bürgerrecht und kultteilnahme (politische und kultische rechte und pflichten in griechischen...

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Kapitel 3 Methodische Vorüberlegungen 3.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes Die Behauptung, in der Antike sei Bürger einer Stadt bzw. Angehöriger eines Volkes gewesen, wer die Religion dieser Stadt oder dieses Volkes ge- habt habe, soll an den Quellen überprüft werden. Eine wiederkehrende Erkenntnis bei der Darstellung und Diskussion religionswissenschaftli- cher Modelle und theologischer Fragestellungen war, daß Begriffe und Konzepte verwendet werden, deren genauer Gehalt und deren Herkunft unklar bleiben: sei dies nun die ebenso pathosgeladene wie schwammi- ge Vorstellung vom Volk als Schicksalsgemeinschaft, die Rede von der Konsubstantialität des Politischen und des Religiösen, die eine kritische Überprüfung von vornherein verunmöglicht, oder die Idee kollektiver Identitätsstiftung durch Rituale. Um hinter solche Konzepte und über sie hinaus zu gelangen, soll - wie bereits angedeutet 1 - eine Anregung aus der religionswissenschaftli- chen Forschung aufgenommen werden: Es soll nach dem religiösen All- tag, nach der kultischen Praxis gefragt werden. Wer hat was wann wo und wie gemacht? Dies ist eine schlichte, jedoch aufgrund der Quel- lenlage durchaus nicht einfach zu beantwortende Frage. Ihr die größte Aufmerksamkeit zu schenken ist die partícula veri der antiquarischen Herangehensweise an die antike Religion. Sie nicht naiv, sondern in Auseinandersetzung mit Modellen und Theorien zu bearbeiten, ist al- lerdings die notwendige Korrektur dieser Herangehensweise. Was bedeutet also die eingangs genannte Behauptung auf der Ebe- ne der kultischen Praxis? Hinter den in den verschiedenen vorgestell- ten Forschungsansätzen verwendeten Formulierungen - „intensiver Ab- solutheitsanspruch", „Definieren einer kollektiven Identität", „bounda- ry/identity markers" - lassen sich zwei Aspekte erkennen: i S.o. S. 42. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:18 PM

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Page 1: Bürgerrecht und Kultteilnahme (Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum) || Kapitel 3. Methodische Vorüberlegungen

Kapitel 3

Methodische Vorüberlegungen

3.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes

Die Behauptung, in der Antike sei Bürger einer Stadt bzw. Angehöriger eines Volkes gewesen, wer die Religion dieser Stadt oder dieses Volkes ge-habt habe, soll an den Quellen überprüft werden. Eine wiederkehrende Erkenntnis bei der Darstellung und Diskussion religionswissenschaftli-cher Modelle und theologischer Fragestellungen war, daß Begriffe und Konzepte verwendet werden, deren genauer Gehalt und deren Herkunft unklar bleiben: sei dies nun die ebenso pathosgeladene wie schwammi-ge Vorstellung vom Volk als Schicksalsgemeinschaft, die Rede von der Konsubstantialität des Politischen und des Religiösen, die eine kritische Überprüfung von vornherein verunmöglicht, oder die Idee kollektiver Identitätsstiftung durch Rituale.

Um hinter solche Konzepte und über sie hinaus zu gelangen, soll -wie bereits angedeutet1 - eine Anregung aus der religionswissenschaftli-chen Forschung aufgenommen werden: Es soll nach dem religiösen All-tag, nach der kultischen Praxis gefragt werden. Wer hat was wann wo und wie gemacht? Dies ist eine schlichte, jedoch aufgrund der Quel-lenlage durchaus nicht einfach zu beantwortende Frage. Ihr die größte Aufmerksamkeit zu schenken ist die partícula veri der antiquarischen Herangehensweise an die antike Religion. Sie nicht naiv, sondern in Auseinandersetzung mit Modellen und Theorien zu bearbeiten, ist al-lerdings die notwendige Korrektur dieser Herangehensweise.

