamm oder ein Volk im engeren Sinne handelt. Die Differenz zwischen beiden liegt nach Mensching darin, daß ein Volk nicht rein ethnisch, sondern vor allem auch durch sein gemein-sames „Schicksal" und durch seine geistige Kultur geprägt ist.23

(a) In der Naturreligion ist die Stammesgemeinschaft sowohl das tra-gende Subjekt als auch das bestimmende Ziel des religiösen Le-bens.24 Das Denken des Anhängers der Naturreligion ist völ-lig kollektivistisch, individuelles und soziales Bewußtsein sind bei ihm identisch. Das Ziel seiner Kultakte ist die Erhaltung der ge-gebenen Zustände.25 Obwohl unterschiedliche Stämme die Träger sind, gibt es doch sozusagen nur eine Naturreligion, da Stämme, wie oben bereits gesagt, im Unterschied zu Völkern keine die Re-ligion prägende, geschichtlich gewordene Kultur besitzen.26

(b) Die Kulturreligionen hingegen besitzen zwar eine gemeinsame Grundstruktur, sind aber ansonsten untereinander sehr verschie-

18 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 8. 19 MENSCHING, Soziologie der Religion, 17. 20 MENSCHING, Soziologie der Religion, 19. 21 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 8. 22 Vgl. zum Folgenden auch den knappen Überblick bei MENSCHING, S. V. Religion, 964. 23 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 13; DERS., Allgemeine Religionsgeschich-

te, 16. 24 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 12. 25 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 12. 26 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 13. Die „rassischen" Unterschiede zwi-

schen den Stämmen prägen hingegen die Religion nicht oder zumindest nicht stark. Vgl. DERS., Allgemeine Religionsgeschichte, 14.

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10 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

den,27 da der kulturelle Charakter der Völker jeweils eine be-stimmte „Lebensmitte" der Religion bestimmt.28 Auch in einer Kulturreligion steht die Gemeinschaft vor dem Einzelnen; Ziel ist die Erhaltung der in ihr gegebenen kollektiven, diesseitigen Gü-ter. Ihre Götter - oder ihr Gott, denn auch das Judentum fällt in diese Kategorie - sind lokal und auf die jeweilige Bezugsgruppe beschränkt.29 Sie haben folglich zwar einen „intensiven Absolut-heitsanspruch", d. h. sie binden das Mitglied des Volkes „total"30, aber sie haben keinen „extensiven Absolutheitsanspruch", sie ken-nen keine Mission, sie negieren nicht die Existenz und Wirksam-keit anderer Landes- und Volksgötter.31

2. In den Weltreligionen, von denen es laut Mensching drei Beispie-le gibt, den Buddhismus, das Christentum und den Islam,32 fallen hingegen Religionsgemeinschaft und Volksgemeinschaft auseinander. Der Grund dafür ist, daß es in ihnen um den Einzelnen, um die Not der menschlichen Existenz hinter den konkreten Fragen im Leben ei-ner natürlichen Gemeinschaft, geht.33 Darum ist ihr Ziel nicht Erhal-tung der kollektiv gegebenen Güter, sondern Erlangung des Heils für den Einzelnen von einem vorgegebenen Unheilszustand aus.34 Diese Erlösung ist Gegenstand einer universalen, durch Mission zu verbrei-tenden Botschaft.35 Da es jedoch den Menschen „an sich" nicht gibt, sondern nur in seiner kulturellen Geprägtheit, wird sich diese uni-versale Botschaft jeweils wieder inkulturieren, und es treten regional differenzierte Formen der Weltreligionen auf.36

Die drei Religionstypen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind das Resultat einer geschichtlichen Entwicklung. Dabei geht die große Linie vom ,yorvölkischen" über das „Völkische" zum „Übervölki-schen, wenngleich völkisch Differenzierten"37 oder „vom primitiven Kol-lektivismus zum hochreligiösen Individualismus, der wieder durch hoch-religiöse Kollektivismen überwunden wird"38. Während sich der Mensch

27 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 15. 28 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 22. 29 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 21f. 30 MENSCHING, Volksrel ig ion u n d Wel tre l ig ion , 40f . 58 . 31 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 19.59. 32 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 25f. 33 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 35. 34 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 35. 35 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 36. 36 MENSCHING, Volksrel ig ion u n d Weltre l ig ion , 26 .37. 37 MENSCHING, Volksreligion und Weltreligion, 11. 38 MENSCHING, Soziologie der Religion, 20.

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1.1. Volksreligion und Universalreligion 11

der Frühzeit in Gemeinschaften vorfindet, die eine religiöse Weihe ha-ben, wie Familie, Stamm und Volk, und diesen Heilszustand nur zu erhalten braucht, steht der Mensch nach dem „Sündenfall" der Individu-ierung allein dem profanierten Kollektiv gegenüber. Einen Ausweg aus diesem als Unheil empfundenen Zustand versprechen neue, gestiftete re-ligiöse Gemeinschaften, denen man sich durch Wahl anschließt, statt in sie hineingeboren zu werden. Freilich bleibt ein Rest des Frühstadiums immer erhalten, nämlich in der Religion der breiten Masse, die von der korrekten Lehre der Hochreligion deutlich abweicht.39

1.1.3 Diskussion

Eine Diskussion der Leistungsfähigkeit des Modells „Volksreligion - Uni-versalreligion" in Gestalt der Entwürfe von Wach und Mensching muß ihren Ausgangspunkt von einer kurzen Betrachtung der geistesgeschicht-lichen Wurzeln dieser Entwürfe nehmen.

Sie stehen in der Tradition romantischer Religionsphilosophie, die bei F. D. E. Schleiermacher (1768-1834) beginnt und vermittelt und modi-fiziert durch W. Dilthey (1833-1911), R. Otto (1869-1937) und F. Heiler (1892-1967)40 großen Einfluß auf die sich entwickelnde Religionswissen-schaft hatte: Religion wird als Erlebnis des Heiligen verstanden, ein ir-rationales Erlebnis sui generis, das nicht weiter erklärt, sondern nur ver-stehend nachvollzogen werden kann.41 Zugespitzt kann man Wachs und Menschings Religionswissenschaft als nicht kirchlich gebundene Fortset-zung der liberalen Theologie ansehen.42

Bei Mensching läßt sich noch in weiteren Punkten eine Beeinflussung durch Vorstellungen und philosophische Konzepte der Romantik und des Idealismus erkennen. In seinem religionstypologischen System ist deut-lich der Einfluß G. W. F. Hegels (1770-1831) zu spüren, insbesondere in seinem als dialektischer Dreischritt konstruierten Evolutionsschema von Volksreligion über Menschheitsreligion zu „völkisch differenzierter"

39 MENSCHING, Soziologie der Religion, 21f. 40 Zu den Beziehungen zwischen Mensching, Otto und Heiler vgl. YOUSEFI/BRAUN, Men-

sching, 33-35. 41 Vgl. dazu WACH, S. V. Verstehen. 42 Dabei stehen sie in deutlicher Frontstellung gegen die neu aufkommende dialektische

Theologie, vgl. z. B. die apologetischen und polemischen Äußerungen gegen diese Be-wegung bei WACH, S.V. Religionswissenschaft. Explizit theologische Werke verfaßte Wach in seiner Zeit in Amerika; er verstand sein Verhältnis zu seinen Schülern als Meister-Jünger-Beziehung, vgl. RUDOLPH, Joachim Wach, 362f.365; FLASCHE, Reli-gionswissenschaft, 13-15.24f. Mensching engagierte sich im „Bund für freies Christen-tum"; TWORUSCHKA/TWORUSCHKA, Denkerinnen und Denker, 65.