Was bedeutet also die eingangs genannte Behauptung auf der Ebe-ne der kultischen Praxis? Hinter den in den verschiedenen vorgestell-ten Forschungsansätzen verwendeten Formulierungen - „intensiver Ab-solutheitsanspruch", „Definieren einer kollektiven Identität", „bounda-ry/identity markers" - lassen sich zwei Aspekte erkennen:

i S.o. S. 42.

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44 Kapitel 3. Methodische Vorüberlegungen

1. Die offiziellen, in einer politischen bzw. ethnischen Gemeinschaft üb-lichen Kultakte sind nur für Mitglieder dieser Gemeinschaft zugäng-lich. Nur sie dürfen teilnehmen bzw. die Kultakte ausüben; ande-re sind ausgeschlossen oder nur als passive Zuschauer zugelassen. Bürgerrecht bzw. Volkszugehörigkeit ist notwendige Bedingung für Kultteilnahme. Dieser Aspekt soll im folgenden als Exklusivität be-zeichnet werden.

2. Für Mitglieder einer politischen bzw. ethnischen Gemeinschaft ist die Teilnahme an oder die Ausübung von den in dieser Gemeinschaft üb-lichen Kultakten verpflichtend und alternativlos. Bürgerrecht bzw. Volkszugehörigkeit ist sozusagen hinreichende Bedingung für Kult-teilnahme. Dieser Aspekt soll im folgenden mit dem Begriff Kom-pulsivität bezeichnet werden.

Es soll also untersucht werden, ob antike Religionen exklusiv waren (Ka-pitel 4) und ob sie kompulsiv waren (Kapitel 5). Dabei werden jeweils noch feinere Untergliederungen dessen, was Zulassung zu oder Teilnah-me an einem Kultakt bedeuten, notwendig werden.

Abschließend wird darauf eingegangen, wie die Kultpraxis in anti-ken Modellen und Theorien aufgenommen und reflektiert wurde. Dies umfassend zu tun ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Es sollen zwei Entwürfe antiker politischer Theorie exemplarisch und gewisserma-ßen als Ausblick behandelt werden, in denen auf besonders interessante Weise über die Beziehungen zwischen Bürgerrecht und Kultteilnahme nachgedacht wird: ein Text aus Ciceros De legibus und mehrere Ab-schnitte aus dem Werk Philons von Alexandreia (Kapitel 6).

3.2 Geographische Eingrenzung

Die Theologie hat einen besonderen Interessenschwerpunkt, wenn sie nach dem Zusammenhang von religiöser, politischer und ethnischer Zu-gehörigkeit in der Antike fragt: die Entstehung des Christentums aus dem antiken Judentum. Dieses Interesse leitet die geographische Ein-grenzung des Themas, d. h. die Auswahl der zu untersuchenden Religio-nen.

Im Mittelpunkt stehen folglich die politischen Gebilde und ihre Kul-te, mit denen der Teil des antiken Judentums, aus dem das Christentum entstand, direkten, maßgeblichen Kontakt hatte: die griechischen Po-leis, die hellenistischen Reiche und das römische Reich; das bedeutet: die griechische Religion - die Kulte in den Poleis, in denen die Juden

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3.3. Zeitliche Eingrenzung 45

wohnten, in gewisser Weise auch die Kulte der hellenistischen Reiche, deren Untertanen sie waren - und die römische Religion - die Kulte in der Stadt Rom, mit denen die Juden als Einwohner dieser Stadt oder auch auf andere Weise, etwa Begegnung mit Römern außerhalb Roms, in Berührung kamen. Nicht berücksichtigt werden können z. B. die Kul-te der westlichen und nördlichen Provinzen des römischen Reiches oder die Religionen, mit denen Angehörige der babylonischen Diaspora kon-frontiert waren.

Vor allem aber ist das antike Judentum selbst auf seine Exklusivität und Kompulsivität zu untersuchen, insbesondere das Diasporajuden-tum. Denn gerade dieses ist der Testfall und das Paradebeispiel2 für die behauptete Koppelung von politischer, ethnischer und religiöser Zuge-hörigkeit in der Antike.