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12 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

Menschheitsreligion. In Menschings Begriffen, etwa „Kulturvölker" und deren „Lebensmitte", zeigt sich die Wirkung romantischer Vorstellun-gen, vor allem J. G. Herders (1744-1803) Idee vom Charakter eines je-den Volkes,43 die in der Religionswissenschaft insbesondere von W. F. Otto (1874-1958) ausgearbeitet wurde.44 Wach bezieht sich hingegen in seiner Begrifflichkeit und typologischen Systematik vor allem auf M. Weber (1864-1920).

Daß Mensching und Wach derart in der Tradition romantischer Re-ligionsphilosophie stehen, ist der Grund für das - in den Augen der modernen Religionswissenschaft - Hauptproblem ihrer Entwürfe, deren wissenschaftstheoretische und methodologische Unklarheit: Ihre Defi-nition von Religion als Erlebnis des Heiligen, worin eine theologische bzw. religionsphilosophische Existenzaussage über dieses Heilige impli-ziert ist, macht Religionswissenschaft nicht eindeutig zur Wissenschaft von der Religion, sondern auch zur Wissenschaft von dem Gegenstand der Religion. Damit ist sie von Theologie und Religionsphilosophie nicht klar unterscheidbar.45

Trotz dieses prinzipiellen Einwands sind die Entwürfe bis heute ein-flußreich und wichtig. Die Unterscheidung Volksreligion - Universal-religion wird auch von Kritikern als hilfreiches Schema für eine erste Orientierung angesehen.46 Allerdings sind auch in Einzelheiten weitere Kritikpunkte anzubringen.

An erster Stelle ist das typologische Denken Wachs und Menschings zu nennen.47 Mit dem Ziel, klare Einteilungs- und Entwicklungsschema-ta zu erhalten, wird die Fülle des unterschiedlichen religionsgeschicht-lichen Materials oft vereinfachend zurechtgebogen.48 Die Tendenz, be-grifflich zugespitzte Alternativen wie z. B. „intensiven" und „extensiven Absolutheitsanspruch" oder dialektische Entwicklungen im Dreischritt zu konstruieren, die am Quellenmaterial kaum Anhalt haben, zeigt sich besonders bei Mensching. Der Grund dafür ist sein Programm der Struktur- bzw. Wesensschau von Religionen. Wachs Typologie hinge-

43 Vgl. dazu BAUSINGER, S. V. Volk und Volkstum, 1434f; WEINEL, S. V. Völkische Bewe-gung, 1617.

44 Vgl. besonders OTTO, Götter Griechenlands, 11; DERS., Geist der Antike, 122-124, dort als anti- und parachristliche pagane Theologie (vgl. dazu MOHR, s.v. Otto); in abgeschwächter Form ähnlich bei Ottos Schüler K. Kertayi (1897-1973); vgl. z. B. KER£NYI, Religion, 17f.

45 KEHRER, Einführung, 16f.; DERS., S. V. Religionssoziologie, 79. Wie unscharf die Gren-zen zwischen Theologie, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft bestimmt wer-den, zeigt exemplarisch WACH, S. V. Religionswissenschaft, 1954f. Zu entsprechender Kritik an Mensching vgl. die Ausführungen bei YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 188f.

46 Vgl. z. B. RUDOLPH, Juden, 285f. 47 Zu diesem Vorwurf vgl. YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 190f. 48 RUDOLPH, Joachim Wach, 362f.

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1.1. Volksreligion und Universalreligion 13

gen steht - wie bereits erwähnt - eher in der Tradition M. Webers: Idealtypische Konstruktion soll zum besseren Verstehen des geschicht-lich gewordenen Einzelfalls beitragen; Wesensschau ist nicht das Ziel.49

Man muß schließlich der Gerechtigkeit halber zugestehen, daß sich beide Wissenschaftler durchaus bewußt sind, daß sie vereinfachende, systema-tisierende Schemata entwerfen, und mit ihnen Detailforschung übersicht-lich bündeln, aber nicht ersetzen wollen.

Als zweites ist die oft unklare Begrifflichkeit bei der Beschreibung soziologischer Phänomene zu kritisieren. Insbesondere bei Mensching herrschen pathetische, emotional aufgeladene Begriffe vor, z. B. durch gemeinsames „Schicksal" geprägtes „Volk" als „natürliche Gemeinschaft". Auch Wach verwendet ein ähnliches Vokabular, versucht aber, werten-de Konnotationen zurückzudrängen und durch Begriffsdifferenzierungen und genaue Beschreibungen unter Heranziehung von Beispielen zu klä-ren, was konkret gemeint sein soll.

Diese Begrifflichkeit bedingt schließlich ein weiteres Problem des Mo-dells .yblksreligion - Universalreligion", seine Ideologieanfälligkeit. Die uneingestanden christlich beeinflußte Ansicht, daß Religion das indivi-duelle Erleben des Heiligen sei, einerseits und die Vorstellung von kultu-rellen, ethnischen und politischen Gruppen als „natürlichen", zwar nicht (oder nicht nur) biologisch, aber doch durch das „Schicksal" konstituier-ten Gemeinschaften andererseits führen dazu, daß dem Quellenmaterial ebenfalls uneingestanden Wertmaßstäbe angelegt werden.50

Wachs und Menschings Position ist dabei nur vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen ihrer Zeit zu verstehen. Sie streiten einer-seits als Erben des liberalen Christentums gegen die aufkommende dia-lektische Theologie, andererseits müssen sie sich mit der nationalsozia-listischen, rassistischen Religionswissenschaft ihrer Zeit, vertreten vor allem durch J. W. Hauer (1881-1962), auseinandersetzen. Der Emigrant Wach verwirft sie in scharfer Polemik. Bei Mensching hingegen wird der ungeklärte Widerstreit der beiden Pole seines Bewertungssystems deut-lich: Zwar ist das Christentum als Menschheitsreligion par excellence deutlich der End- und Höhepunkt der religiösen Evolution, und doch wird andererseits dem „Natürlichen" Tribut gezollt, indem die Forderung nach „völkisch differenziertem" Christentum anerkannt wird. Mensching bleibt dabei zwar gegenüber der Vorstellung „arteigener" Rassereligionen zurückhaltend, aber in seinen frühen Werken ist doch deutlich der Ein-fluß rassistischer und insbesondere antisemitischer Ideologie zu spüren.51

49 DREHSEN, Rationalisierung, 105-108. 50 Zu diesem Vorwurf vgl. YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 189. 51 Zu Menschings Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus vgl. die Ausführungen bei

YOUSEFI/BRAUN, Mensching, 55-78.

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14 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

Man wird allerdings in Hinblick auf Wach nicht behaupten können, das Modell „Volksreligion - Universalreligion" sei grundsätzlich und in jedem Falle von derartigen Ideologien geprägt.

1.2 Système politico-religieux

1.2.1 Darstellung

In eine völlig andere Forschungstradition und Begriffswelt führt die Be-schäftigung mit dem Ansatz der Pariser Schule, institutionell verortet in der 6. Sektion der École Pratique des Hautes Études, der École des Hautes Études en Sciences Sociales, mit ihrer berühmten Zeitschrift „Annales",52 vertreten durch J.-P. Vernant53, M. Detienne54, P. Vidal-Naquet55, in einer jüngeren Forschergeneration durch die Arbeiten von G. Berthiaume56 und P. Schmitt Pantel57.