3.3 Zeitliche Eingrenzung

3.3.1 Hellenismus als zeitlicher Rahmen

Daraus, daß der besondere Interessenschwerpunkt einer Untersuchung des Zusammenhangs von Bürgerrecht und Kultteilnahme im Rahmen der Theologie auf den Entstehungsbedingungen des Christentums liegt, ergibt sich auch die zeitliche Eingrenzung des Themas. Den Zusammen-hang in der griechischen und römischen Religion und im Judentum je-weils von den Anfängen bis zum Ende der Antike nachzuvollziehen wäre zwar ein reizvolles Unterfangen, ist aber angesichts der Zielsetzung die-ser Arbeit nicht sinnvoll und auch nicht möglich. Die Untersuchung hat sich vielmehr auf die Epoche zu konzentrieren, in der die drei genannten Religionen und die betreffenden politischen Gebilde in direktem Kon-takt zueinander standen - eben in jenem spannungsvollen Miteinander, aus dem das Christentum hervorging.

Damit ergibt sich als zeitlicher Rahmen der Hellenismus, d.h. die Zeit von Alexander dem Großen bis zum Ende des letzten hellenistischen Großreiches in der Schlacht bei Actium 31 v. Chr. bzw. bei der Einnahme Alexandreias 30 v. Chr.3

2 S.O. S. 30. 3 GEHRKE, Geschichte, 3. Die Debatte, ob Alexander selbst einzubeziehen ist, so daß

der Hellenismus mit seinem Herrschaftsantritt 336 v. Chr. beginnt, oder ob sein Tod 323 v. Chr. die Epochengrenze bildet, kann für die Zwecke dieser Untersuchung un-berücksichtigt bleiben. Vgl. dazu EDER, S. V. Hellenismus, 313; GEHRKE, Geschichte, 131; TIMPE, S.V. Hellenismus, 1609; zum Hellenismus als einer eigenen Epoche der Religionsgeschichte vgl. NILSSON, Geschichte, Bd. 2, 1-3.

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46 Kapitel 3. Methodische Vorüberlegungen

Dagegen könnte man den Einwand erheben, es werde nur eine „Ver-fallszeit" betrachtet, nicht die jeweils „klassische" Epoche. Insbesondere sei der Hellenismus die Epoche, in der der zu untersuchende Zusam-menhang von Bürgerrecht und Kultteilnahme angesichts von Kosmo-politismus und Synkretismus bereits in Auflösung begriffen sei. Dies ist entschieden zurückzuweisen: Der Hellenismus war eine Epoche der Kontinuität zum Vorangehenden. In Griechenland und Rom blieben die alten Kulte bestehen, vielfach erwachte sogar ein neues, verstärktes In-teresse an ihnen.4 Ein Dekadenzmodell,5 das von einem Niedergang der traditionellen Religion ausgeht, ist verfehlt.6 Entsprechendes gilt für das hellenistische Judentum, gegenüber dem hergebrachte Wertungen wie Erstarrung oder Vergesetzlichung einerseits und Synkretismus oder Verfall andererseits obsolet sind.

3.3.2 Notwendige Ausweitungen des zeitlichen Rahmens

Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes auf die Epoche des Hel-lenismus darf nicht zum starren Schema werden. Quellen, die aus der Zeit vor 336 v. Chr. oder nach 31 v. Chr. stammen, mechanisch auszu-sortieren wäre kaum ein sinnvolles Vorgehen. Vielmehr ist in drei Fällen eine Ausweitung des Untersuchungszeitraumes notwendig.

70 n. Chr. als Epochengrenze für das Judentum. Wie jede Epochenein-teilung so hat auch die Abgrenzung des Hellenismus als Zeit von Alexan-der bis Actium problematische Aspekte. Die Unterwerfung des letzten hellenistischen Großreiches ist zwar für die politische Geschichte der an-tiken Welt insgesamt ein Epocheneinschnitt. Für einzelne Regionen des östlichen Mittelmeerraumes hatte sich jedoch der Wechsel von der Herr-schaft eines der hellenistischen Könige zur römischen Herrschaft schon beträchtliche Zeit früher ereignet.

Besonders deutlich ist dies im Falle des antiken Judentums. Die Schlacht von Actium 31 v. Chr. hat für dieses keine derartige Bedeu-tung, daß von einer Epochenschwelle zu reden sinnvoll wäre. Nur die ägyptische Diaspora war direkt betroffen. Für das übrige Diasporaju-dentum waren andere Ereignisse einschneidender. Im Falle der Juden in Palästina ist eher von einem langsamen Prozeß des Ubergangs von hellenistischer zu römischer Herrschaft auszugehen: Das Ende des Seleu-

4 GEHRKE, Geschichte, 75; NILSSON, Geschichte, Bd. 2, 51f. 5 Vgl. z.B. TARN/GRIFFITH, Hellenistic Civilisation, 336f. 6 BENDLIN, S. V. Hellenistische Religionen, 1616.

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3.3. Zeitliche Eingrenzung 47

kidenreiches 63 v. Chr. änderte zunächst kaum etwas an der Herrschaft der Hasmonäer. Mit Herodes I. wurde 37 v. Chr. immerhin ein römischer Klientelkönig Herrscher über die Juden Palästinas. Ihr Ende fand die Entwicklung aber erst mit dem Tode Agrippas I. im Jahre 43/44 n. Chr., als ganz Palästina römische Provinz wurde.7

Ein wirklich einschneidendes Ereignis für das gesamte antike Juden-tum war die Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. Wie bei allen Epochengrenzen dürfen auch hier Kontinuitäten nicht übersehen werden: Züge des späteren Judentums sind schon vor 70 n.Chr. angelegt; Charakteristika des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels überdauerten dessen Zerstörung, die Entwicklung und Ausbrei-tung des rabbinischen Judentums dauerte geraume Zeit. Dennoch ist 70 n. Chr. ein hinreichend bedeutsames, prägnantes und symbolträchtiges Datum, um als Epochengrenze für das antike Judentum zu dienen und in seinem Falle eine Ausweitung des Untersuchungszeitraumes um 100 Jahre zu rechtfertigen.

Nachvollzug von Entwicklungslinien. In Hinblick auf einige zu untersu-chende Themen ist über einen längeren Zeitraum eine größere Menge an Quellen vorhanden. Dies eröffnet die in der Erforschung der antiken Re-ligionen leider seltene Möglichkeit, Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Es wäre unsinnig, unter Berufung auf die zeitliche Eingrenzung der Un-tersuchung auf den Hellenismus darauf zu verzichten. Insbesondere im Falle der besonders gut belegten athenischen Kulte und des Judentums werden darum auch Quellen der vorhellenistischen, d. h. klassischen bzw. persischen Zeit herangezogen. Gerade beim Judentum ist evident, daß viele sakralrechtliche Diskussionen der hellenistischen Zeit ohne einen Blick auf ihre Vorgeschichte nicht verständlich sind. Denn Texte, die in der Perserzeit entstanden oder doch ihre endgültige Gestalt erhielten, hatten kanonische Geltung und bildeten daher die Grundlage dieser Dis-kussionen.

Es ist allerdings darauf zu achten, daß diese besonders gut belegten und nachzuvollziehenden Fälle nicht der Ausgangspunkt für verallge-meinernde Schlüsse sein dürfen. Antike Religion ist immer zuerst lokale Religion; darauf weist das Modell der civic religion zu Recht hin.8 Auch im antiken Judentum herrschte eine große Vielfalt: Neben lokalen Dif-ferenzen stehen hier vor allem die Unterschiede zwischen verschiedenen Strömungen.

7 Prägnante Nachzeichnung dieses Prozesses bei SCHWARTZ, S. V. Herodes, 1677. 8 S.O. S. 25.

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48 Kapitel 3. Methodische Vorüberlegungen

Ergänzung bei mangelhafter Quellenlage. Auch die gerade entgegenge-setzte Situation kann es sinnvoll erscheinen lassen, Quellen heranzuzie-hen, die vor oder nach der Zeit des Hellenismus zu datieren sind. Denn zu einigen Fragestellungen gibt es in der ganzen griechisch-römischen und jüdischen Antike nur eine sehr kleine Zahl belegter Fälle. Dort würde eine strikte Anwendung der zeitlichen Begrenzung dazu führen, daß kein Quellenmaterial oder nur so wenig vorhanden wäre, daß aus seiner Untersuchung keinerlei Schlüsse gezogen werden könnten.