In einem programmatischen Vortrag grenzt sich Vernant von drei Arten der Erforschung antiker Religion ab: von der Religionsgeschichte, die eine religiöse Evolution mit den Hauptlinien Individualisierung und Universalisierung auf das Ziel des Christentums hin entwirft, von der Re-ligionssoziologie der Schüler É. Dürkheims (1858-1917), die - vor allem im Gefolge von C. Lévi-Strauss (*1908) - die „primitiven Religionen" als Ausgangspunkt einer religiösen Entwicklung untersucht, und von anti-quarischem Positivismus, der sich mit der Erforschung von Einzeldingen begnügt.58

Ziel ist hingegen eine synchrone Strukturanalyse der Funktionen von Religion in einer Gesellschaft.59 Dabei ist damit zu rechnen, daß diese Funktionen in den jeweiligen Gesellschaften völlig différent sind. Die Frage nach einem Wesen von Religion oder auch nur nach einer Konti-nuität der religiösen Phänomene ist hinfällig.60

52 Vgl. dazu MOHR, s. v. École des Annales, 263; SCHLESIER, Ritual, 316f. 53 VERNANT, Mythes et pensée; DERS., Origines; DERS., Mythes et société; DERS., Reli-

gion grecque; DERS., Théorie générale. 54 DETIENNE, D i o n y s o s ; DERS., P r a t i q u e s ; DERS., V i o l e n t e s « e u g é n i e s » ; DERS., B e t w e e n

Beasts and Gods; DERS., Limiti. 55 VIDAL-NAQUET, Chasseur noir. 56 BERTHIAUME, Mâge iros . 57 SCHMITT PANTEL, Cité au banquet. Nicht in die Betrachtung einbezogen werden soll

hier der Gründervater der Schule und Lehrer Vernants L. Gernet (1882-1962); vgl. dazu SCHLESIER, Ritual, 319.

58 VERNANT, Religion grecque, 6-9. 59 VERNANT, Religion grecque, 20f. 60 VERNANT, Religion grecque, 10.

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1.2. Système politico-religieux 15

Aus diesem Grund ist auch die Anwendung aus der christlichen Tra-dition vertrauter Kategorien bei der Strukturanalyse der antiken Religio-nen verfehlt. Die griechische Religion kennt weder die Unterscheidung immanent/transzendent, noch heilig/profan, noch religiös/politisch.61

Es sind vielmehr die dieser Religion eigenen Kategorien und Struktu-ren herauszuarbeiten. Den zentralen Platz bei dieser Analyse nimmt in der Pariser Schule das Schlachtopfer ein.

Wenn ein Haustier beim Opfer rituell getötet, zerteilt, teils auf dem Altar für die Götter verbrannt, teils gebraten oder gekocht von den Op-fernden verzehrt wird, vollzieht sich nach Ansicht der an ihr beteiligten Forscher eine Definition der condicio humana: Der Mensch grenzt sich einerseits von den Tieren ab, die rohes Fleisch essen, indem er Fleisch kocht oder brät. Andererseits grenzt er sich von den Göttern ab, die kein Fleisch zu essen brauchen, mit denen er aber doch durch Verbren-nen von Teilen des Opfertiers kommunizieren kann.62 Der Grundmy-thos für diese Deutung ist die Erzählung von Prometheus, der als erster ein Schlachtopfer darbringt und dabei die Verteilung der verschiedenen Stücke des Opfertieres zwischen Menschen und Göttern vornimmt.63

Im Akt des Opferns wird aber nicht nur allgemein definiert, was ein Mensch ist, sondern vor allem, was ein Mensch als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft ist. Die Zahl der Essenden ist ja nicht un-begrenzt, und das Fleisch wird unter ihnen nach bestimmten Regeln verteilt, die Gleichheit oder Hierarchie zum Ausdruck bringen. Die re-ligiöse Ordnung der Opfermahlzeit spiegelt dabei die soziale und poli-tische Ordnung; religiöser und politischer Bereich sind nicht zu unter-scheiden, sondern fallen in einem système politico-religieux zusammen. Selbst schlachten und Fleisch essen können nämlich nur die männlichen Bürger.64 Zwischen ihnen herrscht teils Über- und Unterordnung, teils Gleichheit.65 Frauen, Nicht-Vollbürger und Fremde hingegen sind von der Opferfleischverteilung ausgeschlossen bzw. nur durch Vermittlung eines Vollbürgers beteiligt.66 Wer sich den religiösen Regeln der Fleisch-verteilung beim Opfer widersetzt, stellt sich an den Rand der politischen

61 VERNANT, R e l i g i o n gTecque , 11. 62 DETIENNE, Between Beasts and Gods, 217f.; SCHMITT PANTEL, S.V. Eßkultur, 152;

VERNANT, Religion grecque, 22; DERS., Théorie générale, l l f . 63 VERNANT, Religion grecque, 22f. 64 DETIENNE, Violentes «eugénies», 186: „les citoyens masculins, usagers de plein droit

du système politico-religieux intégrant l'acte sacrificiel". 65 In Sparta bekommen z.B. die Könige doppelt so große Portionen wie alle anderen

( H d t . 6 , 57 ,1 ) ; LISSARRAGUE/SCHMITT PANTEL, S p a r t i z i o n e , 213; DETIENNE, L i m i t i , 178.

66 BRUIT ZAIDMANN, Töchter, 375f; DETIENNE, Violentes «eugénies», 186; analog für Rom SCHEID, Rolle der Frauen.

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16 Kapitel 1. Religions wissenschaftliche Modelle

Gesellschaft.67 Da die Vertreter dieser Opfertheorie davon ausgehen, die Griechen hätten Fleisch ausschließlich in Form von Opfern gegessen,68

bedeutet dies, daß einerseits bestimmte politisch marginale Gruppen (z. B. alleinstehende Frauen, Metoikoi und Fremde ohne einen Bürger, der sie beschützt und vertritt) unfreiwillig Vegetarier waren, andererseits bewußte Vegetarier, z. B. Orphiker und Pythagoreer, sich gegen die Ge-sellschaft auflehnten und eine Gegenreligion mit einem Gegenmythos zum politisch-religiösen System der Polis schufen.69

1.2.2 Diskussion

Die Pariser Schule konzentriert sich auf das Schlachtopfer mit ritueller Fleischverteilung als Zentrum des système politico-religieux der antiken Polis. Sie hat dadurch die Aufmerksamkeit der Forschung auf zuvor ver-nachlässigte Bereiche der antiken Religion gelenkt und ihr wichtige neue Impulse gegeben. Denn für die traditionelle antiquarische Erforschung des antiken Opferkults schien es selbstverständlich, daß die Regelung der Fleischverteilung - abgesehen von den Vorschriften über die Teile für die Götter - nicht „wirklich" religiöse Sachverhalte betreffen kann, sondern nur materielle Interessen.70 Diese Konzentration ist allerdings zugleich eine Verengung: Aus den komplexen Ritualabfolgen der verschiedenen Arten von Opfern in der antiken Religion wird ein Element isoliert und zur Grundlage der Deutung gemacht.71

In Hinblick auf die Methode dieser Deutung stehen die Vertreter der Pariser Schule deutlich in der Tradition von Durkheim und Lévi-Strauss,72 obwohl sie deren evolutionistische Vorstellungen programma-tisch ablehnen: Sie teilen ihre Grundannahmen, daß Religion in einer Gesellschaft eine Integrationsfunktion ausübe und daß das Weltbild der betreffenden Gesellschaft sich in einer Sprache des (rituellen) Kochens

67 SCHMITT PANTEL, S. V. Eßkul tur , 152 68 LISSARRAGUE/SCHMITT PANTEL, Spartizione, 212. Dazu, daß dies falsch ist, s.u. S.