3.4 Die Quellen

Aus der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes ergibt sich die Auswahl der Quellen. Das Hauptaugenmerk soll zunächst nicht auf theologischen Theorien oder politischen Konzeptionen der Antike liegen, sondern auf der im Alltag praktizierten Religion. Erst im dritten und letzten Kapitel der Quellenuntersuchungen soll anhand von Texten Cice-ros und Philons exemplarisch gefragt werden, wie diese religiöse Praxis in der theoretischen Reflexion der Antike wahrgenommen und verarbei-tet wurde. Daraus folgt, daß von diesen Texten abgesehen, theologische oder philosophische Schriften als solche nicht die Quellenbasis der Un-tersuchung darstellen. Schwieriger als diese negative Bestimmung ist die positive Bestimmung des zu betrachtenden Quellenmaterials: Aufschluß über die praktizierte Religion der Antike gibt nämlich eine große Zahl verstreuter und verschiedenartiger Quellen.

Eine erste wichtige Gruppe sind sakralrechtliche Texte. Für die grie-chische und römische Religion sind dies die oft inschriftlich überlieferten Leges sacrae.9 „Leges Sacrae" bzw. „Sakralrecht" sind allerdings Kate-gorien der modernen Forschung, keine antiken Begriffe. Mit ihnen wird eine Gruppe von Texten beschrieben, die einerseits nicht klar nach außen abgrenzbar, andererseits in sich disparat ist. Es gibt kein klares Krite-rium, um Texte des Sakralrechts von Rechtstexten im allgemeinen zu unterscheiden - etwa eine besondere Sprache, spezifische Formeln oder die Tatsache, daß sie von einer anderen Autorität erlassen sind.10

9 Insbesondere für Griechenland leicht zugänglich in den Sammlungen Leges Graecorum sacrae von J. v. Prott und L. Ziehen sowie - neuer, mit vielen zusätzlichen Texten, aber auch mit sehr viel knapperem Kommentar - Lois sacrées de l'Asie mineure und Lois sacrées des cités grecques (mit Supplement) von F. Sokolowski. Aus dem römischen Bereich sind sehr viel weniger derartige Texte überliefert.

10 Vgl. RÜPKE, S. v. Sakralrecht.

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3.4. Die Quellen 49

Untereinander sind die Texte sehr verschieden.11 Es handelt sich um kultische oder administrative Ordnungen für Heiligtümer, die am Eingang sozusagen als „Gebrauchsanweisung" für Besucher zu lesen wa-ren: Reinheitsvorschriften, Opferordnungen (erlaubte Tiere, Anweisun-gen für das Opfermahl und ähnliches), Ordnungsregeln (etwa über das Anzünden von Feuern, das Fällen von Bäumen und ähnliches), Gebüh-renordnungen, Regeln für die Besetzung von Kultämtern. Dazu kommen schriftliche Regieanweisungen für rituelles Handeln: Fasti, in denen ge-regelt wird, welche Gottheit an welchem Tag welches Opfer bekommt, Erlasse verschiedener Gremien, in denen der Ablauf eines Festes vorge-schrieben wird.

Gerade dies, daß die Texte die verschiedensten Einzelheiten des Kult-betriebs regeln, macht sie zu einer erstklassigen Quelle für die folgenden Untersuchungen. Man muß sich allerdings dessen bewußt sein, daß er-stens im allgemeinen nur geregelt wird, was nicht selbstverständlich ist, d.h. daß trotz dieser Quellen vieles für uns im Dunkel bleibt, und zwei-tens, daß es sich nicht um deskriptive, sondern um präskriptive Texte handelt, d. h. daß ein Sollzustand beschrieben wird, der mit der kulti-schen Realität nicht immer übereinzustimmen braucht.