77. 69 DETIENNE, Pratiques, 10; DERS., Between Beasts and Gods, 221-228. 70 Vgl. z. B. ZIEHEN im Kommentar zu LGS II 130: Jd [seil, daß die Berechtigten in

eine Liste eingetragen werden] quod non solum religionis causa, sed etiam commodi singulorum causa actum esse consentaneum est ac vel satis aperte enuntiatur v. 86 sqq. SISÓVTU xàç (iep(8aç (sc. epularum sacrarum) àvTEqjopûvTEÇ èx toö XeuxtójiaTOc; [•••]•"

71 BENDLIN, S. V. Opfer, 1231; er weist unter anderem darauf hin, daß ein großer Teil der Opfer in der antiken Religion keine Schlachtopfer waren.

72 Das gilt auch auf der institutionellen Ebene: An der École Pratique des Hautes Études wirkten M. Mauss (1872-1950), der Neffe und Schüler Dürkheims, und Lévi-Strauss als Professoren. Vgl. dazu SCHLESIER, Ritual, 317.

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1.2. Système politico-religieux 17

ausdrücke.73 Auf ihnen aufbauend wird aus wenigen Grundmythen -Prometheus, Orpheus, Dionysos - und den mit ihnen in Verbindung gebrachten Riten durch strukturalistische Analyse ein in sich geschlos-senes, klares Weltanschauungsgebäude konstruiert. Dabei kommt es zu nicht unerheblichen Systemzwängen. Nicht ins Bild passende Quellen werden uminterpretiert, der historische Wert von Quellen wird oft igno-riert. Das trifft insbesondere auf den zentralen Prometheusmythos in seiner hesiodeischen Form zu, der die nachträglich erfundene Ätiolo-gie einer unverstandenen Opferpraxis ist und damit als Grundlage einer Deutung dieser Opferpraxis ungeeignet.74

Ebenfalls zu kritisieren ist die Annahme, mit diesem konstruierten Weltbild habe die soziale und politische Realität übereingestimmt, die antike Religion sei eine getreue Widerspiegelung der antiken Gesell-schaft. Für den Fall der Frauen hat R. Osborne nachgewiesen, daß die Quellen die Behauptung nicht stützen, sie seien prinzipiell von der Dar-bringung blutiger Opfer und vom Verzehr von Opferfleisch ausgeschlos-sen bzw. auf Vermittlung eines männlichen Vollbürgers angewiesen gewe-sen, so daß ihre kultische Stellung genau ihrer politischen entsprochen habe.75 Die „Totalisierung des Begriffs vom »Politisch-Religiösen«"76

blendet mögliche Abweichungen, durch die typische Konservativität des Kultischen hervorgerufene Ungleichzeitigkeit von religiösem und politi-schem System und die mögliche Dysfunktionalität religiöser Praktiken für die Gesellschaft aus.

Abschließend ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die neueren Ar-beiten in der Tradition der Pariser Schule77 sich trotz Beibehaltung vie-ler Grundannahmen durch Berücksichtigung umfangreicheren Quellen-materials, weniger striktes Festhalten an der strukturalistischen Metho-de78 und daher durch größere Differenziertheit auszeichnen. Dadurch kommen sie in die Nähe des im folgenden Abschnitt zu besprechenden dritten, aus der englischsprachigen Forschung stammenden Modells.

Dasselbe gilt auch für den zur Zeit wohl bekanntesten in französi-scher Tradition stehenden Erforscher der antiken Religion, J. Scheid.

73 Vgl. DREXLER, Illusion, 116f. 74 DREXLER, Illusion, 124-126. Besonders deutlich wird dies auch bei CAZANOVE, Exe-

sto, der aus Äußerungen augusteischer Antiquare über Gesetze des Königs Numa weit-reichende SchIu£folgerungen über die Stellung der Frauen in der römischen Gesellschaft und Religion zieht.

75 OSBORNE, Women. 76 SCHLESIER, Gesellschaftsvertrag, 297; dort eine von der hier vertetenen deutlich ab-

weichende, sehr positive Würdigung der Pariser Schule. 77 BERTHIAUME, Mägeiros; SCHMITT PANTEL, Cité au banquet. 78 Auch die späteren Arbeiten von Vernant und Detienne lösen sich von Lévi-Strauss'

strukturalistischer Methode; vgl. dazu SCHLESIER, Ritual, 320.

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18 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

Im Unterschied zu den bisher Genannten ist sein Forschungsgebiet die römische Religion. Er hat viele materialreiche Detailstudien vorgelegt, insbesondere zu den fratres Arvales.79 Dabei zeigt er eher geringes In-teresse an programmatischen Äußerungen und umfassenden Systema-tisierungen, wie sie bei Vernant oder Detienne gemacht werden, teilt aber weitgehend deren Grundansichten zum Verhältnis zwischen Politik und Religion in der Antike. Dies wird sowohl in Einzelstudien deut-lich80 als auch in seinem einführenden Überblickswerk „Religion et piété à Rome".81

1.3 Civic religion

1.3.1 Darstellung

Ungefähr seit den achtziger Jahren wird vor allem in der englischen und amerikanischen Forschung ein neues Modell zur Beschreibung der Eigen-art der antiken Religionen vertreten. Es handelt sich um die Deutung der antiken Kulte als civic religion oder als Polisreligion.82 Es stimmt zwar mit dem Modell „Volksreligion" in der älteren Religionssoziologie in der Grundannahme der engen Verbindung oder gar Identität von politi-schem und religiösem Bereich und in zahlreichen weiteren Einzelheiten überein, unterscheidet sich jedoch in der religionssoziologischen Gesamt-konzeption grundlegend von ihm.

Der Versuch, die Grundlinien des Konzepts „civic religion" heraus-zuarbeiten, muß sich an programmatischen Äußerungen verschiedener Autoren83 sowie methodischen Bemerkungen in Einzeluntersuchungen84

79 SCHEID, Frères Arvales; DERS., Collège; DERS., Romulus. 80 Dies gilt insbesondere für SCHEID, Délit; zur ausführlichen Auseinandersetzung mit

diesem Aufsatz s. u. S. 282-286. 81 Vgl. z. B. SCHEID, Religion et piété, 147: „Certes, il y a une administration du sacré, des

rites spécifiques, un personnel réservé, des lieux sacrés, mais nous avons vu qu'au fond la religion n'est qu'une des faces d'une même réalité qu'on peut appeler cité, république, consensus poliade; en tout cas, il est évident que le religieux est consubstantiel au politique."

82 Polisreligion bzw. polis religion wird eher für den griechischen Bereich verwendet, civic religion eher für Rom. Leider kann man civic religion nicht gut übersetzen, denn „Bürgerreligion" ist bereits als deutsches Äquivalent für civil religion - ein anderes, auf die Antike nicht anwendbares Konzept - gebräuchlich. Die beste Wiedergabe wäre darum „Stadtreligion" oder „Stadtkult". Da sich in der Forschung aber der englische Begriff eingebürgert hat, soll er auch hier unübersetzt verwendet werden.

83 BEARD/CRAWFORD, Rome; BEARD/NORTH, Introduction; GORDON, Religion; NORTH, Development; LIEU/NORTH/RAJAK, Introduction; RIVES, Roman Religion Revived; SOURVINOU-INWOOD, Polis Religion; DIES., Further Aspects.

84 NORTH , Toleration; PRICE , R i tua l s and Power; RLVES, Rel ig ion and Authori ty .

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1.3. Civic religion 19

und den inzwischen vorliegenden Gesamtdarstellungen antiker Religio-nen85 auf seiner Grundlage orientieren. Da£ es dabei nicht möglich ist, auf alle Differenzierungen und unterschiedlichen Akzentsetzungen der einzelnen Forschungsbeiträge Rücksicht zu nehmen, kann angesichts des Gewinns, den eine knappe, systematische Darstellung mit sich bringt, in Kauf genommen werden. Als die wichtigsten Charakteristika des Pro-gramms lassen sich dann die folgenden erkennen:

1. Herkömmlicherweise wird die Geschichte der antiken Religionen als Niedergang der „heidnischen" Kulte und als Triumph des Christen-tums beschrieben. Die Götterkulte erstarren in Formalismus, werden durch philosophische Kritik unglaubwürdig und zu rein politischen Zwecken vereinnahmt. Die wahren religiösen Bedürfnisse der Men-schen befriedigen neue, „östliche" Religionen, aus deren Konkurrenz-kampf schließlich das Christentum als Sieger hervorgeht.

Die Vertreter des Modells „civic religion" distanzieren sich deutlich von diesem Bild.86 Es rührt ihrer Ansicht nach daher, daß antike Re-ligionsgeschichte mit Hilfe unangemessener, nämlich christlicher Kon-zepte geschrieben wird. Sie erheben den Anspruch, einen Neuansatz zu machen und einen anderen Begriff von Religion zu verwenden, der den antiken Religionen angemessen und darum dem modernen Men-schen zutiefst fremd ist. Denn dieser ist von der jüdisch-christlichen Tradition geprägt, sei er nun selbst Jude bzw. Christ oder nicht.87

2. Dieser neue Begriff des zu untersuchenden Gegenstandes läßt sich - mit Hilfe einer in der Religionswissenschaft konventionellen Unter-scheidung88 - als Kombination einer substantiellen Definition von Re-ligion als „all those activities and ideas that deal with gods, daimons, or other supernatural beings"89 und der Zuschreibung einer sehr spe-ziellen Punktion, nämlich der Konstituierung kollektiver Identität90,

85 B E A R D / N O R T H / P R I C E , Rel ig ions of R o m e ; BRUIT ZAIDMAN/SCHMITT PANTEL, Re -ligion der Griechen; PARKER, Athenian Religion.

86 Als Ausnahmen und damit als Vorläufer des civic religion-Konzepts werden LIE-BESCHUETZ, Continuity, und WARDMAN, Religion and Statecraft, genannt.

87 BEARD/CRAWFORD, R o m e , 26-30; BEARD/NORTH, I n t r o d u c t i o n , 2.7; NORTH, De-velopment, 177; BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, xf; SOURVINOU-INWOOD, Polis Religion, 295.302.

88 KEHRER, E i n f ü h r u n g , 19-21. 89 RIVES, Religion and Authority, 15; vgl. NORTH, Development, 177: „cultic and ritual

activity, [...] orientation towards the gods". 90 PARKER, Athenian Religion, 1: „Indeed, religion's most important function [. . .] is as

a vehicle of xoivcovia, fellowship, at many different levels."; RLVES, Religion and Autho-rity, 4; SOUHVINOU-INWOOD, Polis Religion, 305: „Ritual reinforces group solidarity, and this process is of fundamental importance in establishing and perpetuating civic and cultural, as well as religious, identities."

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20 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

an die antike Religion beschreiben. Andere, dem modernen Men-schen geläufige Beschreibungen der Funktionen von Religion, wie etwa Beeinflussung der Moral der Anhänger oder Trost durch ei-ne persönliche Beziehung zwischen Gläubigem und Gottheit, werden als der antiken Religion nicht angemessen zurückgewiesen und für das verzerrte traditionelle Bild der antiken Religionsgeschichte ver-antwortlich gemacht.91

3. Zentral für das Modell „civic religion" ist nun, auf welcher Ebene die-se Integrationsfunktion angesiedelt wird. Traditionell wurde Religion auf der Ebene des Individuums - eben durch die erwähnten von ei-nem christlichen Vorverständnis geprägten Funktionszuschreibungen Erlösung, Trost, Rettung vom Tod an die „östlichen Religionen" -oder auf der Ebene der großen kulturellen Einheiten, der Völker - in dem Versuch, „das Griechische" oder „das Römische" zu ergründen - verortet. Wie der Name des Modells schon sagt, faßt civic religion hingegen antike Religion als lokale Religion auf: Die durch Religion konstituierte Identität ist in der Antike mit der bürgerlichen Identität einer Polis oder einer kleinen regionalen Gemeinschaft „isomorph"92. Die Bürger eines Gemeinwesens, d. h. in der Antike üblicherweise ei-ner Stadt, sind zugleich die religiöse „Gemeinde" der Kulte in dieser Stadt: Nur sie können bzw. dürfen an ihnen teilnehmen - Ausnah-men (Teilnahme von Frauen, Sklaven, Fremden) bestätigen, da sie als Ausnahmen deutlich gekennzeichnet sind, die Regel - und sie nehmen tatsächlich an ihnen teil, ja müssen an ihnen teilnehmen, da kein Teil ihres bürgerlichen Lebens nicht von Religion begleitet ist.93

4. Dieses Bild bliebe freilich abstrakt, würden nicht die sozialen Unter-schiede in der antiken Gesellschaft und damit die Rolle der politi-schen und religiösen Elite in die Betrachtung einbezogen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich allerdings die verschiedenen Forschungs-beiträge deutlich.

Einige betonen, daß die beschriebene Einheit religiöser und bürger-licher Identität nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis und ihre Erhaltung das Ziel politischer Aktivitäten der Elite war. Da Personen kollektive religiöse oder bürgerliche Identität nie nur passiv rezipieren, sondern sich immer umgestaltend aneignen, waren immer

91 BEARD/CRAWFORD, Rome, 26f; BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, xf; PRICE, Rituals and Power, 247.

92 RIVES, Religion and Authority, 5. 93 BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 214f: „access to religious rites was

coextensive with political rights"; SOURVINOU-INWOOD, Polis Religion, 295f.

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1.3. Civic religion 2 1

neue Integrationsanstrengungen der politischen und religiösen Elite nötig, bis hin zu Zwang im Falle zu großer Abweichungen. Man darf dies nicht - unter Anlegung moderner Wertmaßstäbe - als Übergriff der Politik in die Sphäre der Religion oder als Instrumentalisierung der Religion für rein politische Zwecke verurteilen. Politik und Reli-gion sind in der Antike zwei nicht identische Bereiche in spannungs-voller Wechselwirkung, jedoch anders einander zuzuordnen, als es uns selbstverständlich erscheint.94

Andere Forscher sehen im Zusammenfallen von religiöser und bür-gerlicher Identität eher eine „natürliche" Einheit.95 Alternativen zur oder größere Abweichungen von der civic religion, die von einer die kollektive religiöse und bürgerliche Identität bestimmenden Elite in Schach gehalten werden müßten, sind nicht vorhanden. Jede Art religiöser Aktivität, auch die oft als privat bezeichneten Kulte in Familien oder Vereinen, ist in die civic religion integriert.96

5. Aufgrund der Neubestimmung des Ausgangspunktes ergibt sich auch ein neues Bild vom religiösen Wandel in der Antike, das sich von dem eingangs beschriebenen Modell deutlich unterscheidet.