Das Äquivalent für solche Leges sacrae in der jüdischen Religion sind Texte der kultischen Halacha. Von einer Ausnahme abgesehen - der Inschrift im Jerusalemer Tempel - begegnen sie uns nicht epigraphisch, sondern literarisch überliefert: in der Hebräischen Bibel und in einigen Qumrantexten. Rabbinische Texte werden aus chronologischen Gründen nur am Rande in den Blick kommen, sei es als Vergleichsmaterial, sei es, wenn zu einigen Themen die Vermutung besteht, daß sie über die Kultpraxis vor 70 n. Chr. Aufschlüsse geben.

Eine zweite Gruppe von Texten sind die Werke antiker Gelehrter. Antiquare12, die Autoren von Lexika13, die Verfasser von Kommenta-ren14 und gelehrte Dichter15 haben große Mengen von Information über bereits zu ihrer Zeit erklärungsbedürftige Kultbräuche gesammelt. Dar-in liegt einerseits ihr Verdienst, andererseits aber auch die Schwierigkeit bei der Interpretation ihrer Texte. Erläutert wird in ihnen nur, was den damaligen Zeitgenossen selbst nicht mehr unmittelbar verständlich war, d. h. gerade nicht die alltägliche, „normale" Religion, sondern die

11 Vgl. z u r fo lgenden A u f l i s t u n g NILSSON, Geschich te , B d . 2, 67-82; RÜPKE, S.V. Sakralrecht.

12 Z. B. die griechischen Kultschriftsteller oder für Rom M. Terentius Varro. Vgl. dazu CANCIK, s. v. Kultschriftsteller.

13 Z. B. Sex. Pompeius Festus und Hesychios. 14 Vgl. insbesondere die Scholien zu griechischen Epen und Dramen und den Vergilkom-

mentar des Servius. 15 Vgl. z. B. die Fasti Ovids.

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exotischen Sonderfälle. Die Erklärungen der betreffenden Autoren sind oft von erstaunlicher Qualität: Es werden Primärquellen herangezogen16

und es wird auf hohem Niveau Quellenkritik betrieben17. Dennoch sind selbstverständlich viele Aussagen von zweifelhaftem Wert: Quellen wer-den fehlerhaft gedeutet, oft liegen Autoschediasmata vor, d. h. ad hoc erfundene, spekulative Erklärungen. Als weiteres Problem kommt der oft schlechte Überlieferungszustand der Texte hinzu. Einige liegen nur in Zitaten oder Exzerpten vor, deren Verläßlichkeit schwer einzuschätzen ist.

Zuletzt sind die Werke der antiken Historiker zu nennen, die an zahl-reichen Stellen über Kulte und Rituale berichten. Nicht nur für die römische und jüdische Geschichte allgemein sind z. B. Livius oder die Makkabäerbücher und Iosephos unverzichtbare Quellen, sondern auch für die römische und jüdische Religionsgeschichte.

Die Probleme bei der Verwendung dieser Quellen sind offensichtlich und vielfach besprochen:18 Die Texte sagen oft mehr über die Zeit des betreffenden Historikers und über seine Absichten - Propaganda, Apo-logetik, Polemik - aus als über die Ereignisse, von denen sie berichten. Oft ist nicht einmal zu klären, ob diese Ereignisse überhaupt historisch sind oder ob es sich um Legenden oder „erfundene Traditionen" han-delt. Aber nicht nur in naivem Vertrauen auf diese Quellen, sondern auch in übertriebenem Mißtrauen, das immer das Gegenteil dessen, was berichtet wird, für wahr hält, liegt eine Gefahr.

16 Polemon aus Ilion wird in Athen. 6,234d als ATT|Xox6jtac; („Inschriftenfresser") bezeichnet.

17 Ein Musterbeispiel für die quellenkritischen Fähigkeiten antiker Gelehrter ist Suet. Cal. 8.

18 Vgl. z. B. zur römischen Religion BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, 4-10.

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