Kann man den Ausgangspunkt mit einer ökonomischen Metapher als religiöses Monopol beschreiben, so ist der Schlußpunkt ein religiöser Marktplatz.97 Doch der eigentliche Schwerpunkt des Interesses liegt nicht auf diesen - wie einige Vertreter selbst zugeben: idealisierten98

- Endpunkten, sondern auf dem Entwicklungsprozeß zwischen ih-nen, und zwar mit zwei Fragestellungen: a) Was ist das Neue an den religiösen Phänomenen der Spätantike gegenüber der klassischen An-tike? b) Was ist der „Motor", der zum Auftreten dieses Neuen führt?

(a) Während traditionell beim Versuch, das Neue an der Religion der Spätantike zu erfassen, eher auf die Inhalte der religiösen Lehren abgehoben wird - etwa die jenseitsorientierte Soteriologie - , läßt

94 BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 228; GORDON, Veil; RLVES, Reli-gion and Authority, 6-9.

95 SOURVINOU-INWOOD, Polis Religion, 301. 96 SOURVINOU-INWOOD, Polis Religion, 302.322; DIES., Further Aspects, 270-273. Vgl.

BRUIT ZAIDMAN/SCHMITT PANTEL, Religion der Griechen, 89. Ähnlich, aber vor-sichtiger BEARD/CRAWFORD, Rome, 35f.

97 LIEU/NORTH/RAJAK, Introduction, 2; NORTH, Development, 179, weist auf die Pro-blematik der Metapher hin. Unter anderem gab es selbstverständlich auch in der anfänglichen civic religion Wahlmöglichkeiten, z. B. zwischen verschiedenen Göttern; diese waren aber von ganz anderer Art als die Wahlmöglichkeiten - oder gar der Zwang zur Wahl - in der pluralistischen Endsituation.

98 NORTH, Development, 176f.

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22 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

es sich im Modell der civic religion am besten als das Auftreten religiöser Gruppen definieren, die eine religiöse Identität stiften, die von der bürgerlichen Identität deutlich abweicht: Sie haben eine eigenständige Organisation, verlangen von Mitgliedern eine Loyalität, die mit der gegenüber der Gesamtgesellschaft in Kon-flikt geraten kann, sie verlangen ein vom allgemein üblichen ab-weichendes Verhalten."

(b) Der Entwicklungsprozeß wird oft als Aufeinandertreffen der be-reits geschwächten Staatskulte und der „östlichen" Religionen be-schrieben. Die Vertreter des civic religion-Modells wollen über diese Konfrontation von Idealtypen hinauskommen: Aufgrund ei-nes Wandels in der sozialen Struktur haben sich alle beteiligten Religionen in gegenseitigem aufeinander Einwirken verändert.100

Zentral für diesen sozialen Wandel ist die Auflösung des traditio-nellen Polissystems durch die Ausbreitung zuerst der hellenisti-schen Reiche, dann vor allem des römischen Reiches. In einem solchen übergreifenden Gemeinwesen ist die Konstituierung bür-gerlicher Identität nicht so einfach zu lösen wie in einem über-schaubaren Stadtstaat. Menschen mit römischem Bürgerrecht haben eine von einer nicht römischen Stadt geprägte Identität, sie haben - wie Cicero sagt - „zwei Heimaten"101. Dieser Wan-del betrifft auch die Religion: Religiöse und bürgerliche Identität stimmen nicht mehr automatisch - oder jedenfalls mit einem ge-ringen Aufwand an Kontrolle - überein.102 Zwar versucht in man-chen Fällen die römische Elite, der civic religion konkurrierende religiöse Modelle durch Integration mit Hilfe von Romanisierung oder durch Unterdrückung auszuschalten, doch letztendlich wird der Rahmen der civic religion gesprengt.103

1.3.2 Diskussion

Das Konzept der civic religion hat große Beachtung gefunden;104 es wur-de sogar schon ironisch als „new orthodoxy" bezeichnet.105 Es wurde 99 NORTH, Development, 184; den Bacchanalienskandal als ein frühes Beispiel für das

Auftreten einer solchen Gruppe und die entsprechende Reaktion der politischen Elite beschreibt NORTH, Toleration. S. dazu u. Abschn. 5.2.3.2.

100 NORTH, Development, 180. 101 Cic. leg. 2,2,5. S. dazu u. Abschn. 6.1. 102 RIVES, Religion and Authority, 9-11. 103 GORDON, R e l i g i o n , 240 -245 . 104 WOOLF, Polis-Religion, 82f. 105 Vgl. BENDLIN, Civic Compromise, 115.

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1.3. Civic religion 23

aber auch Kritik laut, und zwar sowohl an Einzelheiten der Durchfüh-rung des Modells als auch an seinen theoretischen Grundlagen.

Diese muß ihren Ausgangspunkt wie bei den anderen beiden Model-len bei einer forschungsgeschichtlichen Einordnung des Modells nehmen. Dabei ist leicht zu erkennen, gegen welche Forschungstradition sich seine Vertreter abgrenzen: Es ist die von der romantischen Religionsphiloso-phie beeinflußte Religionswissenschaft, zu deren Anhängern Wach und Mensching gehören. Ihr von Schleiermacher herkommender Religionsbe-griff, der im Laufe der Forschungsgeschichte ganz auf ein rein innerliches, privates, irrationales, nicht kommunikables Erlebnis zugespitzt wurde,106

ist es, den sie emphatisch ablehnen und für die falsche Interpretation der antiken Religion verantwortlich machen.107

Auf welche Tradition aber ist das Modell positiv bezogen? Auffäl-ligerweise machen die Vertreter darüber kaum Aussagen. Sie erheben vielmehr den Anspruch eines völligen Neuansatzes, der die Eintragung moderner Vorstellungen vermeide und eine Beschreibung der antiken Religion mit den ihr eigenen Kategorien ermögliche. Gegenüber die-sem Anspruch ist freilich Skepsis angebracht. Die Vorstellung, Religion diene der Integration der Gesellschaft, indem durch kollektive rituelle Handlungen eine Gruppenidentität erzeugt werde, steht deutlich in der Tradition Durkheimscher Religionssoziologie, was zuweilen auch zugege-ben wird.108

Allerdings wollen die Vertreter nicht die Durkheimsche Theorie als ganze übernehmen. Beliebt ist vielmehr der pragmatische Gestus des Verzichts auf übergreifende Theorien zugunsten eines wesentlich weni-ger anspruchsvollen frame of reference speziell für den zu untersuchen-den Gegenstand. Nur für die antike, griechisch-römische Religion wird behauptet, daß sie ausschließlich die Funktion habe, eine kollektive Iden-tität zu erzeugen. Für die moderne, jüdisch-christliche Religiosität wird die Anwendbarkeit von Kategorien wie Glaube, Moral oder Trost nicht bestritten.

Ein solches Vorgehen scheint zunächst völlig unproblematisch: Funk-tionen, die in der jüdisch-christlichen Tradition eng mit Religion ver-knüpft sind, werden in der Antike tatsächlich vor allem von anderen Subsystemen der Gesellschaft wahrgenommen.109 Antike Religion des-wegen abzuwerten oder diese anderen Subsysteme als „eigentliche" Reli-gion der Antike zu betrachten, führt zu einer verzerrten Wahrnehmung

106 S. dazu o. S. 11. 107 BENDLIN, Civic Compromise, 120-122; DERS., s.v. Religion, 890f. 108 Z. B. bei SOURVINOU-INWOOD, Polis religion, 305. Vgl. dazu auch BENDLIN, Civic

Compromise, 128. Zu Dürkheim vgl. DREHSEN, Zusammenhalt, 58-69. 109 CANCIK, S. v. Antike, 541.

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24 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

des Gegenstandes. Dieses Vorgehen ist auch einer rein funktionalen Be-trachtungsweise überlegen. Denn diese tendiert dazu, jede Kontinuität der Religion durch die Geschichte hindurch - die ja im civic religion-Modell durch die substantielle Definition gesichert ist - aus dem Blick zu verlieren und so ihren Untersuchungsgegenstand in eine Ansammlung unzähliger, völlig disparater Gegenstände aufzulösen.110

Das Modell civic religion geht allerdings über diese unproblematische und sinnvolle Feststellung, daß sich die Funktion von Religion im Laufe der Geschichte verändern kann, weit hinaus. Es behauptet, die Funktion antiker Religion und die Funktion jüdisch-christlich geprägter Religion seien völlig unterschiedlich. Die Anwendbarkeit von religiösen Katego-rien, die dem jüdisch-christlich geprägten Menschen auch nur irgendwie naheliegen, auf die Antike wird gänzlich negiert.

Doch allein schon der Quellenbefund stimmt skeptisch gegenüber der Behauptung, antike Religion sei nichts anderes als Partizipation an kol-lektiven rituellen Handlungen. Daß die Themen Krankheit und Hei-lung, Rettung aus Gefahr oder Sicherung persönlichen Wohlstandes, die man kaum unter die Funktion der Konstituierung kollektiver Identität oder Integration der Gesellschaft subsumieren kann, in der Antike kul-tisch verarbeitet wurden, scheint nicht nur aus der Eintragung jüdisch-christlicher Erwartungshaltungen zu resultieren.111

Schwerer wiegt aber das prinzipielle Problem, das durch die Uberbe-tonung der Andersartigkeit antiker und moderner Religion aufgeworfen wird: Wenn es tatsächlich so wäre, daß man antike Religion ganz mit dem Durkheimschen Modell beschreiben könnte, moderne aber mit dem Schleiermacherschen, dann führte dies letztlich zu der unsinnigen Vor-stellung, antike und moderne Menschen seien nicht nur kulturell, son-dern in ihrer psychischen Grundausstattung verschieden; antike Men-schen seien zu individuellen religiösen Erfahrungen, wie sie moderne Menschen haben können, nicht fähig gewesen.112 Hier zeigt sich, daß ein Verzicht auf übergreifende Theorien mit anthropologischen Implikatio-nen, die letztlich aufgrund des selbst Erlebten einleuchten, in Wirklich-keit nicht möglich ist, sondern nur ein Verzicht auf ausreichende Refle-xion solcher anthropologischen Voraussetzungen - mit entsprechenden Folgen für die Konsistenz des Modells.

Solche prinzipielle Kritik spielte indes in der bisherigen Diskussion über das Modell eine eher untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stand vielmehr die Kritik an einzelnen Punkten des Modells, wobei ihm insge-

110 Eine solche Auflösung wird manchmal allerdings auch angestrebt; vgl. z.B. die Äuße-rungen von VERNANT, Religion grecque, 10; s. o. S. 14.

111 GOULD, On Making Sense; RÖPKE, Religion der Römer, 26f. 112 BENDLIN, Civic Compromise, 122.

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1.3. Civic religion 25

samt zugestanden wird, daß es Fehler früherer Theoriebildung vermeidet und viele religiöse Phänomene der Antike zutreffend zu beschreiben er-laubt. Breite Zustimmung fand vor allem das Konzept, antike Religion als lokale Religion aufzufassen: Sie ist immer die Religion in einer Polis oder einer bestimmten Region.113 Übergreifende, insbesondere ethni-sche Kategorien dürfen nie als Spiegelung von Realität, sondern immer nur als fiktive Elemente des Selbstbildes der lokalen Gruppen angesehen werden.114 Die Kritik konzentriert sich darauf, daß die lokale Einheit vor allem oder gar ausschließlich als homogene politische Einheit verstanden wird: Antike Religion ist nicht nur Religion in einer Polis, sondern die Religion dieser Polis.

Dies wird vor allem daran deutlich, daß das Modell einen großen Bereich der antiken Religion, die nicht öffentlichen Kulte, aus der Be-trachtung ausblendet. Dies ist die am häufigsten gegen das civic religion-Modell vorgebrachte Kritik.115 Familienkult, Orakel und andere Formen der Divination, Mythos und Magie werden entweder nicht beachtet oder als Teil des Poliskults vereinnahmt oder als Abweichungen thematisiert. Gerade letzeres, die Beschreibung zahlreicher religiöser Phänomene der Antike als „superstitio", d.h. nur als das Gegenüber, von dem sich die offizielle „religio" abgrenzt, weist auf ein zentrales Problem des Ansat-zes hin: Civic religion ist nicht ein objektives Merkmal antiker Religion, sondern die Art, in der bestimmte Menschen der Antike, nämlich die so-ziale Elite, Religion sehen wollten.116 Die Rolle dieser Elite, die man sich wiederum in sich nicht zu einheitlich vorstellen darf und deren religions-politisches Agieren mit der Abgrenzung der religio von der superstitio zu einfach beschrieben ist, da ein breiter, vielleicht der für das Erleben von Religion entscheidende Bereich außer Betracht bleibt, wird nur in einigen Beiträgen, die das civic religion-Modell vertreten, reflektiert.

Kritik wurde auch an dem Bild der religionsgeschichtlichen Entwick-lung in der Antike geübt. Was die stark idealisierte Beschreibung des Ausgangszustandes angeht, so ist zu überlegen, ob sie in dieser Ab-straktion nicht die Projektion einer Gegenmoderne in die frühe Antike ist.117 Oft werden Unterscheidungen, die aus dem christlich geprägten Vorverständnis von Religion entspringen, wie Religion/Politik, Religiö-

113 RÖPKE, Grofcstadtreligion, 13f. 114 Vgl. vor allem RIVES, Roman Religion Revived, 352f. Man mut das von ihm gezeich-

nete Bild allerdings dahingehend korrigieren, da£ bereits Religionswissenschaftler wie Wach auf die Fiktionalität gemeinsamer Abstammung hingewiesen haben.

115 BENDLIN, Peripheral Centres, 47; ROPKE, Großstadtrel igion 18f; WOOLF, Polis-Religion, 76f. Die Entgegnung von SCHEID, Aspects religieux, 385-387, auf diese Kritik bleibt blaß.

116 WOOLF, Polis-Religion, 72. 117 CANCIK, S.V. Antike, 541.

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26 Kapitel 1. Religionswissenschaftliche Modelle

ses/Profanes, Öffentliches/Privates, für die Antike einfach nur negiert. Aber schon daß die Begriffe, mit denen diese Unterschiede benannt wer-den, aus der Antike stammen, sollte vorsichtig machen: Es ist ein zu einfaches Bild, daß alles in der Antike religiös gewesen sei oder daß Re-ligion und Politik völlig identisch gewesen seien. Die Unterscheidungsli-nien verliefen anders als in der christlichen oder modernen Gesellschaft, aber sie waren durchaus existent.118 Das Bild einer einfachen, in sich geschlossenen Gesellschaft der Antike greift darum zu kurz. Die Anti-ke, insbesondere die hellenistische und römische Zeit, war geprägt von Urbanisierung und Mobilität. Es gab durchaus Möglichkeiten der reli-giösen Wahl und auch Devianz - auch wenn ein stärkerer sozialer Druck als in der modernen Gesellschaft ihr Ausleben oft unterdrückte.119

Auch der Entwicklungsprozeß selbst scheint nicht zureichend be-schrieben zu sein: Die Vorgänge bei der Ausweitung des römischen Reichs, die zum Zusammentreffen der lokalen Religionen mit der (an-geblichen) Erwartung einer Absicherung römischer Identität durch eine römische Reichsreligion führen, können mit dem einfachen Modell „Ro-manisierung/Widerstand" nicht erfaßt werden.120

1.4 Ergebnisse

Die drei vorgestellten Modelle, mit denen versucht wurde, den Zusam-menhang von politischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit in der Antike zu erfassen, stehen in unterschiedlichen Forschungstraditionen und unterscheiden sich darum grundsätzlich in ihrer Herangehensweise an die Fragestellung.

Mensching und Wach sind Erben der romantischen Religionsphiloso-phie und Theologie Herders, Schleiermaches und Hegels in ihrer von R. Otto und F. Heiler zugespitzten Form: Religion wird als Ausdruck ei-nes irrationalen, nicht erklärbaren, sondern nur verstehend nachvollzieh-baren Erlebnisses aufgefaßt. Ausgehend von dieser Wesensbestimmung werden übergreifende Typologien und Entwicklungsschemata entworfen.

Die beiden folgenden Modelle hingegen stehen in der Tradition E. Dürkheims und damit letztlich der aufklärerisch-religionskritischen, evo-lutionistischen Forschung, etwa von A. Comte (1798-1857) und J. Fra-zer (1854-1941). Scharfe Abgrenzung von Theologie und Religionsphi-losophie statt enger Zusammenarbeit mit fließenden Grenzen bestimmt

118 RÜPKE, Religion der Römer, 13-15. 119 RÜPKE, Großstadtre l ig ion, 13. 120 BENDLIN, Peripheral Centres, 47f.

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1.4. Ergebnisse 27

die methodologischen Grundentscheidungen. Äußerste Zurückhaltung gegenüber umfassenden Theorien herrscht besonders im civic religion-Modell. Etwas weniger ist dies in der Pariser Schule der Fall, die auf-grund ihres Strukturalismus eher zu übergreifenden systematischen -auch religionsvergleichenden - Aussagen tendiert.

Die unterschiedliche Forschungstradition erklärt die grundlegende konzeptionelle Differenz: Mensching und Wach verstehen Religion vom Individuum her.121 Sie ist ein selbständiges Phänomen im menschlichen Leben und bildet ein eigenes Subsystem in der Gesellschaft aus. Religi-on und Volk sind also nie identisch, sondern die Grenzen der religiösen Gemeinschaft können mit denen der politischen und ethnischen Gemein-schaft zusammenfallen und tun dies auch in vielen Fällen. Religiöse und politische oder ethnische Identität sind zunächst - im logischen, nicht im chronologischen Sinne - unterschieden, auch wenn sie in der Früh-zeit zusammenfielen und ihre Unterschiedenheit erst später geschichtlich zum Ausdruck kam.

Dieser Ansatz wird in den beiden anderen Modellen als christia-nisierendes Vorurteil abgelehnt. Religion wird im Gefolge Dürkheims vielmehr über ihre Funktion für die Gesellschaft bestimmt, nämlich In-tegration, Stiftung einer kollektiven Identität durch gemeinsame Über-zeugungen und gemeinsame ritualisierte Handlungen. Im Extremfall der „Totalisierung des Begriffs vom »Politisch-Religiösen«" führt dies zur Be-hauptung der völligen Identität von Religion mit Politik und Sozialem. Die Frage nach der eventuellen Differenz politischer, ethnischer und re-ligiöser Zugehörigkeit ist dann letztlich überhaupt nicht mehr sinnvoll zu stellen.122

Blickt man auf die dargelegten grundlegenden methodologischen Dif-ferenzen zwischen den drei vorgestellten Modellen, so ist es verwunder-lich, daß dennoch die konkrete Beschreibung der antiken Religion in ih-rem Verhältnis zur politischen und ethnischen Zugehörigkeit nicht weit voneinander abweicht. Die Ausführungen J. Wachs über den Stadtkult könnten bis auf wenige Formulierungen von einem Vertreter des civic religion-Modells stammen: Jede Stadt habe ihr eigenes lokales Panthe-on, eigene Tempel, eigene Priester, die von Magistraten kaum zu un-terscheiden seien. Zugang zum Stadtkult hätten nur Bürger, Fremde

121 Damit stehen sie nicht nur in der Tradition der romantischen Religionsphilosophie, sondern auch M. Webers, der, wie bereits dargelegt, großen Einfluß auf Wach ausübte. Allerdings geht es Weber um die Sinnstiftungs- und Motivationsfunktion der Religion für den Einzelnen, nicht um das individuelle Erlebnis des Heiligen; vgl. DREHSEN, Rationalis ierung, 108-111.

122 Vgl. die entsprechende Forderung der Kritiker des civic religion-Modells „to redifferen-tiate religion from other areas of society"; BENDLIN, Civic Compromise, 125.

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nicht oder nur mit einem Bürger als Vermittler. Zentral sei, daß der gemeinsame Kult die Bürger „nach außen ab- und nach innen zusam-menschließt"123. Die Warnung Wachs, man dürfe sich die Bürgerschaft allerdings nicht zu einheitlich vorstellen, sondern nochmals in sich nach Vierteln und nach Schichten unterschieden und oft auch im Konflikt, ist sogar differenzierter als manche Äußerung in moderneren Forschungs-beiträgen.

Auffällig ist nun, daß die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte anti-quarisch-philologische Forschung ein etwas anderes Bild zeichnet. Zwar behauptet auch sie - in der Nachfolge von Fustel de Coulanges - für die Frühzeit ein Zusammenfallen religiöser, ethnischer und politischer Zugehörigkeit. Aber für die Zeit, für die Quellen vorhanden sind, die in dieser Forschungsrichtung zumeist genau aufgelistet und philologisch un-tersucht werden, herrscht zumindest bei einigen der Forscher gegenüber solchen Annahmen große Skepsis. So warnt L. Ziehen davor, generell die Beschränkung der Teilnahme an Stadtkulten auf Bürger der betref-fenden Stadt anzunehmen. Die Quellenlage spreche eher dafür, daß in verschiedenen Heiligtümern sehr unterschiedliche Regelungen getroffen worden seien.124

Hier bestätigt sich, was in der Einleitung anhand des Textbeispieles vom Beginn des Romans „Leukippe und Kleitophon" bereits angedeu-tet wurde: Neben der methodologischen, prinzipiellen Diskussion ist der wichtigste Weg zur Überprüfung der vorgestellten Modelle ihre Konfron-tation mit den Quellen.

123 W A C H , S. V. S t a d t k u l t , 745 . 124 ZIEHEN, Bedeutung, 403.

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